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Sissi Kaipurgay

Käufliche Liebe Vol. 17





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Käufliche Liebe Vol. 17

 

Anmerkung: Die Personen in den folgenden Storys kommen in KL 16 bereits vor. Vorkenntnisse sind dennoch nicht erforderlich. Es schmälert aber vielleicht die Lesefreude, die Bände in umgekehrter Reihenfolge zu lesen, auch wenn natürlich jeder weiß, welche Männer am Ende zueinander finden.

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten sind frei erfunden, Ähnlichkeiten rein zufällig. Der Inhalt dieses Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Covermodels aus. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder eine andere Verwertung, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin. E-Books sind nicht übertragbar und dürfen nicht weiterveräußert werden. Bitte respektieren Sie die Arbeit der Autorin und erwerben eine legale Kopie. Danke!

Text: Sissi Kaiserlos

Foto von shutterstock – Design Lars Rogmann

Korrektur: Aschure. Danke!

Kontakt: http://www.bookrix.de/-sissisuchtkaiser/

 

Opernfreu(n)de

Jorge hatte sich in den Callboy Colin verliebt und deshalb ihren Kontakt abgebrochen. Da es schwer war einen Ersatz zu finden, verzichtete er erstmal auf ein neues Engagement. Als er mal wieder von seiner Stammloge aus ein Ballett verfolgte, entdeckte er Colin im Publikum, an dessen Seite sich ein attraktiver Typ befand. Wer war das? Ein Kunde?

~ * ~


1.

Jorge guckte sich All our Yesterdays das dritte Mal an. Nicht unbedingt wegen der Tänzer, sondern eher dem Bariton: Ein hübscher Mann mit toller Stimme. Er schloss die Augen, um das schöne Organ, ungestört von visuellen Reizen, zu genießen. Zu toppen wäre der Genuss nur noch, wenn Colin ihn dabei oral verwöhnen würde. Ach, Colin ...

Wehmütig seufzend öffnete Jorge seine Augen und betrachtete die Bühnenszene. Im Grunde war seine Verliebtheit in Colin bloß oberflächlicher Natur. Er mochte dessen attraktives Äußeres und sie kamen auch gut miteinander aus, doch es fehlte jegliche Gemeinsamkeit. Beispielsweise hasste Colin Ballett ebenso sehr, wie Opern. Insofern waren ihre gemeinsamen Besuche der Staatsoper für den Callboy eine Qual, obwohl jener das gut zu verbergen wusste. Dennoch hatte er es bemerkt. Nichtsdestotrotz war sein Herz Colin zugeflogen. Wahrscheinlich lag das daran, dass er sich einsam fühlte. Da konnte man schon mal zu irrationalen Emotionen neigen.

Mit Christoph war es ganz anders gewesen. Sie hatten sich in jedem Bereich toll verstanden, obwohl ihr Altersunterschied fünfzehn Jahre betrug. Genau wie er, war Christoph ein eingefleischter Ballettliebhaber, mochte gutes Essen und mischte sich gern mal – wie sie es oft scherzhaft nannten – unters Volk. Mit anderen Worten: Sie gingen in einfache Kneipen, um ein frisch gezapftes Pils zu trinken und Sozialstudien zu betreiben, zu raten, wer welchem Beruf nachging und ähnliches. Diese Freude daran, andere Menschen zu beobachten und deren Verhalten zu analysieren, hatte Jorge nie wieder bei jemandem gefunden.

Vor fünf Jahren war Christoph einem heimtückischen Krebsleiden erlegen. Fast auf den Tag genau zwölf Monate nach der Diagnose, hatte das Herz seines Partners für immer aufgehört zu schlagen. Glücklicherweise musste Christoph nicht lange leiden und war friedlich eingeschlafen. Im Grunde eine Erlösung, da er am Ende nur noch aus Haut und Knochen bestand. Die Scheißkrebszellen hatten ihn innerlich aufgefressen, so dass für Nahrung kein Platz mehr war.

