Lara Joy d´Angelo

Arschengerl

Die Reiseorte entsprechen der Wirklichkeit,
Personen und Handlung sind fiktiv.

Weitere Fotos der Inseln unter:
www.carmenwieland.com

Inhaltsverzeichnis

ROMINA

CLAUDIA

DUBROVNIK

DAVID

NIKO

KOTOR

PERAST

ŠIPANSKA LUKA

MLJET

KORČULA

SLANO

PLOČE – NERETVA

MOSTAR

VELA LUKA

HL. MICHAJLO

ŠIPAN SUDURAD

BRAČ

HVAR

V o r w o r t

Nicht der Autor schreibt das Buch,
sondern das Leben.

Wenn du den Kopf hebst,
kannst du die Sterne sehen.

Sie geben dir die Kapitel vor,
doch nur DU bist
dein eigener Autor.

Lara Joy d´Angelo

ROMINA

Nie buchte Romina für Reisen etwas anderes als Direktflüge – und wenn es irgendwie ging, dann auch nur ab Salzburg. Aber diesmal war es anders. Sie wusste genau, wohin sie wollte und dafür musste sie eben Kompromisse eingehen. Grundsätzlich war sie eher der praktische Typ, aber durch ihr Organisationstalent auch wieder flexibel genug, wenn es darauf ankam. Also stieg sie für fünfunddreißig Minuten in den Flieger nach Wien und von dort weg flog sie sechzig Minuten bis an ihr Ziel: Dubrovnik. Dort im Hafen stand die MS Marius und Romina würde zwei Wochen lang tagsüber nur Wasser sehen. Salzwasser und weite Horizonte. Das war es, was sie gerade brauchte. Weg vom Alltag und den Menschen, die ihr Leben negativ beeinflussten.

Natürlich, wenn sie die gesamte Flughafenzeit rechnete, hätte sie auch mit dem Auto fahren können. Allerdings war ihr diese Strecke alleine zu langatmig, zu viel nur geradeaus. Zudem liebte sie es, wenn der Flieger die Wolkendecke durchbrach und das Gefühl aufkam, „endlich weg“ zu sein. Sehr umweltfreundlich war die Fliegerei natürlich nicht, das war ihr klar. Obwohl, alleine mit einem PKW unterwegs zu sein, war bestimmt keine Alternative, auch nicht für die Umwelt. Mit dem Zug, dachte

Romina, das wäre zu vereinbaren und würde sie bei ihrer nächsten Reise in Erwägung ziehen. Vorausgesetzt, sie hätte dann mehr Zeit zum Planen.

Das Umsteigen in Wien verlief sehr unproblematisch und rasch, nur ein komisches Gefühl stieg in ihr hoch, wenn sie an ihr Gepäck dachte, welches sie in Salzburg aufgegeben hatte. Hoffentlich wird es in Wien in den richtigen Flieger verladen? Der Gedanke, dass das nicht so sein könnte, verursachte ihr ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. In Wien war der Aufenthalt nicht wirklich lange. Sie selbst schaffte es gerade noch rechtzeitig von einem Gate zum anderen, wie sollte ihr Koffer dies in der Zeit schaffen mit den vielen anderen Koffern, die nicht nach Dubrovnik mussten? Am liebsten wäre es ihr gewesen, sie hätte sich selber drum kümmern können.

Überhaupt kümmerte sich Romina am liebsten selber um alles, dann wusste sie auch mit Sicherheit, dass es klappte. Bereits in frühen Jahren wurde ihr eingetrichtert: „Verlass dich nicht auf andere, dann bist du nicht verlassen.“ Ihre Mutter war immer sehr dahinter, Romina und ihre Schwester sehr selbstständig zu erziehen. Davon resultiert dann eben SELBST und STÄNDIG. Das konnte man auch nicht einfach so ablegen. Romina versuchte das flaue Koffergefühl zu verdrängen, ändern konnte sie es ja jetzt doch nicht. Sollte der Koffer in Dubrovnik nicht ankommen, konnte sie sich immer noch Sorgen machen. Die Einstellung hatte sie sich spät aber doch mit ihren 38 Jahren selbst angeeignet. Sich nicht vorher schon Sorgen zu machen. Wenn es dann soweit war, reichte es noch vollkommen aus, dass das Scheißgefühl hochkam. Es gab also keinerlei Gründe es unnötig vor zu verlängern.

Die warme Luft war bereits beim Aussteigen vom Flieger zu spüren, sie roch nach Salz. Und siehe da, auch der Koffer hatte es geschafft. Ein einziger Mann mit einem einzigen Schild, auf dem „MS Marius“ stand, wartete bereits auf sie. Wunderbar, alles klappte, so mochte es Romina.

