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MAD JERRY

der postapokalyptische umherziehende Krieger

Ben Wallace

übersetzt von

Peter Mehler

Lesermeinungen:

»Ich will mehr davon! Die Story ist einfach nur cool.« [Amazon Leser]

»… eine absolut gelungene Parodie auf Postapokalypse-Romane mit einem ganz eigenen Humor, den man richtig gut finden kann. Alles ist ziemlich übertrieben und abgedreht, macht großen Spaß.« [Null, leserkanone.de]

»Apokalypse kann auch verdammt lustig sein - nur echt mit dem postapokalyptischen umherziehenden Krieger!« [JanaOltersdorff, lovelybooks]

5

Die Straßen waren nicht viel schlimmer als in der Zeit, bevor die Weltmächte auf die Idee kamen, sie mit Bomben zu bewerfen. Und mit Ausnahme einiger biologischer Kampfstoffe war es eher selten, dass die Bomben etwas enthielten, das pflanzliches Leben förderte. Oder irgendeine Art von Leben.
  Die Pflanzenwelt hatte überlebt, ihr Wuchs jedoch war verkrüppelt und die bestehenden Beton- oder Asphalt-Barrieren verhinderten ihre Ausbreitung. Der Straßenbelag würde mit der Zeit verwittern, aber derzeit war er noch glatt, wo er früher glatt war, uneben wo er früher uneben war, und grottenschlecht in ganz Arkansas.
  Die Reise in einem großen Wohnmobil hatte seine Vorteile, und lange Stoßdämpfer waren einer davon. Jerry hatte vielfältige Veränderungen an dem Wagen vorgenommen, aber es bestand kein Grund, an der Federung herumzubasteln. Da gab es andere Dinge, die weitaus wichtiger waren.
  Große Wasserbehälter zum Beispiel, um die Versorgung mit Flüssigkeit im Ödland und den vergifteten Arealen des Landes zu sichern. Solarzellen und Akkus versorgten die wichtigen Notfall-Systeme mit Energie, darunter Leuchtstoffröhren, mit denen man lichtempfindliche Mutanten blenden konnte. Ein kleiner Kühlschrank hielt das Bier kalt.
  Er hatte einen großen Plasma-Flachbildschirm weggeworfen und den verschließbaren Einbauschrank in einen Waffenschrank umfunktioniert. Hier bewahrte er den Großteil seiner größeren Waffen auf: Sturmgewehre, Schrotflinten und ein paar Maschinenpistolen, die er über die Jahre aufgetrieben hatte.
  Der zweite Plasmafernseher war noch immer an seinem Platz und mit einem DVD-Player, einem Videorecorder und einer teuren Lautsprecheranlage gekoppelt, eingerahmt von einem Regal, welches das unerlässliche Referenzmaterial für einen Mann in seinem Job enthielt. Die DVD-Sammlung war umfangreich und enthielt alles von A wie A Boy and his Dog bis Z wieZardoz.
  Der Silver Lining war wie geschaffen für ein Leben in der Postapokalypse: Diesel gab es überall, und halbwegs verstecken ließ sich das Gefährt auch.
  Nicht selten fühlte er sich, als würde er betrügen. Kein postapokalyptischer Wanderer in keinem der Filme aus der Zeit vor der Apokalypse war derart luxuriös gereist. Die meisten waren zu Fuß unterwegs gewesen oder in einem verbeulten Muscle-Car. Maßgefertigte Militärfahrzeuge waren die ideale Art der Fortbewegung, aber diese bildeten eher die Ausnahme, selbst in Hollywood.
  Der Silver Lining war praktisch. Er sagte sich oft, dass er ein besserer Verbündeter für die sein würde, die Hilfe benötigten, je besser er vorbereitet war. Darüber hinaus war er lieber ein postapokalyptischer umherziehender Krieger, der in einem Doppelbett schlief, als einer mit Rückenschmerzen vom Schlafsack auf steinigem Boden.
  Chewy schnarchte. Ihre Schnauze klebte am Fenster, Speichel rann dort hinab, sammelte sich auf ihrer mächtigen Pfote, lief darüber und tropfte in das Seitenfach der Tür, wo er eine ekelerregende Pfütze bildete.
  Aufziehende Gewitterwolken schluckten das Sonnenlicht und hüllten die Welt in eine Dunkelheit, die sie seid Edisons Erleuchtung nicht mehr erlebt hatte. Jerry jedoch machte keine Anstalten, die Scheinwerfer einzuschalten. Stattdessen griff er in das Fach hinter sich, zog ein Nachtsichtgerät hervor und streifte es sich über den Kopf.
