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Über den Autor

Dr. Bruno Kern, geboren 1958, studierte Theologie und Philosophie in Wien, Fribourg, München und Bonn; er lebt zurzeit in Mainz und arbeitet als selbstständiger Lektor und Übersetzer.

Für die Reihe marixwissen verfasste er zuletzt den Band Die bedeutendsten Grabreden.

Zum Buch

Nirgendwo begegnet uns das religiöse Erbe der Menschheit so unverfälscht wie im Gebet. In der Sprache des Gebetes spiegelt sich der ganze Reichtum der menschlichen Existenz, der Lebenswille und die Mitleidsfähigkeit des Menschen, sein Ringen mit Angst, Schuld und Endlichkeit und seine staunende Ehrfurcht. Auch in unserer säkularisierten Welt ist das Gebet in seinen vielfältigen Formen höchst lebendig und aus dem Daseinsvollzug der meisten Menschen nicht wegzudenken. Dieser Band bietet eine Auswahl aus dem reichen Schatz der Gebete rund um den Globus. Die großen Gebetstexte der jüdisch-christlichen Tradition, des Islam, der asiatischen Religionen und der indigenen Kulturen werden wiedergegeben und mithilfe von informativen Hinführungen erschlossen. Altvertraute Texte zeigen sich dabei in überraschender Weise neu, und bisher wenig Bekanntes lässt sich staunend entdecken. Die Gebete von Mystikern und religiös begabten Menschen stehen neben volkstümlichen Überlieferungen und Gesängen sowie Texten aus den großen heiligen Schriften. Es gibt kaum einen besseren Zugang zu den vielfältigen Religionen der Erde als die authentische Sprache der Betenden selbst!

Bruno Kern

Die großen Gebete der Menschheit

Bruno Kern

Die großen Gebete
der Menschheit

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012
Lektorat: Paulus Enke, Leipzig
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH
nach der Gestaltung von Thomas Jarzina, Köln
Bildnachweis: Gipfelkreuz des Kleines Gilfert,
zur Verfügung gestellt vom Tourismusverband Silberregion
Karwendel, www.silberregion-karwendel.com
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0277-2

www.marixverlag.de

Für Adeodatus (Florian Zimmermann),
meinen Mystagogen

INHALT

Einleitung: Das Gebet in einer säkularisierten Welt

I. Die jüdisch-christliche Tradition

Höre Israel!

Das Gebetbuch der Bibel: Der Psalter

Psalm 23

Psalm 139

„Herr, lehre uns beten!“ – Das Vaterunser

„Die Despoten stürzt er vom Thron“ – Der Lobgesang Mariens

Schemone Esre – Das Achtzehngebet

Für die Gemeinschaft des Lebens

„Du bist mir innerlicher als ich mir selbst!“ – Augustinus von Hippo

„Komm, Schöpfer Geist!“

Der Sonnengesang des Poverello

Der „Doctor angelicus“ und die Sinnlichkeit des Glaubens

Adoro te devote

Thomas Morus: Freiheit des Gewissens und Sinn für Humor

„Wir sind Bettler. Das ist wahr.“ – Der Beter Martin Luther

Aus tiefer Not

Mitten wir im Leben

Ignatius von Loyola und der je größere Gott

„Ich bin ein Weib, und noch dazu kein gutes!“ – Teresa von Avila und die spanische Mystik

Das „Friedensgebet des Franz von Assisi“ – Ein Pseudonym

El malej rahamim – Gott voller Erbarmen

Gebet für die Märtyrer heute

II. Der Islam

Aus dem Koran

Das „Vaterunser“ des Islam

Ein islamisches Glaubensbekenntnis

Transzendenz und Immanenz Gottes

Die schönsten Namen Allahs

Bei einem Begräbnis

Rabi‘a von Basra und die reine Gottesliebe

Du bist mir vollauf genug

Zwei Lieben

„Ich bin die schöpferische Wahrheit!“ – Der Sufi Hussain Mansur Al-Halladj

Gebet vor Pilgern in Mekka

Gebet vor der Hinrichtung

Morgengebet des Al-Ghazâli

Dschelal-eddin Rumi: Trunken vor Liebe

Reiche mir die Hand

Anbetung

Gottwerdung

Ich bin Du

Aus dem „Gesang über die Gottesliebe“

Du einzige Sonne

Ibn Ata Allah und die zuvorkommende Gnade Gottes

III. Religionen Ost- und Südostasiens

An Brahma

Der Rig-Veda – Das heilige Wissen Indiens

Beichte an den Gott Varuna

„Mache mich unsterblich!“ – Hymne an Soma

An Agni, den Feuergott

An Krishna

Die Quintessenz der Weisheit

Das Unnennbare Eine: Tao

Abhängigkeit und der Mittlere Pfad

Gebet zu Buddha

Buddhistisches Gebet aus China

Shinran: ein „buddhistischer Luther“?