Sie stieg bei dem Mann mit dem Schild in dessen Taxi ein. Er hatte den Auftrag, sie zu ihrem Schiff am Hafen zu bringen. Entlang der Küstenstraße ging es ihr dann doch plötzlich zu schnell. Das ist ja Turboreisen. Kein langsames Ankommen, kein Anreisen, Peng ich bin am Meer. Naja, dachte sich Romina, perfekt organisiert, aber das Anreisen, das darauf Zukommen fehlte ihr.

Im nächsten Moment bog das Taxi auch schon in das Hafengelände ein und vor ihr stand das Schiff. Die MS Marius gehörte zu so einer Gruppe von Motorseglern, auf der meist Platz für 15 bis 30 Passagiere war. Bei dem Wort Motorsegel steht „Motor“ vor „Segel“ und so wurde es auch meist gehandhabt. Das Wort „Segel“ könnte man zur Gänze weglassen.

Die Erfahrung mit solchen Schiffen war für Romina nicht ganz neu. Erst hatte sie zwar auf so ein Erlebnis jahrelang gewartet und es schien auch wie ein unerfüllbarer Traum, denn keiner von ihren zwei Langzeitfreunden hätte sich freiwillig auf so eine Reise eingelassen. Immer wieder, wenn sie in früheren Zeiten am Meer Urlaub machten und abends am Hafen spazierten, lagen solche Boote vertäut an den Docks. An den Relings hingen die nassen Badetücher zum Trocknen und die Gäste saßen auf den Schiffen gemütlich zusammen. Das hatte bei Romina stets ein Ich-will-auch-Gefühl ausgelöst. Aber eben nur bei Romina.

Als sie vor vier Jahren das erste Mal seit ihrer Kindheit freiwillig Single wurde, überredete sie eine nicht ganz freiwillige Single gewordene Freundin zu so einem Inselhüpfen, nur für eine Woche. Da dies jedoch bereits in der darauffolgenden Woche hatte stattfinden sollen, war jedes Schiff, welches sie aus dem Katalog aussuchten, bereits belegt. So ergab es sich, dass sie auf das kleinste, älteste und mit Abstand kostengünstigste Schiff kamen. Für wenig Geld machte es doch gleich noch mehr Spaß und die Inseln blieben ja die gleichen.

Aber auch das sah nur Romina so. Die unfreiwillige Singlefreundin war zwar eine Spitzengesellschaft für die siebenstündige Autofahrt, aber an Bord drehte sich das. So wie dieses kleine, alte Schiffchen zwischen den neueren, größeren Schiffen im Hafen stand, bekam es für Romina noch mehr Flair und für die Freundin eine Enttäuschung pur. Den halben Tag ging es darum, was die anderen Schiffe alles zu bieten hätten und deutliche wortstarke Unzufriedenheit ging mit ihnen an Bord. Die Abende auf Krk, Rab, Cres, Mali Losinj, Osor und Ilovic waren für alle Reisenden gleich schön, nur dass die Meisten dafür eben das Dreifache bezahlten. Auf den Inseln musste sich Romina selber bei der Nase nehmen, denn die Freundin war wesentlich unternehmungslustiger als sie. Romina hätte ein Glas Wein am Hafen vollkommen ausgereicht um glücklich zu sein. Doch wenn man gemeinsam reist, passt man sich bestmöglich an. So wurden jeden Abend Kirchen besichtigt, auf Rab gab es gleich vier davon. Die anderen Gäste an Bord waren ein gemischter Haufen, sehr unkomplizierte Leute. Romina erinnerte sich an ein Pärchen mit Freundin sowie an eine alleinerziehende Mutter mit einem jugendlichen Kind. Dieses Launenmonster hätte sich perfekt mit ihrer Freundin zusammentun können. Morgens entwischte ihr kein Lächeln, Tagsüber je nach Verfassung. Wobei Verfassung hieß, dass es ihr zu heiß, zu windig oder zu unluxuriös war. Dann waren noch zwei Freundinnen an Bord, die einen alternativen und sehr sparsamen Eindruck machten. Außerdem waren ein italienisches und ein polnisches Pärchen mit von der Partie. Romina beherrschte leider keine der beiden Sprachen. Aber morgens ein Lächeln versteht man überall.