Jorge versuchte die Erinnerung abzuschütteln. Er hatte Christoph auf dem Sterbebett versprochen, nicht in Trauer zu versinken. Einfacher gesagt, als getan. Sein geliebter Mann fehlte ihm so sehr. Selbst daran zu denken, dass Christoph nun keine Schmerzen mehr ertragen musste, war wenig tröstlich. Sehr egoistisch, aber für einen Hinterbliebenen tat sich nun mal eine klaffende Lücke auf.

Er ließ seinen Blick übers Publikum schweifen. Noch etwas, das Christoph und ihn verbunden hatte: Die Freude an schicker Kleidung. Nichts gegen ein legeres Outfit, aber in der Oper gehörte es sich – nach ihrer Meinung – einen Anzug zu tragen. Außerdem hatten sie es beide scharf gefunden, einander danach die Sachen auszuziehen. Manchmal war es sogar zu Sex gekommen, ohne dass sie überhaupt ein Stück der Abendkleidung loswurden.

Plötzlich zuckte Jorge zusammen. Der Blonde da unten ... war das etwa Colin? Als hätte der Mann seine Gedanken gelesen, schaute jener hoch und es handelte sich tatsächlich um Colin. Reflexartig hob Jorge die Hand, um zu winken, bemerkte es jedoch rechtzeitig und ließ sie schnell wieder sinken. Colin hingegen kannte keinerlei Skrupel und winkte, woraufhin er sich genötigt sah, die Geste zu erwidern.

Der Typ, der neben Colin saß – beide trugen schicke Anzüge – guckte ebenfalls zu ihm empor. Ein Braunhaariger, deutlich älter als der Callboy. Ein Kunde von Colin? Sehr wahrscheinlich. Warum sollte der sonst in die Oper gehen?

Obwohl sich Jorge dafür hasste, schließlich besaß er keinerlei Rechte auf Colin, keimte Eifersucht auf. Die restlichen Minuten bis zur Pause war er außerstande, dem Stück zu folgen. Stattdessen beobachtete er die beiden Männer und bewertete jede einzelne Bewegung. Die Art, wie Colin dem Kunden etwas ins Ohr flüsterte – war das vertraulich oder eher anbiedernd? Grinsten die zwei über ihn oder etwas anderes? Das Bühnenstück war jedenfalls keineswegs lustig.

Als der Vorhang fiel, atmete Jorge auf. Rasch verließ er seine Loge und steuerte die Toiletten an. Nachdem er seine Notdurft verrichtet hatte, ließ er am Waschbecken kaltes Wasser über seine Handgelenke laufen. Das kühlte seinen Puls etwas ab und verschaffte ihm den Gleichmut, sich ins Foyer zu begeben, um eine Erfrischung zu besorgen. Vielleicht hatte er Glück und traf dabei nicht auf Colin samt Freier.

Im Erdgeschoss herrschte an den Getränkeständen großer Andrang. Er stellte sich an der, nach seiner Schätzung, kürzesten Schlange an und sah nervös umher. Es ging bloß im Schneckentempo voran und war schon bald ersichtlich, dass er nebenan weitaus flotter vorangekommen wäre. Typisch. Im Supermarkt erlitt er oft das gleiche Schicksal. Egal, welche Kasse er wählte, passierte garantiert irgendetwas, das ihn zu einer langen Wartezeit verdammte. Entweder funktionierte die EC-Karte eines Kunden nicht, eine Oma suchte ewig nach Kleingeld oder das Kassengerät streikte plötzlich.

Genervt begann Jorge auf den Fersen zu wippen. Kurz bevor er endlich dran war, ertönte neben ihm Colins Stimme: „Hi Jorge. Schön dich zu sehen. Wie geht’s?“

Erschrocken fuhr er herum, wobei er um ein Haar mit einem Mann, der zwei volle Gläser vor sich her balancierte, kollidiert wäre. Der Typ verschwand kopfschüttelnd in der Menge.