  Während die Halogen-Scheinwerfer auf dem Dach dafür installiert worden waren, um Mutanten mit empfindlichen Augen abzuschrecken, lockten die normalen Scheinwerfer dagegen andere Lebewesen mit weit weniger sensiblen Augen an. Riesige Schwärme mutierter Insekten beispielsweise, die sich so dicht um den Wagen scharten, dass die Fahrt geradeaus zu einer holperigen Glückssache wurde.
  Kurze Zeit später prasselte der Regen gegen die Windschutzscheibe. Sturzbäche ungesund aussehenden Wassers versperrten ihm die Sicht. Statisches Rauschen legte sich über das Bild seines Nachtsichtgeräts. Anfangs war das Rauschen noch schwach, aber als der Regen stärker wurde, sah er nur noch weißes Schneegestöber. Er setzte das Nachtsichtgerät ab und betätigte den Blinker, um anzuzeigen, dass er rechts ranfahren würde.
  Fluchend hieb er auf den Blinker, um ihn abzuschalten. Der schnappte zu weit und schaltete den linken Blinker ein. Er verpasste ihm einen Klapps zurück. Und der rechte Blinker sprang an. Links, rechts, links, rechts, und dann aus. Er grunzte.
  Erleichtert, dass ihn niemand bei seinem Blickmanöver beobachtet hatte, musste er über sich selbst lachen. Nach all den Jahren, in denen er nahezu allein auf den Straßen unterwegs war, setzte er noch immer den Blinker, um den Silver Lining über den Randstreifen zu bugsieren und am Bordstein zu halten. Und auch wenn er lachte, wusste er doch, dass es genau diese kleinen Dinge waren, die ihm Hoffnung auf die Wiederauferstehung der Menschheit gaben. Wenn man sich erinnern konnte, wie ein Blinker funktionierte, konnte man sich an alles andere auch erinnern.
  Er stellte den Motor ab und starrte durch die Windschutzscheibe in die Dunkelheit hinaus. Blitze zuckten in der Ferne herab und erhellten die Straße. Etwas erregte seine Aufmerksamkeit, auch wenn er nicht erkennen konnte, um was es sich handelte. Er rutschte auf den Beifahrersitz und presste sein Gesicht an die Scheibe, wartete auf einen weiteren Blitz.
  Straßenschilder waren zumeist umgestürzt, wenn man sie nicht zum Bau von Hütten verwendet hatte, aber hier hatte man keine zehn Fuß von ihm entfernt eines der Schilder wieder aufgerichtet, von einer Vielzahl Holzlatten und Stahlstangen gehalten. Die Beschriftung war geändert worden. Mit fluoreszierender orangener Farbe hatte man die Nummer der Ausfahrt übermalt und ergänzt um weitere Worte: Vita Nova, Essen, Trinken, Zuflucht und Hoffnung. Das letzte Wort war am größten geschrieben.
  »Wie es aussieht, sind wir da, Chewy.«
  Die riesige Hündin ließ einen fahren und erschrak über sich selbst. Ihr Kopf fuhr zu ihrem Herrchen herum.
  »Ich war's nicht. Du hast gefurzt.«
  Sie glaubte ihm nicht.
  Der Geruch verteilte sich im Führerhaus.
  »Oh, Chewy.« Er begab sich eilig in den hinteren Teil des Wohnmobils. Die Duftwolke folgte ihm. »Ich kann noch nicht mal ein Fenster aufmachen.«
  Chewy stand auf und lief zur Tür. Dort scharrte sie mit den Pfoten an der Klinke.
  »Wir können die Tür nicht öffnen. Das ist Eisenregen.« Zumindest nannten die Menschen ihn so. Er war hart und stach wie kleine Metallsplitter. Wenn er auf Stahl oder Blech traf, schepperte es so laut, dass man glauben konnte, er würde sich ins Metall bohren. Außerdem erinnerte es die Menschen an die Achtziger.
  In Wahrheit wusste niemand genau, woraus die Niederschläge bestanden. Aber da der Regen verdammt weh tat und elektrostatische Störungen verursachte, herrschte die allgemeine Auffassung, dass man sich am Besten von ihm fernhielt.
  Chewys Verdauungsorgane wussten davon natürlich nichts. Sie winselte und begann zu schnauben, wobei Speichel durch den ganzen Wagen flog.
  »Du weißt, dass wir nicht hinaus können.«
  Der Hund begann zu winseln.
  »Nein. Du wirst es anhalten müssen.«
  Sie schnaubte wieder, sprang von ihrem Sitz und lief in den hinteren Teil des Wagens. Die restliche Nacht war für beide unangenehm.

