Danke

Ganz besonders danke ich meiner Familie - allen voran Tom, Anina und Leona. Ohne sie wäre das Buch zwar vielleicht schneller fertig geworden, aber all die Ermutigungen und Inspirationen hätten gefehlt, und das hätte mich letztlich scheitern lassen. Auch meinen Freunden danke ich, die ebenso stets an mich geglaubt haben. Ein spezieller Dank gilt Martina, die mir gemeinsam mit ihren Eltern so viele wertvolle "Kroatien-Tipps" gegeben, und das Cover gestaltet hat. Und selbstverständlich bedanke ich mich auch ganz besonders bei meinen Erstleserinnen und Erstlesern, die mir allesamt wertvolle Inputs geliefert haben.

Angelika Fröhlich

Der Tote vom Plitvicer See

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 1

Anna seufzte, als sie vor dem Berg an Gepäck stand und wusste, dass sie es irgendwie ins Auto bringen musste. Nein, eben nicht irgendwie, sondern schön geordnet, strukturiert und logisch durchdacht. Sie war eben ein Monk, so wie der aus der Fernsehserie, der alles immer schön strukturiert haben musste und nicht auf Ritzen treten konnte. Das konnte sie weder verleugnen, noch ändern, noch irgendwie wegdiskutieren. Mit ihren 48 Jahren hatte sie es nun akzeptiert. Auch wenn sich ihre Familie immer darüber lustig machte, letztlich schätzten sie es mit einem ordentlich gepackten und den Sicherheitserfordernissen entsprechenden Kofferraum auf Reisen zu gehen.

Chris, ihr Mann, hatte scheinbar wieder einmal die halbe Einrichtung mitgenommen – für sie unverständlich, ging es doch in den Sommerurlaub. Mit zwei Badeanzügen, zwei T-Shirts, zwei Shorts und ein paar Unterhosen hatte sie genug – schließlich hatten sie ein Ferienhaus mit Waschmaschine gebucht. Aber egal, jeder war wie er war und deswegen hatte man sich ja schließlich ineinander verliebt, oder nicht? Ihre beiden Töchter kamen (noch) mit relativ wenig Kleidung aus. Nicola war 12 und Marie 14 Jahre alt und sie waren gerade am Übergang zum Erwachsenwerden – in Fachkreisen auch pubertierend genannt. Anna befand jedoch, dass sich das alles noch in relativ normalen Grenzen hielt, auch wenn sie manchmal Momente hatte, an denen auch sie die Luft scharf einziehen musste, um nicht zu explodieren. Im Grunde aber waren die beiden ein Segen. Sie waren altersmäßig nur 20 Monate voneinander getrennt und deshalb war es von klein auf nie schwierig für sie gewesen, sich miteinander zu beschäftigen. Sobald Nicola mit ein paar Monaten sitzen konnte und gurgelnde Laute von sich gab, hatte die Kommunikation der beiden miteinander begonnen und nie mehr aufgehört. Wie bei allen Geschwistern konnten aber zwischendurch auch richtig die Fetzen fliegen und das war gut so – Lerneffekt für später im Leben.

Bei diesen Gedanken war sie nun zum Schmunzeln übergegangen und begann, den Haufen zu sortieren: ein Stand-up-Paddle, drei riesige Gummitiere, ein aufblasbares Wasservolleyballnetz, ein megagroßer Koffer, ein mittelgroßer Koffer, eine mächtige und prallvolle Badetasche, ein Beach-Bag mit Flossen, Schnorcheln, Schwimmbrillen und Badeschuhen, ganz viel Beachspielzeug, Federball, ein Toaster, um Panini zu machen, eine Tasche mit Schuhen und dann würden obendrauf noch Polster und Jacken kommen. Dann noch ein kleiner Handkoffer für die ersten drei Übernachtungen. Sie hatten vor, das gemietete Ferienhaus im Süden Kroatiens gemütlich über die Plitvicer Seen zu erreichen. Dort wollten sie drei Tage Halt machen und diese wunderschöne Gegend erkunden. Zusätzlich konnten sie so dem Wochenendstauwahnsinn auf den Straßen Europas entgehen, der von Jahr zu Jahr mehr wurde und gleichzeitig den Urlaub elegant verlängern. Rasch hatte Anna die Situation erfasst und die Teile so geschlichtet, dass alles hineinpasste, nichts herausfiel, wenn man den Kofferraum öffnete und die Dinge, die sie unterwegs benötigen würden, griffbereit als erstes dastanden. Anna war zufrieden. Es konnte losgehen.