„Oh, hallo. Freut mich auch“, gab er zurück.

„Du stehst in der falschen Schlange.“ Colin prostete ihm grinsend mit einem vollen Sektkelch zu. „Da vorn ging es ruckzuck.“

„War ja klar“, murmelte Jorge und fügte lauter hinzu: „Bist du neuerdings Ballettfan?“

„Ich nicht. Das weißt du doch. Anton ...“ Colin wies mit dem Kinn auf den Braunhaarigen, der etwas abseits stand, ebenfalls eine Sektflöte in der Hand. „... hat mich gefragt, ob ich ihn begleite. Er wollte ungern allein herkommen.“

„So, so.“ Jorge stand mittlerweile direkt vorm Tresen, bat die Bedienstete um ein Glas Sekt-Orange, steckte das Wechselgeld ein und folgte Colin zu dessen Begleiter.

Aus der Nähe betrachtet wirkte der recht attraktiv, in dem weißen Hemd mit roter Samtfliege und den silbernen Schläfen. Colin sah allerdings tausendmal besser aus. Blöder Vergleich. Immerhin war Colin erst Anfang dreißig und der Kunde ungefähr Mitte vierzig. Da besaß man eben schon gewissen Ecken und Kanten. Jorge hatte ja selbst bereits Falten im Gesicht, einige graue Haare und seine Haut war auch nicht mehr die straffeste.

„Hi. Ich bin Anton“, stellte sich selbiger vor und reichte ihm die Hand.

Er griff zu und erwiderte: „Jorge. Angenehm.“

„Wo wir gerade so nett plaudern“, mischte sich Colin ein. „Ich muss gleich weg. Bin noch verabredet. Würde es dir etwas ausmachen, dich ein bisschen um Anton zu kümmern?“

Verdattert sah er zwischen den beiden hin und her. Anton schien genauso perplex wie er und guckte Colin, der eine Unschuldsmiene zur Schau trug, missbilligend an. Was ging denn – bitteschön! – hier ab?

„Tut mir leid. Ich hab dich wohl ein bisschen überfahren.“ Colin zuckte die Achseln. „War ja nur ein Vorschlag.“

„Also ... ähm ... ich komm gut allein zurecht“, meldete sich Anton zu Wort.

Waren die beiden schon fertig? Ein Blowjob auf dem Klo, oder was? Oder hatten die zwei vorher gevögelt und sich anschließend in Abendgarderobe geworfen? In seiner Verwirrung stürzte er das Getränk in einem Zug runter.

Colin trank ebenfalls den Rest Sekt und klopfte Anton auf die Schulter. „Man sieht sich im Lila Leguan. Ich wünsch dir noch viel Spaß.“ Und an ihn gewandt: „Dir natürlich auch. War schön, dich mal wieder getroffen zu haben.“

Bevor er etwas erwidern konnte, war Colin bereits auf dem Weg nach draußen. Frech drückte der Callboy dabei einem der Türsteher das leere Sektglas in die Hand. Für solche kecken Aktionen hatte er Colin stets bewundert. Er würde es niemals wagen, derart aus der Rolle zu fallen.

„Öhm ... Jorge?“, bat Anton um seine Aufmerksamkeit.

„Mhm?“, gab er zurück und drehte sich in dessen Richtung.

„Das mit dem um mich kümmern, das ist mir echt peinlich. Keine Ahnung, was sich Colin dabei gedacht hat.“

„War wohl ein Scherz.“

Anton zuckte die Achseln. „Sehe ich auch so. Ich geh dann mal wieder rein.“

„Ich auch. Vielleicht läuft man sich mal wieder über den Weg.“

„Würde mich freuen“, antwortete Anton, nickte ihm zu und ging, mit einem Schlenker zu einem der Tresen, um das Glas loszuwerden, in Richtung Saal.