***

Jerry wusste, dass Vita Nova lateinisch für „Neue Hoffnung“ war, aber nachdem er die Stadt aus der Ferne ausmachen konnte, war klar, dass der Name nicht passte. An Hoffnung schien es der Stadt so sehr wie an allem anderen zu mangeln. Nichts regte sich.
  »Das war irreführende Werbung auf dem Schild, Chewy.« Mit seinem starken Fernglas untersuchte er die von einem Wall umgebene Stadt. »Ich kann nichts erkennen. Da tut sich nichts.«
  Er packte das Fernglas in die Tasche und kletterte an der Seite des Silver Lining hinab zu Chewy, die ihn von unten beobachtet hatte.
  »Aber wir sollten trotzdem nachsehen. Zumindest könnte es dort frische Vorräte für uns geben.«
  Mit einem zustimmenden Bellen sprang der Hund auf die Beine, bereit, neue Menschen zu begrüßen und neue Dinge riechen zu können.
  »Ich muss mich umziehen.«
  Eine der unrichtigen Vorhersagen über die Apokalypse war die, dass alle Bekleidungsgeschäfte und Kaufhäuser zerstört würden und die Menschheit dazu übergehen würde, Patchwork-Gewänder und Teile von Autoreifen zu tragen. In ganz schlimmen Fällen waren einige gezwungen gewesen, selbstgewebte Kleidung anzuziehen, aber mit nur etwas Planung konnten die meisten Kolonien Teams in die ehemaligen Einkaufszentren, Ladenpassagen oder die Nachbarschaft aussenden, um dort die Regale und Schränke leer zu räumen. Nun, da 97% der Weltbevölkerung keine Garderobe mehr benötigten, standen genügend Kleiderschränke voller Wäsche zur Verfügung.
  Einige entschieden sich dafür, nur noch selbstgemachte Kleidung zu tragen. Isolationisten hatten sich in vielen Ansiedlungen niedergelassen. Die Angst vor der Welt veranlasste sie, die meiste Zeit innerhalb der Schutzmauern zu bleiben und diese nur im allerhöchsten Notfall zu verlassen. Besucher standen unter ständiger Beobachtung, sofern man ihnen überhaupt erlaubte, die Stadt zu betreten.
  Andere begegneten dem Leben in einer postapokalyptischen Welt mit Misstrauen und lebten von dem, was das Land hergab. Sie gaben der Technik und der Gier nach materiellen Dingen die Schuld am Untergang der Zivilisation, und suchten ein einfacheres Leben.
  Städte wie diese hielten sich im Vergleich zu anderen nicht lange. Zudem zeigten sie sich besonders widerwillig, Hilfe anzunehmen. Ganz besonders dann, wenn diese Hilfe mit Waffen oder Maschinen zu tun hatte. In einigen Ortschaften ging das sogar so weit, dass man zum Wohle der Kinder jegliche Technologie als Hexerei bezeichnete, obwohl der Zusammenbruch der Strukturen noch keine sieben Jahre her war. Mit diesem Vokabular wollte man sicherstellen, dass künftige Generationen nicht den gleichen Verlockungen erliegen würden, die das Ende aller Tage herbeigeführt hatten.
  Jerry trug eine gut eingelaufene Levis-Jeans und ein Captain-America-T-Shirt. Der Kleiderschrank des Silver Lining enthielt genügend bequeme Alltagskleidung ohne Risse, Flecken oder Schmutz. Aber als Krieger des Ödlands konnte man in so einem Aufzug natürlich nicht ankommen. Und auch wenn er mit seiner Einschätzung von Vita Nova falsch lag, war es trotzdem besser, dort nicht übertrieben aufgedonnert anzuklopfen.
  Was nicht gleich bedeutete, dass er nun den Michelin-Ersatzreifen zerschneiden musste, um sich Schulter-Pads oder einen Schrittgurt daraus zu basteln. Doch man musste den Anschein wahren, wenn man sich einer neuen Stadt näherte. Er stieg in den Wohnwagen und öffnete den Kleiderschrank.
  Im Gegensatz zu Einsatzkleidung – Klamotten für den Winter, Überlebensausstattung für die Wüste, Schutzbekleidung und sogar ein Strahlenschutzanzug, die im Laderaum unter dem Boden verstaut waren, enthielt der Kleiderschrank nur Alltagskleidung. T-Shirts, Jeans, und ein paar Flanellhemden hingen neben seinen Arbeitssachen.
  Der Plan hatte sich nicht geändert. Er würde sich als postapokalyptischer umherziehender Mechaniker vorstellen. Aber da sich in der Stadt so wenig regte, hielt er es für das Beste, vorbereitet zu sein. Er entschied sich für den Look eines Landstreichers. Bestimmt gab es Landstreicher, die Mechaniker waren. In einem Arbeitsoverall dort aufzukreuzen, um dann festzustellen, dass man besser ein paar Waffen eingepackt hätte, war sicher keine gute Idee.
  Ganz am Rand hing eine Jeans, die abgetragener als die anderen war. Die zog er über, und schlüpfte in zwei in Mitleidenschaft gezogene Motorradstiefel. Über das T-Shirt zog er noch einen grauen Leinenpullover. Er strubbelte sich durch die Haare, zog sich eine Schweißerbrille aus Leder über den Kopf, die er sich um den Hals hing, und warf einen Kittel über den Beifahrersitz.
  Dann setzte er sich wieder ans Steuer. Chewy sprang neben ihn auf den anderen Sitz. Jerry lächelte und kraulte den großen Hund am Kopf. »Der heutige Tag wird unser Leben verändern, Mädchen.«
  Chewy sackte zusammen und schlief ein.
  Er startete das Wohnmobil und fuhr bis auf etwa eine Meile an die Stadt heran, dann hielt er hinter einem Gebäude, das früher mal ein Schnellrestaurant gewesen war. Das brachte schlagartig einige Erinnerungen zurück und endete damit, dass er Chewy zu erklären versuchte, dass sie in diesen Restaurants das Dessert immer erst auf den Kopf gestellt hatten, bevor sie es servierten. Chewy aber zeigte sich unbeeindruckt und versuchte, wieder einzuschlafen.
  Bei so viel Gleichgültigkeit konnte Jerry nur mit den Schultern zucken. Er öffnete eine Luke im Boden. Zwei vernickelte 45er steckten darin. Die unverwechselbaren 45er waren für zwei Dinge gut. Erstens war so gut wie unmöglich, mit diesen beiden daneben zu schießen. Sie hinterließen einen bleibenden Eindruck bei den Stadtbewohnern. Und zweitens hatten die 45er Wettkampf-Qualität und hinterließen bleibende Löcher in den Angreifern.
  Blitzblank poliert reflektierten die beiden Pistolen das schwache Licht, das durch die Windschutzscheiben fiel, verstärkten es und schickten es zurück in die Welt. Jede Pistole saß an einer Seite der Hüften, die Kammer leer und gesichert.
  Er warf sich den Kittel über die Schultern und nahm eine Schrotflinte aus dem Schrank neben der Tür. Die hängte er sich locker über den Rücken.
  »Fertig, Mädchen?«
  Chewy kletterte vom Beifahrersitz. Sie gähnte, streckte sich, dann folgte sie ihm ohne größere Begeisterung. Ihre Abneigung darüber, nach draußen zu müssen, tat sie mit einem Geräusch kund, dass halb Schnauben und halb Bellen war.
  Er öffnete die Tür. Als sie die frische Luft witterte, wurde Chewy aufgeregt. Sie stürmte los und prallte gegen Jerrys Knie. Der verlor den Halt und klammerte sich am Tisch fest.
  »Chewy, verdammt.«

