SUPER PULP

Band 15 – Transformation

In dieser Reihe bereits erschienen

 

3601 – Suicide New!

3602 – Yellow Cab From Hell

3603 – Die heilige Hure

3604 – Easy Money

3605 – Notruf aus dem Scherbenviertel

3606 – Feed Me!

3607 – Der Komplex

3608 – Wolf und die Zombie-Insel

3609 – Nedylenes Todesschwadron

3610 – Girls! Girls! Girls!

3611 – Fleischwölfe

3612 – Überfall im Boudoir

3613 – Der heraufschauende Drecksköter

3614 – Hard Boiled

3615 – Transformation

TRANSFORMATION

In diesem Band:

Irene Salzmann

Marc Mrosk

Thomas Williams

Martin Compart

r.evolver & Ron Putzker

Charly Blood

Stefan Hensch

Oliver Müller

 

 

 

 

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IMPRESSUM

© 2022 Blitz Verlag,

Hurster Straße 2a, 51570 Windeck

Titelbild: Ron Putzker

Chefredaktion: Julia Götzl

Produktion: Robert Draxler

Alle Rechte vorbehalten

www.blitz-verlag.de

www.super-pulp.com

ISBN 978-3-95719-988-1

 

EDITORIAL

 

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Super Pulp ist da! In dieser Ausgabe bringen wir zum ersten Mal eine Doppelfolge, in der wir Stefan Henschs ultraspannenden Pandemie-Thriller „Cullen“ flotten Schrittes in Richtung Finale marschieren lassen. Und sonst? Martin Compart widmet sich in seiner History of Spy Novels mit John Buchan einem Klassiker des Genres und Charly Blood liefert den turbulenten Abschluss seines Thailand-Zweiteilers um den Ermittler Bernd Waidmann. Darüber hinaus unterhalten die „üblichen Verdächtigen“ auf gewohnt hohem Spannungslevel, und nicht nur das: Mit dem dritten Teil von „SATANA“ kommt auch die pulpige Erotik nicht zu kurz. Das müssen Sie lesen!

 

Ihr r.evolver

IM REICH DER TOTEN

 

Michael Hanke erlebt ein Roadmovie der besonderen Art: Vom Frau-Holle-Teich, an dem ihn monströse Erscheinungen heimsuchten, ging es mit einem Zwischenstopp im Krankenhaus weiter nach Wien, wo sich sein Schicksal erfüllen soll. Zumindest der längst verstorbenen Kaiserinmutter zufolge, die ihn damit beauftragt hatte, die Heilige Lanze aus der Schatzkammer der Hofburg zu stehlen. Gesagt, getan … Ihr erstes Versprechen hielt die ominöse Stimme in seinem Kopf: Nach erledigter Arbeit verhalf ihm die Kaiserinmutter mit einer Armee aus mörderischen Skeletten zur Flucht. Doch wird sie auch ihren zweiten Schwur halten und den Studenten mit seinem verstorbenen Zwillingsbruder wiedervereinen? Und falls dem so ist – bedeutet das seinen Tod?

 

Michael Hanke lag auf dem Boden am Ufer des Frau-Holle-Teichs, doch gleichzeitig stürzte er immer weiter in die Tiefe. Der Untergrund, die Realität, gab ihm keinen Halt mehr, denn sie hörte für ihn auf zu existieren.

Existierte er selbst noch?

Mit diesem Gedanken endete seine Bewusstlosigkeit und er ging über in einen Zustand, den er kaum zu beschreiben vermochte.

Lebte er noch? Er war sich nicht sicher, denn obwohl er dachte und sich seiner selbst bewusst war, spürte er keine Verbindung zu seinem Körper. War er tot? Hatte seine Seele das Fleisch verlassen?

Obwohl er nichts sah, hatte er das Gefühl, in einen endlosen Schacht zu stürzen. Immer schneller ging es hinab. Der Aufprall würde mörderisch sein und ihn umbringen.

Falls es noch etwas zu töten gibt.

Plötzlich spürte er Schmerzen. Irgendwo in seinem nichtexistenten Leib hatten sie ihren Ursprung. Zuerst waren sie kaum wahrnehmbar. Eher unangenehm als wirklich schmerzhaft. Doch die Intensität steigerte sich.

Die kleine Wunde, die auch von einer dünnen Feile oder sogar nur einem Nagel hätte stammen können, so klein wie sie sich zuerst anfühlte, wuchs an. Als würde jemand eine Klinge in ihm herumdrehen, um möglichst viel Schaden anzurichten.