Das Lotos-Sutra

Bekenntnis und Gebete des Guru Nanak

Gebete des Swami Vivekananda

Gebete des Rabindranath Tagore

Eine Handvoll Staub

Unendlichkeit

Bitte

Dank

Mitte meines Herzens

Reisegefährte

Dein Ebenbild

Meine und deine Melodie

Die Ernte meines Lebens

„Mahatma“ Gandhi

Lieder aus dem Gefängnis

Gebete aus Gandhis Ashrams

IV. Indigene Kulturen

Afrika

Bitte um Hilfe an Imana

Hymnus auf Mwari

Hilferuf eines Buschmanns

Klage der Pygmäen aus Gabun im Exil

Wade in the water

When Israel was in Egypt’s land

Aus den Tiefen der Erde – Der Eröffnungsgesang der „Missa dos Quilombos“

Amerika

Hymne an Viracocha

Gebet an Viracocha

Heilige Lieder des Schamanen der Kwakiutl

Gebet der Sioux

Dank an die Mutter Erde

An Pachamama

Ozeanien

Gebet einer Frau aus Tahiti

Klagelied aus Hawaii

Literatur

EINLEITUNG

DAS GEBET IN EINER SÄKULARISIERTEN WELT

Eine persönliche Erinnerung sei mir hier als Einstieg gestattet: Mitte der Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, als die Welt im Kalten Krieg erstarrt war, beteiligte ich mich als junger Dominikanermönch an der Initiative „Ordensleute für den Frieden“. Im Hunsrück war damals die Stationierung der sogenannten cruise missiles geplant, atomar bestückter Marschflugkörper, die mit ungeheurer Zerstörungskraft das Territorium des „Feindes“ erreichen und eine äußerste Gefahr für die gesamte Zivilisation heraufbeschwören konnten. Wir zogen gemeinsam an den geplanten Stationierungsort. Mit den uns geläufigen Ausdrucksmitteln – der prophetischen Zeichenhandlung, biblischen Texten, konventionellen und neu formulierten Gebeten und Liedern – versuchten wir das zu bannen, angesichts dessen es uns die Sprache verschlug. Zur selben Zeit hatte eine Gruppe von engagierten Frauen aus Norddeutschland dort ihr Zeltlager aufgeschlagen. Für die meisten von ihnen war Religion ein archaisches Relikt aus längst verschwundenen Zeiten, und so wurden wir von ihnen zunächst als die exotischen Vertreter eines aussterbenden Volksstammes wahrgenommen. Umso überraschender war es dann für uns, als eine dieser Frauen bekannte, sie hätte uns dafür beneidet, dass wir offensichtlich noch über eine Sprache verfügten, um das auszudrücken, woran uns jede säkulare Sprache hilflos scheitern lässt.