6

Gregory Emerson fluchte, als er sich den Kopf an dem eingestürzten Dach des Nissan Pathfinder anstieß. Er rieb sich die Stelle und untersuchte den Gegenstand, wegen dem er überhaupt erst den Kopf in das Wrack gesteckt hatte.
  Die Bügel waren verbogen, die dicken Gläser aber noch heil und ohne Kratzer. Er hielt sich die Brille vor seine Augen. Sofort begann ein Kopfschmerz aus dem oberen Ende der Wirbelsäule in seine Schläfen zu kriechen.
  »Scheiße, Magoo, ich wette, dich haben sie ordentlich gehänselt.«
  Er pustete auf die Brille, um den Staub und ein kleines Stück verrottetes Fleisch zu entfernen, dass auf dem Steg festklebte. Dann durchwühlte er die Brieftasche. Bargeld und Kreditkarten warf er weg, die waren nutzlos geworden. Aber wenn der Fahrer ein Kondom bei sich hätte, wäre das wie ein Fünfer im Lotto. Er zog den Führerschein heraus und kicherte.
  »Tut mir sehr leid, Mr. Jenkins. Wie es aussieht, waren Sie Organspender. Nun, mit Hilfe ihrer Streberbrille wird jemand wieder sehen können. Und ich werd' zu einer Mahlzeit kommen.«
  Emerson wanderte weiter durch den gewaltigen Auffahrunfall, der sich vor einigen Jahren ereignet hatte. Er kletterte auf einen umgekippten FedEx-Truck und besah sich die Ansammlung von verbogenem Metall. Taumelnd arbeitete er sich zu einem Ford Minivan vor.
  »Alles meins! Alles meins!« sang er, als er zu dem Gewirr aus Familienwagen und Lastern tanzte.
  Der Verkehrsunfall war seit dem Ende der Welt unberührt geblieben. Jedes Fahrzeug, in das er spähte, enthielt wertvolle persönliche Habseligkeiten, die man hastig bei der Evakuierung zusammengeklaubt hatte. Niemand von denen hier war gerettet worden.
  Die eingekeilten Flüchtlinge waren allem Anschein nach Opfer von The Creep geworden. Der The Creep genannte zähe blaue Nebel hatte sogar das Militär überrascht. Halb Nebel, halb Flüssigkeit, hatte es diese Plasma-Waffe wie Tumbleweed durch die Landstriche geweht.
  Wer das Pech hatte, den Weg mit diesem gruseligen blauen Dunst zu kreuzen, wurde wütend und ungehalten. Die Menschen, die im Verkehr feststeckten, schlugen um sich, und verwandelten die dicht befahrenen Straßen in ein Schlachtfeld. Das hielt so lange an, bis sich alle umgebracht hatten oder The Creep selbst zum Opfer fielen.
  Hier und da zogen noch immer Wolken der berüchtigten Waffe durchs Land. Die Wirkung schien sich nicht zu verflüchtigen. Es bedeutete den Tod, ihr länger ausgesetzt zu sein. Wenn starker Wind den Dunst herantrug, befiel einen die Raserei. Menschen ebenso wie Tiere.
  Nur der Wahnsinn, diesem Gas ausgesetzt gewesen zu sein, konnte einen Unfall in dieser Schwere und an diesem Ort auf einem ansonsten menschenleeren Highway erklären.
  Da einige der Fahrzeuge mit Vorräten vollgestopft waren, nahm Emerson an, dass sie als Karawane unterwegs gewesen waren.
  Mit einer Goldader wie dieser, würde er jahrelang im Geschäft sein. Vorausgesetzt, er könnte dieses Versteck lange genug geheim halten.
  Er schob seinen Kopf durch die Beifahrertür des Minivans und warf einen Blick auf die Insassen. Wenigstens war die Familie bis zum Ende beisammen gewesen. Die vierköpfige Familie hatte den Van mit Habseligkeiten vollgestopft. Er würde alles noch genauer durchsehen, aber zuerst suchte er immer nach Brillen. Aufgrund ihrer Größe und ihres Gewichts waren sie leicht zu tragen, und Korrekturlinsen waren eine begehrte Ware. Deshalb war Brillensucher einer der profitabelsten Berufe der neuen Welt.
  Der Vater schien über normale Sehkraft verfügt zu haben oder trug Kontaktlinsen. George war darüber etwas enttäuscht, was sich aber schnell wieder gab, als er bei der Leiche der Mutter eine Designer-Brille erblickte.
  George der Plünderer zog an dem Gestell. Das, was von ihrem Fleisch übriggeblieben war, hielt die Brille fest an ihrem Kopf, und er musste daran zerren, um sie vom Gesicht zu bekommen.
  Ein kurzer Blick durch die Gläser bestätigte, dass es keine Gleitsichtbrille war. Einheitliche Stärken ließen sich besser verkaufen. Bei einer Gleitsichtbrille musste man jemanden finden, dessen Sehschwächen sich exakt mit dem vorherigen Besitzer deckten. Kurzsichtig aber war kurzsichtig, damit ließ sich ein größerer Kreis von Konsumenten abdecken. Und wenn doch einer eine Gleitsichtbrille brauchte, verkaufte George ihm einfach zwei Brillen statt nur einer.
  Als nächstes suchte er nach Hochzeitsringen.
  Gold gab es jetzt überall, aber er glaubte fest daran, dass es sich sehr bald wieder als Währung etablieren würde. Seit Anbeginn der dokumentierten Geschichtsschreibung hatte es kein Jahrhundert gegeben, in dem dieses Metall für wertlos erachtet worden war. Die Geschichte hatte die Angewohnheit, sich zu wiederholen, das wusste er. Und wenn das passieren sollte, würde er einer der reichsten Menschen der Neuen Welt sein.
  Zwei Kinder starrten ihn mit leerem Blick aus ihren Kindersitzen auf der Rückbank an. Der Junge trug eine Texas-Rangers-Baseballkappe auf dem Kopf, und in der Hand hielt er einen Baseball-Handschuh. Ein paar Fetzen eines rosafarbenen Kleids waren der einzige Anhaltspunkt, dass das andere Kind ein kleines Mädchen gewesen war. Sie hielt einen blauen Teddybär umklammert. Der Verfall hatte die Muskeln ihres Körpers verzehrt, aber der Griff um ihr Lieblingsspielzeug war unmissverständlich.
  Obwohl bläulicher Schimmel auf dem Plüschfell des Teddys gewachsen war, kam er ihm seltsam vertraut vor. Er sah zurück zum Fahrer und zu der Mutter auf der Beifahrerseite, und zum ersten Mal seit Jahren nahm er die Leichen als Menschen wahr.
  Gregory Emerson hatte in den letzten sieben Jahren zahllose Leichen geplündert. Alles was er fand, tauschte er gegen Güter des täglichen Bedarfs oder Luxusartikel. Er verdiente besser als er es je vor dem Ende der Welt getan hatte, aber es hatte ihn hart gemacht, ihm den Verstand geraubt, und mit jedem erfolgreichen Tauschgeschäft hatte er auch ein wenig seiner Menschlichkeit hergegeben. Über die Jahre hinweg hatte ihn Stück für Stück das Mitgefühl verlassen. Und jetzt holte es ihn mit einem Male wieder ein.
  Mit Tränen in den Augen zog er sich aus dem Minivan zurück. Er wischte den Schmutz von der Designer-Brille, atmete tief ein, aber das vertrieb nicht den Schmerz aus seinen Lungen. Er schniefte, seine Nase lief. Die Tränen nahmen ihm die Sicht. Unter heftigen Schluchzern, die seinen ganzen Körper schüttelten, griff er noch einmal durch das Fenster auf der Beifahrerseite und setzte die Brille zurück auf die Nase seiner Schwester.
  Dann brach er heulend auf dem Boden zusammen. Er zog die Knie an seine Brust und leckte nach dem salzigen Geschmack seiner Tränen.
  »Es tut mir leid«, rief er zu sich selbst, denn sonst war keiner da, der ihn hätte hören können. Er rappelte sich wieder auf und schrie die verfaulenden Fahrer um sich herum an: »Es tut mir leid! Es tut mir leid, dass ihr alle tot seid! Das ist Mist, totaler Mist, und ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen.« Er spuckte beim Sprechen. »Ich wünschte, ich könnte mit einer Handbewegung alles ungeschehen machen!« Er gestikulierte vage mit seiner Hand in Richtung des Endes des Unfalls und zwei Autos flogen in die Luft.