Nicht ganz so entspannt ging es in der Familie Wodrich zu. Hier waren die Rollen irgendwie gar nicht klar verteilt und irgendwie schon. Werner, der Mann des Hauses musste einfach alles machen. Seine Frau war depressiv und zugleich hatte sie mit Rheuma zu kämpfen. Es war nicht klar, ob das physische Leiden der Auslöser für das psychische war oder umgekehrt, vielleicht auch keines von Beidem und es war nur Zufall. Jedenfalls war schon kurz nach der Geburt der zweiten Tochter klar, dass Barbara Wodrich mit allem überfordert war. Haushalt, Kinder, Schmerzen. Die Schwangerschaften hatten das Rheuma offenbar noch weiter verstärkt und Barbara gab sich hin – dem Leiden, dem Schmerz. Wahrscheinlich hatte der frühe Tod der Eltern doch seine Spuren hinterlassen, auch wenn sie bei liebevollen Pflegeeltern aufgewachsen war.

Werner machte das nichts aus. Er war immer schon ein „Helfer“ gewesen und liebte es, wenn Leute quasi von ihm abhängig waren. Nein, nicht unbedingt auf eine bösartige Weise, aber da er beruflich nicht so erfolgreich war und als Alleinverdiener der Familie dennoch genug Geld heimbringen musste, konnte er sich in den gut bezahlten Jobs nur halten, wenn er seinem jeweiligen Vorgesetzten bedingungslos ergeben war. So wie früher in den Märchen der Diener seinem Herrn. Und genau deshalb war es für ihn so wichtig, dass er in seinem Privatleben der war, der die Zügel in der Hand hatte. Das gab ihm Lebensmut und Selbstvertrauen, so blöd das klingen mochte. Deshalb machte es Werner gar nichts aus, dass er nicht nur für seine Frau Barbara, sondern auch für seine beiden Töchter Annika und Sabine das Packen übernahm.

Die beiden waren 14 und 16 Jahre alt und schon längst quasi von zuhause geflüchtet, da sie das Leiden ihrer Mutter im Gegensatz zu Werner nicht aushalten konnten. Beide hatten sich einen Leistungssport ausgesucht, der sie neben der Schule voll und ganz ausfüllte. Annika war bei Bodengymnastik hängen geblieben und Sabine bei Judo – jede in ihrer Sportart auf recht hohem Niveau. Das erforderte beinahe tägliches Training. Und dort waren sie auch jetzt – bei einer letzten Trainingseinheit, bevor es auf Urlaub ging.

Werner freute sich, dass er seine „Mädels“ dazu überredet hatte, die Fahrt in den Urlaub über ein UNE-SCO Weltnaturerbe, nämlich die Plitvicer Seen, anzutreten. Er selbst liebte zwar weniger die Natur, aber er war als Kind ein richtiggehender Winnetou-Fan gewesen. Und viele Filmszenen wurden ja genau dort gedreht. Das wollte er sich nicht entgehen lassen. Und außerdem hatte er sie dort kennengelernt – Mitte der 90iger Jahre, als der Krieg vorüber war - und er hatte sie nie vergessen – Dunja – die wahre Liebe seines Lebens.

Kapitel 2

“Oh my god – das kann jetzt aber nicht wahr sein, dass das die Schlange ist, die für Tickets ansteht!“ Anna wurde geradezu schlecht bei dem Anblick der Menschenmassen und sie ärgerte sich grün und blau, dass sie nicht Onlinetickets gebucht hatte – das machte sie doch sonst immer für alles und jedes, für das Colosseum in Rom, für die Ätna-Tour in Sizilien, für das Aquarium in Genua – warum nur hatte sie es hier vergessen? Zu viel um die Ohren und einfach nicht dran gedacht und weil sie sich sonst immer um diese Dinge kümmerte, hatte es natürlich auch sonst keiner getan. Zwischen zahlreichen Autos mit deutschem Kennzeichen stand genau neben ihnen eines mit österreichischem Kennzeichen – sogar auch aus Tirol, wenn auch nicht aus Innsbruck, wie sie. Auch in diesem Auto konnte sie genervte Gesichter von gelangweilten Teenagern sehen. Vorne saßen ein Mann und eine Frau – beide schauten nicht gerade fit aus. Eher fahl im Gesicht. Der Mann war wohl einige Jahre älter als sie, so Mitte 50 und hatte keine Haare mehr und ganz dünne Arme. Seine blasse Haut war über und über mit Sommersprossen übersät. Die Brille war unauffällig, rahmenlos, eigentlich schon längst aus der Mode. Wenn er sprach konnte man seine leicht gelblichen Zähne sehen – doch all das war nicht ausschlaggebend. Am meisten fiel die Traurigkeit auf, die er ausstrahlte. Die Frau neben ihm wirkte mindestens gleich alt wie er, völlig erschöpft und zugleich völlig uninteressiert, als wäre sie eine Schaufensterpuppe, die man auf den Beifahrersitz gesetzt hatte. Sie hatten wohl auch keine Karten reserviert.

