Heike Schulz

IT

Roman

cover

Ein Imprint der Arena Verlag GmbH

Digitale Originalausgabe

© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2017

Covergestaltung: Casandra Krammer unter Verwendung von Bildern von © Shutterstock und © Depositphotos

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Herstellung: KCS GmbH, Stelle | www.schriftsetzerei.de

ISBN: 978-3-401-84009-3

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Für Angelika Lauer.
Meine Schwester in Herz und Geist.

Kapitel 2

»Krass, Schwesterchen! Das sieht ja übelst hoch aus!« Lajos’ Gesicht im Fenster des Laptop-Bildschirms nickte beeindruckt. »Ich hätte vermutlich im letzten Moment gekniffen.«

»Da waren auch einige Leute dabei, die sehr lange gezögert haben. Aber es herrschte so eine tolle Stimmung auf der Plattform, dass durch die Gruppendynamik letzten Endes doch alle gesprungen sind. Ich wette, du hättest es auch gemacht.« Paula winkte bescheiden ab, aber trotzdem erfüllten sie Lajos’ Worte mit Stolz.

Seit drei Wochen waren Mel und sie bereits in der Weltgeschichte unterwegs, um ihre Käpt’n-Ahab-Liste abzuarbeiten. Dabei hatte sie Lajos via Skype schon ein paar wirklich heftige Sachen gezeigt. Bisher war das Canyoning von Punkt drei letzte Woche in den Ötztaler Alpen das extremste, was Paula in ihrem Leben gemacht hatte. Fünf Stunden hatte die Tour gedauert, bei der sie zusammen mit vier anderen Teilnehmern ihrem Canyoningführer durch die obere Auerklamm gefolgt war. Ausgestattet mit Neoprenanzügen, Helmen und Kletterausrüstung waren sie nadelöhrenge Felsenschluchten hinabgeklettert, durch gischtende Gebirgswasserrinnen geschwommen oder über natürliche Felsenrutschen geglitten, die das strömende Wasser in etlichen Jahrtausenden in den Stein gewaschen hatte. Mehr als einmal hatte sie ihrer Angst ins Gesicht blicken müssen und am Ende des Tages war sie trotz ihrer blauen Flecke und der totalen Erschöpfung glücklich wie noch nie gewesen. Wie immer hatte Mel die Aktion fotografiert, wobei sie diesmal nur Fotos von Start und Ziel machen konnte. Zuerst hatte sie die Bilder Lajos und anschließend in entschärfter Form ihren Eltern gezeigt, die erst im Nachhinein krank vor Sorge geworden waren.

Der Bungeesprung hatte die Canyoningtour in Sachen Adrenalin aber um Längen getoppt.

»Und ansonsten ist alles gut?« Lajos setzte sein typisches Großer-Bruder-Gesicht auf, bei dem Paula sich immer wie eine Fünfjährige fühlte. »Was macht Mr. K?«

Paula verzog den Mund. Auch wenn sie wusste, dass die Frage nach ihrem Fuß durchaus berechtigt war, nervte sie. Konnte sie nicht ein einziges Mal einfach nur Spaß haben, ohne gleich wieder an diesen Klotz am Bein erinnert zu werden?

»Kanzerös und schmerzfrei«, erklärte sie mit übertriebener Fröhlichkeit. »Also alles wie gehabt. Wir beide werden noch so dicke Freunde, dass ich mich gar nicht von ihm trennen mag. Ich glaube, wenn alles vorbei ist, lasse ich ihn in Kunstharz gießen. Macht sich sicher dekorativ als Briefbeschwerer.«

Sofort bereute sie ihren Anflug von Sarkasmus, denn eine steile Falte bildete sich auf Lajos’ Stirn.

»Ich hasse es, wenn du so redest«, erwiderte er ernst.

»Tut mir leid.« Sie hatte völlig vergessen, dass er ihren schwarzen Humor nicht teilte.

»Und Dienstag steht Paragliding an«, wechselte er das Thema.

»Ja, das wird der Hammer! Ich hoffe ja immer noch, dass Mel sich zu einem Tandemflug überreden lässt«, nahm Paula den Faden auf.

»Kannst du vergessen. Ihr wird ja schon komisch, wenn …«

»… sie auf einem dicken Teppich steht. Ja, ich weiß«, ergänzte Paula den Satz und lachte.

»Wo wir gerade von ihr reden – holst du sie mir mal an den Bildschirm? Ich würde gerne noch einen Blick auf meine Freundin werfen, ehe ich gleich losfahre.«

»Fährst du nach Hause?«, fragte Paula und rückte für Mel auf dem Sofa ein Stück zur Seite.

»Ja, ich muss erst Mittwoch wieder in die Uni. Eine gute Gelegenheit, die Erzeuger zu besuchen, Hallo zu sagen …«

»… den Kühlschrank leer zu fressen und die Wäschetonne vollzustopfen. Ich kenne dich doch!« Paula kicherte. »Drück die beiden von mir!«

»Mach ich. Ciao!«

»Bis bald!« Paula winkte kurz und schob den Laptop in Mels Richtung.