***

Dröhnend pflügte es die Erde vom Randstreifen um und warf sie als Staub zurück auf die Straße. Der stählerne Pflug am vorderen Ende des gepanzerten Sattelschleppers rammte die längst verlassenen Wracks aus dem Weg.
  Aus den verlängerten Auspuffrohren spie unaufhörlich dunkler Dieselqualm, als sich der tiefschwarze und nur am oberen Rand mit einer blutroten Linie verzierte Truck seinen Weg die Straße entlang bahnte. Der mattschwarze Anstrich schluckte jegliches Tageslicht.
  Der Sattelschlepper zog vier Anhänger, jeweils zwei Paar nebeneinander. Auf diese Weise nahm das Gefährt wie eine bewegliche schwarze Wand die komplette Straße und beide Fahrspuren ein.
  Am vorderen Ende des Trucks säumten wie Zähne stählerne Zacken den Pflug. Diese metallene Barrikade ging über das eigentliche Führerhaus hinaus und war breiter als die Breite der Anhänger. An jeder Seite des Führerhauses und geschützt von dem dickwandigen Eisen des Pflugs befanden sich Geschütztürme mit Maschinengewehren, bereit zu feuern. In jedem der Geschütztürme hielt jeweils ein Wachposten Ausschau, hinter dicken getönten Schweißerbrillen und den Kaliber-50-Doppelmaschinengewehren.
  Aber das Ungetüm hatte noch mehr Feuerkraft zu bieten. Auf den Anhängern verliefen Brustwehren, hinter denen sich Männer mit Sturmgewehren und Schrotflinten positioniert hatten – bereit, Angreifer dadurch zu entmutigen, dass man sie kurz und schmerzlos über den Haufen schoss.
  Der starke Motor spie große schwarze Rauchwolken, schluckte den selbst gemachten Diesel und beschleunigte, um das kleine Fließheck eines Kombis aus dem Weg zu räumen.
  Die stählerne Karosse des Hondas gab sofort nach. Der Importwagen schoss von der Straße und ließ nur Glassplitter und rostige Teile zurück, die von dem Truck zermahlen wurden. Der Wagen überschlug sich und fiel in seine Einzelteile auseinander, bis er in dem Feld am Rande der Straße endlich liegenblieb.
  Die Schlafkabine des Sattelzugs war zu einem Kommandozentrum umgebaut worden. An deren Wänden hingen Karten mit handgeschriebenen Notizen. Auf miteinander verschweißten Regalen standen Ordner voller Informationen über die Treibstoffreserven, Nahrungsmittelvorräte und Munition.
  Inmitten des kleinen Raumes stand ein Tisch, an dem ein Mann über einer Liste grübelte und Notizen in ein Buch mit Spiralbindung machte.
  »Sir, ein Unfall direkt voraus. Alle Spuren sind blockiert.«
  »Voller Stop!« Nägel, Schotter, selbst Glasscherben, die man in einer Blechbüchse hin und her schüttelte, machten ein angenehmeres Geräusch als die Stimme, die aus der Kehle des Anführers drang. Seine Haut sah aus wie gegerbtes bleiches Leder. Die Falten, die all die Härten des Lebens in sein Gesicht gezeichnet hatten, warfen keine Schatten. Selbst der Kontrast zu seinen schlohweißen Haaren trug nicht dazu bei, seiner Haut etwas Farbe zu verleihen. Einzig die schwarze Augenklappe gab seinen Gesichtszügen Kontur.
  Unter Pfeifen und Zischen brachten die hinteren Druckluftbremsen das Ungetüm zum Stehen.
  »Schick' die Crew raus. Ich will, dass die Straße so schnell wie möglich wieder befahrbar ist.« Die Stimme des Commanders war besonnen, leise und furchteinflößend. »Ich bin in meiner Kabine.«
  »Jawohl, Major.«
  Der Commander verschwand durch einen Verbindungsgang in die Anhänger-Sektion.
  Der Steuermann sprach in eine Intercom-Anlage an seiner Armatur.
  »Abriss-Team, fertig zum Einsatz.«
  Der Befehl hallte durch die Anhänger des riesigen Gefährts. Plötzlich herrschte rege Betriebsamkeit. Versteckte Verkleidungen an der Außenseite des Sattelschleppers sprangen auf und Männer in gepanzerter Schutzkleidung bezogen auf der Straße Stellung. Jeder von ihnen hielt ein Gewehr im Anschlag, mit dem er das Gelände absuchte, bis die Offiziere grünes Licht gaben. Dann sprangen weitere Männer aus dem Truck, die Brecheisen, Stahlstangen, Schweißbrenner, Äxte und so weiter über ihre Köpfe schwangen und sich sofort daranmachten, die verkeilten Fahrzeuge auseinanderzunehmen.