„Mama, warum hast du nicht vorreserviert?“ tönte es von der Rückbank. „Da stellen wir uns sicher nicht an!“ „Sorry, ich hab ehrlich gesagt nicht gedacht, dass um diese Zeit hier noch so viel los ist.“ Sie hatten geglaubt, dass weniger Leute in der Nähe der Plitvicer Seen übernachten würden und daher die Besucherflut gegen Abend versiegen würde. Falsch gedacht! Also musste ein Plan B her. „Ok, lass uns überlegen“ sagte Chris. „Wir sind jetzt bei Eingang 1 – warum fahren wir nicht zu Eingang 2, vielleicht ist da weniger los?“ Anna seufzte: „Glaub ich zwar nicht, aber was soll´s, probieren können wir es – es würde mich sooo ärgern, wenn wir es nun nicht schaffen hineinzukommen, obwohl wir extra zweimal hier übernachten und online kann man die Tickets nur 48 Stunden im Vorhinein kaufen – ich hab schon geschaut – sehr ärgerlich, weil sonst hätten wir gleich für morgen früh zuschlagen können.“ Hier wurde wieder klar, was für ein gutes Team Chris und Anna waren. Während sie eher emotional auf ihren vermeintlichen „Fehler“ reagierte, blieb er ganz cool und fuhr zu Eingang 2 – die wild fuchtelnden Parkwächter irritierten ihn dabei nicht. Anna sprang beinahe aus dem noch rollenden Auto, denn sie wollte unbedingt Tickets ergattern. Als sie das Ticketoffice erreichte, traute sie ihren Augen nicht. Niemand, nicht ein einziger Mensch stand dort an – sie glaubte, dass sie falsch sei und trat zaghaft zum Schalter. Dort saßen zwei gelangweilte Männer. Sie fragte: “Dobar dan. Do you still have two-day-tickets starting at four o´clock?“1. Als der Mann antwortete: ”Yes, of course. How many do you need?”2, traute sie ihren Ohren nicht. Und so konnte sie problemlos vier Tickets mit zwei Tagen Gültigkeit erwerben und konnte ihr Glück gar nicht fassen. Es war nun 14: 30 – sie hatten also reichlich Zeit, um ihre Unterkunft ganz in der Nähe zu beziehen, geeignetes Schuhwerk anzuziehen und dann zu einer ersten Runde an den Seen aufzubrechen. Das Abendlicht musste besonders schön sein. Das Morgenlicht konnte sie mit ihren Kids eh vergessen. Verständlich, wenn doch endlich Ferien waren.

1 „Guten Tag. Haben Sie noch 2-Tagestickets, die ab vier Uhr gültig sind?“

2 „Natürlich. Wie viele brauchen Sie?“

Kapitel 3

Maloselce war ein „Schlafdorf“ – ein Bed and Breakfast reihte sich an das nächste – die Straßen waren verschlungen und natürlich war das Bed and Breakfast, das sie gebucht hatten das vorletzte in diesem Straßenlabyrinth, aber sie hatten es gefunden – trotz veraltetem Navi, wie Chris bei jeder Gelegenheit betonte (das Auto war inzwischen schon 6 Jahre alt, tat aber seine Dienste und mehr brauchte Anna nicht). Schließlich gab es auch noch Google auf jedem Handy und so konnte man sich für die Details leicht zurechtfinden. Boat House hieß es – beinahe jede Unterkunft hatte im Namen irgendeine Verbindung zu den Plitvicer Seen, waren sie doch wohl die Goldgrube und ein Segen für alle Familien, die hier wohnten und nun das ganze Jahr lang ihre Zimmer an interessierte Touristen vermieten konnten. Wie in Tirol in den Tälern dachte Anna bei sich – da baut auch jeder doppelt so groß, wie notwendig und vermietet den Rest an Touristen. So kann man die Kredite bald abzahlen und sich relativ einfach ein gutes Einkommen sichern. Mögen muss man´s halt auch, wenn man das Haus das ganze Jahr voll mit Fremden hat, denn Privatsphäre war da nicht so großgeschrieben.

