Edmond Schoorel

WÄRME

und ihre Bedeutung
für das heranwachsende Kind

Urachhaus

Inhalt

Einleitung

Wie das Buch gelesen werden kann

Viergliedrigkeit

Abenteuer

Wärme-Ebenen

Die Entwicklung des Wärmeorganismus

Wärmeorganisation = Ich-Organisation

Die erste Ebene: die physische Wärme

Die zweite Ebene: der Energiehaushalt

Die dritte Ebene: die emotionale und die Begegnungswärme

Die vierte Ebene: die Begeisterung

Zentrales und peripheres Ich

Fieber und Fieberangst

Die Rolle des Fiebers

Wozu Fieber bei einer Infektionskrankheit?

Der Umgang mit Fieber

Wadenwickel und Zitronensocken

Medikamente bei Fieber

Fieberkrämpfe

Die Ausbildung des Wärmeorganismus

Die Ausbildung der Begeisterung

Die Ausbildung der Begegnung

Die Ausbildung des Energiehaushalts

Über das »Abhärten«

Die Ausbildung der physischen Ebene, des Wärmorganismus

Kinderkleidung

Die Haut, die Wärme und die Kleidung

Nützlichkeitsaspekte

Wolle

Seide

Baumwolle

Leinen

Kunststoffe

Häufig gestellte Fragen

Säuglingsbekleidung

Wärmflaschen

Therapie und Begleitung

Anthroposophische Therapien bei Wärmeproblemen

Literatur

Impressum

Einleitung

Die Wärme zu pflegen, ist einer der wichtigsten Aspekte in der Erziehung – und das nicht nur in Bezug auf die körperliche Wärme. Eltern, die ihr Kind mit Wärme, Achtsamkeit und Zuneigung erziehen, sind gespannt darauf, was einmal aus ihm werden wird. Sie haben begriffen, dass das Aufwachsen in einer von Wärme geprägten Atmosphäre ihrem Kind dazu verhelfen wird, künftig sich selbst und seinem Umfeld gegenüber achtsam und voller Zuneigung und Offenheit begegnen zu können.

Die meisten Eltern möchten ihr Kind so erziehen, dass es in seinem Leben alles tun kann, um sich selbst und seine individuellen Pläne zu verwirklichen. Natürlich gibt es auch andere wichtige Ziele. Beispielsweise, dass es gesund bleibt und glücklich wird, genug Geld verdient und seine Talente entwickeln kann. Doch letztlich ist es den meisten Menschen doch wichtig, dass ihr Kind einmal in der Lage sein wird, das verwirklichen zu können, wozu es gekommen ist. Wir können es auch so formulieren: Wir hoffen, dass das Kind Ich-Kraft entwickelt.

Und genau dafür ist die Wärme von ganz besonderer Bedeutung. Denn das Ich entwickelt sich in und dank der Wärme. In der Erziehung können wir Einfluss auf die Wärme nehmen. Wenn wir gut für die Wärme sorgen, machen wir es dem Ich des Kindes leichter. Und das sollten wir tun.

Dieses Buch über die Wärme enthält sowohl Fakten als auch Hintergründe. Ich hoffe, Sie werden nach der Lektüre sagen: »Wie schön, ich wusste nicht, dass so viel mit der Wärme verbunden ist.«

Wärme ist ein besonderes Thema. Wärme durchdringt alles, sie sorgt dafür, dass wir sind, und dafür, dass die Erde besteht. Wärme ist etwas anderes als Hitze, die versengende Glut des Feuers. Wenn es keine Wärme mehr gibt, bleibt die Kälte übrig. Dann wird alles still, das Leben endet, der Spaß ist vorbei.

Wenn ich an Wärme denke, sehe ich einen Gasthof vor mir, an dessen Kaminfeuer wir nach einem schönen, kalten Weihnachtsspaziergang gelandet sind. Der Raum hat etwas angenehm Rauchiges. Die Wärme macht uns träge, der Kakao mit Schlagsahne satt und zufrieden. Sogar die Kinder sind für einen Moment ganz still, sie brauchen keine Zänkerei mehr, die Spitzfindigkeiten verfliegen. Das Gespräch beschränkt sich auf ein genießendes »Hmm« und andere Formen des Schweigens.

Oder ich denke an einen geschützten Platz in der Aprilsonne. Zum ersten Mal nach den kalten Wintermonaten wärmt die Sonne uns wieder.

Wir schließen die Augen und spüren die wohltuende Wärme. Durch die geschlossenen Augen nehmen wir das Licht des Frühlings wahr. Neues Leben kündigt sich darin an. Schon bald werden die Bäume, Pflanzen und Büsche wieder in voller Blüte stehen. Dank der Sonne.