***

Emerson sah, wie die Männer des Teams aus dem Truck strömten. Ihre schwarzen Uniformen waren die ersten, die er seit dem Fall der Bomben gesehen hatte. Gas entwich zischend, und wie Käfer quollen die Uniformierten hervor.
  Nachdem alles zum Teufel ging, hatte es nicht lange gedauert, bis erste Gerüchte aufkamen, dass man die Regierung sicher in die Cheyenne Mountains und andere Schutzräume evakuiert hatte. Viele hegten die Hoffnung, dass sie zurückkehren würden. Andere gaben der Regierung die Schuld, für was auch immer mit der Welt passiert war. Aber hin oder her – seit sieben Jahren hatte es kein Lebenszeichen der Vereinigten Staaten von Amerika gegeben.
  Gregory gehörte von je her zu der zweiten Fraktion. Er verfluchte die Regierung für all die Dinge, die er verloren hatte und dafür, dass sie sich feige in einem Loch in der Erde verkrochen hatten und darauf warteten, dass sich das Leid von alleine verflüchtigte, bevor sie das Land wieder an sich reißen würden.
  Mit der Entdeckung der Familie seiner Schwester änderte sich diese Einstellung jedoch schlagartig. Tief in seinem Inneren verspürte er das drängende Verlangen nach Ordnung. Die Sehnsucht nach der Welt, wie er sie gekannt hatte. Er wollte, dass alles wieder so wie früher war.
  Diese Männer mussten Regierungstruppen sein. Regierungen boten Stabilität, Ordnung und dem Anschein nach gut sitzende Uniformen. Mit seinem bisherigen Leben als Plünderer wollte er nichts mehr zu tun haben. Er sehnte sich nach den geregelten Verhältnissen einer Zivilisation und einer Chance, ein paar Dinge wiedergutmachen zu können.
  Er stieg auf das Dach eines verrosteten Sedans und winkte. »Gott segne Amerika!«
  Funken flogen an seinem Bein entlang, als eine Kugel nahe bei ihm abprallte und im Ödland verschwand.
  »Keine Bewegung!«, donnerte eine Stimme aus der Lautsprecheranlage des Sattelschleppers.
  »Okay!«
  Wenige Minuten später hatte man ihn vor den Truck gebracht. Mit Ausnahme seiner Kleidung hatten sie ihm alles abgenommen und er musste bedauernd feststellen, dass man ihn noch nie derart nackig gemacht hatte, ohne dass auch er auf seine Kosten gekommen war.
  Zwei Männer hielten ihn an den Armen fest, während ein dritter ihm in die Kniekehlen trat, damit es ihn von den Beinen holte. Sie schleiften ihn zu einem Zugang an der Seite des Trailers.
  Er rief protestierend: »Jungs, es ist okay. Ich freu mich, euch zu sehen!«
  Von den Wachmännern kam keine Antwort.
  Einen Augenblick später tauchte ein Mann mit weißem Haar auf. Seine massige Statur füllte die Türöffnung.
  »Was haben wir hier?«
  »Einen Plünderer, Major«, sagte eine der Wachen.
  »Wie heißt du?«
  Emerson zögerte. In Gegenwart dieses Mannes mit der Augenklappe schwand seine anfängliche Begeisterung dahin. Sein Bauchgefühl riet ihm, aufzustehen und davonzurennen, aber die Wachleute hielten ihn weiter fest und traten ihm die Beine weg.
  »Emerson, Sir.«
  »Woher kommst du, Everson?«
  »Ursprünglich aus Michigan …«
  Der Major trat aus dem Fahrzeug und näherte sich dem Gefangenen. »Michigan. Wirklich?« Er hob seine rechte Hand und deutete auf die Handinnenfläche. »Wo genau?«
  Gregory lächelte und wollte gerade die Lage seiner Heimatstadt auf der Hand anzeigen, als diese so schnell herabfuhr, dass Gregory Emerson erst zurückwich, als sie ihn bereits getroffen hatte.
  Blut schoss in die Gefäße seiner Haut und er spürte ein Brennen in der Wange.
  »Wo bist du zuletzt gewesen, Eberson?« Der Major hob wieder seine Hand, dieses Mal aber nicht als symbolisierte Karte, sondern als Anreiz, die Frage schnell zu beantworten.
  »Ahm, New Hope. Vor einer Woche vielleicht.«
  »Wo ist das?«
  »Fünf Tage entfernt, in dieser Richtung.« Er zuckte mit den Schultern. »Zu Fuß. Sie liegt etwa zehn Meilen vom Highway entfernt.«
  Der Major nickte und stieg wieder in das fahrende Ungetüm. Eine der Wachen schloss hinter ihm die Tür.
  Der Wachmann hinter Gregory hörte auf, ihm gegen die Beine zu treten, und zog eine Pistole. Gregory Emerson sah weder die Waffe, noch bemerkte er die Kugel. Danach spürte er gar nichts mehr.
  Wieder öffnete sich die Tür und der Major erschien erneut. »Noch etwas, Everman …« Er blickte zu der Leiche am Boden. »Warum ist dieser Mann tot?«
  »Sie haben genickt, Sir«, antwortete die Wache mit der noch rauchenden Waffe in der Hand.
  »Und?«
  »Nun, wenn Sie nicken, bedeutet das normalerweise: Bringt jemanden um.«
  »Das ist richtig, aber Sie müssen sich damit nicht ganz so sehr beeilen.« Der Major stieg aus dem Fahrzeug und beugte sich über die Leiche von Gregory Emerson.
  »Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
  »Ich denke, Sie hätten ihn wenigstens an den Straßenrand schaffen können. Ich meine, sehen Sie sich das an! Jetzt klebt überall Blut und Gehirn am Truck.«
  »Es tut mir leid …«
  »Sie sollten beten, dass das Zeug wieder raus geht.« Der Major zog den Wachmann zu sich, griff sich dessen Ärmel und versuchte damit, das Blut vom schwarzen Lack des Fahrzeugs zu wischen, was die Sache nur schlimmer machte und alles noch mehr verschmierte. Er ließ den Arm des Wachpostens los und brüllte: »Machen Sie das sauber und werden Sie den Leichnam los.«
  »Ja, Sir.«
  »Und für die Zukunft: Wenn ich nicke, heißt das Ja, bringen Sie jemand um, aber schaffen Sie ihn vorher beiseite und bringen Sie ihn DANN um.«
  »Ja, Sir.« Die Wache wies die anderen an, die Leiche zu entsorgen, und begann, auf die Blutspritzer an der Wagenseite zu spucken.
  »Doch nicht so, holen Sie sich etwas Wasser. Von den Rationen der Gefangenen.«
  »Ja, Sir.«
  Der Wachmann eilte davon, während der Major hinter ihm her brüllte: »Ich will, dass die Straße in Nullkommanichts geräumt ist. Wir fahren nach New Hope.« Er stieg wieder in den Wagenzug und schloss die Tür.
  Das Abrisskommando, dass seine Arbeit unterbrochen hatte, um die Exekution zu beobachten, kehrte wieder zu seiner Aufgabe zurück.
  So eingespielt ihre Tätigkeiten auch waren, aber dieser Unfall war von beträchtlichem Ausmaß. Die Wracks der verrosteten Wagen hingen wie ein großes Konstrukt zusammen. Selbst mit Schweißbrennern, Presslufthämmern und mehr würde es Tage dauern, die Trümmer zu entfernen. Der Respekt vor den Toten würde sie Wochen kosten. Dafür war keine Zeit.
  Funken stoben in die Luft, als sie wieder mit der Arbeit begannen.