Gerade in einer entzauberten Welt, in der uns nicht mehr wie selbstverständlich das Numinose hinter den Ereignissen begegnet, sondern in der wir es hauptsächlich mit unseren eigenen Artefakten zu tun haben, scheint eine Sehnsucht nach einer Sprache neu aufzubrechen, die das Unbedingte, das Unverfügbare unserer Existenz zu formulieren imstande ist. Wo Sprache zum banalen Verständigungsmittel verflacht, gibt sie den Menschen auch den herrschenden Zuständen preis, liefert sie ihn an das reibungslose Funktionieren des Bestehenden aus, verrät sie seine Sehnsucht nach Ganzheit, Integrität und bleibender Gültigkeit jenseits des Kreislaufs von Konsumieren und Produzieren. In diesem Sinn versteht denn auch Johann Baptist Metz Beten als einen „Akt des Widerstands“, Gebetssprache als Widerstandssprache gegen die herrschende Banalität und Apathie (Metz 2011, 111 f). Auch Menschen, die sich selbst als atheistisch, agnostisch, als „religiös unmusikalisch“ (Max Weber, gern auch von Jürgen Habermas auf sich selbst angewandt) bezeichnen mögen, suchen nach einer Sprache, die den Menschen nicht aufgibt und nicht vollends an die Zeitverhältnisse ausliefert. Oft greifen sie auf das religiöse Menschheitserbe zurück, für das offensichtlich nicht so leicht Ersatz zu finden ist. So hielt etwa Pier Paolo Pasolini die Redeweise von der „Heiligkeit des Lebens“ für unabdingbar, um Humanität zu schützen und um zu verhindern, dass sich der Mensch selbst wieder „zurückkreuzt zum findigen Tier“ (K. Rahner). Peter Wust, ein gläubiger Philosoph des 20. Jahrhunderts, hat in seinem berühmten Abschiedswort vor seinem Tod diesen Zusammenhang zwischen Gebet und Bewahrung des Menschseins im emphatischen Sinn formuliert: „Ein Mensch wächst für mich in dem Maße immer tiefer hinein in den Raum der Humanität – nicht des Humanismus –, wie er zu beten imstande ist …“ (Wust “1984, llf) Genau hier sehe ich die Relevanz der Gebetssprache, weit über die religiöse Sphäre im engeren Sinne hinaus. So verstehen sich die in diesem Buch gesammelten und erschlossenen Gebete – eine kleine Auswahl aus dem reichen Schatz der Menschheit – nicht als Museumsstücke, die man mit mehr oder weniger gleichgültigem Interesse bestaunen kann, sondern als einzigartige Dokumente des Ringens der Menschen um ihr eigenes Subjektsein angesichts von Angst, Schuld, Endlichkeit. Und dieses Erbe kann durchaus von Zeitgenossen angeeignet werden, die sich selbst nicht als religiös definieren.

Es gibt wohl kaum eine Sprache, die so reichhaltig ist wie die Sprache des Gebetes. Der protestantische Religionswissenschaftler Friedrich Heiler hat in seiner bahnbrechenden religionswissenschaftlichen Studie zum Gebet dieses als den „Ausdruck eines elementaren Dranges nach höherem, reicherem, gesteigertem Leben“, eines „mächtigen Verlangens nach Leben“ bezeichnet: „Der hungernde Pygmäe, der um Speise fleht, der begeisterte Mystiker, der sich in die Größe und Schönheit des unendlichen Gottes versenkt, der schuldgedrückte Christ, der um Sündenvergebung und Heilsgewissheit bittet – alle suchen das Leben; sie suchen Behauptung, Erhöhung und Bereicherung ihres Lebensgefühls; selbst der buddhistische Bettelmönch, der sich meditierend zur vollkommenen Gelassenheit emporarbeitet, sucht in der Verneinung des Lebens ein höheres und reineres Leben zu erlangen.“ (Heiler 1918, 411) Genau darauf ist wohl der schier unerschöpfliche Reichtum der Gebetssprache zurückzuführen. Auch für den katholischen Theologen Johann Baptist Metz ist die Gebetssprache umfassender als jeder rationale Diskurs, sie sei „die einzige Sprache ohne Sprachverbote“, sie kenne „die unglaubliche Bandbreite der Verästelungen menschlicher Existenz“, sie sei die „seltsamste und doch verbreitetste Sprache der Menschenkinder, eine Sprache, die keinen Namen hätte, wenn es das Wort ,Gebet’ nicht gäbe“ (Metz 2006, 98).

Heilers Befund, der das Motiv des Gebets im gesteigerten Lebenswillen erkennt, kann natürlich religionskritisch gewendet werden – wäre da nicht unübersehbar ein Charakterzug der Gebetssprache, der sich quer durch die religiösen Traditionen feststellen lässt: die Inanspruchnahme des Beters. Gebet ist eben nicht einfach die Affirmation unserer Bedürfnisse und Wünsche, die auf eine göttliche Instanz projiziert werden. Diese göttliche Instanz wird vielmehr durchaus als „anspruchsvoll“ empfunden, sie nimmt den Beter in Beschlag, weist ihn ein in das, was seiner puren Selbstbehauptung schlicht widerstreitet: in die Solidarität mit fremdem Leid. Was Johann Baptist Metz für die jüdisch-christliche Tradition herausstellt, lässt sich m.E. durchaus etwa auch für den Buddhismus mit seinem zentralen Impetus der Compassio, des Mitleidens, und andere religiöse Traditionen behaupten. Ja radikaler noch als in der jüdisch-christlichen Tradition wird anderswo die außermenschliche Kreatur in dieses Mitleiden einbezogen. Mit einer religionskritischen Betrachtungsweise der Gebetssprache lässt es sich auch schwer vereinbaren, dass Beten selbst den fragenden Zweifel mit einbezieht, die eigene Existenz ebenso in Zweifel zieht wie die göttliche Instanz, an die man sich wendet, und dass die Gebetssprache nicht nur die Klage, sondern eben auch die Anklage Gottes, den Protest gegen ihn kennt. Genau darin gründet sich die Würde des Beters, der eben – bei aller empfundenen Differenz zum Göttlichen und bei allem „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ (F. Schleiermacher) – auch in seinem Bitten nicht unterwürfig und knechtisch sein muss, sondern eben darin seine Würde und unhintergehbare Freiheit affirmiert.

