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IMPROVISATIONSTHEATER

Band 1: Die Grundlagen

DAN RICHTER

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Impressum

Dan Richter

1. Auflage, 2018

Vertrieb: Verlag Theater der Zeit

Druckerei: PRINT GROUP Sp. z o.o.

Cover-Gestaltung: Eva Hernández

ISBN: 978-3-95749-157-2 (print)

Vorwort

Dies ist das erste Buch der auf zwölf Bände angelegten Reihe Improvisationstheater. Es richtet sich an Anfänger, an fortgeschrittene Impro-Spieler und Improvisations-Lehrer. Wir werden die Grundlagen des gemeinsamen theatralen Improvisierens erkunden: Wie erlangen wir beim spontanen Erschaffen von Szenen Freiheit, Freude und Eleganz? Obwohl ich hier einige Spiele, Übungen und Formate beschreibe, ist dieses Buch keine Trick-Kiste. Um Improtheater zu lernen, braucht man ein offenes Herz, aber auch Geduld und Übung. Mit dem Titel „Die Grundlagen“ ist also nicht allein die Anfängerpraxis des Improvisierens gemeint, sondern die grundlegenden Haltungen, auf die sich Improtheater-Spieler immer wieder besinnen müssen, wenn sie nicht steckenbleiben, sondern sich stetig weiterentwickeln wollen.

Ich wünsche mir, dass dieses Buch die Leser inspiriert, Neues zu wagen, Ängste hinter sich zu lassen, sich dem Moment hinzugeben, die eigenen Fähigkeiten zu erweitern und dem Verstand und künstlerischen Instinkt zu vertrauen, so dass Improvisationstheater das werden kann, was in ihm schlummert: Eine Kunst.

Vielleicht vermisst man beim Lesen einige Themen: Wie erschafft man spontan Charaktere? Wie werden die improvisierten Szenen weiterentwickelt? Wie improvisieren wir Storys? Diese und viele andere Themen sind den folgenden Bänden vorbehalten. Ein Veröffentlichungsplan der einzelnen Bände mit kurzen Inhaltsangaben findet sich am Ende des Buchs.

Die Namen von Spielern aus Shows und Workshops habe ich – mit Ausnahme meines eigenen Impro-Ensembles Foxy Freestyle – anonymisiert. Um flüssiges Lesen zu erleichtern, wird in diesem Werk überwiegend das generische Maskulinum verwendet.

INHALTSVERZEICHNIS

1WARUM SPIELEN WIR IMPROTHEATER?

2SEI MUTIG

3HÖR ZU

4AKZEPTIERE

5FÜGE HINZU

6BEHAUPTE

7SPIELE!

8SEI IM MOMENT

9LIEBE DAS UNBEKANNTE

10GIB VOLLEN EINSATZ

11LASS DICH VERÄNDERN

12SEI SPEZIFISCH

13MITEINANDER

14URTEILEN

15FLOW

16KOMIK, ERNST UND HUMOR

17DILETTANTISMUS UND ELEGANZ

18DIE BÜHNE GEHÖRT UNS

19ALLES IST INSPIRATION

20REGELN

21TRAINING

22PLANEN

23VERZEICHNIS DER SPIELE UND FORMATE

24IMPROVISATIONSTHEATER. ALLE BÄNDE

25VERZEICHNIS ERWÄHNTER WERKE

26DANK

27AUSFÜHRLICHES INHALTSVERZEICHNIS

1WARUM SPIELEN WIR IMPROTHEATER?

1.1Der Genuss des Publikums

1.2Freiheit und Bildung des Spielers

1.3Die Mitspieler – Inspiration und Kooperation

1.4Synchronisierte Kreativität

1.5Interaktion mit dem Publikum

1.1Der Genuss des Publikums

Impro-Spieler machen sich oft Gedanken darüber, was „das“ Publikum sehen will, was es braucht oder was es fordert. Vielleicht ist hier mal ein Perspektivwechsel fällig: Was bereitet denn uns Impro-Spielern Freude, wenn wir im Publikum sitzen? Was hat uns begeistert, als wir das erste Mal Improtheater gesehen haben, als wir noch nichts von den Impro-Techniken wussten, die dahinter stecken, nichts vom feinen Miteinander, das das lockere Impro-Spielen erfordert?

Wenn wir Zuschauern, die zum ersten Mal Improtheater sehen, nach der Show zuhören, werden wir erkennen, dass die primäre Begeisterung immer wieder die Faszination des Spontanen ist:

„Ihr wart so unglaublich schnell!“

„Wo nehmt ihr nur so rasch die Ideen her?“

„Ihr geht so unglaublich gut aufeinander ein.“

„Man hat gesehen, dass ihr euch selber amüsiert habt, wenn ihr von der Antwort eurer Mitspieler überrascht wart.“

Obwohl Improtheater nicht unbedingt komisch sein muss, hat es doch einen Hang zum Komischen, der nicht unbedingt durch die Inhalte des Gesagten zu erklären ist, sondern durch das Spontane selbst. Diese impro-immanente Komik wirkt vor allem dann, wenn der Mechanismus offengelegt wird, das heißt wenn für die Zuschauer die Spielregel sichtbar ist. Aber auch in freien Szenen ist dieser Effekt noch zu beobachten: Ich liefere dir einen Satz, und du musst etwas Sinnvolles darauf erwidern. So entfaltet sich Situations-Komik. Dem Zuschauer wird rasch klar, dass das, was auf der Bühne entsteht, keiner der einzelnen Spieler alleine hätte erfinden können.

Doch auch unabhängig von der impro-spezifischen Komik ist Improtheater für den Zuschauer interessant. Man empfindet Freude, anderen beim Kreativsein zuschauen zu können. Als Zuschauer tauchen wir in den Prozess mit ein, und das können uns nicht-improvisierte Künste nur selten bieten. Bildende Künstler lassen sich in der Regel ungern über die Schulter schauen. Und Schriftsteller reagieren pikiert, wenn man ihnen beim Schreiben auf das Blatt Papier oder auf den Monitor starrt.