Das Haus war nett und freundlich, genauso wie auf dem Foto im Internet. Die makellos weißen Mauern waren umrankt von Blumentöpfen, in denen die Blüten in den herrlichsten Farben um die Wette strahlten. Neben dem großen Haus befand sich noch ein ganz kleines und daneben noch eine Art Schuppen. Hinter den drei Gebäuden erstreckte sich eine riesige Wiese, auf der – beinahe wie absichtlich platziert, um die Idylle perfekt zu machen – sich ein paar Leintücher auf der Wäscheleine sanft im Wind bewegten. Auch eine Sitzgruppe war im Garten so platziert, dass sie die Gäste zum Verweilen einladen sollte. Alles in allem ein liebevoll und gut gepflegtes Haus. Sie würden sich für die drei Nächte hier bestimmt wohl fühlen.

Als sie auf den Parkplatz hinter dem Haupthaus fuhren sahen sie die Familie wieder, die sie schon zufällig beim Eingang 1 bei den Plitvicer Seen gesehen hatten. Die Tiroler Familie. Das war nun nicht gerade das, was sie sich gewünscht hatten, denn schließlich hatten sie die Reise unternommen, um ein paar neue Eindrücke zu gewinnen, aber es war auch nicht weiter schlimm – sie würden sich maximal beim Frühstück begegnen, denn in der anderen Zeit würden sie entweder an den Seen sein, oder schlafen. Wenn es nach den Kindern ging, eher letzteres.

Sie stiegen aus und grüßten die andere Tiroler Familie. Diese grüßte zurück knapp, aber nicht unfreundlich. Nur die Mutter konnte sich nicht dazu bewegen lassen – sie starrte abwesend ins Leere. Egal. Der Hausherr kam sofort aus dem kleinen Nebengebäude heraus und begrüßte sie in solidem Englisch. „Hello, you must be Familie Huber, did you have a good trip?”3 “Yes thank you we had a good journey and the best is that we got tickets for the next two days for the Lake Plitvitcer because this seemed to be a real challenge. I didn´t assume that at this time of the day there would be such a big queue. But at entrance 2 there was nobody – fortunately.”4 Der Gastgeber hörte sich Annas Wortschwall geduldig an und nickte interessiert.

Werner Wodrich wurde hellhörig und fragte gleich nach: „Wo habt Ihr noch Tickets bekommen? Bei Eingang 2? Das haben wir gar nicht mehr probiert, weil wir uns sicher waren, dass, wenn es bei Eingang 1 schon so aussieht, es bestimmt keine Karten mehr gibt. Habt Ihr gehört Kinder? Los, lasst uns aufbrechen und zu Eingang 2 fahren, dann bekommen wir vielleicht auch noch Tickets. Wäre doch ewig schade, wenn wir die Seen nicht sehen!“ So aufgeregt Werner war, so uninteressiert waren seine drei Damen. Die Teenies bewegten sich im Zeitlupentempo auf das Auto zu und waren sichtlich verärgert, dass sie die WLAN-Verbindung wieder verlieren würden. Schließlich waren ihre Daten begrenzt! Und Barbara Wodrich schien sowieso jede Bewegung zu viel zu sein. Sie hatte es sich gerade auf der lauschigen Sitzgruppe bequem gemacht und Werner musste sie regelrecht zwischen den Polstern herausziehen. Das konnte aber seinen Tatendrang nicht stoppen. Auffällig war aber, wie er den Gastgeber des Hauses bei allem was er tat beobachtete. Hinter seiner altmodischen Brille bewegten sich die Augen nervös hin und her, als würde er irgendwas scannen. „Komisch“ dachte sich Anna und war gleichzeitig froh, dass die andere Familie so fluchtartig aufbrach.