Kaum war der Mann aus seinem Blickfeld verschwunden, bereute er, Colins Vorschlag abgelehnt zu haben. Es wäre ziemlich angenehm gewesen, Gesellschaft in der Loge zu haben. Andererseits war Anton ein Kunde von Colin ... oder etwa nicht? Grübelnd begab er sich zurück in seine Loge.

Während des zweiten – und letzten – Aktes, wanderte sein Blick oft ins Parkett. Mit jeder vergehenden Minute bedauerte er mehr, Antons Gesellschaft verschmäht zu haben. Bei dem handelte es sich offensichtlich auch um einen eingefleischten Kultursüchtigen. Konzentriert verfolgte Anton die Darbietung und schloss gelegentlich, bei besonders intensiven Passagen, die Augen.

Was hatte es mit diesem Lila Leguan auf sich? War das ein Club? Jorge holte sein Smartphone hervor, etwas, das er sonst nie in der Oper tat. Es ließ ihm aber keine Ruhe. Er fand keine Homepage des Lokals, sondern lediglich Eintragungen im Branchenbuch und anderen Portalen. Es handelte sich anscheinend um eine Kneipe mit gemischtem Publikum, wobei die homosexuelle Klientel wohl in der Überzahl war. Das schloss er jedenfalls aus den Bewertungen.

Er steckte das Gerät wieder weg und rieb sich nachdenklich übers Kinn. Übte Colin neuerdings den Job eines Kneipenstrichers aus? Das konnte er sich kaum vorstellen. Es ging ihn auch gar nichts an. Ihr Verhältnis war Geschichte und Basta.

Am Ende der Vorstellung beeilte er sich, ins Foyer zu kommen und bezog an der Tür Aufstellung. Es dauerte ein Weilchen, bis Anton, der in der siebten Reihe gesessen hatte, in sein Blickfeld geriet. Ohne den direkten Vergleich zu Colin schnitt der Mann ziemlich gut ab. Als Anton ihn entdeckte, setzte er ein verbindliches Lächeln auf und bedeutete mit einer Geste, vor dem Eingang zu warten. Im Innenbereich herrschte nämlich ziemliches Gedränge. Ungeeignet, um ein paar private Worte zu wechseln.

Er ging also nach draußen und begab sich ans Ende des Gebäudes, wo eine Seitenstraße zum Bühnenausgang und in Richtung Alster führte. So war er der Traube Menschen, die in Richtung Parkhaus oder U-Bahnstation gingen, nicht im Weg. Anton gesellte sich wenig später zu ihm, zog eine Schachtel Zigaretten aus der Jacketttasche und bot ihm eine an.

„Danke. Ich rauche nicht“, lehnte er ab.

„Ich auch nicht. Bloß nach solchen Hochgenüssen oder ... na ja, eben danach.“ Schmunzelnd steckte sich Anton eine Kippe in den Mundwinkel, zückte ein Feuerzeug und zündete sie an.

„Sorry, dass ich vorhin so abweisend war. Colin hat mich irgendwie irritiert.“

„Macht nichts. Ich war auch ziemlich verwirrt. Betrachten wir es als witzige Showeinlage.“

„Ja, dafür ist er immer gut. Bist du ... seid ihr ...?“

„Ob ich ein Kunde von ihm bin? Ehrlich gesagt ist mir das zu teuer. Da stecke ich mein Geld doch lieber in eine vernünftige Opernkarte, als in ...“ Anton schrieb imaginäre Anführungszeichen in die Luft. „...in einen Hintern.“

Ganz seine Meinung, wobei er eine Verbindung beider Sachen bevorzugte und sich auch leisten konnte. Ein teures Vergnügen, aber es mangelte ihm nun mal nicht an monetären Mitteln. Warum also geizen? Zumindest waren nun zwei Dinge klar: Anton wusste von Colins Job und die beiden hatten nichts miteinander. Das Zweite gefiel ihm ausnehmend gut und Ersteres erleichterte die Konversation. Jorge hasste es, um den heißen Brei herumzureden.