Das gerade zurückgewonnene Körpergefühl wurde ersetzt durch Pein. Ein sengender Schmerz breitete sich in ihm aus, als der Schnitt nach oben geführt wurde. Mit jedem Zentimeter, den die Klinge in Richtung Hals wanderte, drohte er vor lauter Höllenqualen den Verstand zu verlieren.

Mike schrie, aber kein Ton war zu hören. Er wollte um sich schlagen, doch er hatte keine Arme, die er beherrschen und über die er befehlen konnte.

Er musste die Folter erdulden.

Die unsichtbare Klinge war nun an seinem Adamsapfel. Als gäbe es keinen Widerstand, zerfetzte sie ihm die Kehle. In einer Erinnerung an sein körperliches Ich hatte Mike das Gefühl, er würde an seinem eigenen Blut ersticken – aber natürlich atmete er in diesem Zustand auch nicht.

Nur noch wenige Zentimeter, dann wäre er von der Hüfte an in zwei Hälften zerteilt. Die scharfe Schneide erreichte sein Gehirn. Und dann explodierte alles wie in einer Supernova.

Endlich löste sich der Schrei aus Mikes Kehle. So laut, dass er Berge zum Einsturz bringen könnte.

Er fuhr aus seiner liegenden Position hoch, stützte sich auf die Ellenbogen und riss die Augen auf.

„Ein Traum! Es war ein verdammter Albtraum!“, keuchte er und tastete über seinen Oberkörper. Er erwartete, dass seine Finger eine tiefe Wunde finden würden, doch er fühlte nichts dergleichen. Ungläubig betrachtete er seinen heilen Oberkörper und seine Finger, die nicht in Blut getaucht waren, wie er es eigentlich erwartet hatte.

Nur einen Moment später stellte er allerdings fest, dass er mitnichten aus seinem Albtraum erwacht war. Ganz im Gegenteil.

Zwar befand er sich nicht mehr in Wien, wo er umgeben von lebenden Leichen darauf wartete, dass ihn entweder die Ordnungshüter abknallten oder er von Skelettfingern gepackt wurde. Dafür aber lag er an einem Ort, den er nicht kannte und der wenig einladend wirkte.

Ein diffuses Licht, dessen Quelle er nicht sah, ließ ihn eine leere Ebene erkennen. Es gab keinen weiteren Menschen in seiner Nähe. Nicht einmal ein Tier, eine Pflanze oder auch nur einen Stein. Es gab hier … nichts. Außer geisterhaften Nebelschwaden, die ihn umschwirrten.

Auch als er sich mühsam aufrappelte und einmal im Kreis drehte, erkannte er nichts außer einem erdigen Boden, aus dem eine Kälte strömte, die langsam durch seine Schuhsohlen in seinen Körper eindrang. Sie arbeitete sich hoch und erreichte bald die Knöchel, dann die Waden und hörte auch nicht an den Knien auf.

Michael fröstelte. Unwillkürlich schlang er die Arme um den Oberkörper, aber auch das half nicht.

Unsicher machte er ein paar Schritte in eine zufällige Richtung. Da es kein Ziel gab, das ihm logisch erschien, ging er eigentlich nur, um die Kälte aus den Knochen zu vertreiben. Seine Knie fühlten sich bereits steif an.

Mike versuchte zu joggen, aber schon nach wenigen Metern versiegte seine Kraft. So, als hätte sie ihm jemand abgesaugt. Was war das nur für ein seltsamer Ort? Angestrengt keuchte er. Als er seinen tiefen Atemzug hörte, fiel ihm auf, dass es darüber hinaus keine weiteren Geräusche gab. Dieser Ort war einfach … tot.

Mike zuckte zusammen, als er daran dachte. War er vielleicht doch nicht mehr am Leben? Aber wie und wo war er gestorben? Okay, in Wien hatte es genügend Möglichkeiten für ein schnelles wie gleichsam brutales Ableben gegeben, aber irgendwie glaubte er nicht daran.