Der Gastgeber ging voraus und öffnete ihnen die Tür zum Vierbettzimmer. Noch waren die Mädels bereit, bei der Durchreise in Vierbettzimmern zu übernachten – das war günstiger und auch praktisch, denn sie alle teilten sich immer einen Handkoffer, der alle Sachen für jene Tage beinhaltete, bis sie am tatsächlichen Ziel waren. Das Zimmer war großzügig geschnitten, praktisch eingerichtet und hatte ein kleines, aber modernes Badezimmer. Die Wände waren mit Fotos von den Plitvicer Seen gestaltet. Das gab dem ganzen einen weniger nüchternen Touch. Das Zimmer befand sich im Erdgeschoss. Dort war auch der Frühstücksraum, sowie ein weiteres, kleineres Zimmer. Oben gab es auch noch Gästezimmer. So wie es aussah übernachtete der Besitzer in dem klitzekleinen Häuschen daneben. Und das nicht alleine, wie es schien, denn am Ende des kleinen Rundgangs trafen sie auf zwei Frauen – eine um einige Jahre jünger als der Vermieter und eine andere um einiges ältere Dame – wahrscheinlich Ehefrau und Mutter?

„Hello, I am the sister – my brother is the boss” Ok, nun wussten sie das auch. Auch wenn dem “Boss” bei den Worten seiner Schwester ein Lächeln über das Gesicht huschte, hatte er eine unglaubliche Schwermut in seinen Augen. Er war etwa 50 Jahre alt, schätzte Anna, also nicht viel älter als sie – was hatte nur diese Traurigkeit in sein Leben gebracht. Und irgendwie erinnerte sie das wieder an die Tiroler Familie, die auch so viel Traurigkeit in ihren Augen hatte. Sonderbar eigentlich an einem so schönen Ort, wie konnte man da nur so traurig sein. Aber egal, sie war fürs Erste zufrieden, die Tickets in ihrer Tasche und noch eine Stunde Zeit zum Chillen, bevor sie zum Eingang 2 starten konnten.

3 „Hallo, Sie müssen Familie Huber sein, hatten Sie eine gute Reise?“

4 „Ja danke, wir hatten eine gute Reise und das Beste ist, dass wir Tickets für die nächsten beiden Tage für die Plitvicer Seen bekommen haben, denn das stellte sich als richtige Herausforderung dar. Ich habe nicht gedacht, dass um diese Tageszeit schon so viele Leute anstehen würden. Aber bei Eingang 2 war glücklicherweise niemand.“

Kapitel 4

Es war wirklich ein Segen gewesen, dass Chris die Idee mit dem anderen Eingang gehabt hatte. Auch jetzt war der Parkplatz dort zwar immer noch gut gefüllt, obwohl es schon 16: 00 war, aber man konnte mühelos einen Platz unter den Bäumen finden. Auf dem Weg zum tatsächlichen Eingang wurden sie von zahlreichen Touristen begleitet, aber das war lächerlich gegen die Menschenmassen, die sich am Eingang 1 Richtung „Entrance“ schoben. Der Weg vom Parkplatz bis zum Eingang war ziemlich weit, doch gottseidank konnte die ein oder andere streunende Katze Marie und Nicola von dem „Gewaltmarsch“ ablenken. Beide liebten Tiere sehr, doch da Chris eine asthmatische Tierhaarallergie hatte, waren Felltiere als Haustiere tabu. Dafür hatten sie drei Aquarien mit sicherlich insgesamt 100 Süßwasserfischen und zwei griechische Landschildkröten zuhause. Das reichte. Auf Reisen waren deshalb Länder beliebt, in denen freilaufende Katzen und Hunde mit Leckereien aus dem Supermarkt verwöhnt werden konnten. Kroatien zählte glücklicherweise dazu.

Der Eintritt selbst war sehr unspektakulär. Eine Dame zeigte ihnen die unterschiedlichen Routen, die sie von diesem Eingang aus verfolgen konnten. Für heute würden sie nur noch eine kurze Tour ansetzen – erstens waren sie schon alle ein wenig müde von der Fahrt, zweitens schloss das Gelände um 21: 00 und drittens hatten sie ja noch einen ganzen Tag zur Verfügung, an dem sie weitere Routen ausprobieren konnten.

Sie schlenderten mit dem Plan in der Hand hinunter zu den Seen und wirklich – der Anblick war sogar für jemanden, der smaragdgrüne Bergseen gewohnt war, atemberaubend. Die einzelnen Seen funkelten um die Wette und man konnte bereits hier erahnen, wie faszinierend die Verbindungen zwischen den Seen mit all den Wasserfällen sein mussten. Anna hatte als Kind begeistert Winnetou geschaut – kein Wunder mit zwei Brüdern - und konnte sich gut in die Filmszenen versetzen. Auch Chris kannte die Filme als Kind der 70iger Jahre natürlich in- und auswendig. Nur ihre Kinder hatten eigentlich keinen blassen Schimmer davon, wer oder was das sein sollte. Trotzdem gefiel ihnen, was sie sahen, denn die Route, die sie gewählt hatten, sah vor, dass sie zuerst mit einem Elektroboot auf das gegenüberliegende Ufer übersetzen würden. Neben der Anlegestation entdeckten sie zahlreiche Ruderboote, die man sich offensichtlich ausleihen konnte – Marie war ganz begeistert und so versprachen sie, bei ihrer Rückkehr noch eine Runde Ruderboot zu fahren, falls es noch offen war. Ansonsten hätten sie immer noch den morgigen Tag zur Verfügung. Vielleicht ein gutes „Lockmittel“, um alle für einen weiteren Tag im Naturpark zu begeistern.