„Ich wollte mir nächsten Freitag die Wiederaufnahme von Bernstein Dances ansehen. Hättest du vielleicht Lust, mir Gesellschaft zu leisten? Die Loge ist eh bezahlt, daher stellt das für mich keinen finanziellen Mehraufwand dar. Außerdem würde ich mich echt freuen.“

„Gern. Das stand schon in der letzten Spielzeit auf meiner Agenda, aber allein gehe ich ungern in die Oper. Darum war ich ja auch sehr dankbar, dass sich Colin zumindest für den ersten Akt geopfert hat.“

„Ja, das war bestimmt ein Opfer für ihn“, stimmte Jorge grinsend zu. „Wie hast du ihn denn dazu überredet?“

„Gar nicht.“ Anton blies einen Rauchkringel aus. „Das hat sich so ergeben.“

Hatte Colin einen Helferkomplex entwickelt? Anders konnte sich Jorge die Sache nicht erklären. „Vielleicht hat er endlich Geschmack an Kultur gefunden, dieser Banause.“

„Abwarten. Ich denke mal, er ist nicht generell abgeneigt. Manchmal muss so etwas reifen. Immerhin ist Colin fast zwanzig Jahre jünger als ich.“

Womit er sich gewaltig im Alter getäuscht hatte. Anton war also schon Anfang fünfzig. Na gut. So groß war der Unterschied zu Mitte vierzig nicht, zudem sah Anton dafür ziemlich frisch aus. „Dann wäre das mit nächstem Freitag also abgemacht?“

„Klar. Ich freu mich schon drauf. Treffen wir uns hier oder was schwebt dir vor?“

„Gib mir mal deine Handynummer“, bat Jorge, zog sein Smartphone aus der Jackentasche und aktivierte das Display.

Kurz darauf hatten sie ihre Nummern ausgetauscht und verabschiedeten sich voneinander. Er wechselte auf die andere Straßenseite, um zum Parkhaus zu gehen, in dem sein Porsche stand. Anton, der mit der Bahn gekommen war, blieb auf der anderen Seite zurück. Die Hände in den Hosentaschen versenkt, lief er am Café Opera, in dem er einst oft mit Christoph nach einer Vorstellung gesessen hatte, vorbei. Eigentlich hätte er Anton noch auf einen Drink einladen können. Der Mann wirkte überaus sympathisch. Tja. Das war wohl so ein Abend der verpassten Gelegenheiten. Zumindest besaß er nun Antons Nummer. Wenigstens in diesem Punkt hatte er seine Chance genutzt.



2.

Gemächlich steuerte Anton auf die U-Bahnstation zu und zündete sich dabei eine zweite Zigarette an. Eigentlich hätte er Lust, noch einen Abstecher in den Lila Leguan zu unternehmen, aber dafür war er overdressed. Dazu, vorher zu Hause die Kleidung zu tauschen, fehlte ihm der Elan.

Sein Blick wanderte rüber, zur anderen Straßenseite, wo Jorge gerade in einer schmalen Gasse verschwand. Was für ein glücklicher Zufall, dass er genau an diesem Abend ... oder handelte es sich gar nicht um höhere Gewalt, sondern hatte Colin das eingefädelt? Unsinn! Welches Interesse hätte Colin daran, ihm Jorge vorzustellen? Der hatte sicher andere Hobbys, als Amor zu spielen. Außerdem war die ganze Sache nicht auf Colins Mist gewachsen, sondern auf Martins, dem Wirt des Lila Leguan.

Bevor er die Stufen in die Station hinunterstieg, trat er seine Kippe auf dem Bürgersteig aus. Unten herrschte reges Treiben. Zwischen den Gästen der Oper, die, wie er, rumgetrödelt hatten, befanden sich etliche Jugendliche. Der Unterschied war, wegen der Garderobe, besonders krass. High Society meets Altkleidersammlung. Na gut, das war übertrieben, doch angesichts der teils zerrissenen Klamotten der jungen Leute – ja, ja, die kaufte man neuerdings absichtlich in diesem Zustand – kam es ihm so vor.