Sich mit den anderen etwas mehr zu unterhalten, stellte sich jedoch für die Freundin eher problematisch dar, sie fühlte sich sehr schnell von Romina vernachlässigt. Meist gelang es Romina jedoch, ihre gute Laune trotzdem beizubehalten. Bis auf den letzten Abend. Sie waren schon am Zielhafen angelangt und hätten noch eine Nacht am Schiff gehabt. Rominas Vorschlag wäre gewesen, mit der Crew abends auszugehen und sich unter die Einheimischen zu mischen. Ihre Freundin hingegen sah überhaupt keinen Anlass, eine Nacht länger zu bleiben als notwendig. Obwohl sie dafür bezahlt hatten, fuhren sie noch in derselben Nacht nach Hause. Diese Heimfahrt verlief sehr ruhig, Romina hatte genug.

Bereits nach zwei Tagen auf dem Schiff, hatte sich Romina gefragt, warum sie solange auf etwas gewartet hatte, was sie längst und am allerbesten alleine hätte wagen können, und versprach sich selbst eine Wiederholung auf einem anderen Schiff mit einer anderen Route, aber eben alleine. Man ist nämlich nirgends auf der Welt alleine, nur unabhängig und frei. Nie, wirklich nie wäre sie zuvor auf die Idee gekommen, einfach alleine dann und dort hinzufahren, wie es ihre Zeit erlaubte und wo sie hin wollte. Nun stellte sie fest, dass sie nirgendwo hinkam, wenn sie auf die anderen warte. Und auf der ganzen Welt waren Menschen wie sie.

Die unfreiwillige Singlefreundin ist mittlerweile wieder freiwillig Nichtsingle. Romina mag sie immer noch ganz gerne, auch wenn sie mit ihr nicht mehr in Urlaub fahren würde. Jedoch bei jedem Zusammenkommen mit anderen Freunden erzählt die Freundin heute noch davon, was sie nicht alles gemeinsam erlebt hätten. Nämlich Kirchen angeschaut, dachte sich Romina jedes Mal. Die Freundin machte seither wieder Pärchen-Urlaub, denn wahre Liebe hält zu windig, zu heiß und zu unluxuriös schon aus. Romina reiste seither alleine. Das klappte nun auch jedes Jahr, manchmal sogar zweimal im Jahr, weil sie sich nur nach ihrem eigenen Urlaubsplan richten musste und die Ziele suchte sie auch ausschließlich für sich passend aus.

 

 

 

Möchtest du
die Welt erkunden
oder sie sogar umrunden?

Lass dabei deine Freunde
daheim,
nirgends auf der Welt
bist du allein.

Schreib ihnen ab und zu auf
WhatsApp,
dann bleibst du für sie
richtig nett.

CLAUDIA

Es war das erste Mal überhaupt, dass Claudia in ihrem Leben in den Urlaub fuhr. Es lag jedoch weniger am Geld als an der Zeit. Im Alter von 24 Jahren hatte sie die Gärtnerei ihrer Eltern übernommen und führte sie in der dritten Generation weiter. Allerdings war sie, anders als ihre Vorfahren, die in ihrem Alter schon eine eigene Familie gegründet hatten, noch unverheiratet und kinderlos. Da sie ein Einzelkind war, stellte sich überhaupt nie die Frage, ob dies auch der richtige Beruf für sie war. Jedoch die Ausbildung war ihren Eltern sehr wichtig. Eine höhere Fachschule und Matura, das musste sein. Claudia erinnerte sich nur zu gut, wie damals ihre Klassenkameraden hin und her überlegten, was sie nach der Schule für einen Weg einschlagen sollten. In den fünf Jahren änderte sich das bei den meisten mehrmals.

Bei Claudia war von vornherein klar, sie würde zu Hause die Gärtnerei übernehmen und jederzeit überall einspringen können, wo Not am Mann wäre. Bei den Bäumen, den saisonalen Blumen, in der Buchhaltung sowie im Einkauf. Man konnte ja nie wissen, wie man mit dem Personal bestückt ist und der Laden musste laufen. Sechs Tage die Woche, 307 Tage im Jahr. Sofort nach der Matura war Claudias Alltag die Gärtnerei der Eltern. Natürlich ging das bereits in der Kindheit los, in den Ferien wurde geholfen und auch nach dem Unterricht, wenn die Hausaufgaben es erlaubten.

