Elin Lindell
Hanna(h) mit nur einem H.
Auf die Plätzchen, fertig, los!
Aus dem Schwedischen
von Birgitta Kicherer
Mit Illustrationen
von Karsten Teich
FISCHER E-Books
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die schwedische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel:
›Hemligt: Jördis hjärta Harry‹
bei Alfabeta Bokförlag AB, Stockholm
© (Text) Elin Lindell 2015
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
© (Illustrationen) Karsten Teich 2016
Umschlaggestaltung: Niklas Schütte, Siegburg,
unter Verwendung einer Illustration von Karsten Teich
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0223-9
In der Mittagspause fing alles an. Ganz plötzlich, einfach so, ohne Vorwarnung, teilte Judith mir mit, dass ihre Familie in den Weihnachtsferien nach China fährt.
»Meine Cousins sind dorthin umgezogen«, sagte sie. »Die haben jetzt einen Megafernseher in ihrem Zimmer.«
Zuerst brachte ich vor Überraschung kein Wort heraus. Judith und ich waren bisher noch nie weit voneinander weg gewesen.
Judith ist meine älteste Freundin. Also, damit meine ich nicht, dass sie viele hundert Jahre alt ist oder so, aber von all meinen Freunden kenne ich sie am längsten. Früher war sie meine allerbeste Freundin, aber inzwischen sagen wir lieber, dass wir sehr gute Freundinnen sind. Das ist viel besser als allerbeste.
Judith sah aus, als hätte sie gerade etwas total Normales gesagt, so was wie: »Gestern hat’s Rührei zum Abendessen gegeben« oder »Mein einer Zahn wackelt.« Sie schien es kein bisschen stressig zu finden, eine so weite Reise vor sich zu haben.
»Und was ist mit dem Weihnachtsmann?«, brachte ich schließlich heraus.
Judith kicherte. »Glaubst du etwa noch an den Weihnachtsmann?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte ich. »Aber feiert man dort drüben denn auch Weihnachten mit Weihnachtsgeschenken und allem Pipapo?«
»Na klar.«
»Müsst ihr wirklich so weit wegfahren?«, fragte ich und zwinkerte heftig. Eine winzig kleine Träne versuchte nämlich gerade, aus meinem Auge zu entkommen.
Judith zuckte mit den Schultern. »Ich fahr ja nicht zum Mond«, sagte sie und lachte.
Zum Mond oder nach China, das spielte doch keine Rolle. Beides kam mir gleich weit weg vor.
»Du wirst mir fehlen«, sagte ich, doch da klingelte es zum Pausenende, und Judith lief bereits aufs Klassenzimmer zu.
Im Klassenzimmer war es ganz dunkel, nur eine kleine Kerze brannte. Auf jeder Bank lag ein Pfefferkuchen. Frau Berg nahm ihre Gitarre und sang: Nun leuchtet weihnachtlich der Kerzen Schein. Sie sang sehr schön und höchstens ein bisschen falsch. Alles war super stimmungsvoll, bis Tindra mitten in der zweiten Strophe mit einer Bemerkung herausplatzte, wie immer, ohne sich vorher zu melden.
»Frau Berg, Frau Berg, ist Ihr Hamster gestorben?«
Frau Berg seufzte tief und hörte auf zu singen. Gleichzeitig nieste Tage hinter mir. Er ist so allergisch, dass man bloß irgendein Tier mit Pelz zu erwähnen braucht, und schon juckt es in seiner Nase.
»Als mein Hamster gestorben ist, da haben wir auch eine Kerze angemacht und was Trauriges gesungen«, fuhr Tindra fort, ohne Frau Bergs Antwort abzuwarten.
Ich sah Judith an und grinste.
Judith grinste zurück.
Wir beide brauchten nichts zu sagen. Trotzdem wussten wir sofort, was die andere gerade gedacht hatte – Tindra hatte soeben den Weltrekord in Dummheit gebrochen. Es musste doch jedem klar sein, dass Frau Berg die Kerze angezündet hatte, weil dies die letzte Stunde vor den Weihnachtsferien war!
Ich freute mich auf die Ferien. Drei Wochen lang würden mir folgende Sachen erspart bleiben:
Tindras hirnrissige Kommentare
Handarbeit
das ätzende Pferdegeschwätz von (fast) allen Mädchen in der Klasse
der Pferdegeruch von (fast) allen Mädchen in der Klasse
der Kartoffelauflauf im Speisesaal
Geräteturnen
Vor ein paar Monaten hätte Harry Hansson noch mit auf der Liste gestanden. Für ungefähr alle anderen in der Klasse ist er nämlich der oberbekloppteste Typ der Weltgeschichte. Harry führt sich immer superbescheuert auf, nervt alle und jeden und schlürft laut, wenn es Suppe gibt. Aber letzten Herbst hat er meine Katze gefunden, als sie weggelaufen war. Und seither ist er anders. Jedenfalls zu mir.
