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2. Auflage 2015

© 2015 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

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Redaktion: Dr. Carina Heer

Umschlaggestaltung: Kristin Hoffmann

Umschlagabbildung: © Melanie Nador, www.foto-nador.com

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN Print 978-3-86882-567-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-742-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86415-743-1

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Inhalt

Ein Wort vorab

I. Mein Leben vor der Diagnose

Appetit auf das Leben

»Ich will« und »Ich werde«

Primaballerina

Westpakete

Die Wende

Das erste Mal

Jo-Jo

Schlecht beraten I: Nadeln gegen dicke Beine

Lipödem und Liebeskummer

Verlockungen

Bühne frei

Barack Obama und die Rubens-Damen

Eine Frage des Typs

Du bist, wie du bist

Weise Frauen

Ein Stück Freiheit

Phantomschmerzen der Seele

Verwundbarkeit

Verzweiflung

Schlecht beraten II: Ein Teufelskreis

Liebe und Lipödem

Richtig abnehmen

II. Mein Leben mit der Diagnose

Unglaube

Fieberhafte Recherche

Ein Stiefkind der Wissenschaft

Was ist Lipödem?

Stadien

Die Notwendigkeit abzugrenzen: Fehldiagnosen und ihre Folgen

Behandlungsformen: Die konservative Therapie

Behandlungsformen: Die operative Therapie

Kompression, Kälte und Ausdauersport: Was Lipödem nicht schmeckt

Die Diagnose

Delfinschwimmen

Sekt und Tränen

Im richtigen Licht

Dicke Beine in der BILD

Nachbeben

Vorglühen

Die erste Operation

Wie neu

Strandlauf

Die zweite OP

Die dritte OP

III. Mein Leben danach

Leichtigkeit

Ein Wort zum Schluss

Danke!

Test nach Prof. Cornely

Über die Autorin

Ein Wort vorab

Mit fast vierzig Jahren fing ich ein neues Leben an. Grund war nicht etwa eine neue Liebe, ein neuer Job, ein Tapetenwechsel oder eine Weltreise. Es war eine Diagnose, die mich rettete. Ich erfuhr, dass ich krank war. Meine Erkrankung war bereits fortgeschritten, und mein Zustand würde sich weiter verschlechtern, wenn ich nichts dagegen unternahm.

Sie können sich nicht vorstellen, wie froh mich dieses Wissen machte. Seit Langem litt ich unter Schmerzen und Beschwerden, die ich nicht zu deuten wusste.

Ständige Diäten hatten mich zermürbt, mein Essverhalten war unausgewogen und mein Körper war mir – wenn nicht Feind – ein Fremder geworden.

Jahrzehntelang hatte ich ihn mehr oder weniger erfolgreich bekämpft: sanfte und radikale Diäten, Fastenkuren, alle erdenklichen Trendsportarten, die versprachen, sogenannte Problemstellen anzugreifen: Hypotaxi (Training im Vakuum mit Überdruck), PowerPlate (Muskeltraining auf einer Vibrationsplatte), EMS (Muskeltraining mit Strom)… die Liste ließe sich beinahe beliebig lang fortsetzen.

Ich hatte zig verschiedene Ärzte aufgesucht, darunter einen Hypnosepraktiker, eine Psychologin und eine Heilpraktikerin. Niemand hatte mir helfen können: Meine Arme und Beine wurden immer dicker und unförmiger.

Die Erklärungen, die man mir anbot, waren unterschiedlich, aber sie alle basierten auf ein und derselben Grundannahme: Meine körperliche Deformierung habe ganz allein mit mir zu tun. Mit mangelnder Disziplin. Faulheit. Heißhunger. Einem dunklen Fleck in meiner Kindheit, einem Erlebnis, das sich meiner Erinnerung entzog und mich hässlich machte.

Ich. War. Selbst. Schuld.

Das hatte ich längst verinnerlicht.

Die Diagnose war wie ein Freispruch. Jahrelang hatte ich an mir gezweifelt. Mein Arzt half mir nun, meinen Körper zu verstehen, und nicht nur das, er machte begreiflich, warum ich mich so gequält hatte. Meine Geschichte stand endlich unter den richtigen Vorzeichen. Und ich erfuhr auch, dass ich mit meiner Erkrankung nicht alleine war.

