3Gerhard Roth

Aus Sicht des Gehirns

Vollständig überarbeitete Neuauflage

Suhrkamp

7Vorwort zur überarbeiteten Auflage

Die vorliegende Ausgabe ist eine vollständig überarbeitete Version des 2003 erstmalig erschienenen Buches Aus Sicht des Gehirns. Dessen Erscheinen fiel zeitlich zusammen mit dem Beginn der in der wissenschaftlichen wie medialen Öffentlichkeit heftig geführten Diskussion um die Willensfreiheit. Dabei waren das Kapitel 10 der bisherigen Fassung sowie die ausführlichere Darstellung in der überarbeiteten Auflage meines Buches Fühlen, Denken, Handeln, die zeitgleich ebenfalls im Suhrkamp Verlag erschien, vielzitierter Anlass zu Zustimmung und Kritik. Ich hatte geglaubt, in beiden Texten eine sowohl wissenschaftlich als auch philosophisch ausgewogene Position zu vertreten. Das wurde aber von einer Reihe von philosophischen Kritikern nicht so gesehen; vielmehr unterstellten sie, dass ich – neben anderen Neurobiologen – Willensfreiheit komplett als »Illusion« ablehne und sogar die Existenz eines Willens in Zweifel ziehe. Tatsächlich aber wandte ich mich nur gegen die traditionelle dualistisch-indeterministische Auffassung von Willensfreiheit, die allerdings nicht nur unserem alltäglichen Empfinden der Handlungssteuerung, sondern auch dem deutschen und kontinentaleuropäischen Strafrecht und seinem Schuldbegriff zugrunde liegt.

Es dauerte einige Jahre, bis sich von philosophischer Seite eine differenziertere Wahrnehmung des Standpunkts der beteiligten Hirnforscher herausbildete. Gleichzeitig veränderte sich auch – zumindest bei mir – die Einschätzung der Aussagekraft der vielzitierten Experimente Benjamin Libets und seiner Nachfolger. Und schließlich ergab sich für mich in der engen Zusammenarbeit mit dem Philosophen Michael Pauen eine Neukonzeption des Begriffs »Willensfreiheit«, die den Gegensatz zwischen Willensfreiheit und Determiniertheit philosophisch und wissenschaftlich auflöst. Michael Pauen und ich haben unsere gemeinsame Auffassung in dem Buch Freiheit, Schuld und Verantwortung – Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit dargelegt, das im Herbst 2008 ebenfalls im Suhrkamp Verlag erschienen ist, und ich habe entsprechend das Kapitel 10 des vorliegenden Buches umgearbeitet.

Erfreulich ist, dass nach anfänglicher und zum Teil harscher Kritik von Strafrechtlern, Strafrechtstheoretikern und forensischen 8Psychiatern sich inzwischen eine Offenheit entwickelt, über die – auch in Kreisen der Strafrechtler bekannten – Unzulänglichkeiten des deutschen Strafrechts (insbesondere des § 20) und des ihm zugrunde liegenden Schuldbegriffs zu diskutieren und für die juristische Praxis nutzbar zu machen. Ich habe hierzu mit der Rostocker Strafrechtlerin Grischa Merkel (früher Detlefsen) kürzlich ausführlich Stellung genommen (Merkel und Roth, 2008).

Allerdings hat die Diskussion um die Willensfreiheit die Aufmerksamkeit von anderen neuen, zum Teil bahnbrechenden Erkenntnissen der Hirnforschung und benachbarter Disziplinen etwas abgelenkt. Diese neuen Erkenntnisse betreffen folgende Themenbereiche:

Die Erforschung der neurobiologischen Grundlagen von Bewusstseinszuständen ist durch neuartige Auswertemethoden (z. B. unter Verwendung »lernender« künstlicher neuronaler Netze) weiter vorangetrieben worden. Dadurch gelingt es anders als früher, scheinbar verrauschte Aktivitätszustände im Gehirn, z. B. im primären visuellen oder im präfrontalen Cortex, in ihrem Inhalt zu erfassen und so den Prozess des Bewusstwerdens von Wahrnehmungsinhalten und Entscheidungen noch deutlicher darzustellen. Dies hat auch Auswirkungen auf die Frage nach dem zeitlichen Auftreten des »Willensrucks«, wie sie erstmals von Libet untersucht worden war, und bestätigt die Auffassung, dass geistig-bewusste Zustände unauflösbar mit bestimmten Hirnprozessen verbunden sind, dass man aus der Kenntnis des einen verlässlich auf die Existenz des anderen schließen kann, und dass unbewusste Hirnaktivitäten bewussten Erlebniszuständen in gesetzmäßiger Weise vorhergehen. Ob damit das Geist-Gehirn-Problem von Philosophen demnächst als in befriedigendem Sinne gelöst betrachtet oder weiterhin als »ewiges Rätsel« kultiviert werden wird, sei dahingestellt.