Als die Kälte seine Hüfte erreichte und bereits mit eisigen Fingern nach seinen Organen griff, wurden seine Schritte immer langsamer. Bald torkelte er mehr, als das er ging. Trotzdem hielt er nicht an. Er hatte das Gefühl, dass er wirklich sterben würde, sobald

Aber war das nicht egal? Plötzlich hörte er seinen Herzschlag überlaut. Und er fand das Geräusch einfach widerlich! Ja, er wollte, dass es aufhörte. Diese dröhnenden Schläge störten die erhabene Stille dieses Ortes. Es war nicht richtig, einfach nicht richtig!

Mit seinen steifgefrorenen Fingern griff er nach seiner Brust. Gott, wie er sich doch wünschte, dass die Klinge vorhin real gewesen wäre. Dann könnte er jetzt nach seinem Herz greifen, nach diesem zuckenden, ekligen Etwas, und es sich herausreißen, damit endlich wieder Stille herrschte.

Doch wie ein Motor, der nicht mehr abgestellt werden konnte, trieb der Muskel seine Beine voran. Er konnte einfach nicht mehr anhalten. Schritt für Schritt wankte er weiter hinein in die graue Ödnis, die kein Ende zu nehmen schien.

Dann, völlig unvermittelt, tauchte wie aus dem Nichts etwas vor ihm auf. Er konnte die Distanz nicht abschätzen. Es mochten wenige Meter oder auch ein Lichtjahr sein. Die Kälte hatte sein Gesicht erfasst und legte eine Eisschicht auf seine Augen, die ihn alles unscharf sehen ließ.

Er wischte darüber, doch es half kaum. Trotzdem stand sein neues Ziel fest. Kaum hatte er den Entschluss gefasst, als er mit dem nächsten Schritt auch schon direkt davor stand.

Es war ein Zaun, der sich nach links und rechts bis in die Unendlichkeit zog. Direkt vor ihm aber war ein Tor, verschlossen durch einen einfachen Riegel. Ohne zu zögern, griff Michael danach.

Er ließ sich leicht zurückschieben, das Tor schwang geräuschlos auf. Doch noch während es sich bewegte, erklang ein schauriges Heulen.

Dann raste etwas auf Mike zu. Mit einer Geschwindigkeit, als wäre es ein Wirbelsturm. Die unaufhaltsame Naturgewalt prallte gegen ihn und riss ihn von den Beinen. Hart schlug er auf. Mehr aus Reflex als aus wirklicher Abwehr riss er die Arme hoch. Seine Hände berührten etwas Felliges. Instinktiv griff er zu und drückte das Tier, denn um nichts anderes konnte es sich handeln, von seiner Kehle weg.

Doch lange würde er gegen die Kräfte des Ungeheuers nicht bestehen. Er spürte schon, wie seine Muskeln in den Armen zu zittern begannen. Nicht mehr lange, dann würde das Untier – es war ein riesiger Hund, wie er jetzt erkannte – ihm die Kehle zerfetzen.

Hatte er nicht eh sterben wollen? Sogar von eigener Hand? Nichts wäre einfacher, als den Kampf einzustellen und das Monster seine Arbeit tun zu lassen. Ein Biss und es wäre um ihn geschehen. Doch etwas hielt ihn davon ab, so, wie er wenige Momente zuvor einfach nicht stehenbleiben und auf seinen Tod warten konnte.

Dann ertönte ein Pfiff. Einen Augenblick später ließ der Angreifer von ihm ab. Mit zwei weiten Sätzen entfernte sich der Hund von ihm. Doch auch aus der Distanz knurrte er ihn an und zeigte seine scharfen Zähne.

Michael lag schwer atmend auf dem Rücken, mal wieder.

Erneut war ein Pfiff zu hören. Nach einem letzten Bellen, das so laut war, dass es Mike fast die Trommelfelle zerriss, wandte das Vieh sich gänzlich ab und jagte davon.

Als er sich sicher war, nicht mehr angegriffen zu werden, mühte Mike sich zurück auf die Beine. Sein Körper schien nur noch aus Eis zu bestehen. Aus Eis und Schmerz.

Michael blickte dem großen Tier nach. Weit weg lief es nicht, es blieb in Sichtweite. An der Seite zweier Menschen hielt es an.

Menschen!

Ich bin doch nicht alleine hier!

Die Erkenntnis erfüllte ihn mit neuer Zuversicht, doch nur für Sekunden. Es war, als wären positive Gefühle hier nicht erlaubt und konnten daher nicht existieren.