Claudia führte nun bereits seit elf Jahren die Gärtnerei. Ihre Eltern waren ihr dabei noch eine große Hilfe. Hätte sie diese durch Personal ersetzen müssen, wäre es ziemlich eng geworden, denn die Zeiten hatten sich verändert. Am Morgen jedoch war die Großmutter die Erste, welche an den Blumen zupfte und sich bis zum frühen Nachmittag meist auch unermüdlich zeigte. Zweimal hatte Claudia auf einen passenden Moment abgewartet und dezent versucht anzudeuten, dass wenn sich die Eltern vielleicht doch zur Ruhe setzen würden, sie sich auch einen ganz anderen Beruf sehr gut vorstellen könnte. Welcher das wäre, wusste sie selber nicht genau, danach wurde auch nie gefragt. Diese Ansätze jedoch dauerten nur Sekunden, denn das Gespräch wurde von den Eltern gar nicht großartig diskutiert, es war ganz einfach gar kein Thema für sie.

Der Großmutter gegenüber erwähnte Claudia das jedoch nie. Sie wusste genau, dass ihre Großeltern die Gärtnerei von der ersten Blume weg mit ihren eigenen vier Händen aufgebaut hatten. Der Großvater wurde viel zu früh krank, und Mutter und Sohn kämpften viele Jahre um die Existenz. Mit Qualität und Persönlichkeit gelang ihnen das auch in dem kleinen Ort.

Als Claudia geboren wurde, gelang es ihrem Vater die Gärtnerei zu vergrößern, die Kunden kamen auch aus den Nachbarsorten und er machte sich einen Namen. Dafür waren viel Verzicht und ein großer Familienzusammenhalt notwendig. Claudia hatte seit einigen Jahren kräftig damit zu tun, die Zahlen zu halten, beziehungsweise den Schein zu wahren. Die Großhändler drückten den Preis, in jedem Lebensmittelladen standen gleich beim Eingang Balkonblumen, Kräuter und Geschenkartikel zum Discountpreis. Claudias Vater irritierte das gar nicht, seine Kunden schätzten seine Qualität und Fachkenntnis und sie würden auch weiterhin bereit sein, dafür in die Tasche zu greifen, davon war er überzeugt. Gegen die Zeit, die sich veränderte, wehrte er sich erfolgreich.

Claudia hatte in ihrem jungen Leben zwei Beziehungen hinter sich. So einfach war es nicht, einen Mann zu finden, welcher zu ihr und der Gärtnerei passte. Moritz, ihre erste große Liebe, machte bei einer Spedition steil Karriere. Als er ein Angebot in Schweden bekam, fand Claudia dies extrem egoistisch, denn sie konnte doch als einziges Kind ihrer Eltern nicht einfach die Gärtnerei verlassen. Danach war ziemlich lange kein Mann in Sicht. Claudia verkroch sich mehr als zuvor in die Gärtnerei, Arbeit gab es immer genug und Moritz wollte sie schneller vergessen, als ihr möglich war.

Dann kam Jochen. Sie kannten sich noch von der Schule bis zur dritten Stufe. Danach war seine Familie mit ihm weggezogen und sie hatten sich aus den Augen verloren. Als er eines Tages in der Gärtnerei auftauchte, war die Freude groß. Jochen hatte auch richtig etwas zu erzählen, er war an vielen Orten der Welt und damals mit 27 Jahren fühlte er sich reif dafür, sich wieder in der Heimat niederzulassen. Für Claudia und die Gärtnerei gab er alles auf, was auch immer das war? Er wurde Teilhaber und die Hochzeit wurde geplant.

Ganz einfach war das allerdings für Claudia damals nicht. Aber sie wusste, Moritz würde nicht zurückkommen und langfristig gesehen, brauchte sie Jochen für die Gärtnerei. Ihre Eltern wollten sich zur Ruhe setzen und sie mochte Jochen. Er verließ sich allerdings darauf, dass sich die Gärtnerei auch in Zukunft ohne seine Anwesenheit ganz gut entwickeln würde. Die ganze Kontoführung wurde unübersichtlich, es gab häufig Streit, weil sich Jochen kontrolliert fühlte. Eines Nachts machte sich Claudias Vater auf die Suche nach dem Schwiegersohn in spe und fand ihn in einer Hinterstube beim Zocken. Noch in derselben Nacht warf Claudias Vater ihn samt seinen sieben Sachen hinaus. Es folgten monatelang Notar- und Anwaltstermine bis wieder alles seine Ordnung hatte. Ab diesem Zeitpunkt fing es an, dass Claudia nachts nicht mehr schlafen konnte. Jede Nacht um zwei Uhr wachte sie auf und konnte nicht mehr einschlafen. Das ging monatelang so und kostete viel Kraft. Aus Liebeskummer oder aus Existenzangst wusste sie selbst nicht so genau.