Wenn wir ins Kino gehen, ist der Film komplett, das Drehbuch wurde vor Jahren geschrieben, die Darsteller haben ihre Szenen zum Teil zig Mal gespielt. Ganze Szenen sind der Schere zum Opfer gefallen. Das ist alles wunderbar, und wir lieben die großen Filmkunstwerke. Aber Theater oder auch Live-Musik entfalten dann eben doch noch eine andere Art von Magie. Man ist direkt dabei, wie die Schauspieler oder Musiker die Werke des Dramatikers oder Komponisten umsetzen. Rock-Konzerte lösen eine so stark sichtbare und regelrecht spürbare Begeisterung auslösen, weil es hier weniger um die saubere Performance der Lieder geht, sondern um die gemeinsame Erfahrung.

Auch Regie-Theater lebt von einem gewissen Maß an Improvisation. Gute Schauspieler sind nie allein Text-Aufsager, die ihren Körper dem Regisseur zur Verfügung stellen. Vielmehr müssen sie in der Lage sein, zuzuhören und die Empfindungen der Figur unmittelbar aufleben zu lassen, was dann bedeutet: Sie müssen sie spontan in sich selbst zum Leben erwecken. Dem lebendigen Entstehen des Stücks auf der Bühne als Zuschauer beizuwohnen, kann ein großartiges ästhetisches Erlebnis sein. Schauspiel ist also, trotz allen Probens, auch im Regie-Theater immer wieder ein Stück weit improvisiert. Aber an dem Stück hat der Autor oft monatelang gefeilt. Der Regisseur des Stücks bestimmt letztlich seinen Charakter, er gibt dem Stück den Dreh und legt fest, wie die Schauspieler ihre Rollen aufzufassen haben. Vielleicht hat er den Schauspielern in den Proben Raum zum Improvisieren gegeben oder improvisatorische Elemente genutzt, aber zum Zeitpunkt der Premiere steht das Stück und wird kaum noch mehr verändert. Die Aufgaben des Dramaturgen, des Lichttechnikers, des Bühnenbildners, der Musiker – all das ist festgelegt, und am Tag der Aufführung wird nicht mehr daran gerüttelt.

Im Improtheater entstehen alle diese Parts im Moment. Der Entstehung einer Szene zuzuschauen, kann ungeheure Freude bereiten, denn sie wird nicht von einem Spieler allein, sondern vom Team „geschrieben“, ohne dass ein Schreibprozess überhaupt stattfindet. Vielmehr hätte das Stück kein einzelner Spieler so schreiben können, wie wir es am Ende erlebt haben. Ich reagiere auf dein Angebot, du auf mein Angebot, ein dritter Spieler etabliert eine neue Sequenz, und so fort. Im Idealfall, wenn die Spieler formsicher und sensibel aufeinander eingehen, hat man einerseits fast den Eindruck, die Spieler hätten ein bereits existierendes Stück aufgeführt, andererseits bestaunt man während des Spiels das Geben und Nehmen, das Entstehen einer neuen Form.

Der wesentliche Genuss des Zuschauers besteht also in der Gleichzeitigkeit zweier Genüsse: Erstens dem Genuss von Inhalt und Form einerseits und zweitens dem Genuss, Zuschauer des komplexen Schaffensprozesses zu sein.1

1.2Freiheit und Bildung des Spielers

Wenn die Zuschauer es genießen, dem fließend-synchronen Entstehen von Text, Schauspiel und Inszenierung zuzusehen, so gilt dasselbe für die Spieler selbst, nur eben auf der Seite des Schaffens.

Ein Schriftsteller kann während des Schreibens oder danach Wörter austauschen, Sätze oder ganze Absätze streichen oder am Ende gar alles wegwerfen und von vorne anfangen. Wie anders ist da doch das Improvisieren auf der Bühne! Alles gilt in diesem Augenblick. Korrekturen sind nicht mehr möglich. Natürlich freuen wir uns, wenn wir eine Story auf die Bühne bringen, die die Zuschauer bewegt, die uns vielleicht selbst mitreißt und uns nachdenken lässt. Aber was das Improtheater vom geschriebenen Drama, vom Drehbuch oder der Kurzgeschichte unterscheidet, ist der Fokus auf den Flow, das Entstehen der Story. Als Improvisierer lieben wir das Werkeln oft mehr als das Werk, den Prozess mehr als das Produkt.

So sehr ich meine Arbeit als Schriftsteller mag – sie bleibt eine einsame Tätigkeit. Die überraschenden Wendungen einer Geschichte sind Produkte meiner Phantasie. Im Improtheater hingegen muss ich praktisch permanent mit den Angeboten meiner Mitspieler umgehen. Muss? Nein, ich darf! Was für Außenstehende wie totaler Stress erscheint („Wie kann dir denn dazu andauernd etwas einfallen, wenn der andere etwas sagt, was du nicht erwartet hast?“), ist für den Improvisierer ein Genuss. In Wahrheit sind diese Überraschungen, das Unerwartete ein Geschenk. Ich muss mich nicht selber überraschen, diese Arbeit leistet mein Mitspieler für mich. Und ich muss nur noch mit etwas reagieren, was mir als naheliegend erscheint, für meinen Mitspieler aber wieder sehr überraschend sein wird. Es gibt Szenen, in denen dieses gegenseitige Überraschen ein Ausmaß annimmt, dass es sich anfühlt, als würde man abgekitzelt.