Die Fahrt über den See war kurz und dann ging es einen Pfad entlang über lauter Holzplanken, die sich so über die Wasserfälle wanden, dass man das Gefühl hatte, mitten im Wasserfall zu stehen. Dabei flatterten unzählige Schmetterlinge in den prächtigsten Farben um einen umher und sattes Grün strahlte von allen Seiten. Das Wasser leuchtete dunkelgrün und lud an dem heißen Sommertag so richtig zu einem Sprung ein. Aber das war natürlich verboten. Schade. Sehr schade, wo Anna doch für ihr Leben gern schwamm. Doch sie mussten sich damit begnügen, das Wasser ihrer Kehle zuzuführen. Nach einigen hundert Metern zerstreuten sich die Menschenmassen gottseidank und nun war Platz fürs Fotoshooting. Anna mochte Fotografie, aber eigentlich noch nach der alten Methode – wenn sie ein Motiv sah, das lohnenswert war, drückte sie auch ab. Aber nur, weil man das Handy nun immer und überall im Anschlag hatte und unzählige Fotos machen konnte, hatte sie keine Lust, die Schönheiten der Welt ausschließlich durch ihren Handyscreen zu betrachten. Viel lieber speicherte sie die bewegten und unbewegten Bilder in ihrem Kopf ab, um sie bei passender Gelegenheit wieder in ihrer Erinnerung hervorzuholen. Anders war das bei Chris und natürlich auch bei den Mädels. Seit es die Digitalfotografie gab, fotografierte ihr Mann einfach alles und meistens mehrfach. Es gab dann von ein und demselben Wasserfall etwa 30 Fotos aus unterschiedlichen Perspektiven. Jedes Essen wurde fotografiert und sie selbst und die Mädels waren ständig „unter Beschuss“. Inzwischen verzog sie ihr Gesicht schon automatisch zu einem Hollywoodgrinsen und dachte nicht mehr weiter drüber nach. Andererseits war es nett, sich die alten Fotos immer wieder anzuschauen. Chris sortierte alles fein säuberlich nach Datum und innerhalb des Datums wiederum nach Ereignis. Eine Wahnsinnsarbeit. So konnte man aber alles und jedes immer wieder finden und auch die Fotosuche für das jährliche Album gestaltete sich für Chris überschaubarer.

Bei Nicola und Marie ging es eher darum die richtigen Schnappschüsse für Instagram zu machen. Das Gesicht durfte dabei nicht erkannt werden, dafür mussten die Haare und der Rest gut in Szene gesetzt werden. Beide hatten helle Haare, die weit über die Schulter reichten. Marie war eine „echte“ Blondine mit hellblonden dicken, aber geraden Haaren. Nicola hellte im Sommer zwar auch immer auf und war auch blond, aber eine Nuance dunkler als Marie. Dafür schwangen sich ihre Haare in sanften Wellen den Rücken hinunter. Auf den Insta-Fotos waren unterschiedliche Looks gefragt – manchmal offene Haare, manchmal zum hohen Zopf gebunden, manchmal kunstvoll geflochten oder auf eine Seite geworfen. Damit waren sie nun alle beschäftigt und Anna hatte Zeit, die Natur zu inhalieren.