Seit über zwanzig Jahren litt ich an »Lipödem«, einer nur bei Frauen auftretenden, genetisch bedingten Fettverteilungsstörung an Beinen und Armen bei ansonsten häufig wohlproportioniertem Rumpf. Schlanke Taille, aber dicke Oberschenkel, schmerzhafte »Reiterhosen«, Polster im Bereich der Oberschenkelinnenseiten, säulenartig geformte Beine bis zum Knöchel, Fettablagerungen an den Knien. Die Hände und Füße der Betroffenen bleiben schlank und vollkommen unauffällig.

Unabhängig von Diäten, Ernährungs- und Sportprogrammen werden die betroffenen Gliedmaßen immer dicker und unförmiger, Patientinnen leiden unter Spannungsschmerzen, Berührungs- und Wetterempfindlichkeit. Nach langem Sitzen oder Stehen schwellen die Beine an. Überdurchschnittliche Hämatom-Bildung und ein deformiertes Hautbild (Dellen, Lappen- und Wulstbildung) sind weitere Symptome, viele Betroffene kämpfen außerdem mit Folgeschäden wie Knie- und Gelenkproblemen.

Bleibt die Krankheit lange unerkannt, führt der verzweifelte – und vergebliche – Versuch der Betroffenen, ihr Figurproblem in den Griff zu kriegen, nicht selten direkt in die Essstörung.

Noch gibt es keine Studien über die Häufigkeit des Lipödems, aber aktuelle Erhebungen gehen von etwa elf Prozent Betroffenen innerhalb der weiblichen Bevölkerung aus. Diese Zahl entspricht etwa vier bis fünf Millionen erkrankten Frauen in Deutschland.

Lipödem ist heute eine von Ärzten noch oft verkannte Erkrankung. Patientinnen werden in vielen Praxen nicht ernst genommen, sie werden als bewegungsmüde, undiszipliniert, labil, essgestört oder gar adipös angesehen und falsch oder überhaupt nicht behandelt. Das Unverständnis der Umwelt und der permanente, aussichtslose Kampf gegen das überschüssige Fett belasten die Psyche und das Körpergefühl der Betroffenen. Alles gerät aus dem Gleichgewicht.

Im Volksmund hat die Krankheit, unter der viele Mädchen und Frauen leiden, ohne es zu wissen, einen unschönen Namen: Elefantenbeine. Ich habe von Betroffenen gehört, die diesen Begriff weit von sich weisen, sie empfinden ihn als zusätzliche Diskriminierung und wehren sich gegen die Namensverwandtschaft mit der Krankheit »Elephantiasis« (auch »Elephantitis«), die vor allem in tropischen Regionen infolge einer Infektion auftritt. Auch die Assoziation mit David Lynchs berühmtem Filmdrama »Der Elefantenmensch« mit John Hurt in der Rolle des von einer Krankheit entstellten und stigmatisierten John Merrick erscheint vielen unpassend.

Ich sehe das anders. Für mich drückt das Wort in all seiner Drastik und Bildlichkeit aus, worum es bei dieser Krankheit geht: um etwas Hässliches, Grobes und Schmerzhaftes. Eine Krankheit, die monströse Formen annehmen kann und die Betroffene stigmatisiert.

Dieses Buch widme ich allen Frauen, die Ähnliches erlebt haben wie ich. Ich schreibe es, um aufzuklären und die Krankheit bekannter zu machen. Wenn ich mit meiner Geschichte einem einzigen jungen Mädchen ersparen kann, was ich durchgemacht habe, ist mein Ziel erreicht.

I.

Mein Leben vor der Diagnose

Appetit auf das Leben

Ich wurde im mecklenburgischen Waren an der Müritz geboren, ein Kind des Ostens. Mit knapp sechs Wochen kam ich ins Krankenhaus, ich litt an einer seltenen und gefährlichen Form der Gelbsucht. Wochenlag lag ich auf der Säuglingsstation und schrie mir die Seele aus dem Leib. Es war meinen Eltern und Großeltern damals nicht gestattet, mich zu besuchen. Zuwendung gab es nur vom Krankenhauspersonal während der Essenszeiten, während ärztlicher Stippvisiten und unangenehmer Untersuchungen. Mein Großvater, der damals als Maurer auf dem Klinikgelände beschäftigt war, erzählte oft, wie sehr er während dieser Wochen auf der Arbeit litt: Immer wenn er ein Baby schreien hörte, dachte er, ich sei es – und wollte zu mir und durfte nicht.