Wer sich – aus welchem Motiv auch immer – mit den religiösen Traditionen der Menschheit beschäftigen will, der tut dies am besten über deren Gebete. Bereits Friedrich Heiler hat in seiner klassischen Studie festgestellt, das Gebet sei das zentrale Phänomen der Religionen, im Beten werde die Religion – im Gegensatz zu dogmatischen Systemen, mythischen Erzählungen, Riten oder Moralkodizes – erst eigentlich erfasst, da das Gebet den eigentlichen Vollzug der Religion darstelle (oratio est proprie religionis actus, wusste bereits Thomas von Aquin). (vgl. Heiler 1918,1–3) Authentische Gottrede ereignet sich im Gebet, in der Anrufung einer göttlichen Instanz durch den Beter. Alle andere religiöse Rede ist letztlich davon abgeleitet, ein Derivat der Gebetssprache. Diese Auffassung bestätigt kein Geringerer als der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber: „Wenn an Gott glauben … bedeutet, von ihm in der dritten Person reden zu können, glaube ich nicht an Gott. Wenn an ihn glauben bedeutet, zu ihm reden zu können, glaube ich an Gott.“ (Buber 31978, 56) Die unterschiedliche Eigenart von Religionen und Kulturen lässt sich eben deshalb am besten an der jeweiligen Gebetssprache ablesen.1

Diese Vielfalt der Gebetssprache, in der sich die Vielfalt der Religionen und ihres je unterschiedlichen Verständnisses des Absoluten ausdrückt, soll in dieser Anthologie nicht von vornherein eingeengt werden. Friedrich Heiler lässt als Gebet nur den „lebendigen Verkehr des Frommen mit dem persönlich gedachten … Gott“ (Heiler 1918, 413) gelten. Diesem Verständnis schließe ich mich hier ausdrücklich nicht an. Es käme sonst einer Ausgrenzung aller Religionen gleich, die kein theistisches Verständnis teilen. Die reiche religiöse Tradition Asiens müsste zu einem großen Teil unberücksichtigt bleiben. In Bezug auf den Buddhismus etwa ist die Frage zulässig, ob er überhaupt als Religion und nicht vielmehr als Erkenntnisphilosophie zu begreifen ist. In jedem Fall aber ist er nicht am Maßstab einer okzidentalen, theistischen Auffassung vom Absoluten zu messen. Für Heiler ist der Buddhismus eine „Heilsreligion ohne Gottes- und Gnadenglaube“, sein „Gebet“ sei deshalb eine „Versenkung ohne persönliche Hinkehr zu einem summum bonum“ (Heiler 1918, 408). Selbstverständlich kann man als jemand, der in einer monotheistischen religiösen Tradition verwurzelt ist, die Frage stellen: „Wie betet eigentlich ein Buddhist, der jede Subjektivität als Illusion durchschauen will?“ Man sollte sich jedoch davor hüten, sich hier selbst zum Maßstab zu machen und gerade die religiösen Ausdrucksweisen abzuwerten, die einen besonders hohen Grad an Reflexivität und philosophischer Überzeugungskraft aufweisen. Wenn Heiler die buddhistische Versenkung als eine „Abart der mystischen Gebetsweise“ bezeichnet, dann muss der unüberhörbar pejorative Zungenschlag heute entschieden zurückgewiesen werden. Ich habe deshalb in diese Sammlung in beschränktem Maße „Gebete“ aufgenommen, die nicht die Form einer ausdrücklichen Anrufung eines persönlich vorgestellten absoluten Wesens aufweisen, sondern die sich meditativ bzw. reflektierend auf einen wie immer verstandenen Urgrund allen Seins einlassen und die – etwa wie das Lotos-Sutra – meditierend rezitiert werden. Wie könnte ich mir anmaßen, gerade diese tiefen Texte nicht als Gebet gelten zu lassen?