Während Lajos und Mel miteinander redeten, verzog Paula sich auf den Balkon ihres Appartements und machte es sich in einem der beiden Liegestühle bequem. Zwar konnte sie die Nordkettenbahn und die Seegrubenstation weit oben auf dem Berg nur erahnen, aber schon Dienstag würde sie von dort aus einen herrlichen Ausblick auf Innsbruck genießen können. Die Wettervorhersage hatte versprochen, dass der Himmel bis zum nächsten Wochenende wolkenlos und die Temperaturen bei angenehmen vierundzwanzig Grad bleiben würden, aber ihr genügte es, wenn es bis Mittwoch schön war. Danach würden sie nach Sankt Peter-Ording fahren und Innsbruck hinter sich lassen. Paula schlüpfte aus ihren Sneakern, legte die Füße aufs Balkongeländer und fotografierte sie vor dem Bergpanorama. Ein weiteres Erinnerungsstück für ihr Fotoalbum. Ob sie es danach allerdings je übers Herz bringen würde, sie anzusehen, stand auf einem anderen Blatt. Bisher hatte sie es vermieden, sich dieses Danach genauer auszumalen. Doktor Mertens hatte ihr versprochen, dass danach alles leichter würde. Keine Schmerzen, keine Operationen, keine Chemo oder Bestrahlung, und vor allem keine Angst mehr, dass sich der Krebs doch noch aus dem Knochengewebe ihres linken Knöchels in weitere Regionen ihres Körpers fressen konnte. Aber wie würde es sich anfühlen, wenn sie in rund sechs Wochen statt auf Mr. K auf einen vernarbten Stumpf schauen würde? Sie gab ihren Zehen den Befehl zu wackeln und beobachtete, wie sie prompt folgten. Was sie sah, stimmte mit ihrem Gefühl überein. Sie spürte ganz genau, wie der Stoff ihrer Socke über ihren Spann rieb und die Fußnägel daran kratzten. Die Ärzte hatten ihr gesagt, dass sie nach der Amputation vielleicht unter Phantomschmerzen leiden würde, aber wie sollte das gehen, wenn die Nerven nicht in ihrem Fuß, sondern im Nichts endeten? Paula kniff das linke Auge zu und drehte den Kopf, bis sie nur noch den rechten Fuß sehen konnte. Wieder wackelte sie mit den Zehen und spürte die Bewegung auf beiden Seiten, aber diesmal sah sie nur die des rechten Fußes reagieren. Es wirkte unnatürlich, beinahe irreal. Paula nahm Mr. K vom Geländer und schlug ihn von unten gegen die Querstrebe. Mit einem metallischen Klong schoss ihr ein heftiger Schmerz bis hinauf ins Knie und trieb ihr die Tränen in die Augen. Das war real. Das war natürlich. Sie lachte trocken auf und rieb sich zufrieden den Spann. Auch wenn es scheiße wehtat.

»Sag mal, was machst du denn?«, hörte sie Mel hinter sich.

»Ach, nichts. Das war nur ein Experiment.«

»Komisches Experiment. Hat es wenigstens funktioniert?« Mel betrat den Balkon und zog die Stirn kraus.

Paula zuckte mit den Schultern. »Wie man’s nimmt.«

Mit besorgter Miene setzte Mel sich zu ihr und forderte Paula mit einer Handbewegung auf, ihren Fuß auf Mels Oberschenkel zu legen. Vorsichtig streifte sie die Socke ab und begutachtete den roten Fleck auf dem Fußrücken, der sich bereits blau färbte. Der Blick, den sie Paula zuwarf, hätte auch von Lajos stammen können.

»Das war völlig überflüssig«, kommentierte sie streng und drehte Paulas Fuß vorsichtig zur Seite. »Tut das weh?«

Paula schüttelte den Kopf. »Nein, ihm ist nichts passiert. Ich habe doch gesagt, das war nur ein Experiment. Ich weiß schon, was ich tu.«

Mel schnalzte mit der Zunge und begann, mit geübtem Griff die von Operationsnarben zerfurchte Haut über dem Knöchel abzutasten. »Ja, das sehe ich. Keine Schwellung, keine Rötung und warm ist er auch nicht. Scheint alles in Ordnung zu sein.« Sie strich über den Fuß und zog die Socke wieder darüber. »Trotzdem, mach das nicht noch mal. Er hat heute schon genug aushalten müssen. Vielleicht ist es ganz gut, dass morgen wieder ein Vosamed-Tag ist.«

Paula schob sich den Finger in den offenen Mund und tat, als müsste sie sich übergeben. Das war genau der Grund, weshalb sie das Medikament Würgo-Med getauft hatte. Natürlich. Der Medikamentenplan musste akribisch eingehalten werden und dazu gehörte die wöchentliche Einnahme ihres Alendronsäurepräparats, um die Knochen zu stärken. Nicht nur, dass ihr von dem Zeug den ganzen Tag kotzübel wurde, es sorgte auch dafür, dass ihre Knochen, die eigentlich davon profitieren sollten, fürchterlich schmerzten. Es fühlte sich an, als ob ihre Muskeln wie Stahlfedern an den Gelenken zerrten und sie zerreißen wollten. Glücklicherweise hielten die Nebenwirkungen nie sehr lange an, weshalb sie Dienstag wieder fit genug sein würde fürs Paragliding.

»Lass uns heute Abend tanzen gehen, bevor ich morgen wieder den ganzen Tag vor dem Klo knien muss.« Paula zwang sich zu einem Lächeln.

»Klingt nach einer guten Idee.«

Paula stand auf und öffnete die Balkontür. »Dann machen wir das so. Ich ruf jetzt meine Eltern an, damit sie wissen, dass ich noch lebe und heute alles gut gegangen ist.«

»Zeigst du ihnen Fotos?«

»Klar, aber nur die harmlosen. Sie sollen ja keinen Herzinfarkt bekommen.«

»Sehr einfühlsam!«

»Finde ich auch. Aber vorher schauen wir erst noch, ob ich was Schickes zum Anziehen dabeihabe, das Mr. K so richtig schön zur Geltung bringt. Ich will später nicht auf allen Fotos dasselbe tragen.«

»Verstehe!«

»Ansonsten müssen wir vielleicht heute noch eine Runde shoppen.«

»Das wäre ja eine Katastrophe!« Mel verdrehte theatralisch die Augen und folgte Paula ins Zimmer. Gemeinsam musterten sie den Inhalt ihrer Kleiderschränke, doch wie erwartet schien nichts Passendes dabei zu sein. Kichernd machten sie sich auf den Weg in die Innenstadt, und als sie am späten Nachmittag zum Hotel zurückkamen, hatten sie Mühe, die Einkaufstaschen in den Fahrstuhl zu quetschen.