Als meine Eltern mich nach über einem Monat mit nach Hause nehmen durften, war ich verstummt. Tags und nachts lag ich reglos in der schönen Bastwiege, die meine Mutter geerbt hatte, und gab keinen Mucks von mir. Nur mein Blick verriet Neugier.

Zur Erleichterung meiner Mutter zeigte sich bald mein wahres Temperament: Ungewöhnlich früh sprach ich die ersten Worte und mit zehn Monaten redete ich bereits wie ein Wasserfall in ganzen Sätzen. Ich plapperte, sang, lauschte verzückt dem Gitarrenspiel und den Geschichten meines Vaters, wenn er mich abends ins Bett brachte, und liebte Bewegung. Ich aß auch gerne. Heute denke ich, vielleicht habe ich mir meinen Appetit auf das Leben im Krankenhaus geholt, auf der stillen, sterilen Säuglingsstation im Schwenziner Krankenhaus.

»Ich will« und »Ich werde«

Schon als kleines Mädchen war ich reiselustig, eine Entdeckerin und ein Dickschädel. Im Osten waren Kinderkuren verbreitet. Man schickte Jungen und Mädchen mit Asthma und Neurodermitis nach Jugoslawien und Kinder, denen nichts fehlte, auf prophylaktische Erholungsreisen in die nähere Umgebung. Staatliche Fürsorge wurde in der DDR großgeschrieben, und heute denke ich, man ließ keine Gelegenheit aus, um die künftigen Staatsbürger nach den Idealen der Partei zu formen.

Als Plätze für eine sechswöchige Kur in Glossen bei Bautzen frei wurden, hob ich sofort die Hand. Damals war ich im Kindergartenalter, nicht mal sechs Jahre alt. Ich weiß nicht mehr, was ich mir genau unter einer Kur vorstellte, aber ich erinnere mich, dass ich unbedingt reisen wollte. »Ich will« und »Ich werde« waren in meiner Gedankenwelt ein und dasselbe – und ich ließ nicht locker, bis meine Mutter ihren Widerstand aufgab und mich schweren Herzens zur Kur anmeldete. Ich wollte nicht etwa fort von zu Hause, weil ich mich dort nicht wohlfühlte – im Gegenteil, ich wuchs in einer liebevollen Umgebung auf, sehr behütet und mit vielen Freiheiten. Aber gegen meine Abenteuerlust war einfach kein Kraut gewachsen.

Noch heute erinnere ich mich mit Schrecken an die Wochen in Glossen. Kaum war ich angekommen, nahmen Erzieher mir meine heiß geliebte Babypuppe weg und gaben sie an andere Kinder weiter. Alles Weinen und Betteln half nichts. Meine Puppe hieß »Annemie« und war ein Geschenk meiner Eltern. Als man sie mir aus den Armen riss, setzte augenblicklich das Heimweh ein. Im Laufe der kommenden sechs Wochen würde es sich immer weiter steigern und schier unerträglich werden.

Das Landschulheim – ein ehemaliger Herrensitz mit geräumigen Sälen und langen, hallenden Fluren – lag eine Trabi-Tagesreise von Waren entfernt, und es gab keine Besuchszeiten. Auch Gespräche nach Hause waren untersagt – und ohnehin besaßen meine Eltern kein Telefon. Wir Kinder durften essen, so viel wir wollten, aber die Getränke waren rationiert.

Ich erinnere mich noch an die Momente, wenn die Erzieher uns auf dem Spielplatz oder abends vor dem Zubettgehen unsere Post vorlasen. Mutti, Papa und meine Großeltern schrieben jeden Tag mehrere Postkarten, und kaum hörte ich die erste Zeile, flossen die Tränen. Die anderen Kinder – manche älter, manche weniger eigensinnig als ich – versuchten mich zu trösten.