Für die meisten Impro-Spieler ist Improtheater mit innerer Befreiung verknüpft. Dabei sind viele Impro-Spiele bei genauerer Betrachtung formal ziemlich restriktiv. Aber sie gewähren uns gerade dadurch inhaltliche Freiheit. Beim Improvisieren entstehen unglaubliche, manchmal geradezu absurde Inhalte, auf die man als Einzelner kaum kommen würde. Auch dass das Bewertende während des Spielens im Prinzip wegfällt, wird als Befreiung empfunden: Wo sonst, wenn nicht im Improtheater, erleben wir eine solche Atmosphäre des Nicht-Beurteiltwerdens? Improtheater hebt sich so für die meisten Spieler markant von ihrer Alltagserfahrung ab. Vor allem bei Neulingen ist dieser Kontrast enorm spürbar. Sie wirken auf Außenstehende oft wie Verzückte, die gerade ein Erweckungserlebnis hatten. Man sieht die Welt geradezu mit anderen Augen: Was passiert, wenn ich ja sage zu den „Angeboten“ der Umwelt und Mitmenschen? Was, wenn ich die kritische Skepsis fallen lasse? Wie erscheint die Welt der sozialen Interaktion, wenn ich sie durch den Filter des theatralen Status beobachte? Diese befreiende Erfahrung können sich auch erfahrene Spieler erhalten, wenn sie den Prozess des Impro-Lernens nie als abgeschlossen betrachten und gleichzeitig nachsichtig mit den eigenen Fehlern umgehen, wenn sie neue Formen und Inhalte suchen, ohne Gelerntes zu vergessen.

Ein Aspekt, der für Impro-Spieler von großer Bedeutung ist, aber mit dem eigentlichen künstlerischen Schaffensprozess nur indirekt zu tun hat, ist die Persönlichkeits-Bildung, denn die Tugenden, die wir im Improvisationstheater lernen und praktizieren, übertragen sich nach einer gewissen Zeit der Impro-Praxis unweigerlich auf die Persönlichkeit des Impro-Spielers.

Das Erste, was bei den meisten Impro-Schülern (egal wie alt sie sind) nachlässt, ist die Schüchternheit. Improtheater lebt vom kreativen Umgang mit Fehlern. Man feiert das Scheitern geradezu. Für manche ist das Impro-Spielen in einem Workshop das erste von Kritik befreite Handeln seit Jahren. Man erlebt hier Vertrauen, hat Spaß, wird für das, was man tut, geschätzt. Viele entdecken so nach langer Zeit, dass sie über eine kräftige Stimme verfügen, dass sie etwas zu sagen haben, dass es nicht schlimm ist, wenn man sich verspricht oder mal Unsinn verzapft. Dieses Selbstvertrauen wirkt natürlich zurück auf den Alltag.

Ein weiteres Beispiel: Für Impro-Spieler ist es unerlässlich, gut zuzuhören, denn sonst könnten sie ja nicht auf ihre Mitspieler eingehen. Zuhören zu können ist aber auch im Alltag eine wichtige Eigenschaft. Ob zuhörende Ärztinnen, Chefs, Eltern, Lehrerinnen, Ehepartner – praktisch in jedem Lebensbereich werden Menschen geschätzt, von denen man merkt, dass sie einem ihre Aufmerksamkeit widmen.

Drittens: Schauspieler brauchen eine hohe emotionale Flexibilität. Egal, wie es ihnen am Tag des Auftritts geht – sie müssen in der Lage sein, verschiedene Emotionen glaubwürdig zu verkörpern. Improvisierende Schauspieler müssen diese Emotionen aus dem Moment, aus der Notwendigkeit der Szene abrufen. Diese Flexibilität, wenn sie nur häufig genug im Alltag praktiziert wird, hat zur Folge, dass man eher in der Lage ist, sich in andere hineinzuversetzen, man entwickelt ein sensibleres Mitgefühl für seine Mitmenschen. Außerdem wird man nicht so leicht Opfer seiner eigenen Emotionen, das heißt, man wird sich eher über die Bedingtheit der Emotion im klaren: Wenn ich auf der Bühne in der Lage bin, meine Emotionalität blitzschnell zu ändern, warum soll das dann nicht auch im alltäglichen Leben geschehen?

Diese sozial und psychisch wertvollen Charaktereigenschaften – Zuhören, emotionale Flexibilität, Achtsamkeit für den Moment, Mut zum Unbekannten, spielerischer Umgang mit Fehlern, Großzügigkeit gegenüber anderen – werden durchs Impro-Spielen verstärkt. Improtheater hat eine quasi-therapeutische Wirkung.2 Diese Art von Selbsterfahrung sollte man nicht geringschätzen. Sie ist ein Grund, warum selbst Impro-Spieler, die wissen, dass ihr schauspielerisches Talent beschränkt ist, oft trotzdem dabei bleiben und ohne Publikum – lediglich in der Gruppe – improvisieren.

1.3Die Mitspieler – Inspiration und Kooperation

Die Freude an der gemeinsamen Kreativität finden wir zwar auch in vielen anderen Bereichen der Kunst.3 Aber im Improvisationstheater brauchen wir unsere Mitspieler nicht nur, sie sind Quelle unserer Inspirationen, sie transformieren das scheinbar Banale, das wir anbieten, zu magischer Größe.

Das Miteinander von Improtheater-Spielern ähnelt dem Spiel einer frei improvisierenden Jazz-Band. Auch hier unterstützen sich die Spieler, geben einander Halt und erschaffen gemeinsam Neues. Ein improvisiertes Stück ist nicht nur die Summe der einzelnen Teile, die jeder beiträgt. Jeder Mitspieler inspiriert mich auf eine andere Weise. Als guter Impro-Spieler stellt man sich auf jeden Mitspieler neu ein. Selbst wenn Paul dasselbe sagt wie Isabel, löst die Art, wie er es sagt, andere Assoziationen aus. Was und wie ich Paul antworte, ist hoffentlich überraschend genug für ihn, um mich wieder mit einer weiteren Überraschung zu beschenken.