Die beiden anderen – es waren ein Mann und eine Frau – kamen auf ihn zu. Er wartete auf sie. Seine Geduld wurde dabei auf eine lange Probe gestellt. Obwohl Zeit hier keine Bedeutung besaß, schien es ewig zu dauern, bis sie ihn erreichten. Was auch daran lag, dass die zwei, die mehr Lumpen als Kleidung trugen, unglaublich langsam gingen.

Endlich standen sie vor ihm.

„Es wird Zeit, dass du kommst“, sagte der Mann.

Die Frau nickte und ergänzte: „Die Herrin wartet auf dich.“

„Wer …“ Mike musste husten, seine Kehle fühlte sich an, als hätte er seit Äonen nichts mehr getrunken. Sein Hals kratzte und seine eigene Stimme klang fremd. „Wer seid ihr? Kennt ihr mich?“

„Ja“, antwortete der Mann.

„Nein“, sagte die Frau.

Mike schüttelte den Kopf. „Was denn nun?“

„Es ist unwichtig“, antworteten ihm beide. „Komm.“

Michael blickte zu dem Hund, der ihm fast bis zur Brust reichte, doch der verhielt sich nicht mehr feindselig.

Die beiden, die sich ihm weiterhin nicht vorstellten, schienen sehr sicher zu sein, dass er ihnen folgen würde, denn sie wandten sich ab und gingen voran. Mike zögerte einen Augenblick, doch was sollte er sonst tun, als mitzukommen?

Er ergab sich seinem Schicksal und schloss zu ihnen auf. Trotz seiner schweren Beine fiel es ihm leicht, denn auch jetzt schlichen die beiden geradezu.

„Wohin bringt ihr mich?“

„Zur Herrin.“

„Wer ist eure Herrin, verdammt? Und wo hält sie sich auf?“

„Elend.“

Mit dieser Antwort konnte Mike nichts anfangen. Zu einer Nachfrage kam er nicht mehr, denn ebenso unvermittelt, wie er den Zaun erreicht hatte, standen sie plötzlich vor dem Eingang zu einer Höhle.

„Da hinein“, sagten der Mann und die Frau wie aus einem Munde.

„Ist sie da drin?“

„Da hinein.“

Der große Hund knurrte, sodass Mike lieber nichts mehr erwiderte. Seine Begleiter machten ihm Platz und er trat dicht an die Öffnung im Fels heran. Ein großes gähnendes Maul, das ihn verschlingen wollte.

Dahinter lag alles in Finsternis. Aber als er den Eingang passierte, flammten Fackeln auf, die in metallenen Haltern in der Wand steckten. Wirklich hell wurde es trotzdem nicht. Es war, als würden Flammen und Schatten einen Kampf austragen, den keine Seite für sich entscheiden konnte.

Im flackernden Lichtschein sah Michael einen großen steinernen Tisch, umgeben von Stühlen aus dem gleichen Material. Sie alle waren leer, so wie der Rest der Höhle.

Er blickte zum Eingang zurück, konnte jedoch nicht nach draußen sehen. Auch seine beiden Führer und der Hund waren nicht mehr auszumachen.

Als er sich wieder zum Tisch umwandte, war der auf einmal nicht mehr leer. Stattdessen bog sich die dicke Platte förmlich unter verschiedensten Köstlichkeiten. Ein großer Braten lag auf einem silbernen Servierteller. Mehrere Beilagen in edlen Porzellanschüsseln rahmten ihn ein. Gebäck feinster Art und Nachspeisen standen ebenso bereit wie Getränke in Kristallgläsern.

Bei dem Anblick knurrte Michaels Magen lautstark. Sein Hunger war so gewaltig, wie er plötzlich über ihn gekommen war. Wann hatte er zuletzt etwas Richtiges gegessen? Ja, das war an dem Abend im Restaurant des Landgasthofes gewesen. Der Abend, an dem er den ersten längeren Kontakt mit Helena gehabt hatte. Gleichzeitig der Moment, von dem an sein Leben immer weiter aus den Fugen geraten war.

Egal, jetzt zählten nur die Speisen. Hastig lief er zum Tisch und nahm auf einem der Stühle Platz. Er griff nach einer Scheibe Fleisch und schlang sie gierig herunter. Der Braten war saftig und zart. Schnell hatte er das Stück verschlungen. Sofort griff er nach einem weiteren.

Mit der anderen Hand lud er sich Kartoffeln und Klöße auf seinen Teller. Er übergoss die große Portion mit dampfender Soße. Nun nahm er doch das Besteck, wobei er auf das Messer verzichtete.