»Madlen weint ja«, rief eines erschrocken und bekam als Antwort einen Satz zu hören, der mir in die Glieder fuhr.

»Sie weint nicht – das ist nur der Wind, der ihr in die Augen pustet«, erklärte eine Erzieherin, die wir nur »Die böse Herta« nannten, ungerührt.

Auch eine andere Szene ist mir noch lebhaft in Erinnerung. Ich sitze alleine im großen Speisesaal vor meinem halb vollen Teller und stochere mit der Gabel im Gulasch, das eben noch so lecker war. Wer nachholt, muss auch aufessen, heißt es hier, und solange der Teller nicht leer ist, wird nicht aufgestanden. Alle anderen Kinder sind bereits auf ihren Zimmern, es gibt nur mich, das Gulasch und die Blicke der bösen Herta. Der Teebecher ist ausgetrunken und ich habe einen trockenen Mund, aber nachfüllen darf ich nicht.

Ich weiß nicht, wie lange ich so dasaß. Irgendwann übergab ich mich auf den halb leeren Teller – ich tat es absichtlich und gezielt, das gelang mir als kleines Mädchen immer dann, wenn ich sehr wütend war – und so durfte ich endlich aufstehen, ohne aufzuessen.

Heute weiß ich, warum man uns nicht so viel trinken ließ, wie wir wollten. Wer tagsüber und abends wenig trank, musste nachts nicht auf Toilette, so einfach war das. War das Licht im Flur und auf den Zimmern gelöscht, war es uns verboten, unsere Betten zu verlassen.

Jeder weiß, dass es sich mit voller Blase nicht gut schlafen lässt. Einmal, als ich partout keine Ruhe gab, zog mich eine Erzieherin an den Haaren aus dem Bett. Eine Szene, die ich nicht vergessen werde. Gedemütigt zu werden ist ein entsetzliches Gefühl.

Neben solchen Übergriffen vor aller Augen gab es die kleinen, nicht so offensichtlichen, unter denen ich mindestens ebenso litt. Jeden Morgen entschied eine Erzieherin oder ein Erzieher, was wir anzogen. Von den Strümpfen bis zum Pullover blieb nichts uns Kindern überlassen. Für ein selbstständiges Mädchen, wie ich es war, eine Katastrophe. In Glossen lernte ich, was es heißt, fremdbestimmt zu sein, eine Erfahrung, auf die ich heute gut verzichten könnte.

Als ich mit meiner geliebten Annemie im Arm nach Hause kam, plapperte ich ohne Unterlass. Neu war, dass ich jedes Wort mehrfach wiederholte, wie eine gesprungene Platte. Es dauerte Wochen, bis ich mich wieder beruhigt hatte – zurück blieben heißes Glück und Dankbarkeit. Endlich war ich wieder zu Hause.

Meine Mutter erzählt noch heute mit einer Mischung aus Faszination und Grauen davon, wie ich im Kindergartenalter gegen ihren Willen nach Glossen zur Kur fuhr. Im Rückblick verrät mir diese Episode viel über das kleine Mädchen, das ich einmal war, und vielleicht sogar über die Frau, die ich heute bin.

Schon immer wollte ich meinen eigenen Weg gehen – und in meiner Jugend glaubte ich, nichts könnte mich aufhalten. Dieser Eigensinn ging mit einer gewissen Einsichtigkeit einher: Wenn ich eine falsche Abzweigung genommen hatte, stand ich auch dafür gerade. Nie hätte ich zum Beispiel meine Mutter für die harten Wochen in dem Landschulheim bei Bautzen verantwortlich gemacht; sie hatte mir schließlich von der Reise abgeraten.

Meine Entschiedenheit oder, aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, meine Sturheit und meine Bereitschaft, für einmal begangene Fehler einzustehen, prägten später auch den Umgang mit meinem Körper. Nichts wünschte ich mir sehnlicher als ein paar schlanke, wohlgeformte und vor allem beschwerdefreie Beine, und um dieses Ziel zu erreichen, scheute ich keine Anstrengung. FDH, Slim-Fast, Herbalife, diverse Eiweißdiäten, Almased, HCG, Heilfasten und basische Ernährung – einmal versuchte ich sogar, mir den Finger in den Hals zu stecken. Gott sei Dank ist mir das nicht geglückt, womöglich wäre ich sonst noch in die Bulimie abgerutscht.