Mit guten Impro-Spielern zusammenzuarbeiten, fühlt sich an, als würde man andauernd Liebes-Geständnisse bekommen und erwidern; denn was tun wir denn sonst, wenn wir die Angebote unseres Mitspielers akzeptieren, fortführen und ihnen Bedeutung geben – wir sagen ihm indirekt: „Danke für diese wunderbare Inspiration.“

1.4Synchronisierte Kreativität

Improtheater ist nicht die einzige Form der improvisierten Künste. Letztlich liegt jeder Kunst ein Stück Improvisation zugrunde. Jeder Künstler steht erst einmal vor dem Nichts – dem unbehauenen Stein, der leeren Leinwand, dem weißen Blatt, der Stille im Studio. Die Unterschiede zur „reinen“ Improvisation sind graduell: Wieviel Vorbereitung lasse ich zu? Wieviel Nachbearbeitung ist möglich?

Die prominenteste Schwester des improvisierten Theaters ist wohl die Musik, insbesondere der Jazz und – in Verbindung mit improvisierter Dichtung – der Freestyle Rap. Ähnlich wie im Improtheater arbeitet der improvisierende Musiker selten allein, sondern mit einer Band. Es existieren ähnliche Regeln: Höre zu, arbeite am Gesamtwerk mit, gehe kreativ mit Fehlern um usw.

Eines aber unterscheidet die Improtheater-Künstler von anderen improvisierenden Kollegen: Sie improvisieren auf mehreren künstlerischen Feldern gleichzeitig. Sie sind Schauspieler, Geschichten-Erfinder, Regisseure, Text-Autoren, abhängig vom Format oder improvisierten Stück oft auch Sänger, Komponisten, Tänzer, Choreographen, Lyriker. Im besten Fall entsteht so mit leichter Hand ein improvisiertes Stück, das die Zuschauer und die Künstler gleichermaßen fasziniert.

Ein großer Teil dieser Faszination liegt darin, dass Improtheater eigentlich die ungeheure Anmaßung der Künstler ist, all diese Ebenen tatsächlich zu beherrschen. „Wie ist das überhaupt möglich?“, fragt man sich manchmal nach einer Improtheater-Show, sowohl als Zuschauer aber auch als Spieler.

Wir entwickeln schauspielerisch Figuren, die es noch nie gegeben hat und nie wieder geben wird. Die Vorbereitungszeit für diese Figur beträgt nicht, wie bei unseren nicht-improvisierenden Schauspiel-Kollegen, mehrere Wochen oder Monate, sondern eine halbe Sekunde. Wenn wir anfangen nachzudenken, haben wir den Moment schon verloren. Jedes nachträgliche Anpassen oder Korrigieren würde für den Zuschauer zerstören, was er bereits gesehen hat.

Wir erschaffen gemeinsam mit unseren Bühnenpartnern Storys, die ebenfalls einmalig sind. Das geschieht nicht, indem wir diese Storys vorher skizzieren und verabreden, sondern dadurch, dass wir durch unsere Kenntnis und unser Gefühl von Story-Strukturen die Geschichten einladen, sich zu entfalten.

Die Szenenwechsel, die Auf- und Abgänge, die Bewegungen der Figuren auf der Bühne, sind ebenfalls nicht einstudiert, sondern entstehen organisch. Als geübter Impro-Spieler spürt man den Rhythmus einer Szene, erkennt ihren Bogen, nimmt ihre Dynamik wahr.

1.5Interaktion mit dem Publikum

Improvisationstheater ist heute fast immer interaktiv. Offensichtlich wird dies, wenn die Schauspieler das Publikum nach Vorschlägen oder Vorgaben für eine Szene fragen: Die „vierte Wand“ wird gebrochen. In dieser Situation spielen die Schauspieler keine Rolle, sie sind einfach nur die Schauspieler, die sich mit dem Publikum auf die Improvisation vorbereiten. Der Kunst wird hier der Heiligenschein genommen, die Schauspieler rücken den Zuschauern näher. Sie sind diejenigen, die (stellvertretend für die Zuschauer) das Wagnis der Improvisation eingehen.

Das Publikum wird durch die Vorschläge auch konditioniert, genauer gesagt, das Zuschauen des Publikums wird konditioniert. Als Zuschauer fragen wir uns, ob es den Schauspielern gelingen wird, die Eifersuchts-Szene, wie vorgegeben, komplett gereimt vorzutragen, und dann auch noch an einem Königshof. Umso größer die Freude, wenn es tatsächlich funktioniert. Die Freude verdoppelt sich zudem für diejenigen Zuschauer, die die Vorschläge abgegeben haben, denn ihnen wird ein persönlicher Wunsch erfüllt. Alle Zuschauer sind mit der vorschlagenden Person verbunden. Man wünscht auch diesem einzelnen Zuschauer, dass die Szene gelingen möge. Und wenn die Szene schließlich vorbei ist, gibt es ein kollektives Gefühl, dass sich etwas erfüllt hat, der Kreis hat sich geschlossen.