Für unsere okzidentale Tradition, namentlich für die drei großen „Offenbarungsreligionen“ Judentum, Christentum und Islam, gilt freilich, dass hier – bei aller aufgeklärten Zurückweisung anthropomorpher Gottesbilder – das Absolute die Stufe des Personseins (in Analogie zum menschlichen Personsein gedacht) zumindest nicht unterschreiten darf, sofern es tatsächlich als der alles umgreifende Seinsgrund verstanden werden soll. Mehr noch: In der Auffassung dieser monotheistischen Religionen ist das menschliche Personsein gerade durch den Dialog mit dem absoluten göttlichen Du allererst konstituiert! Diesen Zusammenhang hat wohl der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber mit seiner Philosophie des Dialogs am ausdrücklichsten herausgearbeitet. C.H. Ratschow wendet diesen Gedanken gar auf das Gebet in der Religionsgeschichte insgesamt an und unterstellt auch nicht ausdrücklich monotheistischen Religionen zumindest im Vollzug des Gebetes eine monotheistische Tendenz: „Hat man die ständige Fülle der Gebete in den Religionen bemerkt und sich angesehen, dann kann man … wohl zustimmen, dass Religion und Gebet aufs Engste zusammengehören, und man wird wohl auch sagen, dass der Mensch so viel Personalität zeigt und hat, wie er in diesem dialogischen Offensein vor Gott da ist. Man wird auch weiterschließen können …, dass da, wo das Gebet abstirbt, nicht nur Religion ihr Ende hat, sondern auch die Personalität des Menschen.“ (Ratschow 1983, 34)

Hans Schaller definiert das Gebet als „die artikulierte Bejahung der Möglichkeit, in jeder Situation, in allen Dimensionen des Menschseins, vor Gott stehen zu dürfen“ (Schaller 1984, 26). Das Gebet gehört als der religiöse Versuch der Kontingenzbewältigung zur Conditio humana, zur menschlichen Existenz in ihrer konkreten Verfasstheit. Den „Dimensionen des Menschseins“ entsprechen deshalb auch die unterschiedlichen Dimensionen des Gebets, die in dieser Anthologie möglichst umfassend zur Darstellung kommen sollten. Es fällt dabei auf, dass dem Bittgebet ein besonderer Stellenwert zukommt. Es ist keineswegs als zu überwindendes infantiles Bewusstseinsstadium des Menschen, sondern durchaus als der „Testfall des Glaubens“ (G. Greshake/G. Lohfink 1978) zu betrachten. Selbstverständlich gehen aufgeklärte Gläubige heute nicht mehr von einem mirakulösen „Eingreifen“ Gottes in die Welt im Sinne einer Durchbrechung von Naturgesetzen aus. Spätestens seit Thomas von Aquin und dessen Unterscheidung von Erstursache und Zweitursachen ist der christlichen Tradition bewusst, dass Gott die Welt wirkt und nicht in der Weise innerweltlicher Ursachen in der Welt. Aber gerade die modernen Naturwissenschaften, die den Newton’schen Determinismus längst hinter sich gelassen haben, erlauben uns Denkmodelle einer solchen dynamischen Wirkweise der Welt, die aus der Freiheit Gottes so hervorgeht, dass sie menschliche Freiheit, und damit auch das freie Hintreten vor Gott im Bittgebet, allererst ermöglicht.2 Letztlich aber geht es im Bittgebet nicht um die Abhilfe irgendeines Mangels, sondern – wie uns zuletzt Johann Baptist Metz eingeschärft hat – darum, Gott um nichts Geringeres als um Gott selbst zu bitten! (Vgl. Metz 2006, 96) Es ist die mystische Tradition aller Religionen – in diesem Buch besonders am Beispiel der islamischen Mystik, des Sufismus, verdeutlicht –, die dieses „Gott um Gott selbst bitten“, frei von jedem kleinlichen Eigeninteresse, besonders eindrucksvoll bezeugt.