Mit nie ermüdendem Eifer stürzte ich mich in jede neue Trenddiät. Obwohl die Kilos purzelten, blieben meine Beine unförmig. Ich hungerte so radikal, dass mein Körper auf Notversorgung umschaltete und den Grundumsatz senkte. Phasenweise blieb sogar meine Periode aus. Kaum aß ich wieder normal, speicherte er alle Energie in den Fettzellen. Der Jo-Jo-Effekt schlug voll zu. Ich suchte bei mir selbst die Schuld und entschied, die nächste Diät noch disziplinierter einzuhalten. Unmerklich brachte ich dabei nicht nur meinen Stoffwechsel, sondern auch meinen Hormonhaushalt aus dem Gleichgewicht.

Ein Teufelskreis, in dem viele Mädchen und Frauen gefangen sind. Wie Sisyphos rollst du einen Felsblock eine Anhöhe hinauf, und immer wenn der Gipfel in Sicht kommt, entgleitet er dir. Er kullert bis ganz ins Tal hinunter, und du kletterst hinterher, fest entschlossen, die Aufgabe das nächste Mal zu bewältigen. Während du dich abmühst, quälen dich Selbstzweifel, Versagensängste. Jedes Mal, wenn du wieder ins Tal hinabsteigst, kannst du dich ein bisschen weniger leiden.

Primaballerina

Zuerst wollte ich Sängerin werden. Dieser Wunsch wurde in unserer Zwei-Zimmer-Wohnung in Waren geboren, wo mein Vater abends an meinem Bett saß, Gitarre spielte und sang. Volkslieder, Schlager, Wiegenlieder, Beatles-Songs. Bald sangen wir gemeinsam, auch zweistimmig. Dann begleitete er mich auf der Gitarre. Wenn die letzten Töne verklangen, ver­ehrte er mir mit breitem Lächeln eine Plastikrose und applaudierte, während ich mich vor ihm – meinem ersten Publikum – verbeugte.

Ein paar Jahre später kamen meine Leidenschaft fürs Schauspielen und die Begeisterung für den Tanz dazu. Man schrieb die 80er-Jahre, Michael Jacksons Moonwalk versetzte Teenager in Ekstase, der Tanzfilm wurde mit »Fast Forward«, »A Chorus Line« und »Himmlische Körper« revolutioniert. Dann kamen »Anna« und »Dirty Dancing«, ich hätte jede Szene mitsprechen können, mittanzen, vorwärts und rückwärts.

In unserer Kleinstadt in Mecklenburg träumte ich davon, wie Jennifer Beals in »Flashdance« mit nackten Beinen, Wollstulpen und einer eigenen Choreografie den Sprung in die staatliche Tanzausbildung zu schaffen. Zugegebenermaßen waren Beals nackte Beine ein nicht ganz unwesentlicher Bestandteil dieses Traums, auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnte, dass meine eigenen mich nur wenige Zeit später hindern würden, überhaupt vortanzen zu dürfen.

Mit zwölf Jahren gehörte ich der städtischen Tanzgruppe und der Tanzgruppe unserer Schule an. Als »Tanzduo Dani und Madlen« rockten meine Freundin und ich die Kleinstadtbühnen in Waren und Umgebung; ein Stuhltanz zu »My Love Is A Tango«, Choreografien zu Tiffanys Hit-Single »I Think We’re Alone Now«, Bros’ »When Will I Be Famous« und Yellos »The Race«, Tanzwettbewerbe, Freestyle.

Etwa zu dieser Zeit begriff ich, dass bei mir etwas anders war als bei den meisten meiner Freundinnen. Ich konnte tanzen, daran hatte ich keinen Zweifel, ich war dehnbar und beweglich, hatte ein sicheres Gefühl für Musik und Rhythmus und eine rasche Auffassungsgabe für neue Schritte und Choreografien. Aber ganz egal, wie leicht ich mich auf der Bühne fühlte: Meine Beine wirkten schwer. Sie waren dicker als die der anderen, und ihre Form gefiel mir nicht.