Nun gibt es aber durchaus Improvisations-Formate, die ganz ohne Publikums-Vorschläge auskommen oder in denen die Interaktion nur eine sehr geringe Rolle spielt: Stell dir vor, du kommst in eine Theatervorstellung und bist eine halbe Minute zu spät. Das Stück ist großartig. Ist es nun am Ende für dich von Bedeutung, ob es improvisiert war oder nicht? Diese Frage, der man manchmal als in Diskussionen über Improvisation begegnet, führt in die Sackgasse, denn entscheidend im Improtheater (wie auch in anderen improvisierten Künsten) betrachten wir nicht das Produkt vom Ende her, sondern immer als Prozess. Insofern spielt das Wissen, dass dieses Stück improvisiert ist ganz sicher während der Performance eine Rolle. Denn das Improvisieren selbst schafft die bereits erwähnte Doppelbindung, die dem gescripteten Theater nur in Ausnahmefällen gelingt. In einem geschriebenen Stück sind wir viel tiefer in die Handlung involviert, die Schauspieler verschwinden hinter ihren Rollen. Und da, wo die Regie das zu konterkarieren versucht, etwa durch den Brechtschen Verfremdungseffekt, sehen wir dann eben den Regisseur oder den Autor hervortreten. Im Improvisationstheater hingegen sind wir sowohl an die Figur und die Handlung als auch an die Improvisierer und den Improvisationsprozess gebunden. Wir fragen uns als Zuschauer nicht nur: „Wird der Kleptomane seiner Frau die Wahrheit sagen?“, sondern wir wollen auch wissen: „Welche Entscheidungen treffen die Improvisierer jetzt?“ Diese zusätzliche Denkspur läuft (mal mehr, mal weniger bewusst) immer mit. Man ist daher als Zuschauer in einem improvisierten Stück oder einer improvisierten Szene nicht nur am Fortgang der Handlung oder der Dichte der Dialoge interessiert, sondern man genießt obendrein den Flow, in dem das Spiel improvisiert wird. Insofern ist Improtheater selbst ohne Publikumsvorgaben deutlich interaktiver als das konventionelle Regie-Theater.

1 Bertolt Brecht kritisierte das Theater seiner Zeit als zu rauschhaft, es wolle die Zuschauer nur in ein emotionales Auf und Ab stürzen; der Zuschauer würde zu sentimental in die Erlebniswelt der Charaktere eingesogen. Bei Brecht sollten die Zuschauer nie vergessen, im Theater zu sein. In gewisser Weise hat Improtheater diesen Ansatz radikalisiert. Der Zuschauer ist hier in einer permanenten Doppelbindung: Man geht mit den Figuren und der Story mit, und auf der anderen Seite beobachtet man gleichzeitig den Prozess des Erschaffens dieser Figuren und der Story.

2 Zum Thema Improtheater als Therapie siehe Improvisationstheater. Band 11: Impro überall

3 Man denke nur daran, wie lange heutzutage im Abspann eines Kinofilms über nahezu sämtliche Berufszweige des Film-Business informiert wird. Die wichtigsten kreativen Künstler – der Drehbuch-Autor, der Regisseur und die Schauspieler arbeiten nicht gleichberechtigt und nicht synchron an dem Werk. Manchmal ist für den Schauspieler nicht einmal die Anwesenheit des Dialogpartners nötig.

2SEI MUTIG

2.1Scheiter heiter

2.2Die Falle der Selbst-Etikettierung

2.3Es gibt keine Fehler – Mach was draus

2.4Freiheit vor dem Urteil anderer

2.5Wabi Sabi: Prozess statt Produkt

2.6Wovor sich Impro-Spieler fürchten

2.7Die Kanäle der Angst

2.8Wie überwinden wir unsere Angst?

2.1Scheiter heiter

Unser Alltag ist von einem seltsamen binären Code geprägt – dem Dualismus von Falsch und Richtig. Diese Prägung fängt bei der Kindeserziehung an und setzt sich später in der Arbeitswelt fort. Fehler gilt es um jeden Preis zu vermeiden. Für Fehler werden wir bestraft, ausgelacht, gerügt. Nur langsam zieht in einigen Bereichen die Erkenntnis ein, dass ohne Fehlertoleranz keine Entwicklung zu haben ist.

In manchen Bereichen des Lebens ist Präzision ja durchaus wichtig: Wer will schon einen nur ungefähren Betrag des Gehalts auf sein Konto überwiesen haben? Wer will schon, dass der Zahnarzt einen beliebigen Zahn statt des kranken anbohrt? Die Dualität von Richtig und Falsch ist vor allem dort angemessen, wo Exaktheit das primäre Kriterium ist – in Wissenschaft und Technik.

Aber schon in einer der mathematischsten Künste – der Musik – wird die Frage von Richtig und Falsch rasch sinnlos. Gewiss schmälert es den Genuss, wenn Musiker „falsche“ Töne spielen. Aber ob uns der Vortrag einer Mozartschen Klaviersonate gefällt oder nicht, hängt nicht unbedingt damit zusammen, dass der Musiker das Stück „richtig“ gespielt hat. Mehr noch: Eine schöne Interpretation wird uns wahrscheinlich selbst noch mit ein, zwei Patzern besser gefallen als dasselbe Stück, wenn es „richtig“ aber seelenlos gespielt wird. Und in der Improvisation geht es sogar noch einen Schritt weiter: „Wir improvisieren“ heißt, es gibt kein Richtig und kein Falsch, denn wer wollte das festlegen als wir allein.

Eine der Grundübungen im Improtheater ist die freie Assoziation: Ich nenne dir einen Begriff, du assoziierst möglichst flott auf diesen Begriff ein neues Wort, auf das ich wiederum eine Assoziation finden muss. Per definitionem kann es hier kein Richtig und kein Falsch geben. Was immer du assoziierst, es ist in deinem Kopf entstanden. Angenommen ich höre den Begriff Salami, dann kann es durchaus sein, dass ich dazu Punkrock assoziiere, was für Außenstehende vielleicht nicht unbedingt nachvollziehbar ist, aber das ist egal, denn es ist schließlich mein Leben, das meine Synapsen derart verschaltet hat, dass ich Punkrocker vor mir sehe, wenn ich dieses Wort höre.

Nehmen wir dasselbe Spiel. Ich sage „Punkrock“, und meine Mitspielerin versteht „Bangkok“, was man durchaus als Fehler im Sinne von Hörfehler auffassen kann. Wenn sie nun aber „Ostasien“ assoziiert, bleiben wir im Spiel.