Ein weiteres »ewiges Problem« der Geistesgeschichte ist das »Anlage-Umwelt-Problem«, d. h. die Frage, ob menschliches Handeln hauptsächlich bzw. vornehmlich von »angeborenen Faktoren« (d. h. Genen) bestimmt ist, oder von Lernen, Erziehung und damit von Umwelteinflüssen. Die neue Sicht dieser Zusammenhänge ergibt sich aus der Erkenntnis, dass Gene in aller Regel nicht direkt ein bestimmtes Verhalten oder eine bestimmte Persönlichkeitseigenschaft bestimmen (etwa als »Verbrecher-Gen« oder »Intelligenz-Gen«), sondern dass an Persönlichkeits- und Verhaltenseigenschaften viele 9Gene meist sehr indirekt (d. h. über komplexe epigenetische Hirnentwicklungsprozesse) beteiligt sind, die sich je nach Umwelteinflüssen in unterschiedlicher Weise im Verhalten ausdrücken. Dabei sind Gen-Varianten, so genannte Polymorphismen, besonders interessant, weil sie in der Normalpopulation auftreten, wenngleich meist in niedriger Frequenz. Ebenso hat sich der seit langem hartnäckig behauptete wie bestrittene Einfluss frühkindlicher Erfahrung, besonders in Form psychischer Traumatisierung infolge Misshandlung, Vernachlässigung, sexuellem Missbrauch usw. voll bestätigt, und dieser Einfluss lässt sich auch neurobiologisch eindeutig nachweisen. Aus heutiger Sicht sind es vier Faktoren, die unsere Persönlichkeit und unser Handeln bestimmen, nämlich genetische Prädispositionen (Polymorphismen), Eigenheiten der Hirnentwicklung, frühe (z. T. vorgeburtliche) psychische Prägungen, insbesondere im Rahmen der Bindungserfahrung, und weitere psychosoziale Erfahrungen in Kindheit und Jugend. Zwischen diesen vier Hauptfaktoren besteht sowohl eine positiv wie auch negativ sich verstärkende oder schwächende Interaktion, wie insbesondere die Studien zur Genese gewalttätigen Verhaltens und psychischer Erkrankungen zeigen.

Das dritte Gebiet, auf dem sich derzeit eine stürmische Entwicklung vollzieht, schließt sich zum Teil hier an und betrifft die Aufklärung der Prozesse, die mit der Entwicklung der Persönlichkeit verbunden sind. Auch hier lassen sich verschiedene Faktoren identifizieren, die unsere Persönlichkeit formen, nämlich erstens genetisch fixierte Verhaltensprogramme, zweitens die Ergebnisse der individuellen emotionalen Konditionierung, drittens die Sozialisation des Verhaltens und viertens kognitive Denk-, Entscheidungs- und Kommunikationsmuster. Diese Faktoren werden zu ganz unterschiedlichen Entwicklungszeiten wirksam und bestimmen unsere Persönlichkeit »von unten nach oben«, d. h., jede frühere Entwicklungsstufe bestimmt weitgehend den Rahmen für die nächste Stufe, aber gleichzeitig bilden sich Kontrollmechanismen in entgegengesetzter Richtung aus. Diese Erkenntnisse betreffen auch die Frage nach der Veränderbarkeit des Menschen in seiner Persönlichkeitsstruktur. Es wird dabei deutlich, warum es so schwierig ist, andere Menschen zu ändern, und besonders schwer, sich selbst zu ändern. Dies wirft auch Licht auf die Frage nach dem Verhältnis von Verstand und Gefühlen und führt zur Erkenntnis, dass auch diese al10tehrwürdige Dichotomie fragwürdig geworden ist.

Das vierte Gebiet hängt wiederum stark vom Erkenntnisfortschritt im zweiten und dritten Gebiet ab und betrifft die neurobiologischen Grundlagen des Psychischen, psychischer Erkrankungen und deren Therapie. Bei psychischen Erkrankungen einschließlich der Persönlichkeitsstörungen, zu denen auch antisoziales, gewalttätiges Verhalten gehört, zeigt sich am deutlichsten die Interaktion zwischen den oben genannten vier Faktoren, wobei der zweite Faktor (Hirnentwicklung) und der dritte Faktor (frühe psychische Prägung und Bindungserfahrung) wohl die wichtigsten sind. Allerdings ist wirklich verlässliches Wissen über die Grundlagen psychischer Erkrankungen noch rar, weil es hier neben dem Mangel an einem guten »Tiermodell« viele große methodische Schwierigkeiten gibt – ganz abgesehen von der hohen individuellen Variabilität. Noch dramatischer sieht es bei der Frage aus, was im Gehirn der Patienten geschieht, deren Psychotherapie erfolgreich war – oder eben nicht. Hier ist das derzeitige Wissen noch unzulänglicher, aber deshalb sind die Forschungsanstrengungen noch intensiver.