Wem galt überhaupt ihr Liebeskummer? Jochen, oder ging es immer noch um Moritz? Sie selber hatte eigentlich gar keine Existenzangst, es war die Angst ihrer Eltern. Sie war längst versorgt und hätte sie Geschwister, würde es sich für diese auch noch ausgehen. Die Gärtnerei war schuldenfrei und ihr Vater hatte die letzten Jahre immer wieder Baugrund erworben. Wie viele Häuser soll sie denn bauen? Claudias Freundinnen vom Ort und auch aus der Schulzeit waren fast alle irgendwo anders hingezogen. Bei den wenigen, die noch in der Umgebung wohnten, hatte sich in den letzten Jahren der Alltag verändert. Sie hatten Familie und waren mit Kinderkram beschäftigt. Ab und zu kamen sie noch in der Gärtnerei vorbei, ließen sich von Claudia auch gerne beraten, jedoch war die Zeit meist knapp, die Kinder kamen von der Schule heim.

Eine Woche nach der Beerdigung ihrer Großmutter kam der Notarzt, weil Claudias Vater vom Boden nicht mehr hochkam. Die Schmerzen waren ihm deutlich anzusehen, der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er wurde noch am selben Tag an der Bandscheibe operiert. Claudia konnte sich gar nicht erinnern, ob und wann ihr Vater einen Tag in der Gärtnerei fehlte. Die Tage vergingen, die Arbeit ging weiter.

Eines Morgens entdeckte Claudia in der Halle ganz oben im Eck einen Vogel, der sich irgendwie verfangen hatte. Sie rief ihm zu und versuchte ihn zu motivieren, sich zu befreien, aber der Vogel gab kampflos auf. Claudia zog die Leiter, welche sich aufs Doppelte verlängern ließ, an diese Stelle und stieg hoch. In dem Moment, als der Vogel wegfliegen konnte, flog Claudia auch – mit voller Wucht samt Leiter zu Boden. Ab da hörte ihre reale Erinnerung auf und sie schwebte irgendwo im Nirgendwo.

Während sie schlief, und das tat sie mehrere Wochen lang, war sie selber die Krankenschwester, die an ihr Bett kam. Claudia sah sich genau, mit der weißen Kleidung, den zurückgebunden Haaren und den sauberen Händen. Sie wusste auch noch genau das Gefühl der Erfüllung, welches die Krankenschwester hatte. Die Zufriedenheit und unglaubliche Ruhe in ihr. Sie sprach bei der Arbeit auch mit ihrer Patientin und erklärte in aller Ruhe, was und warum sie es gerade machte. Die Patientin antwortete nicht, aber das war für die Krankenschwester kein Problem, sie verrichtete gewissenhaft ihre Arbeit und lächelte dabei zufrieden in das Gesicht der Patientin.

Das erste Reale, an was sich Claudia erinnern konnte, waren die Worte ihrer Eltern. Wie froh sie seien, dass alles so gut ausgegangen wäre und welche Sorgen sie sich gemacht hätten. Aber sie hätte genügend Zeit gesund zu werden, sie haben ja jetzt Manuel in der Gärtnerei. Manuel???

Die Mutter besuchte Claudia jeden Tag zweimal. Einmal am Vormittag und einmal am Nachmittag für je zwei Stunden. In dieser Zeit erzählte sie mit strahlenden Augen von Manuel. Manuel hätte der Himmel geschickt, er sei wie ein Engel und der Sohn für ihren Vater, welchen er nie hatte. Der Vater sei körperlich eingeschränkt seit der Bandscheibenoperation und sollte eigentlich noch auf Reha. Das käme für ihn aber überhaupt nicht in Frage, drei Wochen, das wäre unmöglich. Manuel meldete sich in der Gärtnerei auf ein Inserat, welches sie aufgegeben hatten, weil man ja nicht wusste, ob und wie lange Claudia ausfallen würde. Nun ist zum Glück Manuel da, der alles kann, alles macht und absolut alles wieder im Griff hatte. Details über Geschäftliches erzählte die Mutter nicht, Manuel mache das schon, sie bräuchte sich nicht den Kopf zu zerbrechen.