Der Fehler wird als Fehler oft erst dann erkannt, wenn wir ihn als Fehler markieren – wenn wir die Augenbrauen skeptisch verziehen, wenn wir innehalten, wenn wir aus der Szene heraustreten, kurz – wenn wir das Spielen beenden. Solange wir spielen, können wir im Grunde gar nicht scheitern.

Die Impro-Welt ist voller Spiele, die das heitere Scheitern trainieren. Praktisch alle Spiele, bei denen Spieler der Reihe nach ausscheiden, eignen sich. Eines meiner Lieblings-Scheiter-Spiele, das sich für Gruppen aller Levels eignet ist „Verlierer-Ball“ von Jill Bernard4:

Spiel „Verlierer-Ball“

Die Spieler stehen im Kreis und werfen sich einen imaginären Ball zu. Aber statt den Ball zu fangen, verlieren ihn die Spieler. Sie lassen ihn fallen, fangen schlecht usw. Jedes Mal, wenn der Ball fallengelassen wird, applaudiert die Gruppe, und man lobt den Verlierer wie eine stolze Mutter ihr Kind lobt: „Toll gesehen!“ oder „Schön nachgegriffen!“ usw. Es gibt keinerlei Bedauern.

Es muss gelobt werden. Der Effekt auf die Stimmung innerhalb der Gruppe ist erstaunlich.

Keith Johnstone5 hat mit seinen Spielen und Formaten das Scheitern wunderbar aufgefangen. Im „Buchstaben-Vermeidungs-Spiel“ dürfen zwei oder mehrere Spieler einer Szene einen Buchstaben nicht benutzen, zum Beispiel „F“.

A: „Ihr Paket. Unterschreiben Sie bitte hier ff…vielmehr hier.“ (Das Publikum lacht, weil es den Spieler ringen sieht.)

B: „Gerne, ach kommen Sie doch herein.“

A: „Oh! … Mademoiselle, sehr gern.“ (Wieder Lachen. Wir sehen, dass er eigentlich „Fräulein“ sagen wollte und im letzten Moment noch die Kurve gekriegt hat.)

B: „Ich liebe Sie, seit Sie das erste Mal an meiner Tür geklingelt haben.“

A: „Das sagen Sie mir erst jetzt. Ich hatte mich schon gefragt… Aaah!“

Und wie in jedem theatersportmäßigen6 Spiel scheitert der Spieler demonstrativ heiter und scheidet aus der Szene aus.

Die Herausforderungen der klassischen Theaterspiele haben an sich oft keinen besonderen dramatischen Wert.7 Sie geben uns aber die Chance, ganz offensichtlich zu scheitern und dieses Scheitern mit Humor zu nehmen. Die Form fängt das Scheitern des Spielers auf, das Scheitern einer Szene, das Scheitern eines Teams. Die Zuschauer erleben im Theatersport einen Pseudowettbewerb und freuen sich sowohl auf die Spiele, die Mannschaften, die Spieler und (hoffentlich) auch auf die eine oder andere gute Story, die wir dort sehen.

Aber was, wenn wir uns künstlerische Ziele gesetzt haben, an denen wir immer und immer wieder scheitern? Was, wenn wir nicht eine Szene, sondern eine Show komplett in den Sand gesetzt haben, wenn Zuschauer, Mitspieler und wir selber davon überzeugt waren, dass die Show einfach übel war? Was, wenn die schlechte Show kein Einzelfall war? Kann man dann nicht seinen Frust ablassen? Darf man dann nicht zornig sein? Können wir nicht mal „unheiter“ scheitern?

Die Frage ist dann zunächst: Was wollen wir überhaupt? Frustpotential entsteht, wenn wir unsere Ansprüche zu hoch ansetzen.8 Wenn ich als Klavier-Dilettant innerhalb eines halben Jahres so klingen will wie Swjatoslaw Richter, werde ich unter Garantie scheitern. Wenn ich mir aber ein erreichbares Ziel setze, schaffe ich mir schneller Erfolgserlebnisse.

Für Improtheater-Anfänger ist es oft schwierig, ihre Stärken und Schwächen zu erkennen. Sie lieben vielleicht bestimmte Formate, die sie bei anderen Gruppen gesehen haben und verzweifeln, wenn sie diese nicht so gut umsetzen können. Wenn eure Stärke eher in verbaler Comedy liegt, warum solltet ihr dann auf Teufelkomm-raus musikalische Formate auf die Bühne zwingen, nur weil ihr das bei einer anderen Gruppe toll findet. Nehmt euch die Zeit, die ihr braucht, um ein Format bühnentauglich zu meistern. Aber umgekehrt solltet ihr, wenn die Früchte reif sind, nicht zu lange warten. Das Impro-Format beweist sich auf der Bühne. Gebt dem Format auch eine Chance zu scheitern.

Akzeptiert, wenn eine Show scheitert. Es gibt keinen Grund, Trübsal zu blasen. Denn in dem Moment, als ihr euch dafür entschieden habt, Improtheater öffentlich aufzuführen, seid ihr einen Pakt mit dem Impro-Teufel eingegangen: Ihr werdet großartige Momente der Kreativität erleben, ihr werdet euch selbst und einander überraschen, aber der Preis dafür ist, immer wieder mal, aus heiterem Himmel zu scheitern – in den Augen eures Publikums, in den Augen eurer Mitspieler oder vor euch selbst.

2.2Die Falle der Selbst-Etikettierung

„Ich kann nicht singen.“

„Ich assoziiere nun mal etwas langsamer.“

„Im Storytelling bin ich eher schlecht.“

Wer hat nicht schon mal diesen oder ähnliche Sätze gehört? Das Problem ist, dass uns diese Glaubenssätze einsperren. Selbst wenn wir hier und da mit einem kräftigen „Au ja!“ an den Stäben des Käfigs gerüttelt haben, schrauben wir sie durch solche Selbst-Bezeichnungen wieder fest.