Er stach einfach in den Kloß hinein, rührte damit in der Soße herum, bis er tropfte, dann biss er ab. Mit einem zweiten Bissen hatte er ihn verschlungen.

Das Ganze spülte er mit einem großen Schluck Bier herunter. Er leerte das Glas fast bis zur Neige. Als er es auf den Tisch stellte, füllte es sich von alleine wieder bis zur Schaumkrone.

Auch der Braten sah aus, als hätte er ihn nie angerührt. Und egal, was er noch in sich hineinschlang, alles tauchte wieder auf, als hätte er die Schüsseln und Teller nie angerührt.

Genauso fühlte es sich auch in seinem Bauch an. Weder Fleisch noch Gemüse füllten ihn. Normalerweise hätte ihm längst schlecht sein müssen. Stattdessen wurde er immer nur hungriger.

Wütend griff er nach einem Kanten Brot. Er brach die ofenfrische Kruste auf und stopfte es sich in den Mund. Mike kaute kaum noch, er schluckte fast sofort.

Nichts.

Sein Magen blieb leer. Der Hunger saß wie ein Untier in seinen Eingeweiden und wetzte die Krallen gegen seine Gedärme. Er brannte wie Feuer, vertrieb aber nicht die Kälte, die seinen Körper gefangen hielt.

Diesmal nahm er sich den kompletten Braten und verbiss sich darin, als wäre er ein Wolf, der sich seine Beute schnappte. Doch auch das brachte ihm keine Sättigung.

HUNGER!

„Du wirst niemals satt werden!“

Mike zuckte zusammen, als er die Stimme von der anderen Seite des Tisches hörte. Über das Fleischstück hinweg blickte er den Mann an, der aus dem Nichts aufgetaucht war und ihn angesprochen hatte.

Er sah in sein eigenes Gesicht. Nein, das stimmte nicht. Es war das seines Bruders Jens.

 

*

 

Obwohl der Hunger weiter in ihm wütete, unterbrach Michael sein Mahl. Er ließ den Braten auf seinen Teller sinken. Die Finger legte er zu beiden Seiten daneben auf den Tisch, als wolle er sich an der Tischplatte festhalten.

„Ist es nicht so?“, fragte sein Bruder, dessen Stimme völlig emotionslos klang. Tot. So wie die Welt, in der Michael sich aufhielt.

Auch im Gesicht seines Zwillingsbruders regte sich nichts. Es erinnerte ihn an eine starre Maske. Nicht der kleinste Muskel zuckte, die Augen lagen wie dunkle Steine in ihren Höhlen, den Blick fest auf ihn gerichtet.

„Du sagst nichts?“

„Was soll ich sagen?“

„Du könntest mir recht geben. Denn ich habe recht. Egal, wie viel du isst, du wirst niemals satt werden. Der Hunger wird nicht mehr vergehen.“

„Aber warum?“, rief Michael aus, der sich zusammenreißen musste, um nicht wieder nach dem Fleisch zu greifen. „Warum ist das so? Was ist das für ein Ort?“

„Es ist das Reich der Toten. Und darum sind diese Speisen auch nicht für die Lebenden bestimmt.“

Der quälende Hunger verhinderte beinahe, dass Michael verstand, was Jens ihm da gerade mitteilte. Er lebte noch. Aber er befand sich im Reich der Toten. Was sollte er hier, wenn er doch nicht gestorben war?“

„Aber mach dir keine Sorgen, kleiner Bruder.“

Er wäre also vor mir zur Welt gekommen.

„Ja, das wäre ich!“, schrie Jens plötzlich auf. Sein Schrei hallte von den Felswänden wider. Zum ersten Mal zeigte er so etwas wie eine Emotion. Michael hatte sich bereits gefragt, ob er dazu überhaupt fähig war.

Anklagend zeigte Jens mit dem Finger auf seinen Bruder. „Doch du hast dich vorgedrängt. Du wolltest zuerst ins Licht und ins Leben. Und hast damit meinen Tod besiegelt.“

NEIN!

Michael sprach es nicht aus, aber sein Bruder schien erneut zu ahnen – oder zu fühlen –, was er dachte.