So ging der Pfad weiter und natürlich gab es immer wieder Engstellen vor besonders schönen Fotomotiven. Da sie aber im Gegensatz zu manchen anderen Touristen eine Karte vom Park hatten, gelang es ihnen zwischendurch auch abseits der Menschenströme Wege zu entdecken und das war besonders schön. Inzwischen waren sie schon 2,5 Stunden unterwegs und langsam wurden sie müde. „Wie weit ist es denn noch zu der Busstation, von wo aus man wieder zum Ausgangspunkt zurückkommt?“ „Hm laut Plan kann es nicht mehr weit sein.“ „Das sagt Ihr immer, das ist die Taktik, mit der man kleine Kinder hinhält – nur noch fünf Minuten!“ Die Stimmung schien gerade zu kippen als endlich die Bushaltestelle in Sicht kam. Nach einigen Minuten Warten erschienen zwei Elektrobusse im Konvoi und verschluckten die müden Wanderer, um dann in einem Höllentempo wieder zurück zum Start zu fahren. Es war wirklich eine schöne Tour gewesen und Chris und Anna freuten sich auf mehr – die Kinder fanden, dass sie eigentlich schon genug gesehen hatten. Aber sie freuten sich auf die Tour mit dem Ruderboot und mobilisierten noch ihre letzten Kräfte, um zum Bootsverleih zu eilen. Es war erst 19: 00 und der Park hatte bis 21: 00 geöffnet, also waren sie sich sicher, dass der Ruderbootverleih noch offen hatte – leider nicht. Er war schon geschlossen. Dies löste ein wenig Unmut bei den Mädels aus, da sie doch extra noch einmal hierhergekommen waren. Ein Eis konnte den Ärger lindern und das Versprechen die Ruderboottour am nächsten Tag gleich als erstes zu unternehmen. Sie machten ein Foto von den Öffnungszeiten, damit sie auch ja eine der ersten wären, die ein Boot ergatterten.

Kapitel 5

Als sie den Parkplatz schließlich verließen, war es schon weit nach 20: 00, da sie noch einen Souvenirshop entdeckt hatten und daran konnte der Großteil der Familie nicht vorbei. Während Anna und Marie nur einen kurzen Blick auf die Sachen warfen und es vorzogen, dann vor dem Geschäft zu warten, gaben sich Chris und Nicola ihren Shoppingfreuden ganz hin. Schließlich verließen sie das Geschäft mit einem T-Shirt und mehreren Magneten – das übliche eben. Das Eis hatte nicht lange angehalten, und so freuten sie sich alle schon auf ein warmes Abendessen. So viele Bed and Breakfast Häuser es auch gab, Restaurants waren offenbar rar und da sie rar waren, waren sie richtig gut besetzt. Beim ersten bekamen sie keinen Parkplatz mehr – es war eindeutig Hochsaison. Beim zweiten bekamen sie einen Parkplatz, mussten dafür aber elendslange auf das Essen warten. Hätten sie nicht höflich nachgefragt, wären sie wahrscheinlich vergessen worden. So trafen sie erst gegen 22: 30 wieder im Boat House ein. Dafür waren sie nun satt und zufrieden, aber auch megamüde.

Nach einer Zahnputzorgie fielen sie alle wie Steine ins Bett. Anna fielen die Augen über ihrem E-Reader schon zu, sie schaffte gerade einmal zwei Seiten des spannenden Krimis zu lesen, dann gab auch sie auf. Die Kinder atmeten schon fest und tief und Chris´ zartes „Schnürcheln“, denn gottseidank zählte er nicht zu den laut schnarchenden Männern, verriet, dass er schon im Reich der Träume war. Doch lange währte die Ruhe nicht – Anna schreckte aus dem Schlaf hoch, als sie ein lautes Zischen vor der Tür hörte. Seit der Geburt von Marie hatte sie einen sogenannten „Ammenschlaf“. Sie wachte bei jedem Geräusch auf – zugleich war sie aber mit der Gabe gesegnet, dann auch gleich wieder einzuschlafen. Doch nicht jetzt. Zugegeben. Sie war neugierig und spitzte die Ohren. Neben dem tiefen Atmen ihrer drei liebsten Menschen musste sie sich gut anstrengen, denn das laute Zischen, das sie offensichtlich aufgeweckt hatte, war wieder leiser geworden. Aber offensichtlich unterhielten sich da genau vor ihrer Zimmertüre zwei Männer. Und das Gespräch schien kein freundschaftliches Geplauder über das Wetter zu sein.

Offensichtlich waren es zwei Männer, die sich da beide in nicht gerade bestem Englisch unterhielten. Sie kramte in ihrer Erinnerung und war sich dann sicher, dass es sich um den Vermieter auf der einen und den anderen Tiroler auf der anderen Seite handelte – sonst hatte sie außer Chris hier noch keinen Mann gesehen. Als Werner hatte er sich vorgestellt. Was hatten die beiden bloß mitten in der Nacht zu besprechen. Ein Blick auf das Handy verriet Anna, dass es bereits 02: 00 früh war.