Auf High Heels, die mittelbraunen Haare kunstvoll hochgesteckt, drehte Mel sich vor dem Spiegel. Ihre weiblichen Rundungen kamen in dem neuen lachsroten Korsagenkleid vortrefflich zur Geltung. Sanft umspielte der luftige Saum ihre Waden, und wenn sie lachte, sprühten ihre braunen Augen Funken. Normalerweise bevorzugte sie praktische Kleidung, schminkte sich kaum und band die Haare lediglich zu einem Pferdeschwanz zusammen. In ihrem Alltagsoutfit würdigte kaum ein männliches Wesen sie eines Blickes, aber wenn sie sich so wie jetzt in Szene setzte, fühlte sich Paula neben ihrer Freundin unscheinbar und tollpatschig, auch wenn sie sich ansonsten recht gut gefiel.

»Meinst du, ich kann so gehen?«, fragte Paula und blickte skeptisch an sich herunter. Sie steckte in einem schwarzen Stretchkleid mit Nietenapplikationen, das sie mit einem silbernen Gürtel aufgepeppt hatte. Dazu trug sie leuchtend rote Ankle Boots, die ihren vernarbten Knöchel perfekt verdeckten, aber zugleich auch einen rockigen Akzent setzten. Zusammen mit ihren zarten Gesichtszügen und den großen blauen Augen wirkte ihre Erscheinung frech und selbstbewusst, aber in ihrem Innern sah es ganz anders aus. Sie vermisste ihre langen Haare, die nach der letzten Chemo ausgefallen und bisher erst wenige Zentimeter und verhältnismäßig dünn nachgewachsen waren. Sie genierte sich bereits jetzt vor dem Moment, an dem ein potenzieller Anwärter für Punkt Nummer zwei hineingriff.

»Du siehst echt heiß aus«, rief Mel und imitierte anerkennend das Schnurren einer Katze.

Paula lachte und umfasste mit beiden Händen ihre Brüste. »Auch wenn ich hiermit nicht mit dir konkurrieren kann.«

»Ach was!«, Mel winkte ab. »Das hat auch Vorteile.«

»Und die wären?«

»Wo nichts ist, kann auch im Alter nichts hängen.« Die Blicke der Mädchen trafen sich im Spiegel und zugleich prusteten sie los. »Komm jetzt, das Chip wartet auf uns!«

Sie verließen das Hotel, und kurz darauf hielt ihr Taxi vor dem Chip, dem derzeit angesagtesten Club in ganz Innsbruck. Schon an der Garderobe schallte ihnen mitreißende House-Musik entgegen, die sie auf die Tanzfläche lockte. Der Laden war rappelvoll und sie ergatterten nur mit Mühe zwei freie Plätze an der quadratischen Bar, in deren Mitte vier Barkeeper im Akkordtempo Cocktails mixten. Scheinwerferlicht zuckte durch die feiernde Menge und auf zwei Leinwänden blitzten bunte Laserpunkte. Hinter dem Mischpult, das seitlich auf einem Podest aufgebaut war, gaben zwei DJs an mehreren Plattentellern ihr Bestes. Neonblaue, indirekte Beleuchtung gab dem Chip eine coole Atmosphäre, trotzdem schien die Tanzfläche mit den zuckenden Körpern förmlich zu dampfen. Als Mel zwei Ginger Ale ordern wollte, schob einer der Barkeeper bereits zwei Gläser Sekt zu ihnen herüber.

»Sorry, aber das haben wir nicht bestellt«, versuchte sie, dem jungen Mann hinter der Bar zu erklären, aber er winkte ab und deutete zur gegenüberliegenden Seite der Theke.

»Mit einem schönen Gruß der beiden Herren dort.«

Mel und Paula reckten die Hälse. Zwei Typen Mitte zwanzig mit Gelfrisuren und Zahnpastagrinsen prosteten ihnen zu. Ihren rot glänzenden Gesichtern nach zu urteilen, hatten sie gewiss schon den ein oder anderen Drink intus. Dunkle Schweißränder zierten ihre Hemden und einer von ihnen hatte sich seine Krawatte in einem Knäuel in die Brusttasche geschoben. Paula und Mel wechselten einen Blick, der mehr sagte, als tausend Worte.

»Sehr freundlich, aber wir trinken heute leider keinen Alkohol. Wir haben morgen einen langen Tag vor uns.« Mel schob die Getränke von sich.

Wenn Paula auch nur an den nächsten Tag dachte, drehte es ihr schon den Magen um. Mel hatte recht, einen Kater konnte sie ganz bestimmt nicht brauchen.

»Alles klar.« Der Barmann nahm die Gläser zurück und wandte sich wieder seinen anderen Gästen zu, tauchte aber wenige Sekunden später erneut vor ihnen auf.

»Die beiden Herren lassen fragen, ob sie euch stattdessen auf etwas Alkoholfreies einladen dürfen.«

»Nein danke.« Mel blickte zu den beiden Typen, lächelte ihnen freundlich zu und schüttelte dabei den Kopf. Anstatt beleidigt zu reagieren, hob einer der Männer in einer bedauernden Geste die Hände, während der andere mit zwei Fingern salutierte, und sie sich wieder ihren Getränken zuwandten. Das war es, was Paula so an Mel bewunderte: Sie konnte sogar eine schlechte Nachricht so charmant rüberbringen, dass man ihr nichts übel nahm.