Das war für Claudia völlig neu. Seit sie denken konnte, ging es bei den gemeinsamen Mahlzeiten immer um die Gärtnerei, und später wurde sie sowieso in alles involviert. Ob sie das wollte, wurde nie gefragt, und die Verantwortung lag seit elf Jahren sowieso bei ihr. Grundsätzlich war Claudia froh, sich in ihrem Zustand keine Gedanken um die Gärtnerei machen zu müssen, obwohl sie sich die natürlich trotzdem machte. Diesen Manuel mochte sie, ohne ihn zu kennen, sowas von gar nicht. Wer war er, wo kam er her? Gab es beim Geschäft auch sowas wie Heiratsschwindler und hat man sich seinen Leumund angesehen? Nach der Erfahrung mit Jochen muss sich ihr Vater doch sein Leumundszeugnis angesehen haben!? Engel gibt es nicht. Nach weiteren acht Wochen Krankenhaus folgten noch vier Wochen Reha. Sonntags besuchte sie auch ihr Vater und er erzählte ausschließlich von Manuel. Einmal vergaß er sogar seine Tochter zu fragen, wie es ihr denn ginge? In der Reha kamen dann auch einmal ihre Eltern gemeinsam mit Manuel. So ein Strahlemann, voller Energie und mit sauberen Händen. Beim Verabschieden flüsterte ihre Mutter ihr dann zu allem Überfluss auch noch zu, ob der nichts für sie wäre, das wäre einmal die richtige Wahl und ihr Vater wäre so glücklich. Geht’s noch???

 

Willst du gelten,
mach dich selten …

So ein Unsinn!!!
Bist du nicht da, nimmt dich
keiner mehr wahr!

DUBROVNIK

Kroatien

Es war gegen ein Uhr Mittag, als Romina die MS Marius betrat und von einem jungen Mann, welcher anscheinend kein Wort Deutsch sprach, die Kabine gezeigt bekam. Sie lag im Unterdeck, das war auch so gewollt. Nachts war es unten zwar etwas wärmer, allerdings war es zum einen kostengünstiger und zum anderen nach ihrer Erfahrung in Ilovik nachts etwas ruhiger. Die Kabine war diesmal etwas größer und komfortabler. Sogar die Dusche war im Zimmer integriert. Grundsätzlich jedoch war ihre Kabine nur mit dem Notwendigsten ausgestattet, was Romina bewusst und für sie auch in Ordnung war. Ging man die Treppe hinauf ins sogenannte Erdgeschoss, gelangte man in das Speisezimmer. Hier standen vier Tische für je sechs Gäste und seitlich noch zwei weitere als Ablage. Romina wurde nun auch vom Kapitän begrüßt, welcher wiederum sehr gut Deutsch sprach und ihr einen Espresso an seinem Tisch anbot. Der Kapitän erwies sich als ein sehr freundlicher und gemütlicher Mensch.

Die MS Marius legte erst am nächsten Tag ab, da noch bis Mitternacht die restlichen Gäste erwartet wurden. Er empfahl Romina, mit dem Bus nach Dubrovnik zu fahren und den Nachmittag dort zu verbringen. Er erzählte ihr von dem alten Hafen direkt in der Stadt, dieser sei früher der einzige gewesen. Heute gingen nur noch Fischerboote vor Anker.

Der große Hafen außerhalb der Stadt, in welchem sie auch gerade lagen, wurde für den regen Tourismus angelegt und auch dringend benötigt. An manchen Tagen kamen so viele Schiffe hierher, dass große Kreuzfahrtschiffe mitten im Meer ankern mussten und die Gäste mit kleinen Booten zu Land gebracht wurden. Romina wusste nicht viel über Dubrovnik, außer dass es zum Weltkulturerbe gehörte und als „die Perle der Adria“ besungen wurde. Allerdings hatte sie bisher noch nie darüber nachgedacht, was daraus nach dem Jugoslawienkrieg wurde. Romina war damals im Volksschulalter und nahm es über die Nachrichten im Fernseherprogramm der Eltern wahr. Auch konnte sie sich erinnern, dass in der Hauptschule immer mal neue Mitschüler kamen. Diese waren meist zwei bis drei Jahre älter als die anderen in der Klasse und hatten zur Hälfte Unterricht in der sogenannten „bunten Klasse“. Soweit sich Romina erinnern konnte, hatten diese dort einen separaten Deutschunterricht. Manches wird plötzlich interessanter, wenn man erstmal vor Ort ist, dachte sich Romina und stieg nicht weit vom Hafen entfernt in den Bus ein.

Als sie am Ziel ausstieg, waren Unmengen von Menschen da und wo man hinschaute, hielten Reiseführer ihre Schilder hoch. Keine fünf Minuten später war auch schon Romina mit einer Gruppe unterwegs und machte bei einer Stadtführung mit. Eine sehr schöne junge Frau führte sie durch die Stadt, sie erzählte dass sie studiere und sich in der Saison als Reiseführerin ihr Geld verdiene.