Tagsüber trug Anton, wegen des Dresscodes, ständig einen Anzug. Mittlerweile waren die Regeln ein wenig gelockert, Krawatten nicht mehr unbedingt Pflicht, doch als Abteilungsleiter einer Bank musste er dennoch stets akkurat aussehen. In seiner Freizeit stieg er zwar auf Jeans um, aber so ganz ablegen tat er den gepflegten Look nie.

Ein Zug fuhr ein und wehte ihm das Haar ins Gesicht. Er musste unbedingt mal wieder zum Friseur.

Während er in ein fast leeres Abteil stieg, fischte er sein Smartphone aus der Jacketttasche und rief, sobald er saß, eine Internetseite mit Nachrichten auf. Neuerdings gab es wieder vermehrt antisemitische Übergriffe. Dummheit starb irgendwie nie aus. Das Jahrtausend, in dem extreme Verblödung unter Strafe gestellt wurde, würde er ja leider nicht mehr miterleben. Wahrscheinlich geschah das sowieso niemals, da sich unter denen, die richteten und Politik betrieben, zuhauf solche Leute befanden.

Er wechselte in die Klatschspalten. Leider waren die genauso schrecklich. Wen – zum Henker! – kümmerte es, ob ein alterndes Model mit einem jungen Sänger herumpoppte? Ihn jedenfalls kein bisschen. Seufzend steckte er das Gerät wieder ein und sah aus dem Fenster. Am Wochenende hatte er versprochen, mit seinen beiden Nichten in den Heidepark zu fahren. Die zwei waren absolute Achterbahnfans. Wahrscheinlich endete es wieder damit, dass er irgendwo herumsaß, während die Mädels ihren Spaß hatten. Ihm wurde nun mal übel in diesen Höllengefährten. Allerdings war das immer noch besser, als mit zwei gelangweilten Teenagern abzuhängen. Vermutlich dauerte es nicht mehr lange, bis die beiden Mädchen in dieses Alter kamen. Sascha war bereits zwölf, Agnetha vierzehn.

Sein Bruder und dessen Frau Birgit hatten erst spät Kinder bekommen. Harald war achtunddreißig, seine Schwägerin ein Jahr jünger gewesen, als Agnetha auf die Welt kam. Eigentlich normal heutzutage, wo sich die meisten Leute frühestens in diesem Alter ihren Kinderwunsch erfüllten. Sein Bruder hatte ihm jedoch mal unter vier Augen gesteckt, dass er bereute, nicht ein Jahrzehnt eher losgelegt zu haben. Mit Anfang fünfzig den Problemen mit zwei pubertierenden Teenagern entgegenzusehen, war wahrlich kein Zuckerschlecken; mit dreißig oder vierzig natürlich ebenso wenig, doch die Belastungsgrenze sank mit den Jahren erheblich.

Die Bahn erreichte seine Zielhaltestelle. Mit ihm stiegen weitere Passagiere aus, die sich, sobald sie den Bahnhof verlassen hatten, in alle Richtungen verstreuten. Lediglich ein Pärchen bog ebenfalls in die Wohnstraße ein, durch die sein Weg führte. Anton schlenderte hinter den beiden her, die händchenhaltend in eine Unterhaltung vertieft waren. Ab und zu schnappte er Gesprächsfetzen auf, die ihn zum Schmunzeln brachten. Offenbar handelte es sich um Studenten, die eine Diskussion über Politik führten. Ihn interessierte es schon lange nicht mehr, was die angeblich Regierenden taten. Egal ob rot, grün oder schwarz: Am Ende gewann stets das Kapital. Er hatte gut reden, schließlich gehörte er selbst in gewisser Weise dazu, doch das blendete er gern mal aus.