Als ich meiner Mutter mein Leid klagte, schüttelte sie nachsichtig den Kopf. »So sind wir Frauen halt«, sagte sie mit einem Blick auf die Dellen an meinem Oberschenkel, die ich zwischen Daumen und Zeigefinger presste. Fürs Erste gab ich mich mit dieser Antwort zufrieden, aber die Tatsache, dass die Beine meiner Mutter sehr viel schmaler und schöner geformt waren als meine eigenen, weckte schon damals Skepsis in mir.

Ungefähr zu der Zeit, als die ZDF-Weihnachtsserie »Anna« mit der jungen Silvia Seidel im Fernsehen ausgestrahlt wurde, bewarb ich mich an einer Ballettschule. Im Osten gab es drei staatliche Schulen: in Dresden, Leipzig und Berlin. Eines Tages entdeckte ich in der städtischen Tageszeitung, der sogenannten »Freien Erde« (nach der Wende umbenannt in »Nordkurier«) die Ankündigung eines Vortanzens an der Staatlichen Ballettschule in Leipzig. Mein Entschluss stand sofort fest: Ich würde vortanzen und mein Bestes geben. Natürlich begann ich sofort, meine Mutter zu beknien, sie müsse mit mir dorthin fahren.

Erst vor Kurzem habe ich erfahren, dass meine Mutter das Unglück schon kommen sah, als ich mich mit glühenden Wangen über die Bewerbungsunterlagen beugte. Ich weiß, dass sie während der ganzen eintägigen Autofahrt in unserem orangeroten Lada hoffte, es würde nicht zu hart für mich werden, und dass es ihr in der Seele wehtat, ihrer einzigen Tochter diese Enttäuschung nicht ersparen zu können. Trotz dieser Gewissheit – und obwohl sie ihre einzige Tochter ohnehin nicht unbedingt in einer Internatsschule sehen wollte – fuhr sie mit mir den weiten Weg nach Leipzig. Dafür bin ich ihr heute noch dankbar. Erfahrungen sind da, um gemacht zu werden. Ist es nicht so?

Ich erinnere mich nicht mehr daran, wie das Gebäude aussah, in dem die Ballettschule untergebracht war – aber ich sehe noch die Schülerinnen und Schüler in ihren tollen Tanzklamotten vor mir: Stulpen, Bodys, Spitzenschuhe, hautenge Lycra-Anzüge. Davon konnten Dani und ich in Waren nur träumen. In der DDR kam man im Allgemeinen nur sehr schwer an spezielle Tanzsachen und Stoffe, in unserer Kleinstadt war es unmöglich. Unsere Auftrittskostüme bestanden aus abgelegten Klamotten, Fahnenstoff, altem Innenfutter oder eingefärbten Bettlaken. Sie waren in liebevoller Kleinarbeit handgefertigt – von Danis Tante und meiner Großmutter.

An diesem Tag trug ich einen Badeanzug mit albernen schwarzen Punkten. Doch das war mir egal. Schon bald würde ich zwischen den anderen Mädchen in einem modernen Trikot im Spiegelsaal an der Stange stehen. Bald würde diese wunderbare Welt der Ballettschule auch meine sein.

Nach dem Warmmachen wurden wir in einen kleinen Saal gerufen. Etwas beklommen musterte ich meine Mitbewerber. Kein Zweifel, ihre Beine sahen anders aus als meine.

»Egal«, ermutigte ich mich selbst. »Nachher tanzt du sie alle an die Wand.«

Zu zehnt standen wir in einer Reihe vor der Jury. Dann kamen die Blicke.

»Du, du, du – danke, dass ihr gekommen seid«, verkündete eine Frau so sachlich, als würde sie beim Bäcker ein Brot bestellen. Den Ausgang dieses Abenteuers hatte ich mir anders vorgestellt. Mit trockener Kehle bat ich um eine Begründung.

»Sie müssen mich doch tanzen sehen«, sagte ich flehend, ganz Jennifer Beals in »Flashdance«, und die Dozentin antwortete mit einem knappen Kopfschütteln:

»Ungeeignet. Ihre Beine sind zu kräftig, und die Körperproportionen stimmen nicht.«