»Elegant gelöst!«, lobte der Barkeeper und hob anerkennend eine Augenbraue. »Die scheinen es ja begriffen zu haben. Also, zwei Ginger Ale für die Damen, nicht wahr? Kommen sofort!«

Nachdem Mel die Anbahnungsversuche der beiden Männer erfolgreich abgeblockt hatte, kam der Abend allmählich ins Rollen. Die wummernden Beats der Musik durchzuckten Paula und schon bald hielt sie nichts mehr auf ihrem Barhocker. Ausgelassen tauchte sie in die Menge ein, ließ sich vom Rhythmus treiben und tanzte, als ginge es um ihr Leben. Alleine mit sich selbst, umgeben von namenlosen Menschen tanzte sie sich in eine Realität, in der nur noch das Hier und Jetzt existierten. Dabei blendete sie alles um sich herum aus und spürte gar nicht, wie sie sich verausgabte. Mel musste sie förmlich dazu überreden, zwischendurch eine Pause einzulegen und etwas zu trinken, sonst hätte sie bis zum Umfallen immer so weitergemacht. Tanzen stand zwar nicht ausdrücklich auf Paulas Käpt’n-Ahab-Liste, aber sie wollte auf diesem Trip keine Gelegenheit auslassen, es zu tun. Bisher hatte sie in jeder Stadt, die sie auf ihrer Abschiedstour bereist hatten, einen Club besucht und die Nacht durchgetanzt. So hatte sie es bereits in Sölden und Berlin getan. Heute tanzte sie also das letzte Mal im Leben zweifüßig in Innsbruck.

Gelegentlich versuchte einer der männlichen Gäste, ihr näherzukommen, aber sobald sie merkten, dass sie es vorzog, sich alleine der Musik hinzugeben, ließen sie ihre Bemühungen bleiben. Hin und wieder leistete Mel ihr auf der Tanzfläche Gesellschaft und zog sofort die ganze Aufmerksamkeit der Männer im Umkreis auf sich. Im Gegensatz zu Paula hatte Mel nichts dagegen, mit fremden jungen Männern zu tanzen. Allerdings gab sie ihnen gleich zu verstehen, dass sie darüber hinaus nicht an ihnen interessiert war.

Als sie im Morgengrauen in ein Taxi stiegen, fühlte Paula sich berauscht von der Stimmung im Club. Nach der hämmernden Musik klangen alle Geräusche dumpf und weit entfernt und genauso ging es ihren Gedanken. Nach dem bunten Blitzlichtgewitter im Club hatte sie Mühe, Details in der Dunkelheit auszumachen.

Erschöpft lehnte sie den Kopf an Mels Schulter und schloss die Augen. Alles, was am nächsten Tag auf sie zukommen würde, lag im nebeligen Nachklang der Partynacht verborgen und spielte in diesem Augenblick keine Rolle. In diesem Moment war alles gut.

Kapitel 1

Mit schweißnassen Händen umklammerte Paula das Geländer. Obwohl ihr Verstand längst entschieden hatte, sträubte sich ihr Körper. Ihre Beine zitterten und wollten weglaufen, um sie in Sicherheit zu bringen, fort von diesem Abgrund, der sich wenige Zentimeter vor ihren Füßen auftat. Unter sich, durch den Gitterrost, erkannte Paula eine grüne Wiese, darauf ein paar vereinzelte schemenhafte Gestalten. Winzige Punkte, namenlos und ohne Gesicht. Vor ihr, am Horizont, dehnte sich eine Bergkette aus. Bläulich schimmerten die Gipfel im Licht der Morgensonne. Wie herrlich es hier war, wunderschön und zugleich schrecklich tief. Gab es einen besseren Ort für das, was sie vorhatte? Zu gerne hätte Paula dem Rauschen des Windes und dem Gezwitscher der Vögel gelauscht, doch der donnernde Verkehrslärm ein paar Meter über ihrem Kopf übertönte alle anderen Geräusche. Egal, sie würde selbst in wenigen Augenblicken ein Vogel sein, zwar nur für die Dauer einiger Herzschläge, aber das würde genügen.

Vorsichtig machte sie einen Schritt. Nun ragten ihre Zehen bereits über den Abgrund. Es war so weit, der Wille bezwang die Instinkte. Paula küsste das Apfeltattoo auf der Innenseite ihres linken Handgelenks und breitete die Arme aus, als wolle sie die Tiefe willkommen heißen. Ein letztes Mal atmete sie tief durch und zählte in Gedanken

drei,

zwei,

eins,

los!

Mit beiden Füßen stieß sie sich ab. Und fiel. Ihr Magen machte einen Hüpfer. Der Wind rauschte in ihren Ohren, nun war sie wirklich ein Vogel. Für diesen einen Moment. Ihr Körper wurde beinahe schwerelos, und obwohl der Abgrund unaufhaltsam auf sie zuraste, spürte sie keine Angst.

Sie ließ sich durchströmen von dem Glücksgefühl nach der Anspannung, das sich in einem langen, erlösenden Schrei entlud.