Am folgenden Morgen holte er seine Nichten ab und verbrachte einen angenehmen Tag im Heidepark. Die Mädchen ließen ihn die meiste Zeit in Ruhe. Es reichte den beiden, dass er ein Eis und zum Mittag Pommes mit Hamburgern spendierte. Ansonsten standen die zwei ständig in den Warteschlangen vor Fahrgeschäften oder kreischten wie verrückt, wenn sie in einer der Achterbahnen saßen.

Auf der Rückfahrt schlief Sascha auf der hinteren Bank ein. Agnetha, die auf dem Beifahrersitz hockte, wirkte hingegen putzmunter. Sie plapperte in einem fort, über die Schule, die Eltern und schließlich kam sie auf ihn zu sprechen.

„Was ist eigentlich mit dir? Warum nimmst du dir keinen neuen Mann?“, verlangte sie zu wissen.

„Das ist nicht so einfach. Die wachsen schließlich nicht auf Bäumen.“

„Es gibt doch Partnervermittlungen oder das Internet.“

Er streifte sie mit einem kurzen Seitenblick. „Das ist nicht mein Ding. Oder würdest du offiziell zugeben, dass du jemanden suchst?“

„Die bei der Partnervermittlung haben Schweigepflicht und im Internet kannst du einen Tarnnamen verwenden.“

„So, so. Du kennst dich ja gut aus.“

„Hallo? Ich bin schon vierzehn“, empörte sich Agnetha. „Auf Facebook hab ich seit zwei Jahren ein Profil.“

Etwas, das in der Familie für einigen Zündstoff gesorgt hatte. Sein Bruder war – gelinde gesagt – wenig begeistert darüber gewesen. Seine Schwägerin hatte das gelassener gesehen. Sie war großer WhatsApp-Fan und konnte die Aufregung gar nicht verstehen. Letztendlich hatte Agnethas Großvater, ebenfalls ein Mitglied der Facebook-Gemeinde, den Streit geschlichtet und wachte seitdem über den Account der Enkeltochter. Eine strengere Jury, was das posten von irgendwelchen Bildern betraf, konnte es gar nicht geben.

„Ich suche eigentlich gar keinen Neuen. Bin so, wie es ist, ziemlich zufrieden.“

„Ziemlich?“, echote seine Nichte. „Die kleine Schwester von überhaupt nicht?“

„Was ist das denn für ein Spruch? Ich bin eben relativ zu... Oh Mann! Lass uns bitte über etwas anderes reden.“

„Wieso weichst du mir aus?“ Agnetha kam ganz nach ihrer Mutter. Die konnte auch verdammt hartnäckig sein.

„Ich möchte eben nicht darüber sprechen.“

„Ts. Soll ich dir vielleicht helfen? Einer meiner Lehrer ist schwul und sieht total klasse aus.“

„Danke, nein. Ich komm schon klar.“

„Das sieht man ja. Wie lange ist das jetzt mit diesem Arsch... mit Arif her?“

„Zwei Jahre“, gab er widerwillig Auskunft.

„Ich konnte den nie leiden“, tat Agnetha abschätzig kund. „Der passte gar nicht zu dir.“

Eigentlich müsste er ihr dafür eine Rüge erteilen, aber leider hatte sie recht. Mit Arif war hauptsächlich der Sex gut gewesen, der Rest ... Im Grunde hatte ihn der Scheißkerl ausgenommen wie eine Weihnachtsgans. Da Arif weniger verdiente, waren ihre gemeinsamen Reisen selbstverständlich von ihm finanziert worden. Das Gleiche galt für Miete, ihre Autos und Lebensmittel. Während ihrer Beziehung hatte ihm das nichts ausgemacht, schließlich bekam er dafür etwas zurück. Erst im Nachhinein war ihm aufgegangen, dass die Aufrechnung ziemlich einseitig aussah. Sein Konto hatte arg gelitten und er dafür auch noch einen Tritt in den Arsch erhalten. Allmählich erholte er sich von beidem.