7

  »Was wollen die?«
  »Essen, Vorräte, Männer, Frauen und Kinder.«
  »Frauen und Kinder?«
  »Sie halten sich Sklaven. Die meisten Männer bringen sie um, und die Frauen und Kinder sperren sie in diesen Hänger hier.« Logan deutet auf eine grobe Skizze des Sattelschleppers, die er an die Wand der Stadthallen-Scheune gemalt hatte.
  Aus der versammelten Menge waren Seufzer zu hören. Jeder Einwohner von New Hope war anwesend und begierig, mehr über die Pläne zur Verteidigung oder Evakuierung der Stadt zu erfahren.
  »Was tun sie mit den Sklaven?«, fragte jemand aus dem hinteren Teil des Raums.
  Logan schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Mit ihnen handeln? Zwangsarbeit? Oder Schlimmeres? Die Boshaftigkeit dieses Mannes kennt keine Grenzen.«
  »Wie viele Leute sind in dem Truck?« Sheriff Willie Deatherage sah zu der plumpen Zeichnung des Wagenzugs.
  »Zwanzig oder mehr.«
  »So viele Kugeln hätten wir in jedem Fall.«
  Logan hob seine Hand, um den Sheriff zu beruhigen. »Jeder von ihnen ist gut bewaffnet und trainiert. Wahrscheinlich waren sie früher beim Militär.«
  »Ich kauf Ihnen die Sache nicht ab.« Ein jüngeres Mitglied des Gemeinderates war aufgestanden. Nach seinem Gespräch mit Logan hatte der Bürgermeister eine Zusammenkunft mit den Würdenträgern der Stadt einberufen. Die meisten Ratsmitglieder hatten seinen Plan unterstützt. Timothy Simmons hingegen hatte sich von Roys Argumenten beeinflussen lassen. Der junge Ratsherr war skeptisch geblieben, ob eine solche Gefahr überhaupt wirklich existierte.
  Simmons schob eine schlecht sitzende Brille auf dem Nasenrücken nach oben, bevor er sprach.
  »Es ist jetzt sieben Jahre her. Sieben Jahre, seitdem alles aufgehört hat. Und niemals ist so etwas vorgekommen. Warum sollte sich die Postapokalypse urplötzlich in Mad Max verwandeln?«
  Logan richtete sich auf. »Ich will mich nicht mit Ihnen streiten, aber Sie hatten einfach nur Glück. Es haben sich Banden gebildet und Städte sind eingeäschert worden. Ich habe es gesehen. Und ich habe es oft genug verhindert.«
  »Bullshit. Bullshit, Mr. Logan.« Die Brille rutschte ihm wieder herunter.
  »Warum sollte ich das erfinden?«
  »Eine gute Frage, Mr. Logan. Dem sollten wir nachgehen, oder?« Der junge Ratsherr hatte den vorderen Teil des Versammlungsraums erreicht, rückte seine Brille zurecht, und sprach zu der Menge: »Habt ihr je die Geschichte vom Grashüpfer und den Ameisen gehört?«
  Logan schüttelte ungläubig den Kopf. »Das kann man nur schwer …«
  »Die Ameisen, meine Damen und Herren, arbeiteten fleißig das ganze Jahr hindurch und sammelten Vorräte für den Winter.«
  In der Menge murmelte jemand: »Wir kennen die Geschichte, Timothy.«
  Der junge Mann fuhr an seiner Brille herumfummelnd fort. »Sie arbeiteten hart, sammelten Essen ein, um zu überleben. Der Grashüpfer aber …« Er sah Logan an. »Der Grashüpfer, Mr. Logan, fidelte und fidelte. Und kümmerte sich einen Scheiß um die Arbeit.«
  »Ja, Sir. Ich kenne die Parabel und …«
  »Und dann, als der Winter kam, da hatte der Grashüpfer nichts zu essen. Dieser faule, faule Grashüpfer. Und die Ameisen bekamen Mitleid und fütterten ihn. Nein, Moment. Das stimmt nicht.«
  »Ich glaube, die Ameisen haben ihn verhungern lassen«, sagte der Direktor für interne Angelegenheiten.
  »Nein, sie gaben ihm zu essen und lehrten ihn, was harte Arbeit bedeutet«, sagte der Schatzmeister.
  Die Menge fing an, ihre eigene Erinnerung an die Geschichte wiederzugeben:
  »Ich dachte, die Grashüpfer waren Schlägertypen.«
  »Nein, das war in Das große Krabbeln
  »War das der Film mit Stallone?«
  »Nee, Bully, die Ameise.«
  »Antz.«
  »Was?«
  »Du meinst Antz. Mit einem Z. Antz.«
  »Was ist mit einem Z?«
  »Dieser Ameisenfilm mit Stallone und Woody Allen.«
  »Ah, sieh an, ein Film-Freak.«
  »Halt die Klappe, Miller.«