Erst das Ziehen an ihren Beinen holte sie in die Realität zurück. Die Fußschlaufen, an denen das Seil befestigt war, umspannten ihre Knöchel noch fester. Ihr Fall von der Europabrücke wurde abgebremst. Das Rauschen des Windes wurde schwächer, bis Paula den unteren Totpunkt erreichte und sie ein gummiartiges Knirschen hörte. Einen Augenblick lang verharrte sie, dann zog sich das Bungeeseil zusammen und katapultierte Paula zurück nach oben. Im letzten Moment erinnerte sie sich an die Anweisungen, die sie vor dem Sprung erhalten hatte, und hob die Arme über den Kopf, damit das nun wieder spannungslose Seil ihr nicht um die Ohren schlagen konnte. Ihr Körper vollführte eine Drehung und für einen Moment erhaschte Paula einen Blick auf die Plattform mit den nächsten Kandidaten, bevor sie wieder hinabrauschte. Ihr Magen schien dem Auf und Ab nur mit Mühe folgen zu können, und als sie schließlich kopfüber auspendelte, war sie froh, auf das Frühstück verzichtet zu haben. Über ihr jubelten die Zuschauer und Paula glaubte, Mels Stimme herauszuhören. Zu gerne hätte sie in das Freudengeschrei eingestimmt und das Adrenalin herausgelassen, das sich zusammen mit dem Blut in ihrem Kopf sammelte, aber sie musste erst wieder zu Atem kommen. Der Sprung hatte ihr förmlich die Luft aus den Lungen gepresst und nur mit Mühe schaffte sie es, den Karabiner ihres Geschirrs an das Windenseil zu haken, mit dem sie ganz langsam wieder nach oben gezogen wurde.

Alles in allem hatte die Aktion nur wenige Sekunden gedauert, aber als Paula die Plattform erreichte und in Mels Gesicht schaute, hatte sie das Gefühl, sie Ewigkeiten nicht gesehen zu haben.

»Du bist ein Freak, weißt du das?« Mel lachte und zog Paula in ihre Arme. »Wie war’s?«

Während einer der Mitarbeiter des Bungeeteams sie von den Fußschlaufen befreite, sprudelte Paula los.

»Der absolute Hammer! Einfach geil! Zuerst denkst du nur noch, oh shit, und willst wieder zurück auf sicheren Boden.« Grinsend raufte sie sich die streichholzkurzen, braunen Haare. »Aber dann saust du nach unten, dann wieder rauf, runter! Du weißt gar nicht mehr, wo oben und unten ist und bist einfach nur noch glücklich! Guck mal.« Sie streckte die flache Hand aus, die wie bei einem Parkinsonpatienten zitterte. »Pures Adrenalin.«

»Und wie geht es ihm?« Mel deutete auf Paulas linken Fuß, der, inzwischen von den Halteschlaufen befreit, in einem Sneaker steckte.

»Mr. K? Dem geht es ausgezeichnet«, antwortete Paula achselzuckend. »Hast du ihn auch gut erwischt?«

Mel zog ihr Handy hervor und öffnete die Galerie. Mit ein paar Klicks rief sie die neuesten Fotos auf. »Ja, hier. Guck mal.« Sie hielt Paula das Smartphone hin und zeigte ihr die Bilder ihres Sprungs.

»Perfekt!« Paula deutete auf eins der Fotos. »Hier sieht man meine Füße besonders gut. Das kannst du heute Abend Lajos schicken, wenn du mit ihm skypst.«

»Du weißt schon, dass du auch einen Film deines Sprungs hast?«, schaltete sich ein junger Mann vom Sicherheitsteam ein. »Der war in deiner Buchung mit drin.« Er hob die Hand und zählte an seinen Fingern ab. »Zusammen mit einer Urkunde, einem T-Shirt, einem Schlüsselanhänger …« Er hielt inne. »Was war das noch? Ach ja, einem Energydrink und einen Gutschein für einen Hamburger! Das volle Rundum-Sorglospaket. Bekommst du alles oben auf der Brücke.«

»Hamburger klingt gut«, sagte Paula und war zugleich froh, dass sie den nicht vor ihrem Sprung gegessen hatte. »Ich verhungere. Lass uns endlich was futtern gehen.«

Paula und Mel kletterten über eine Metalltreppe zurück auf die Brücke, gingen entlang der Autobahn zum Anmeldehäuschen und gaben das Sicherungsgeschirr ab. Dabei bemerkte Paula einen Jungen, der ebenfalls gerade seine Ausrüstung abgegeben hatte. Seine kinnlangen blonden Haare waren noch ganz zerzaust und das T-Shirt hing halb aus seiner Jeans. Fasziniert beobachtete sie das Spiel seiner Armmuskeln, als er die Tüte mit den Souvenirs in einen Seesack stopfte und ihn schulterte. In dem Moment trafen sich ihre Blicke, und für eine Sekunde glaubte Paula, wieder das Kribbeln vom Sprung zu spüren. Sie lächelten einander zu, und gerade als er ein paar Schritte auf sie zu machte, fing ihn eine Gruppe Jungs ab und nahm ihn in ihre Mitte. Paula sah ihnen nach, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwunden waren. Sie seufzte. Schade, sie hätte sich gerne mit dem Jungen unterhalten.

Nachdem sie ihre eigene Tüte mit den Erinnerungsstücken entgegengenommen hatte, fuhren sie und Mel mit dem Bus zurück nach Innsbruck. Die ganze Zeit bekam Paula das Grinsen nicht aus dem Gesicht, und immer wieder schilderte sie Mel das Gefühl der Schwerelosigkeit.

»Das musst du unbedingt ausprobieren. Der absolute Kick! Danach fühlt man sich als sei man … als sei man unsterblich.« Sie blickte aus dem Seitenfenster hinaus auf die malerische Bergwelt Tirols. »Verstehst du, was ich meine?«

Mel legte ihre Hand auf Paulas und drückte sie sanft. »Verstehe, Süße. Aber – sorry – das ist echt nichts für mich. Ich bekomme ja schon Höhenangst, wenn ich nur auf einem dicken Teppich stehe«, fuhr sie leichthin fort und erstickte den Anflug von Melancholie, ehe er greifbar wurde. »Du bist für die Stunts zuständig. Ich bin nur deine Kamerafrau. Das war der Deal.«

»Wenn du meinst.« Paula zuckte mit den Achseln. »Aber du verpasst echt was.«

Sie stiegen an der Haltestelle Hauptbahnhof aus und fragten sich zum nächsten McDonald’s durch, der sich in der Nähe des Goldenen Dachl, einem Innsbrucker Wahrzeichen, befinden sollte. Sie schlenderten über Kopfsteinpflaster, vorbei an prunkvoll bemalten Fassaden mit liebevoll restaurierten Stuckarbeiten. Beinahe hätten sie die beiden gelben Bögen übersehen, die zwischen kunstvoll geschmiedeten Kupferschildern verschiedener Gasthöfe, Handwerksbetriebe und Einzelhändler seltsam deplatziert wirkten.