Nun zeugt es sicherlich von Bescheidenheit und Selbstreflexion, wenn wir von Zeit zu Zeit unsere eigenen Fähigkeiten einer kritischen Revision unterziehen. Schließlich sind wir erst dann in der Lage, an diesen Fähigkeiten zu arbeiten. Aber es ist ganz und gar kontraproduktiv, sich von vornherein in die Position des „So bin ich nun mal“, zu manövrieren. Denn wenn ich so „bin“, dann hülfe ja alles Lernen und Trainieren nichts.

Manche Impro-Schüler sind dermaßen in dieser Geisteshaltung gefangen, dass sie sich kaum für irgendein neues Spiel, eine Übung oder ein Format einlassen. Man bittet sie auf die Bühne und sie betreten sie mit einer um Mitleid flehenden Miene, die uns sagen soll: „Na, wenn ich unbedingt muss…“ Diese Haltung zu ändern, ist die entscheidende Aufgabe beim Lehren und Lernen von Improtheater.

Aufgrund schlechter Erfahrungen trägt fast jeder ein bisschen etwas von dieser Haltung mit sich herum:

„Ich werde nun mal schnell wütend.“

„In Mathe war ich schon immer schlecht.“

„Ohne Zigaretten würde ich mich niemals richtig konzentrieren können.“

Es ist eine Sache, ein Defizit bei sich zu erkennen und daran arbeiten zu wollen. Es ist etwas anderes, dieses Defizit als unabänderliche Charaktereigenschaft zu bezeichnen:

„Wir sind doch eher eine ruhige Langform-Impro-Gruppe“, wenn der Coach anmerkt, dass die Spieler zu sehr im Nachdenken verharren.

„Mit klassischem Theater kenne ich mich sowieso nicht aus“, wenn es darum geht, sich mal fünfzig Seiten Shakespeare durchzulesen.

„Ich will mich nicht verbiegen, sondern authentisch bleiben.“

Erkenne dich selbst, aber glaube nicht, dass du unveränderbar seist.

2.3Es gibt keine Fehler – Mach was draus

Die Grundhaltung beginnt im Kopf. Ich kann jedes Phänomen in dieser Welt offenherzig oder skeptisch betrachten – egal ob einen Satz, den jemand zu mir spricht, einen Wetterumschwung, ein neues Mittagsgericht. Je skeptischer ich bin, umso unwahrscheinlicher ist es, dass ich mit dem Gesagten etwas anfangen kann, den Regentag freudig nutzen werde, mir das Gekostete schmecken wird. Je offener ich ja sage, um so mehr bin ich in der Lage, den Schwung dessen, was mir angeboten wird, auszunutzen.9

Wenn man es genau bedenkt, kann man im Improtheater gar nichts Falsches sagen; denn wir bringen ja in aller Regel fiktive Figuren und eine fiktive Welt in einem soeben geschaffenen künstlerischen Stil auf die Bühne. Insofern ist Platz für alle möglichen Dinge auf der Bühne, die einem vielleicht im ersten Moment „fehlerhaft“ vorkommen mögen.

Nehmen wir faktische Unrichtigkeiten: Angenommen, in einer Szene landen Astronauten auf dem Mars und einer von ihnen behauptet, nun endlich den größten Planeten unseres Sonnensystems besiedeln zu wollen. Die reflexhafte Reaktion vieler Impro-Spieler wird darin bestehen, der Figur des Mitspielers Dummheit oder Wahnsinn anzudichten, etwa, dass wir uns in einer Szene befinden, in der die dümmsten Menschen der Erde auf den Mars evakuiert wurden. Aber so wird jedem klar: Alle markieren nun den Satz des Mitspielers als Fehler. Eine gewandtere Variante wäre, das Ganze als Witz des Astronauten umzudefinieren, aber auch hier würde das Scheitern oder Unwissen des Mitspielers markiert. Am elegantesten wäre es, den Satz überhaupt nicht als Problem aufzufassen. Denn selbst wenn der Mars in unserer Welt nicht der größte Planet ist, so kann es doch in der fiktiven Welt auf der Bühne stimmen. Entweder aus künstlerisch Gründen oder weil wir uns in einem Paralleluniversum befinden.

Es ist die Aufgabe aller Spieler, das Spiel aufrechtzuerhalten, statt Szenen oder Dialoge durch die Markierung oder umständliche Rechtfertigung von „Fehlern“ zu verlangsamen oder gar zu stoppen. 10

Wir allein legen fest, was auf der Bühne stattfindet. Und wenn dabei eine Form entsteht, die niemand sonst bisher gespielt hat, so kann das wunderbar oder auch grottig anzusehen sein. Aber ein „Fehler“ ist es sicherlich nicht.

Was Außenstehenden am Improtheater-Spielen so ungewöhnlich erscheint, ist der Umstand, dass wir andauernd mit seltsamen und unvorhersehbaren Angeboten konfrontiert sind, auf die wir reagieren müssen. Das wirkt dann oft so, als seien die Reaktionen wahnsinnig originell, als würden die Spieler pausenlos mit neuen, verrückten Ideen um sich werfen. Dabei geschieht hier in der Regel etwas ganz anderes: Auf den unerwarteten Satz meines Mitspielers reagiere ich mit meiner Offensichtlichkeit. Ich reagiere und führe den Gedanken oder das Spiel mit Gedanken in einer für mich offensichtlichen Weise fort. Aber da diese Offensichtlichkeit eben nur meine Offensichtlichkeit ist, wirkt sie auf andere originell. Sie wird meinen Mitspieler vielleicht überraschen und ihn zu einer Reaktion die für ihn offensichtlich ist, herausfordern.