Das lasse sich für sie sehr gut mit dem nach Hause kommen vereinbaren, da sie in dieser Stadt aufgewachsen sei.

Die kroatische Hafenstadt wurde im Herbst 1991 zum Kriegsschauplatz und wurde drei Monate lang von der See und von Landstellungen aus beschossen. Am 6. Dezember erreichte die Belagerung einen traurigen Höhepunkt. Am Nikolaustag gingen hunderte Mörsergranaten der Jugoslawischen Volksarmee auf die historische Stadt nieder, sogar Lenkraketen seien dabei gewesen. An diesem Tag starben laut dem Bericht der Vereinten Nationen dreizehn Zivilisten. Weder in der Stadt noch im Umkreis waren kroatische Soldaten stationiert oder militärische Einrichtungen zu finden.

Mittlerweile wurden die historischen Häuser aus dem 7. Jahrhundert wieder hergerichtet. Gedenktafeln erinnern heute an die Zerstörung.

Den Zuhörern stand die Betroffenheit ins Gesicht geschrieben. Doch die junge Reiseleiterin verstand es geschickt, mit ihrer fröhlichen Art zur nächsten Sehenswürdigkeit überzuleiten und scherzte dezent über die Politik. Sie blieben beim nächsten Eisstand stehen. Das war dann fast das Allerbeste in diesem Moment, es hatte 36 Grad
Celsius und mitten in der Stadt gefühlte 45 Grad Celsius. Das Eis kühlte von innen.

Romina entschied sich spontan, sich aus der Gruppe zu lösen und auf eigene Faust weiterzugehen. Tolle Stadt, große Flächen und auf den Plätzen Cafés, Restaurants, jedoch für Romina zu viele Menschen. Mit der Aussicht, dass es ab morgen sowieso nur noch Meer und weite Horizonte zu sehen gab, ließ sich Romina auf diese Stadt voll und ganz ein und kaufte sich ein Ticket für die Seilbahn. Sie fuhr auf Dubrovniks Hausberg Srd. Oben angekommen, wurde Romina ein toller Blick auf die Stadt geschenkt, von wo aus sie nun auch die berühmte Stadtmauer erkennen konnte, welche das Zentrum umschloss. Auch diese Mauer hatte unter dem Krieg gelitten, sie wurde damals schwer beschädigt.

Der Wiederaufbau und der touristische Aufschwung kamen danach nur langsam in Fahrt. Es folgte Massenarbeitslosigkeit.

Mittlerweile stand Dubrovnik jedoch besser da als je zuvor. Vom fehlenden Tourismus war nichts zu erkennen, im Gegenteil. Romina fragte sich, wie viele Touristen so eine Stadt wohl tragen konnte. Hier müssen doch auch Einheimische leben können, eine Stadt lebt doch von ihren Menschen!?

Romina war selbst auch in einer Stadt aufgewachsen, in Salzburg. Solange man ein Kind ist, denkt man ja über vieles gar nicht nach, aber bereits im jungen Erwachsenenalter zog Romina ins Umland. Bis heute wohnt sie gerne im Grünen. Dafür nahm sie das tägliche Pendeln zur Arbeit gerne in Kauf. Aber auch ihr würde es im Sommer, vor allem in der Festspielzeit, nicht einfallen, einen Stadtbummel zu machen. Sie ging nach der Arbeit immer direkt zum Bahnhof und fuhr vorbei am See direkt nach Hause. Das war Heimkommen für Romina. Der Tourismus in Salzburg hatte auch schon längst zu sehr zugenommen, die Getreidegasse und auch der Alte Markt sind zu dieser und auch zur Weihnachtszeit kaum begehbar, das Stadtbild dominieren die Japaner, Chinesen und Russen.

Von dem her schockierten sie auch die Preise in Dubrovniks Cafés und Restaurants nicht, sie kannte das nur zu gut von Salzburg. Die Innenstadt hatte ihren Preis. Romina kaufte sich einen kleinen Snack und unterhielt sich mit einem Einheimischen.

Sein Deutsch war sehr gut und er war begeistert, als Romina erzählte, aus Salzburg zu kommen.

Der Mann erzählte Romina, dass viele Einheimische aufgrund des starken Tourismus‘ weggezogen waren. Das konnte Romina nur zu gut verstehen. Jeden Morgen wurden die Bürger in Dubrovnik übers Radio informiert, wie viele Kreuzfahrtschiffe heute ankern würden. Romina verabschiedete sich von dem kleinen Plausch und merkte, dass sie absolut die Zeit vergessen hatte.