„Doch, es ist die Wahrheit, kleiner Bruder.“ Er ließ seinen Arm sinken. Nun sprach er wieder so monoton wie vorher. Fast wie eine seelenlose Maschine. „Aber gräme dich nicht. Es wird alles in Ordnung kommen. Du kannst und wirst deine Schuld begleichen. Und dann …“

Jens griff nach einem Stück Fleisch, führte es langsam zum Mund. Noch auf dem Weg dorthin begann es zu vertrocknen. Eine dicke Schicht Schimmel legte sich darauf. Die Fasern lösten sich auf, bevor Jens es sich in den Mund schieben konnte. Was er sich auf die Zunge legte, war nicht mehr als verwestes Aas, trotzdem kaute er genüsslich.

Dann griff er nach einem Weinglas. Die rote Flüssigkeit trübte ein, widerlicher Gestank wehte zu Michael herüber. Ihm wurde sofort schlecht. Doch Jens kippte die Brühe in einem Rutsch herunter.

„Und dann“, nahm Jens den zuvor begonnenen Satz wieder auf, „wirst auch du dich hieran laben können. Denn diese Speisen sind für die Toten bestimmt.“

Etwas blitzte in den untoten Augen auf. Langsam erhob sich Jens. Er umrundete den Tisch und kam auf Michael zu. Jeder Schritt war Drohung und Versprechen zugleich.

Mike spürte Angst in sich aufsteigen. Todesangst.

„Aber, aber. Du wirst dich noch nicht vor deinem Bruder fürchten.“

Doch, das tat er. Michael war starr vor Angst. Er konnte sich nicht bewegen, als Jens schließlich neben ihm stand, nach seinem Kopf griff und ihn so drehte, dass sie sich in die Augen sahen.

„Es ist Zeit“, sagte Jens nur.

Zeit wofür, wollte Michael fragen, aber er brachte keinen Ton heraus. Seine Kehle war wie zugeschnürt.

Jens legte ihm die Hände auf die Schultern und ging die Hocke, sodass ihre Gesichter auf einer Höhe waren. Dann grub er seine Finger tief in Mikes Schultern.

Michaels Herz schlug immer schneller, es raste förmlich, drohte ihm den Brustkorb zu zersprengen. Wie ein gefangenes Tier, das gegen die Gitter anrannte. Jeder Aufprall verletzte es, schwächte es mehr und mehr, trotzdem gab es nicht auf.

Jens stöhnte, er verdrehte die Augen. Doch wo bei einem normalen Menschen das Weiße der Augäpfel sichtbar geworden wäre, blieben sie schwarz. Eine absolute Dunkelheit, die kein Licht duldete. Und sie griff auf Michael über.

Schwarze Fäden lösten sich daraus und näherten sich seinem Gesicht. Panisch blickte Mike darauf. Innerlich schrie er auf, als sich aus seinen Augen wiederum weiße Fäden lösten.

Die beiden unterschiedlichen Strömungen schienen einander zu betasten, wie mit Fingerspitzen. Sie umspielten einander. Nach und nach verwoben sie sich zu einem Band. Und etwas zog sich aus Michaels Körper zurück. Dafür drang etwas anderes in ihn, nahm den freigewordenen Platz ein.

Der Austausch beschleunigte sich, das Band zwischen den beiden so gleichen und doch völlig unterschiedlichen Zwillingsbrüdern verstärkte sich.

Michaels Puls lag bei fast zweihundert. Dann wurde er mit einem Mal langsamer. Er sank auf ein normales Niveau, doch Mike konnte sich nicht darüber freuen, denn sein Herz verlangsamte sich weiter. Die Pausen zwischen den einzelnen Schlägen wurden länger. Mittlerweile lagen sie schon bei mehreren Sekunden. Dann … ein letzter Schlag.

Mit einem Ruck schwand der letzte Rest Leben aus ihm, die Bänder lösten sich. Wie ein zurückschnellendes Gummi schlug ihm die Finsternis ins Gesicht. Und sein Herz verstummte.

Die Kälte, die er vorher schon gespürt hatte, potenzierte sich.

Es war vollendet.

Michael Hanke war tot.

Trotzdem sah er noch, wie sein Bruder ihn losließ und einen Schritt zurückging.

„Danke, kleiner Bruder“, sagte Jens. Seine Stimme klang wesentlich menschlicher als zuvor. Mit dem nächsten Schritt löste er sich auf.

Mike rutschte vom Stuhl und schlug auf den Boden auf. Er spürte es nicht mehr.

Michael Hanke war tot.

Diesmal wirklich.