An der Verkaufstheke orderten sie zu Paulas Gratis-Burger zwei große Portionen Pommes, einen weiteren Burger und zwei Cola, ehe sie mit dem vollbeladenen Tablett zwei gegenüberliegende Plätze am Fenster bezogen.

Nachdem sie das Magenknurren mit ein paar Pommes besänftigt hatte, zog Paula einen zerknitterten Zettel aus der Hosentasche. Kauend strich sie ihn mit der Hand glatt und überflog die einzelnen Punkte.

»Okay, Punkt vier können wir als erledigt betrachten«, erklärte sie zufrieden. »Hast du mal ’nen Kuli?«

Mel wischte sich die Finger an einer Papierserviette ab, kramte einen Kugelschreiber aus ihrer Umhängetasche hervor und reichte ihn Paula.

»Danke.« Sorgfältig setzte Paula ein Häkchen hinter die vierte Zeile.

»Sieht gut aus«, stellte Mel fest. »Dann lass uns eine Zwischenbilanz ziehen. Punkt eins, Stuntfrau werden.«

»Check«, antwortete Paula und nickte.

»Punkt zwei.« Mel grinste breit.

»Noch nicht check.« Paula rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum. »Wobei die Betonung auf noch liegt.«

Mel warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Okay, wie du meinst. Also Punkt drei. Canyoning.«

»Check«, bestätigte Paula.

»Punkt vier hatten wir heute. Also auch check.«

»Fehlen also noch Punkt fünf, Paragliding, sechs, den Grundschein im Surfen machen, sieben, Zorbing, acht, ein sexy Fotoshooting, und neun, an der Stange tanzen, ohne dabei lächerlich auszusehen.«

»Und was ist mit Punkt Nummer zehn?«, warf Mel ein.

Paula verdrehte die Augen. »Dass du immer wieder davon anfängst! Ich habe dir doch schon tausendmal gesagt, dass der die Königsdisziplin ist. Der kommt ganz am Schluss dran. Wenn überhaupt«, setzte sie nachdenklich hinzu.

»Wie du meinst.« Mel hob beschwichtigend die Hände. »Ich finde nur, dass er der Wichtigste ist. Nächste Woche sind wir schon vier Wochen unterwegs. Dann ist Halbzeit.«

Paula schluckte. »Ich weiß. Aber danach kann ja noch viel passieren. Zum Beispiel das hier. Wie soll ich das anstellen?« Paula tippte auf Zeile zwei.

Mel gluckste und schaute sich unauffällig im Restaurant um, das sich inzwischen zusehends gefüllt hatte. Am anderen Ende des Raums hatte sich eine Gruppe Jungs niedergelassen. Auf ihrem Tisch hatten sie ein buntes Durcheinander von Burgerschachteln, Pommestüten, Getränke- und Eisbechern aufgetürmt. Lautes Lachen drang zu ihnen herüber.

Grinsend beugte sich Mel zu Paula und deutete mit einem kaum merklichen Kopfnicken zu der Gruppe. »Siehst du den Typen da? Den Blonden mit der Brille? Der schaut dauernd zu dir rüber. Der würde dir sicher nur zu gerne bei deinem Problem behilflich sein.«

Paula prustete und schlug sich die Hand vor den Mund. »Glaubst du wirklich?« Sie musterte ihn genauer und traute ihren Augen kaum. Es war der Junge von der Brücke. So viel Glück auf einmal konnte man doch gar nicht haben. Er stieß ein so herzliches Lachen aus, dass Paula schmunzeln musste. Rein optisch war er sicherlich keine schlechte Wahl als Kandidat für Punkt zwei auf ihrer Liste. Schon beim Gedanken an diesen Punkt begann es in Paulas Bauch heiß zu kribbeln.

»Ich sehe ihn mir mal aus der Nähe an«, raunte sie, schnappte sich ihr Tablett mit den leeren Essensschachteln und steuerte die Rückgabestation an. Prompt stand auch der Blonde auf, griff seinen Getränkebecher und eine der Pommestüten und nahm denselben Weg.

Als Paula ihr Tablett in die Schiene des Geschirrwagens schob, stand er direkt neben ihr und deutete auf ihren Handrücken. »Wenigstens das weiß ich jetzt über dich.«

Zur Erklärung hielt er ihr seine eigene Hand hin, auf der genau wie bei Paula mit Filzstift ihr Gewicht und die Startnummer notiert waren. Na toll, jetzt wusste er immerhin schon, wie viel sie wog. Super Start.

»Oh, ja. Die wichtigste Info immer zuerst.«

Er stopfte seinen Abfall in die Tonne. »Dein erstes Mal?«

Paula fiel die Kinnlade herunter. Sah man ihr das so deutlich an? »Wie bitte?«

»Der Sprung. War das dein erster?«

»Ach so. Nein, ich meine, ja. Ja, das war mein erster Bungeesprung.« Paula spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Natürlich, was sollte er sonst meinen?

»Krass, oder? Ich habe ja schon einige Sprünge gemacht, aber der war bis jetzt der beste. Ich bin übrigens Moritz.« Er hielt ihr seine Hand hin und Paula griff zu. Sein Händedruck war warm und fest, am liebsten hätte Paula gar nicht mehr losgelassen.