Ein anderer mag bei Wärme vielleicht an ein warmes Bad nach einem turbulenten Tag denken. Der Lavendelduft des Badeöls verstärkt die glückliche, sommerliche Zufriedenheit. Entspannung breitet sich aus: Jetzt heißt es aufpassen, dass ich nicht in der Badewanne einschlafe. Habe ich heute Abend noch etwas vor? Ich glaube nicht. Herrlich!

Oder an eine Dünenwanderung an einem sommerlichen Sonntag. Der Sand reflektiert die Wärme der Sonne, sodass die Wärme von allen Seiten zu kommen scheint. Der Duft des Kiefernharzes passt auf wunderbare Art in dieses Wärmebad, er weitet die Gedanken, die durch die Wärme ohnehin nicht sehr klar waren. Unser Körper bemüht sich, die eigene Wärme wieder abzugeben, wir schwitzen und schmecken das Salz auf den Lippen. Wie herrlich ist es dann, das Meer zu erreichen, wo die Wellen uns umspülen und uns abkühlen. Ein frischer Wind geht mit der Brandung einher, und der nasse Sand reflektiert die Sonne viel weniger als der trockene Sand der Dünen.

Jeder kann diesen Beispielen seine eigenen Wärmeerfahrungen hinzufügen. Und das sollte er auch tun. Die Dufterinnerung kann unserem Gedächtnis dabei helfen. Wärme löst den Duft, und Dufterinnerungen sind eine große Hilfe zum Öffnen der Tore zu unserem Gedächtnis. Unsere eigenen Wärmeerinnerungen können uns dabei unterstützen, die nun folgenden Ausführungen zur Wärme nachzuvollziehen und zu würdigen.

Der Begriff Wärme birgt viele Bedeutungen in sich. Wir benutzen das Wort »warm« im wörtlichen (warmer Kakao) wie im übertragenen Sinn (ein warmer Blick). Im folgenden Teil dieses Buches versuche ich, die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs Wärme in eine Ordnung zu bringen.

Ich folge dabei der Einteilung, die in der Anthroposophie als Viergliedrigkeit bezeichnet wird. Nicht, dass es nötig zum Verständnis des Textes wäre, doch der Leser erfährt so, woher diese Einteilung stammt. Wer sich eingehend mit der Viergliedrigkeit beschäftigen möchte, findet dazu weitere Anregungen in dem Text auf Seite 12 f. und im Kapitel über den Wärmeorganismus.

Das Motto für die Entwicklung des Kindes heißt:

Zuerst in den Leib, dann in die Welt.

Dieses Motto erweist sich als sehr brauchbar: Ein Kind, das auf die Erde kommt, muss sich zuerst mit seinem Körper verbinden. Dann hat es eine gute Ausgangsposition, um ohne Angst und Scheu in die Welt zu gehen. Auch zum Thema Wärme passt dieses Motto. Um in den Leib hineinzukommen, ist Wärme notwendig, und um der Welt zu begegnen, ebenfalls. Ich hoffe, dass ich das zeigen kann.

Wie anfangs bereits ausgeführt, gibt es für das Kind nur eine einzige Brücke, um auf die Erde zu kommen und dort das zu tun, wofür es gekommen ist. Diese Brücke ist die Wärme. Wir können vielfach beobachten, dass Eltern ihr Bestes tun, ihrem Kinder gut zu essen zu geben und sie liebevoll und konsequent zu erziehen. Wir sehen aber auch, dass dieselben Eltern oft keine Vorstellung von der Bedeutung der Wärme für die Erziehung haben. Und eigentlich ist es so leicht!

1 Wie das Buch gelesen werden kann

Man kann an das Buch auf unterschiedliche Arten herangehen. Liest man den Text in einem Zug vom Anfang bis zum Ende durch, braucht man zwei Abende dazu. Man hat die Bedeutung der Wärme für den Organismus und für die Entwicklung von Kindern kennengelernt. Man hat genug gelesen, um das so Erfahrene auch praktisch in der Erziehung und Versorgung von Kindern anzuwenden.

Oder man liest lediglich die mit einem grauen Balken markierten Texte. Dann fehlt der inhaltliche Zusammenhang, denn man pickt sich sozusagen die Rosinen heraus. Die Rahmentexte sollen Erläuterungen und inhaltlichen Hintergrund zu den Themen bieten, die im Text behandelt werden.

Man kann auch die Rahmentexte weglassen. Dann liest man eine durchgehende Geschichte über die Hintergründe und die Bedeutung von Wärme.