 

*

 

Wenn Michael Hanke noch etwas wahrgenommen hätte, würde er feststellen, dass er nicht mal als Toter seine Ruhe hatte.

Er war kaum auf dem Boden aufgeschlagen, als sich aus einem im Dunkeln liegenden Teil des Saals eine mächtige Gestalt vom Boden erhob. Auf baumstammdicken Beinen, die einen massigen, geschuppten Leib trugen, näherte sich mit stampfenden Schritten ein Drache.

Der Kopf des Ungetüms kam immer näher, wobei das Ende seines Körpers weiter in der Dunkelheit verblieb. Ein Beobachter hätte so nicht seine wahre Größe zu schätzen vermocht.

Aber allein der Schädel des Drachen war länger als Mikes toter Körper. Aus dem mit mehreren Reihen spitzer Zähne bewehrten Maul fuhr eine rotschwarze Zunge, die über den Leib des Menschen tastete, um das Gesicht zu finden.

Zufrieden schnaubte das Untier. Es hatte gefunden, was es suchte. Gerade wollte es den Schädel senken, um seine spitzen Zähne in das Fleisch zu schlagen, als ein lauter Schrei durch die Halle gellte: „Halt!“

Tatsächlich ließ das Tier von dem reglosen Körper ab.

„Zurück!“, wurde ihm befohlen, doch dem verweigerte sich der Drache.

Er riss das Maul auf und ließ ein bedrohliches Brüllen hören.

„Wage es nicht, ihn anzurühren!“, schrie der Eindringling und kam näher. „Die Zeit ist noch nicht gekommen. Und dieser dort gehört nicht hierher, auch wenn deine Herrin es so will. Aber sie hat mir zu gehorchen, hörst du? Mir! Und damit musst auch du meinem Willen untertan sein.“

Die Stimme gehörte einem fast schon unscheinbaren Mann: nicht besonders groß, eher schmächtig, das Gesicht aber ausdrucks- und willensstark. Und in der Stimme lag eine Kraft, der sich der Drache nur schwer widersetzen konnte.

Erneut brüllte er auf, ging dabei aber schon einen Schritt rückwärts.

„So ist es gut. Du wirst das Blut von anderen trinken, aber nicht von diesem hier. Fort mit dir!“

Ein letztes Mal fauchte der Drache, dann zog sich sein massiger Körper so weit zurück, bis er nicht mehr zu sehen war. Einzig ein leiser werdendes Grollen kündete noch von seiner Anwesenheit im Dunkeln.

Der Mann wartete, bis auch dieses verklungen war, dann setzte er sich in Bewegung. Dabei schien es, als würden die wenigen Schritte ihn anstrengen. Wenig war geblieben von der Macht, die er bis eben ausgestrahlt hatte.

Neben Michael Hanke ging er in die Hocke.

„Es sieht so aus, als wäre ich gerade noch rechtzeitig gekommen“, murmelte er und legte seine Hände an die Schläfen des Toten. Leise murmelte er Worte in einer Sprache, die kein Mensch mehr zu verstehen vermochte.

Plötzlich schlug der Tote die Augen auf.

„Und jetzt fort von hier“, presste der Mann angestrengt heraus. Dann lösten sie sich beide auf.

 

*

 

Zuerst war da nur Dunkelheit. Doch sie unterschied sich von derjenigen, die ihn zuvor gefangen gehalten hatte, zur Reglosigkeit verdammt. Sie war mehr gewesen als die Abwesenheit von Licht.

Außerdem war es jetzt nicht komplett finster. In endloser Ferne sah Michael helle Punkte. Vielleicht ergaben sie ein Bild, aber sein Gehirn konnte es nicht erfassen. Es war, als hätte er vergessen, was es bedeutete, etwas zu sehen.

Auch die anderen Sinneseindrücke waren ihm fremd. Das leise Plätschern, das er hörte – was war das? Dazu kam die Kälte, die sich vom Boden her durch seine Kleidung fraß. Auch sie war anders als das eisige Korsett, das ihn zuletzt umfangen hatte. Komplett anders. Sie war … Leben?

Tief in ihm steckte noch die Kälte, die seinen Tod vorbereitet hatte. Es fühlte sich an, als würde sie nie mehr ganz verschwinden, sondern ein Teil von ihm bleiben.

Er versuchte, sich aus seiner liegenden Position zu erheben, doch er schaffte es nicht. Hatte er auch vergessen, wie man sich bewegte?