»Paula. Schön, dich kennenzulernen.«

»Ganz meinerseits.« Seine hellgrünen Augen strahlten. »Machst du Urlaub hier?«

Paula nickte. Verdammt, hatte er ein süßes Lächeln. »Sozusagen. Meine Freundin Mel und ich reisen quer durchs Land und machen eine Art Abenteuerurlaub. Also eigentlich stürze nur ich mich ins Abenteuer, Mel genießt einfach das Leben, die Pools, Strände, du weißt schon.«

Er lachte. »Klingt nach einer Menge Spaß. Dass du Bungejumpen warst, weiß ich ja schon, aber was hast du sonst noch für Abenteuer geplant?« Die Art, wie er den letzten Satz betonte, ließ eine Menge Interpretationsspielraum. Paula wurde es plötzlich ziemlich warm.

»Kommt ganz drauf an.« Sie sah ihn herausfordernd an und konnte es selbst kaum fassen, was sie da gerade tat.

»Und auf was genau?« Seine Augen bekamen einen dunklen Glanz.

»Ob es dabei auch schön kribbelt«, antwortete sie. »Ich hab schon House-Running gemacht, Canyoning und Dienstagnachmittag steht Paragliding an der Seegrube auf dem Zettel.«

»Das klingt ganz nach meinem Geschmack.« Er strich sich die Haare aus dem Gesicht und lachte, doch dann legte sich ein Schatten über seine Züge. »Mist, unser Zug geht gleich. Wir wollen runter zum Gardasee. Da ist nächste Woche ein Kitesurf-Wettbewerb, den wir uns ansehen. Vielleicht machen ein paar von uns auch mit. Wird sicher cool.« Er blickte kurz zu seinem Tisch hinüber, an dem inzwischen Aufbruchstimmung herrschte. »Es wäre wahrscheinlich total verrückt, dich zu fragen, ob du dich uns anschließen willst?«

»Ja, das wäre es.« Paula zwang sich zu einem Lächeln. Das war’s dann wohl. Etwas in ihr wollte nichts lieber, als mit ihm zu gehen. Der Punkt auf ihrer Liste, der ihr das größte Kopfzerbrechen bereitete, rückte von jetzt auf gleich in den Vordergrund, alle anderen konnten warten. Aber das wäre doch total verrückt! Oder? Sie kannte ihn gar nicht. Er war ein Fremder. Irgendetwas an seinem Blick ließ sie alles um sie herum vergessen, aber einfach zu nicken und mit ihm gehen, das bekam sie nicht hin.

»Ja, das hatte ich befürchtet«, sagte er, wobei sein Lächeln genauso gezwungen wirkte wie ihrs. Er reichte ihr die Hand, die Berührung fühlte sich gut an.

Die Leute aus seiner Gruppe hatten inzwischen ihren Platz aufgeräumt und warfen ihm ungeduldige Blicke zu. Er bedeutete ihnen, einen Moment zu warten, und biss sich auf die Unterlippe. »Trotzdem. War schön, dich kennenzulernen. Viel Spaß beim Paragliding.« Nur zögernd ließ er ihre Hand wieder los.

»Viel Spaß beim Kiten.«

Er schulterte seinen Seesack und ging zum Ausgang. Kurz bevor er die Tür erreicht hatte, drehte er sich noch mal zu ihr um. Sein Blick hätte Eisberge zum Schmelzen bringen können.

»Gibst du mir wenigstens deine Handynummer?«

Paula zögerte. Sie würde ihn nie wiedersehen, sie selbst wäre bald nicht mehr dieselbe und bestimmt wartete bereits an der nächsten Ecke ein anderes Mädchen auf ihn. Es war gegen jede Vernunft, aber verdammt, warum sollte sie eigentlich nicht?

»Klar, schreib mit.«

Er zog sein Handy heraus. »Mist, mein Akku ist platt.«

»Kommst du, Moritz? Wir müssen los!«, rief ein langhaariger Junge aus seiner Gruppe und winkte.

»Moment noch!« Moritz griff sich eine Serviette vom Nachbartisch und angelte einen Kugelschreiber aus der Tasche. »Kann losgehen.«

Als sie ihm die Nummer diktierte, maulte einer der anderen: »Mensch, Moritz, wir verpassen noch den Zug!«

»Komme gleich!« Moritz wandte sich an Paula. »Ich rufe dich nachher in Ruhe an, dann hast du auch meine.«

»Super«, sagte Paula. »Aber jetzt los, sonst fahren die noch ohne dich.« Sie lächelte der Gruppe entschuldigend zu.

»Wir sehen uns wieder«, versprach Moritz und im nächsten Moment war er schon aus ihrem Sichtfeld verschwunden.

Nachdenklich setzte sie sich wieder an ihren Platz und spielte lustlos mit dem Kugelschreiber, den er in der Hektik vergessen hatte.

»Schade, der machte einen netten Eindruck.« Mel schlürfte die letzten Tropfen aus ihrem Colabecher.

»Ja. Echt schade«, stimmte Paula ihr zu. »Komm, lass uns gehen.«

Sie klemmte sich die Tasche mit den Bungeesouvenirs unter den Arm und nahm den Zettel mit der To-do-Liste an sich. Punkt Nummer zwei ihrer Zehn Dinge, die man getan haben muss, bevor man zu Käpt’n Ahab wird, blieb also vorerst unerledigt.

Kapitel 3

Argwöhnisch beäugte Paula die weiße Tablette, die neben einem Wasserglas auf dem winzigen Esstisch ihres Appartements lag. Sie wusste, dass sie nicht drum herum kam, das Ding zu schlucken, aber am liebsten hätte sie es in den Ausguss gebröselt und fortgespült. Nach der Einnahme musste sie mindestens eine halbe Stunde nüchtern bleiben und durfte sich in dieser Zeit auch nicht hinlegen. Danach hatte sie erfahrungsgemäß zwei Stunden Zeit, ehe die Übelkeit einsetzte.