Auf die vielen Facetten des Gebetes, die den Facetten des Menschseins entsprechen (Klage, Dank, Lobgesang, Anklage, verzweifeltes Ringen, staunende Anbetung etc.), kann hier nicht im Detail eingegangen werden. Lediglich ein Gesichtspunkt soll hier noch hervorgehoben werden: Es gilt wohl für die Religionen insgesamt, dass Gebet sich niemals unabhängig von der Solidarität mit anderen, ja letztlich auch mit den Toten, vollziehen kann. Es ist daher von sich aus auf veränderndes Handeln hin orientiert, kann ohne dieses gar nicht adäquat erfasst werden. Wer betend vor den Urgrund allen Seins tritt, wird in Anspruch genommen und vom „ganz Anderen“ an den nächsten anderen, ja letztlich an die Schicksalsgemeinschaft der Schöpfung insgesamt, verwiesen. Das eindrucksvollste literarische Zeugnis für diesen Sachverhalt ist im deutschen Sprachraum wohl in Bert Brechts Drama Mutter Courage zu finden: Bauersleute, unter ihnen „Mutter Courage“ und ihre Tochter Kathrin, sehen, wie (im Dreißigjährigen Krieg) kaiserliche Truppen an die Stadt Halle heranrücken und die nichtsahnenden Bewohner bedrohen. Sie beginnen verzweifelt zu beten: „Vaterunser, der du bist im Himmel, hör unser Gebet, lass die Stadt nicht umkommen mit alle, wo drinnen sind und schlummern und ahnen nix …“ Nur die stumme Kathrin fasst sich ein Herz, klettert auf das Dach und beginnt wie wild eine Trommel zu schlagen, um die Bewohner der Stadt zu warnen. Sie setzt dabei ihr Leben und das der anderen aufs Spiel und wird schließlich erschossen. Ihr Einsatz für die Stadt war die logische Konsequenz aus dem ernst gemeinten Gebet für diese. (vgl. Brecht 1990, 1431–1436)

Dieser Sammlung ist es wahrscheinlich nicht völlig gelungen, die vielen unterschiedlichen Formen des Gebets vollständig abzubilden: vom spontanen, affektiven Gebet über formelhafte Gebete, rituelle Gebetsweisen, Hymnen, meditative Gebete, bis hin zu Zeugnissen mystischer Versenkung und Gebeten religiös besonders begabter Persönlichkeiten. Die hier wiedergegebenen Gebete haben in den meisten Fällen einen herausragenden Stellenwert, eine besondere Wirkungsgeschichte, sind Höhepunkte und besonders geglückte Artikulationen eines religiösen Vollzugs.3 Wir sollten dabei nicht aus den Augen verlieren, dass sie auf jenem Nährboden gedeihen, der von den unzähligen anonymen, weniger formvollendeten und „gelungenen“ Gebeten gebildet wird. Sie werden uns in der Regel nicht (schriftlich) überliefert, machen keine besondere Karriere und stoßen auf kein besonderes religionswissenschaftliches oder literarisches Interesse. Ihren „religiösen“ Wert mindert das keineswegs. Der österreichische Dogmatiker Gottfried Bachl hat diese vielen namenlosen, oft unbeholfenen Gebete so gewürdigt, wie sie es verdienen:

„Dürfen wir
dir nur ausgesuchte Worte sagen,
nur teure Sätze
von Dichtern erfunden,
nur polierte Ausdrücke,
oder können wir dir auch kommen
mit den ranzigen Formeln,
aus denen
unsere Sprache meistens besteht?“

(Bachl 1998, 36)

Wer sich selbst – wie ich – als religiös versteht, der darf auch angesichts all dieser namenlosen Gebete mit Leonardo Boff darauf vertrauen: „Und der, der den Staub kennt, aus dem wir gemacht sind, spürt liebevoll den Geheimnissen unseres Herzens nach.“ (Boff 2011, 11)

Bruno Kern

1 Die in diesem Band gebotenen religionswissenschaftlichen Informationen zu den einzelnen Gebeten bzw. religiösen Traditionen mussten denkbar knapp und deshalb in vielen Fällen notgedrungen oberfl ächlichausfallen. Für vertiefte Informationen dazu kann ichdeshalb nur auf die einschlägigen religionswissenschaftlichen Standardwerke, Kompendien etc. verweisen. Besonders geeignet scheint mir zu sein: Grabner-Haider/Prenner (Hg.), Darmstadt 2004.