Es war immer noch sehr warm, obwohl es schon 20 Uhr war, als sie zurück auf die MS Marius kam. Das Abendessen um 19 Uhr hatte sie wohl verpasst. Gut, dass sie noch einen kleinen Snack zu sich genommen hatte. Die MS Marius ist mit Vollpension, das wusste Romina, jedoch auch, dass sie das nicht brauchte. Wer isst schon dreimal am Tag? Geht ja gar nicht! … abwarten. Am Weg in ihre Kabine hielt sie der Kapitän auf, er wollte wissen, ob ihr Dubrovnik gefallen hatte und ob es er ihr recht wäre, wenn man ihr in dreißig Minuten noch eine užina zubereiten würde. Er übersetzte es mit Snack.

„Absolut nicht nötig, aber eine Kleinigkeit wäre sehr nett, vielen Dank“, antwortete Romina nun doch. Endlich den Stadtschweiß abgeduscht, warf sich Romina ein Sommerkleid über und begab sich, noch eingetaucht in die Eindrücke des Anreisetages, an Deck. Dort zeigte man ihr einen Tisch, an dem bereits ein französisches Pärchen und eine junge Frau saßen. Der Tisch war gedeckt mit Köstlichkeiten an Käse, Schinken, Kapern, Früchten und Oliven. Wer brauchte dafür Hunger? Wunderbar, nach drei Litern Wasser gab es jetzt ein Bier! Beim Essen kam sie mit der jungen Dame ins Gespräch, sie war vor einer Stunde an Bord gegangen.

Claudia, so hieß sie, kam aus Linz und war ebenfalls geflogen. Romina erzählte ihr, dass sie bereits zu Mittag gelandet war und Dubrovnik erkundet hatte. Dafür würde ihr vor dem nach Hause Fliegen noch Zeit bleiben, meinte Claudia und wollte wissen, was Romina denn für einen Eindruck gewonnen hatte. Nun erzählte Romina ihr kurz von der Stadtführung, an welcher sie ja auch nur kurz teilgenommen hatte. Sie war zwar sehr interessant gewesen, aber ihr persönlich waren nicht die Jahreszahlen und Daten vergangener Zeiten wichtig, sondern vielmehr das JETZT Romina erzählte von dem Ausblick auf die Stadt und dem Rundgang der Stadtmauer um das Weltkulturerbe, welches sie als atemberaubend empfunden habe. So kam sie auch an den alten Hafen der Stadt, welcher, wie es der Kapitän ihr beschrieben hatte, wirklich sehr klein war. Ein kleines Schmuckstück. An dem kleinen Hafen saß Romina auf den Felsen und hatte erneut die Zeit vergessen.

Die beiden Frauen unterhielten sich angeregt weiter. Der Kapitän brachte etwas Süßes zu trinken, was auch immer das war. Übersetzt wurde es mit „Johannisbeere auf Eis“ und „samo malo alcohola“, „mit nur wenig Alkohol“. Als Romina ihn nach bereits zwei getrunkenen Bieren unglaubwürdig anlächelte, fragte der Kapitän sie, ob sie heute denn noch Auto fahren müsse? In die Kabine sei noch jeder gekommen, vor allem nach unten. Romina trank ein Glaserl mit, man wollte ja nicht unhöflich sein. Nach und nach kamen immer wieder weitere Gäste an, insgesamt wollte man morgen mit 28 Gästen und vier Crew-Mitgliedern ausschiffen.

Der Abend wurde immer später, die Johannisbeere samo malo alcohola schmeckte immer besser und Claudia erzählt schwermütig, dass „die Zeit vergessen“ für sie seit ihrem Unfall eine ganz neue Bedeutung bekommen hatte. Es dürften in etwa vier Wochen gewesen sein, in welchen sie teils im Koma lag oder noch schlief. Danach schien es ihr, als sei sie in einem ganz anderen Leben als zuvor aufgewacht. Sie könne es weder als positiv noch als negativ bewerten, es sei vor allem fremd. In der Zeit des Krankenhaus- und anschließenden Reha-Aufenthalts war sie noch der Meinung, dass danach wieder alles beim Alten sein würde. Doch sie hatte sich getäuscht, das alte Leben gab es nicht mehr. Romina fand das, was Claudia zu erzählen hatte, sehr spannend. Sie lernte nur selten Menschen kennen, die sich nach der kurzen Zeit so öffnen konnten. Sie kämpfte allerdings damit, die Augen offen zu lassen, was man zum Glück bei der Dämmerung nicht sah. Es war ein ausgefüllter Anreisetag und sie hätte jetzt überall schlafen können, so müde war sie.