Man kann sich aber auch sehr gut zuerst ein einzelnes Kapitel vornehmen, für das man sich zufällig interessiert. Man fragt sich beispielsweise, was es mit Fieberkrämpfen auf sich hat. Das ist nachzulesen auf Seite 47. Will man später mehr über die Hintergründe erfahren, so liest man die eher allgemein gehaltenen Teile des Textes.

Zum Aufbau des Buches: Nach der jeweiligen Einleitung folgt ein praktisches Beispiel. Hier werden die vier Ebenen der Wärme erklärt und mit Beispielen erläutert. Vielleicht ist Fieber der Grund, dieses Buch zur Hand zu nehmen. Das Phänomen Fieber wird im vierten Kapitel behandelt, begleitet von Hinweisen für den Umgang mit Fieber. Der letzte Teil des Buches handelt von der Aufgabe des Lesers als Erzieher. Hier geht es darum, wie man die vier verschiedenen Ebenen der Wärme ausbilden kann.

Viergliedrigkeit

Im heutigen Entwicklungsstadium der Erde und des Menschen (es gab frühere Stadien, und andere werden folgen, s. Literatur: Steiner 2013) kann man Entwicklungsprozesse am besten aus vier Grundprinzipien heraus beschreiben. Ein Beispiel aus dem täglichen Leben: Man hat eine Idee, man entwirft einen Plan, man regelt die Voraussetzungen, um den Plan umsetzen zu können, und man führt ihn aus.

Die Idee ist die erste Ebene. Sie weckt unsere Begeisterung. Um die Idee umzusetzen, überlegt man, was dazu nötig ist.

Man entwirft einen Plan, die zweite Ebene. Da begegnet man den Widerständen gegen die Ausführung des Plans.

Man sorgt dafür, dass diese Widerstände der eigenen Idee nicht im Wege stehen. Das ist die dritte Ebene.

Schließlich bringt man seine Idee in der Realität zur Ausführung, sie »landet«, wird auf die Erde gebracht. Das ist die vierte Ebene.

Auch in der Physiologie des Menschen ist die Viergliedrigkeit wichtig. Das bekannteste Beispiel für die Viergliedrigkeit des Menschen sind vielleicht die vier Elemente. Allerdings sind hier nicht Erde, Wasser, Luft und Feuer im gewöhnlichen Sinne des Wortes Aggregatzustände, wie wir es in der Schule gelernt haben: das Feste, das Flüssige, das Gasförmige.

»Erde« ist der Begriff, der für bestimmte Qualitäten steht, für das, was trägt, was unveränderlich ist, sich nicht so einfach verbindet und verändert.

»Wasser« ist der Begriff, der die Qualitäten Beweglichkeit, Anpassung, Schwere, Oberflächenbildung repräsentiert.

»Luft« steht für die Qualitäten: alles durchdringen, Raum bieten, sich ausbreiten, Leichtigkeit.

»Feuer« enthält als Element die Qualitäten: einen Anfang machen, Initiative für Neues ergreifen, Impulse geben, alles an sich heranziehen.

Die vier Elemente sind Qualitäten, die einen Menschen formen und sein Verhalten bestimmen. Bei Kindern bestimmen diese vier Elemente sein »Temperament«. Wenn die Erde eine große Rolle spielt, nennen wir ein solches Kind melancholisch, wenn das Waser die Hauptrolle spielt, nennen wir es phlegmatisch, wenn die Luft durch alles hindurchbläst, nennen wir es sanguinisch, wenn es vom Feuer bestimmt wird, nennen wir es cholerisch (s. Literatur: Steiner 2012).

Als Menschen brauchen wir alle Elemente. Jedes Element hat seinen eigenen »Arbeitsplatz« im menschlichen Organismus. Der Arbeitsplatz des Erd-Elements ist der physische Körper, der Arbeitsplatz des Wasserelements ist der Körper, in dem sich alle chemischen Prozesse abspielen. Wir können ihn den »Lebensleib« nennen. Das Luft-Element hat seinen Arbeitsplatz in dem Teil des Körpers, in dem es sich um Beweglichkeit, um Gefühle handelt. Wir können ihn »Seelenleib« nennen. Das Element Feuer fühlt sich in dem Arbeitsbereich der Begeisterung wohl, der Intentionalität und der Moralität. Wir können ihn den »Ich-Körper« nennen.

Wir sprachen davon, dass eine Idee »landen« muss. Dabei geht es also vom »Feuer« zur »Erde«, vom Ich zur physischen Realität.

2 Abenteuer

In einem fiktiven Beispiel lernen wir vier unterschiedliche Formen von Wärme kennen.