Das Bemerkenswerte an diesen Entwicklungen ist, dass es sich hierbei nicht um rein neurobiologische, sondern um eine zutiefst interdisziplinäre Forschung handelt, an der neben den Neurobiologen bzw. Hirnforschern auch Neuropsychologen, Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologen, Psychiater, Psychotherapeuten, Soziologen, Ökonomen und Philosophen beteiligt sind. Diese Interdisziplinarität ist der beste Garant gegen das Schreckensbild eines »Homo neurobiologicus«, d. h. des Menschen, der von Gehirnprozessen vollständig beherrscht wird, kein eigenes Ich und keinen freien Willen mehr hat. Das Gegenbild lautet, dass das Gehirn der Ort des Zusammenwirkens der genannten vier Faktoren und der aktuellen Einflüsse ist, und die Aussage »das Gehirn steuert unser Verhalten« nichts anderes heißt, als dass diese Faktoren über das Gehirn wirken. Worüber sonst!

In der vorliegenden Ausgabe habe ich alle Kapitel überarbeitet, dabei unklare Formulierungen, Fehler zu beseitigen und neue Erkenntnisse einzuarbeiten versucht. Größere Umarbeitungen und Ergänzungen finden sich in den Kapiteln 3, 6, 8 und 9; das Kapitel 10 habe ich vollständig neu geschrieben. Ebenso habe ich Änderungen bei den Abbildungen vorgenommen und die Literaturliste aktualisiert.

Brancoli, August 2008

11Vorwort

Die Hirnforschung dringt in Gebiete ein, die ihr als einer Naturwissenschaft lange Zeit vollkommen verschlossen schienen. Dies gilt für geistige Leistungen des Menschen wie Wahrnehmen, Denken, Vorstellen, Erinnern und Handlungsplanen, inzwischen aber auch für emotionale und psychische Zustände. In diesem Zusammenhang ergeben sich unweigerlich Fragen nach der Natur des Geistes und des Bewusstseins, den Wurzeln der Persönlichkeit und des Ich, den Möglichkeiten und Grenzen von Erziehung und von Psychotherapie und schließlich nach der Existenz von Willensfreiheit.

Dies wiederum führt zur Diskussion um eine grundlegende Änderung des Bildes, das der Mensch von sich selbst entworfen hat, nämlich des Bildes von einem Wesen, das sich aufgrund von Geist, Bewusstsein, Vernunft, Moral und freiem Willen weit über alle anderen Lebewesen erhebt. Diese Diskussion versetzt viele Menschen in große Unruhe. Abhilfe können hier nur sachliche Information und nüchterne Interpretation schaffen.

Ich habe in meinen beiden Büchern Das Gehirn und seine Wirklichkeit und Fühlen, Denken, Handeln sowie in Buch- und Zeitschriftenaufsätzen versucht, hierzu einen Beitrag zu leisten. Obgleich sich die beiden genannten Bücher eines beträchtlichen Erfolges erfreuen, beklagen viele Leser zugleich die Fülle der wissenschaftlichen Details und die Kompliziertheit der Zusammenhänge. Man mag dies mit der Bemerkung abtun, dass man komplizierte Dinge nicht beliebig einfach darstellen kann.

Dann erhielt ich die Bitte des Suhrkamp Verlages, einige Aspekte der Hirnforschung und ihre Bedeutung für das Menschenbild in einer Weise darzustellen, die keine allzu große Geduld und Anstrengung erfordert, und ich habe dies als eine interessante Herausforderung angesehen. Der Leser möge entscheiden, in welchem Maße ich dem gerecht geworden bin. Wichtig ist, dass bei aller Allgemeinverständlichkeit die wissenschaftliche Korrektheit erhalten bleibt. Alle zwölf Kapitel sind eigens für dieses Buch geschrieben; inhaltliche Überschneidungen mit den beiden genannten Büchern wurden dabei bewusst in Kauf genommen. Der Wissensstand der Hirnforschung ist schließlich nicht beliebig vermehrbar.

12Meiner Frau und Kollegin Dr. Ursula Dicke danke ich für zahlreiche fachliche Ratschläge. Für die Durchsicht der Texte danke ich meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Nicole Becker, Christine Egger, Monika Lück, Uwe Opolka und Dr. Daniel Strüber vom Hanse-Wissenschaftskolleg.

Selbstverständlich gehen alle Fehler zu meinen Lasten.

Lilienthal, im Mai 2003