  »Der Punkt, meine Damen und Herren, ist der«, rief Timothy, »dass die Geschichte heute noch so wahr ist wie zu dem Zeitpunkt, als sie Dr. Seuss das erste Mal aufschrieb. Und hier«, er zeigte auf Logan, »haben wir unseren Grashüpfer, der an unseren Ameisenhaufen klopft und uns eine Geschichte von einem Truck voller Killer auftischt.«
  In dem Raum war es still geworden. Alle Frauen und Männer schauten zu Logan. Das einzige Geräusch kam von Miller und dem Film-Freak, die weiterhin Beleidigungen austauschten. Logan wartete mit seiner Antwort, bis der Streit abebbte.
  »Wow. Wirklich, wow. Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«
  »Das dachte ich mir.« Timothy lief zurück zu seinem Stuhl.
  »Aesop, und nicht Seuss, Mr. Timothy, war ein weiser Mann. Und …«, er deutete auf einen grauhaarigen Mann in der ersten Reihe. »Sie haben recht, die Ameisen ließen den Grashüpfer verhungern. Verdientermaßen. Der Grashüpfer sang und fidelte, während sich die Ameisen abrackerten. Er tat nichts dazu.
  Ich bin kein Grashüpfer. Ich biete euch etwas an. Und wenn es nur die Warnung ist, dass ein großer Truck voller Killer zu euch unterwegs ist … bitte sehr. Es steht euch frei, die Warnung zu ignorieren oder eure eigenen Vorkehrungen zu treffen. Das macht mir nichts aus. Aber ich biete euch an, hierzubleiben und zu helfen. Und das nicht, um an eure Wintervorräte zu kommen. Ich erwarte keine Gegenleistung.«
  »Warum sollten Sie uns dann helfen?«
  »Weil ich einmal eine Ameise gewesen bin.« Er rutschte mit den Füßen herum und schluckte eine schwere Erinnerung herunter. »Und mir Grashüpfer alles genommen haben. Liebe Leute von New Hope, ich sehe Potenzial in dieser Neuen Welt. Das Böse im Menschen wurde nicht wie alles andere vom Angesicht der Erde gefegt. Aber was geblieben ist, ist die Hoffnung, dass eine Stadt wie die eure ein Beispiel für die Neue Welt sein kann. Das ist eine gute Stadt. Gelenkt von Menschen. Guten Menschen.
  Doch jetzt steht ihr einer Macht gegenüber, die von Angst regiert wird. Diese beiden Welten werden aufeinanderprallen. Diejenigen, die übrig bleiben, werden die zukünftige Welt formen.
  Da draußen ist ein Grashüpfer, und ich kann nicht zulassen, dass die Welt von Grashüpfern regiert wird. Ich möchte in einer Welt der Ameisen leben. Ich möchte mich euch anschließen und eure Art zu leben beschützen. Unsere Art zu leben.«
  Die Menge schwieg, aber er konnte sehen, dass seine Worte die Leute bewegt hatten. Auch Timothy Simmons bemerkte das und sank in seinen Stuhl. Logan war sich sicher, dass er ohne Proteste fortfahren konnte.
  »Ich will nichts von euch haben. Ich möchte nur helfen. Aber jetzt brauche ich ein paar Dinge. Wir haben nicht viel Zeit.«
  »Wie viel Zeit bleibt uns noch?« Der Sheriff deutete wieder auf den Truck.
  »Das wissen wir nicht genau. Ich bin die Strecke von Vita Nova hierher in einem knappen Tag gefahren. Sie werden ein wenig länger brauchen.«
  »Wieso das?«
  »Die Straßen sind nicht frei genug für einen Sattelschlepper dieser Größe. Und sie können nicht einfach über die Mittelleitplanken drüber. Sie müssen sich ihren Weg bahnen.«

8

Asche, die einmal Vita Nova gewesen war, wirbelte um seine Füße, als er langsam durch die Stadt schritt. Hier und da trat er auf verkohlte Reste des verheerenden Feuersturms, wo der Boden noch warm war. Die Luft war angefüllt mit dem Geruch eines Lagerfeuers, in dem man ein paar Turnschuhe verbrannt hatte.
  Die Grundmauern der Gebäude standen noch, waren aber rußgeschwärzt und brüchig wie abgebrannte Streichhölzer. Überall lagen Leichen. Manche bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, andere waren zumindest von der Feuersbrunst verschont geblieben. In der Stadt war nichts mehr übrig außer Tod und einem Dreirad.
  Das kleine rote Dreirad lag auf der Seite. Eines seiner Räder drehte sich, angetrieben von der aufsteigenden Hitze. Das Kind, dem es einmal gehört hatte, konnte er nicht ausmachen. Wollte er auch nicht.