Es ist ein grauer Tag, vielleicht wird es sogar regnen. Es ist frisch für die Jahreszeit. Florian lümmelt auf der Couch. Keiner der Vorschläge seiner Mutter kommt bei ihm an. Er hat einfach keine Lust, Lego zu spielen, seinen Freund anzurufen, die leeren Flaschen wegzubringen, schon mal die Hausaufgaben für Montag zu machen, seiner Mutter in der Küche zu helfen, den Fahrradschlauch seiner Schwester zu flicken. Schon der Gedanke macht ihn müde.

Eigentlich ist er bereits todmüde, ohne etwas getan zu haben. Er langweilt sich, und er hat noch nicht herausgekriegt, ob es das ist, was er will: sich langweilen. So einen Tag kannst du vergessen. Wer will überhaupt in dieser Gegend leben, wo es immer nur kalt und grau ist!

Es klingelt an der Tür.

»Machst du eben auf?«, bittet Mama.

»Nee, keine Lust«, murmelt Florian.

»Es ist jemand für dich«, ruft seine Mutter.

Bert steht in der Tür. Er merkt wohl gar nicht, dass Florian schlechte Laune hat. »Du darfst mit, wir bauen ein Floß aus Baumstämmen und Blechdosen und Seilen. Mein Vater bringt uns zum Bach, wir kriegen einen Picknickkorb mit.«

Florian zögert noch. »Bei diesem Wetter?«, denkt er.

»Carl und Finn kommen auch mit. Ich hab eine Zeichnung gemacht, wie es werden soll. Wir spannen ein Segel aus und fahren den Bach runter bis zur Brücke, da holt mein Vater uns wieder ab. Hast du noch einen Stock im Schuppen für den Mast?«

Zwei Stunden später feiern die vier Jungs, dass sie ihr Floß fertig haben. Zwischendurch haben sie gestritten, und sie haben sich wieder vertragen. Finn hatte die besten Ideen gehabt, und Florian konnte am besten die Leinen befestigen. Er hat rote Backen vor Anstrengung bekommen, und seine Augen strahlen. Jetzt möchte er erstmal was essen. Die anderen wollen eigentlich sofort losfahren, aber das ist nichts für Florian. Er braucht erst was in den Magen. Also los, schnell ein wenig essen und trinken. Berts Mutter hat gut vorgesorgt. Sie kauen ihre Butterbrote; die Äpfel, die sind später dran.

Inzwischen scheint die Sonne. Es ist nicht viel Wind, aber das Segel sieht schön aus. Das Paddel von Carls Kanu dürfen sie abwechselnd benutzen. Wieder zwei Stunden später findet Berts Vater vier klatschnasse, müde Jungs an. Unendlich zufrieden sind sie mit diesem abenteuerlichen Tag und brauchen jetzt eine warme Dusche.

Wärme-Ebenen

Wir suchen die vier Wärme-Ebenen auf und beginnen mit dem Endergebnis: zufriedene Kinder, die etwas erlebt haben, die ihren Stoffwechsel und ihre Muskeln gebraucht haben, die sich begegnet sind in ihren jeweiligen Qualitäten und Ungeschicklichkeiten und trotz der Nässe herrlich warm geblieben sind.

Womit hat alles angefangen? Von Florian aus gesehen mit der Türklingel. Oder eigentlich mit Berts Frage nach dem Stock für den Mast. Florian ist aus seiner öden Stimmung geweckt worden; plötzlich hat er es vor sich gesehen. Er konnte seine Rolle in dem Plan erkennen und sich dafür begeistern. Das ist die erste Ebene: Die Wärme der Begeisterung. Die erwärmt dich, noch bevor du einen Schritt getan hast.

Dann beginnt das Abenteuer. Die vier Jungen begegnen sich, ärgern sich über einander, streiten und vertragen sich, entdecken, worin die anderen gut sind. Das ist die zweite Ebene. Die Wärme, die in der Begegnung entsteht. Das kann Sympathie sein, aber auch Reibungswärme. Sie arbeiten sich kaputt, die vier Jungs. Sie setzen ihre Muskeln ein und verbrauchen Energie.

Zum Glück besaßen sie einen ordentlichen Vorrat an Energie, unter anderem in ihrer Leber. Wenn sie den verbraucht haben, wird ihr Körper müde und matt. Sie merken es nicht sofort, aber sie brauchen etwas zu essen. Dann geht es wieder. Das ist die dritte Wärme-Ebene. Technisch ausgedrückt, ist das der Energiehaushalt. Damit ist der gesamte Prozess gemeint, den man braucht, um für sein Tätigsein genügend Energie und Kraft zu haben.

Die vierte Ebene ist die physische, messbare Wärme