2 Erinnert sei hier etwa an das Verständnis Arthur Peacockes, der Gottes Handeln in der Welt in Analogie zum Verhältnis von Geist und Gehirn begreift, als ein „Top-down-Verhältnis“ im Gegensatz zu einem „Bottom-up-Verhältnis“, welches Ursache und Wirkung im schlichten Sinne des Anstoßens einer Billardkugel versteht. Ein solches Ursache-Wirkungs-Modell ist spätestens mit der Quantenphysik überholt. Vgl. Peacocke 1998.

3 In dieser Sammlung sind ausschließlich Gebete berücksichtigt, die heute noch zum lebendigen Panorama der Religionen gehören. Sie will also kein historisch orientiertes Buch sein. Nicht mehr gelebte Religionen, etwa der europäischen Antike, fanden deshalb keine Berücksichtigung. Allerdings nährt sich auch heutige lebendige Religiosität aus einem alten Erbe. So wurden etwa Gebete aus dem vorkolonialen Afrika nicht zuletzt deshalb aufgenommen, weil sie in Kult, Liturgie und Gebet der afroamerikanischen Religionen eingegangen sind.

I. DIE JÜDISCH-CHRISTLICHE TRADITION

„Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört!“ (Ex 3,7) – Die Religion Israels, aus der später Judentum und Christentum hervorgehen sollten, beginnt also mit einer Gebetserhörung. Die Erinnerung an den Exodus, an den Auszug einer Gruppe von Fronarbeitern aus Ägypten, ist das konstitutive Grunddatum des israelitischen Jahweglaubens. Das Exodusereignis wird geradezu zur Definition Gottes! „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus dem Sklavenhaus Ägypten herausgeführt hat“ (Ex 20,2), lautet denn auch die Einleitung zum Dekalog, den „Zehn Geboten“.

Um die Entstehung dieser israelitischen Religion zu rekonstruieren, stehen uns neben den Texten der hebräischen Bibel, insbesondere des Pentateuch, außerbiblische schriftliche Zeugnisse (Stelen, Briefliteratur …) und gute archäologische Befunde zur Verfügung. Sozialgeschichtlich scheint Israel aus Umbruchs- und Wanderbewegungen in Palästina um das Jahr 1200 v. Chr. hervorgegangen zu sein: Die miteinander rivalisierenden kanaanäischen zentralistisch-monarchischen Stadtstaaten standen unter dem hegemonialen Einfluss Ägyptens. Von diesen Stadtstaaten abhängige Bauernfamilien flohen vor Konflikten und Ausbeutung ins Bergland. Materielle Voraussetzung dafür war die Einführung von Eisenwerkzeugen, die auch das weniger fruchtbare Bergland bebaubar machte. Zu diesen Bauernfamilien stieß bald eine aus Ägypten kommende Gruppe von „Hapiru“ (Hebräern). Diese stellten kein „Volk“ im Sinne einer ethnischen Größe dar: Es handelte sich um eine Gruppe von „Wirtschaftsmigranten“, Söldnern etc., die ein aufrührerisches Moment im gesellschaftlichen Gefüge bildeten. Eine solche Gruppe von Hapiru scheint unter Pharao Ramses II. Fronarbeit geleistet zu haben, aus der sie entkam. Diese Befreiung aus der Sklaverei verband sie mit dem geschichtsmächtigen Handeln ihres Gottes mit dem Eigennamen Jahwe (s. dazu weiter unten S. 26). Das politische und soziale Bewusstsein in Verbindung mit dem Bekenntnis zum Jahwe-Gott geht wohl auf diese aus Ägypten kommende Gruppe zurück. Dieser Jahwe-Gott ist also wesentlich ein Gott, der sich als parteiisch für die Unterdrückten erweist. Diese Parteinahme für die Armen wird denn auch zum unverrückbaren Maßstab innerhalb der Geschichte Israels und zu einem deutlich erkennbaren Schwerpunkt der hebräischen Bibel. Das spätere Königtum kann sich nur legitimieren, indem es sich als besonderen Schutz für die Armen darstellt. Die prophetische Tradition klagt die Erfüllung von „Recht und Gerechtigkeit“ und die Verwirklichung von Solidarität als die eigentliche Jahwe-Verehrung ein. Die späteren messianischen Vorstellungen und die apokalyptische Literatur behaupten Gott als den eigentlichen Herrn der Geschichte angesichts von Unterdrückung und Gewalt …

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