»Komm schon, je früher du es hinter dich bringst, desto schneller geht es dir wieder besser.« Mel, die fertig geduscht und angezogen aus dem Badezimmer kam, zog sich das Handtuch vom Kopf und schüttelte die feuchten Haare. »Wollen wir unten frühstücken oder soll ich uns was raufkommen lassen?«

Paula nahm die Tablette zwischen Daumen und Zeigefinger, legte sie ganz weit hinten auf die Zunge und spülte sie mit dem kompletten Inhalt des Glases herunter. »Lieber unten«, beschloss sie und verzog angewidert den Mund. Das Ding schmeckte wie Hund unterm Bauch. »Solange es mir gut geht, möchte ich unter Menschen sein.«

»Alles klar.« Mel warf das feuchte Badelaken auf den Boden und begann, sich die Haare zu föhnen, während Paula sich ins Bad verzog.

Eine halbe Stunde später saßen sie im Frühstückssaal des Hotels. Während Mel mit vollbeladenem Teller vom Buffet zurückkam, versenkte Paula einen Teebeutel in einer großen Tasse heißem Wasser. Kamille, mehr würde sie heute nicht runterbringen. Dann startete Paula einen letzten Versuch, Mel zu einem Tandemflug am Dienstag zu überreden.

»Lass mich aus dem Spiel«, winkte Mel ab und bestrich ihr Croissant mit Himbeergelee. »Die gefährlichen Sachen machst du mal schön alleine. Aber wenn wir in Münster sind, kannst du mich gerne noch mal fragen.«

Paula lachte. »Ja, das habe ich mir gedacht. Was wohl mein Bruder dazu sagt, wenn seine Freundin sich beibringen lässt, wie man lasziv an einer Stange tanzt?«

»Bestimmt dasselbe, was er bei seiner Schwester sagt.« Mel gluckste. »Ausgerechnet einen Poledancekurs hast du auf die Liste gesetzt. Wissen deine Eltern davon?«

Paula rührte in ihrem Tee. »Sie wissen, dass ich einen Tanzkurs mache«, erklärte sie ausweichend.

»Und wie sieht es mit dem Fotoshooting in Ulm aus?« Mels Mundwinkel zuckten. »Hast du ihnen gesagt, dass es eine Akt-Fotografin ist?«

»Dieses kleine Detail muss ich wohl vergessen haben.« Paula nahm einen Schluck und setzte eine Unschuldsmiene auf, bei der Mel lachen musste.

Paula trank noch zwei große Tassen Tee, auch wenn sie wusste, dass die ihr eh bald wieder begegnen würden. Sie genoss die Ruhe vor dem Sturm. Dann war es so weit: Paula verzog das Gesicht und presste die Hände auf die Magengrube. »Mist, es geht los.«

Kommentarlos legte Mel ihr angebissenes Wurstbrot auf den Teller, wischte sich mit einer Serviette den Mund ab und stand auf. »Dann los.« Sie hakte Paula unter und steuerte mit ihr schnurstracks den Fahrstuhl an.

Kaum hatten sie ihr Appartement betreten, konnte Paula den Würgereiz nicht mehr länger kontrollieren. Sie stolperte ins Bad, und während sie sich übergab, schüttelte Mel ihre Bettdecke auf und stellte eine Schüssel auf den Nachttisch. Sie hatten diese Prozedur schon unzählige Male hinter sich gebracht und mit der Zeit eine regelrechte Routine entwickelt. Echte Teamwork, witzelte Paula gerne, wenn es ihr wieder besser ging. Sie kotzte, Mel sorgte für den Service.

Tatsächlich hatten sie sich auf diese Weise vor zwei Jahren kennengelernt. Damals durchlief Paula ihren ersten Chemozyklus und hatte große Angst vor dem unberechenbaren Ding, das da in ihrem Knöchel wuchs. Mel, die Krankenschwester im dritten Ausbildungsjahr, kümmerte sich um sie und schaffte es mit ihrer unaufgeregten und sanftmütigen Art, nicht nur Paulas Herz zu gewinnen, sondern auch das ihres Bruders. Später, nach dem Examen, hatte Mel dauerhaft in die Onkologie gewechselt und pflegte Krebspatienten. Leider gehörte dort auch immer wieder Paula zu ihren Schützlingen. Anfangs schien sie zwar geheilt zu sein, aber schon kurz darauf kehrte das Ewing-Sarkom in ihrem Fuß zurück und wurde zu einem Dauergast, der in unregelmäßigen Abständen bei ihr anklopfte und sie schließlich zu dieser radikalen Entscheidung getrieben hatte. Doktor Mertens hatte ihr bis zur Amputation ein Zeitfenster von höchstens zehn Wochen eingeräumt, von dem nun bereits die Hälfte verstrichen war.

Mel zog die Vorhänge zu und wartete, bis Paula sich hingelegt hatte. Dann schob sie ihr zur Entlastung der Gelenke ein Kissen unter die Knie und deckte sie zu.

»Du meldest dich, wenn du was brauchst, okay?«

Paula nickte im Halbdunkel und schloss die Augen. In diesem Zustand fühlte sie sich verletzlich und klein und wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Wie eine verwundete Löwin zog sie sich zurück, erduldete die Qualen und tauchte anschließend wieder auf, als wenn nichts gewesen wäre.

Nur wenige Menschen konnten damit umgehen. Die meisten ihrer Freunde und Verwandten glaubten stets, etwas für sie tun zu müssen, um es ihr leichter zu machen. Ob es ihr Patenonkel war, ihre Nachbarin oder die Kameraden aus dem Mountainbikeverein