Natürlich können Szenen so schlecht sein, dass weder die Spieler noch die Zuschauer Freude daran hatten. Damit müssen wir als Improvisierer leben, und ich kenne keinen Impro-Spieler, der durch diese Hölle noch nicht gegangen wäre. Es kann sein, dass wir uns gegenseitig unterstützt haben, unsere Sätze und Gedanken weitergeführt haben, aber das alles endete im großen Nichts. Ein Trost mag sein, dass es im Laufe der Zeit immer seltener passiert. Aber es hat nichts mit „Richtig“ oder „Falsch“ zu tun. Das Einzige, was euch auch dann noch bleibt, ist, euer Scheitern heiter zu nehmen.

2.4Freiheit vor dem Urteil anderer

Die Angst, in der Öffentlichkeit zu sprechen (also das Lampenfieber), gilt im Buddhismus als eine der fünf großen Ängste.11 Sie ist im Prinzip nachvollziehbar: Wir setzen uns dem Urteil anderer aus. Und dieses Urteil kann uns, so sachlich es auch formuliert sein mag, persönlich treffen. Jeder Künstler lebt mit seinen spezifischen Kritik-Ängsten, die teilweise sehr tief sitzen. Tänzer werden für ihren Körper und ihre Bewegungen kritisiert, Sänger für ihre Stimme, Schriftsteller für ihre Sprache. Bei Improtheater-Spielern kommt vieles zusammen. Die Mannigfaltigkeit dieser Kunst – Grazie des Ausdrucks, sinnvoller Inhalt, Bewegung, Timing – all das lässt sich nicht nur genießen, sondern eben auch kritisieren. Als Impro-Spieler müssen wir uns von dieser Angst, die auf subtile Weise selbst den scheinbar lockeren Impro-Profi befällt, befreien. Dafür müssen wir drei große gedankliche Schritte gehen.

Der erste Schritt ist die Annahme, dass das, was ich mache, für mich selber OK ist. Es gibt das Klischee des etwas abgehobenen Künstlers, der sich nicht darum schert, was das Publikum von seinem Werk hält. So wichtig auch die Verbindung zum Publikum ist – eine kleine Prise dieser Abgehobenheit braucht jeder Künstler und jeder Impro-Spieler. Gäbe es sie nicht, hätte sich die Kunst nie weiterentwickelt. Hätten nicht in den 30er und 40er Jahren ein paar besessene Jazz-Musiker die alten Schemata aufgebrochen und dafür in Kauf genommen, vor kleinerem Publikum zu spielen, dann stünde Jazz immer noch auf der Stufe des Dixieland. Als Impro-Spieler weiß ich, dass ich scheitern kann. Aber ich weiß auch, dass ich ein theatrales Ziel verfolge: eine kurze Szene, ein kleines Spiel, eine Langform, eine packende Story. Und allein der Versuch ist es schon wert. Wenn es Zuschauer gibt, die sich das anschauen wollen und sogar Geld dafür bezahlen – umso besser. Wenn es einigen Zuschauern dann nicht gefällt, lohnt es sich, Gedanken darüber machen, wie man das, was man ausdrücken möchte, besser auf der Bühne kommuniziert und wie man sein Handwerk verbessert. Aber selbst erfolgreiche Filme und Bücher finden ihre scharfen Kritiker. Wenn man unsere Show nicht mag, ist das in Ordnung. Die Freude der Spieler ist nämlich ebenfalls ein legitimer Kompass.

Der zweite Schritt besteht darin, dass wir mit Kritik zu leben lernen. Kritik wird uns immer wieder begegnen, sie kann uns weiterhelfen, sie kann uns abstrus vorkommen, vielleicht erkennen wir erst Jahre später ihren Wert. Sie ist jedenfalls Teil der Abmachung „Künstler auf der Bühne“. Wer andere einlädt, ihre Zeit im Zuschauersaal zu verbringen, muss auch damit leben, kritisiert zu werden. Oder anders gesagt: Wer das Lob liebt, kann vor Kritik nicht die Ohren verschließen. Jeder muss lernen, wieviel Kritik er selbst ertragen kann. Ich kenne Kollegen, die nach der Show ihr Gästebuch nach kritischen Eintragungen abscannen, und wenn sie welche gefunden haben, entweder das gesamte Publikum verteufeln oder sich die Kritik dermaßen zu Herzen nehmen, dass sie kaum mehr ruhig schlafen können. Andere lassen Kritik völlig von sich abperlen, egal von wem sie kommt.

Ich denke, dass man sich mit der Zeit ein Immunsystem zulegen kann, das einem hilft, mit Kritik immer besser umgehen zu können. Der erste Trainings-Schritt für dieses Immunsystem besteht darin, Kritik nicht persönlich zu nehmen, selbst wenn sie auf die Person bezogen ist. Jede einzelne Kritik, egal von wem sie kommt – vom Zuschauer in der ersten Reihe, vom Impro-Lehrer, vom Techniker oder vom Pressekritiker – ist eben immer auch nur eine Stimme.

Die Angst vor dem Urteil anderer kann sich, wie wir wissen, sehr konkret äußern, und zwar selbst bei Spielern mit langjähriger Bühnenerfahrung. Zum Beispiel wenn ein Zuschauer im Publikum sitzt, vor dessen Augen wir glänzen wollen. Oder ein Vertreter eines Unternehmens, der unsere Show anschaut, da er mit dem Gedanken spielt, uns für einen hochbezahlten Auftritt zu engagieren. Oder wenn man sich bei einer Improgruppe in einem Vorspiel bewirbt. Das Scheitern wird uns wahrscheinlich in solchen Situationen nicht so leicht fallen wie in einer Show, bei der das missglückte Synchronisations-Spiel vergessen ist, sobald das Publikum wieder „Fünf-vier-drei-zwei-eins-Los!“ gerufen hat. Welche äußere Situation die Angst auslösen kann, mag bei jedem unterschiedlich sein. Wichtig ist, sie zu erkennen und mit ihr umzugehen.

Und so kommen wir zu dem dritten Schritt