„Warum sagst du nichts?“, erkundigte sich Agnetha, eine Spur verunsichert.

„Ich möchte darüber nicht mehr reden. Okay?

„Mhm. Okay“, stimmte sie mit deutlichem Widerstreben zu.

Den Rest der Fahrt bemühten sie sich um unverfängliche Themen und überließen in weiten Teilen dem Radio die Unterhaltung. Anton war froh, als sie das Heim seines Bruders erreichten. Der Tag hatte ihn angestrengt, trotz – oder wegen? – des vielen Leerlaufs. Jedenfalls beneidete er seinen Bruder nicht, regelmäßig der Inquisition durch Agnetha ausgesetzt zu sein. Natürlich musste der keine Rede und Antwort bezüglich seines Liebeslebens stehen, doch es gab bestimmt genug andere Themen, die ähnlich aufreibend waren.

Er begleitete seine Nichten – Sascha besaß eine innere Uhr und war bei ihrer Ankunft von selbst aufgewacht – ins Haus. Wie nicht anders zu erwarten, nötigte ihn seine Schwägerin, noch auf eine Tasse Kaffee zu bleiben. Birgit war eine mustergültige Hausfrau und das in jederlei Hinsicht. Kaum zu glauben, dass sie mal ihre Karriere dem Kinderkriegen vorgezogen hatte.

Nach einer Stunde eiste er sich los, unter dem Vorwand, dass er noch verabredet wäre. Sein Bruder brachte ihn zur Tür und rollte, sobald sie außer Sichtweite waren, mit den Augen.

„War mir ein Vergnügen. Halt die Ohren steif.“ Er klopfte seinem Bruder auf die Schulter und begab sich zu seinem Wagen.

Harald hatte gut reden. Sein Bruder war seit fast zwanzig Jahren mit Birgit zusammen. Selbstverständlich gab es bei den beiden Höhen und Tiefen, doch im Großen und Ganzen stimmte die Chemie zwischen den beiden. Etwas, das wohl kaum jedes Ehepaar von sich behaupten konnte. Er wäre schon glücklich, wenn er noch jemanden fände, mit dem es einigermaßen passte. Entgegen seiner Aussage wollte er nämlich schon ganz gern einen neuen Partner, aber Agnetha brauchte ja nicht alles wissen.


Was das andere betraf: Es handelte sich ja wohl zweifelsohne um einen von Colins Kunden, weshalb alles andere für ihn ein Tabu darstellte. Typen, die sich einen derart teuren Callboy leisteten, hatten – nach seiner Auffassung – einen echten Dachschaden. Mehr als ficken oder blasen konnte ein Escort für den Preis doch auch nicht. Andere Möglichkeit: Vielleicht hatte Jorge besondere Vorlieben. Fesselspiele? Natursekt? Okay, in Colins Anzeige stand zwar ‚keine Fetische‘, doch Papier war geduldig. Das konnte man ja wohl inzwischen auch auf Online-Anzeigen ummünzen.

Lila Leguan

Leguan

Anton leerte sein Glas und winkte Martin zum Zahlen heran. Als Stammkunde dürfte er auch einmal monatlich seine Zeche begleichen, doch er tat das lieber gleich. Schulden waren ihm ein Graus.

„Spitze. Schöne Musik, attraktive Tänzer und eine tolle Begleitung. Danke nochmal.“

„Hat er. Außerdem habe ich durch ihn jemanden kennengelernt, mit dem ich morgen in die Oper gehe“, verriet Anton, von den zwei genossenen Bieren, dem Blowjob und anstehenden Opernbesuch total euphorisch gestimmt.

„Dankeschön. Bis nächste Woche.“ Anton klopfte auf den Tresen, rutschte vom Hocker und streifte auf dem Weg zur Tür seine Jacke über.

Lila Leguan