Manchmal besuchen Judith und ich Hermine, die auch in unsere Klasse geht. Hermine ist die Probeschwester von Harry, weil ihre Mutter und sein Vater seit einer Weile ein Paar sind. Dann erfinde ich jedes Mal einen guten Grund, um kurz zu Harry ins Zimmer zu schlüpfen. Zum Beispiel, dass ich den Kaktus gießen muss, der bei ihm auf dem Fensterbrett steht. »Der Kaktus hat nämlich einen Wahnsinnsdurst«, sage ich dann immer.
Jetzt schielte ich zu Harry Hansson rüber. Er saß ganz hinten im Klassenzimmer und malte sich mit einem Füller irgendwas auf den Arm. Sein Arm war voller kleiner blauer Striche, das sah echt total durchgeknallt aus.
Wenn er unbedingt ein Tattoo braucht, kann er sich doch eins zum Aufkleben besorgen, so wie alle andern auch, dachte ich.
Während Harry kritzelte, kippelte er mit dem Stuhl. Das war typisch. Komisch, dass er sich das traut, schließlich weiß doch jeder, dass man sich mit hoher Wahrscheinlichkeit den Hals bricht, wenn der Stuhl umkippt.
Plötzlich sah Harry auf. Aber nicht zu mir her. Stattdessen starrte er die Klassenzimmertür an, die sich langsam öffnete.
»Frohe Weihnachten! Sind alle Kinder hier schön brav gewesen?«
Durch die Türöffnung schaute eine rote Zipfelmütze mit einem blinkenden Lämpchen herein. Die Zipfelmütze saß auf dem Kopf von Hermines Mutter Elena, die breit lächelnd mit zwei prallgefüllten Säcken ins Zimmer trat.
Wir wussten alle, was in den Säcken war – natürlich Weihnachtsgeschenke! Unsere Eltern hatten nämlich vorher jeder ein Geschenk im Wert von höchstens fünfzig Kronen besorgen müssen.
Das mit den Geschenken hatten sich die Klasseneltern ausgedacht. Obwohl Hermine erst seit ein paar Monaten in unserer Klasse war, hatte ihre Mutter Elena es schon geschafft, unsere Klassenmutter zu werden. Und inzwischen kam es uns vor, als sei sie das schon immer gewesen. Ich glaube fast, dass sie als Klassenmutter geboren wurde, inklusive dieser blinkenden Zipfelmütze auf dem Kopf.
Hermine wurde rot und versank langsam immer tiefer hinter ihrem Tisch. Am Ende schauten nur noch ihre Ponyfransen über den Rand. Keine Ahnung, wofür sie sich so schämte. Alle anderen in der Klasse finden Hermines Mutter einsame Spitze.
Immer wenn meine Eltern zum Elternabend gehen, nerve ich sie damit, dass sie sich als Klasseneltern anbieten sollen. Dann lacht Mama jedes Mal laut und sagt: »Nur über meine Leiche.«
Papa murmelt meistens: »Vielleicht«, und dann kommt er nach Hause und sagt: »Ach je, hab ich ganz vergessen.« Meine Eltern sind echte Langweiler.
Elena benötigte zwei Wichtel als Helfer. Ich meldete mich sofort. Judith auch. Die übrige Klasse wurde zum Füßevertreten in den Flur geschickt, während wir im Zimmer bleiben durften.
Hermines Mutter drückte mir ein rotes Wollknäuel in die Hand und Judith ein blaues. Sie erklärte uns, dass sich in dem einen Sack Mädchengeschenke befinden und in dem anderen welche für Jungs.
»Hanna, du kannst rotes Garn um die Geschenke in diesem Sack binden. Und du, Judith, du bindest blaues Garn um die Päckchen im anderen Sack«, zwitscherte sie und griff nach einem Pfefferkuchen.
Judith und ich schauten uns an. Dass Jungs und Mädchen unterschiedliche Geschenke bekommen sollten – so was Blödsinniges hatten wir im Laufe unseres ganzen neunjährigen Lebens wirklich noch nie gehört. Weder Judith noch ich waren auf den Pferdeschnickschnack scharf, der sich garantiert in den Mädchenpaketen verbarg.
Plötzlich musste Elena unerwartet schnell wieder in ihren Friseursalon zurück. Da tauschten Judith und ich, ohne ein Wort zu verlieren, unsere Wollknäuel.
Als es dann ans Geschenkeverteilen ging, waren alle total hibbelig. Aus den Säcken schauten Fäden heraus, von denen man jeweils einen wählen durfte. Tindra hatte sich vorgedrängelt, um als Erste dran zu sein. Sie stand ewig lang da und konnte sich nicht zwischen zwei roten Fäden entscheiden. Wir übrigen fingen an, laut zu seufzen, doch das half nichts. Schließlich machte sie: »Ene mene muh.«
»Was ist denn das?«, rief sie angewidert aus, als sie das Geschenkpapier aufgerissen hatte. In der Hand hielt sie etwas Schwarzes aus Plastik.
»Oh, eine Darth-Vader-Maske!«, sagte Harry direkt hinter mir voller Neid.
Ich konnte seinen Atem an meinem Nacken spüren. Er roch nach Pfefferkuchen und Clementinen.
»So was kann ich doch nicht aufsetzen«, giftete Tindra weiter.
»Aber hallo, du sollst sie ja auf deinen Kopf setzen, nicht auf deine Muschi«, sagte Hermine.