“You did this to her, I am so sure!”5

“What are you talking about? I have got no idea what you want. You must mistake something here…”6

“Of course you say that you have got no idea, I am sure you treated many many women like this during the war so that of course you don´t remember Dunja! Everybody said that the Serbs were the bad ones during the war but in truth it was you - the Croatians! First you took them everything and every rights they had and then you killed them and treated them badly when they tried to fight for their rights!”7

“Listen once more you are here in a Bed and Breakfast, I am your landlord, you are my guest. We are not back in war and I don´t know any Dunja, I have never heard about this name and I certainly did not kill any woman during the war! So either please go back to your room and keep silent, or I have to ask you to leave my house together with your family. It is your choice.”8

“I know that it was you who left Dunja caught in the cage and you didn´t help her – before she died I had asked a private detective to find out who killed her father and her brother and left her helplessly there. He found you and Dunja recognized you on the photograph – so don´t lie to me. I only want that you admit your cruel behavior so that Dunja can finally find peace – wherever she might be…”9

Auf diese gewichtigen Worte hörte Anna keine Antwort mehr, sondern sie hörte, wie sich die Haustür schloss. Offenbar hatten die beiden Männer ihre Unterhaltung beendet und jeder ging seines Weges, denn die Stiegen knarrten, während Werner vermutlich ins Zimmer zu seiner Familie hinaufstieg. Der Vermieter war wohl in das Nebenhäuschen gegangen, wo er mit seiner Mutter und Schwester wohnte. Zumindest wenn im Haupthaus alles besetzt war.

Anna versuchte das Gehörte einzuordnen, tat sich aber sehr schwer damit. Die Männer schienen sich nicht zu kennen, aber offensichtlich meinte Werner, dass sie beide eine gemeinsame Bekannte hatten. Ihr Gastgeber war da aber anderer Meinung. Irgendwie hatte das Ganze wohl auch mit dem Kroatienkrieg zu tun, der ja noch gar nicht so lange her war. Da wurde Anna wieder bewusst, dass Leute in ihrem Alter, die zu der Zeit in Exjugoslawien lebten, den Krieg jedenfalls in voller Härte erlebt hatten und wohl größtenteils selbst auch in die Kämpfe verwickelt waren. Das erklärte die Traurigkeit in den Augen ihres Vermieters – er war wohl als junger Mann damals auch in den Krieg gezogen – für die Unabhängigkeit Kroatiens. Aber wie hing das mit Werner und seiner unübersehbaren Traurigkeit auf der einen und massiver Emotion auf der anderen Seite zusammen? Anna seufzte und war so müde, dass sie trotz des Kopfkarussells gleich wieder einschlief.

5 „Du hast ihr das angetan, ich bin mir so sicher!“

6 „Worüber sprechen Sie da? Ich habe keine Ahnung, was Sie wollen. Sie müssen etwas verwechseln.“

7 „Natürlich sagst du, dass du keine Ahnung hast, aber ich bin mir sicher, dass du ganz viele Frauen im Krieg so behandelt hast, sodass du dich nicht mehr an Dunja erinnern kannst! Alle haben gesagt, dass die Serben die Bösen im Krieg waren aber in Wahrheit wart Ihr es – die Kroaten! Zuerst habt Ihr ihnen alles und alle Rechte, die sie hatten, genommen und dann habt Ihr sie umgebracht und schlecht behandelt, als sie versucht haben, für ihre Rechte zu kämpfen!“

8 „Hören Sie zu, Sie sind hier in einem Bed and Breakfast, ich bin Ihr Gastgeber und Sie sind mein Gast. Wir sind nicht wieder im Krieg und ich kenne keine Dunja, ich habe diesen Namen noch nie gehört und ich habe ganz sicher keine Frau im Krieg getötet. Also gehen Sie bitte entweder wieder zurück in Ihr Zimmer und sind still, oder ich muss Sie bitten, gemeinsam mit Ihrer Familie mein Haus zu verlassen. Es ist Ihre Entscheidung!“

9 „Ich weiß, dass du es warst, der Dunja in der Höhle zurückgelassen hat und du hast ihr nicht geholfen – bevor sie gestorben ist habe ich einen Privatdetektiv engagiert, der herausfinden sollte, wer ihren Vater und ihren Bruder getötet und sie hilflos zurückgelassen hat. Er hat dich gefunden und Dunja hat dich auf dem Foto erkannt – also lüg mich nicht an. Ich möchte nur, dass du dein grausames Verhalten zugibst, damit Dunja endlich Frieden finden kann – wo immer sie auch sein mag….“