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Heide John

 

Ein Herz für Männer

 

Roman

Copyright der E-Book-Ausgabe © 2012 bei hey! publishing, München

Originalausgabe © 2002 bei Blanvalet / Wilhelm Goldmann Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Umschlaggestalltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

 

ISBN 978-3-942822-20-6

 

 

Von Heide John zuletzt bei hey! erschienen:

Und wer küsst mich? Roman

 

www.heypublishing.com

Meta

 

Nun küss mich doch endlich! Aber nein, noch ein Sätzchen und noch eins.

»Ach, und von Claudia habe ich dir auch nichts erzählt …«

»Claudia?«, fragte ich ratlos, »von welcher Claudia?«

»Ach, Meta, die Kleine mit den langen blonden Haaren – die alle Jungs so klasse fanden.«

Es handelte sich also vermutlich um eine unserer ehemaligen Klassenkameradinnen. Leider konnte ich mich beim besten Willen nicht an Claudia erinnern. Genauso wenig übrigens wie an die vielen anderen Leute, deren Leben mir Barbara in diesen beiden Tagen in Hannover detailliert geschildert hatte. Mir schwirrte der Kopf. Mit wie vielen Namen und Lebensgeschichten hatte mich diese Quasselstrippe eigentlich bombardiert? Mit zehn, zwanzig, fünfzig? Egal. Ich war mir jedenfalls absolut sicher, dass ich mindestens vier Tage brauchen würde, bis ich all die Klatschgeschichten aus meinem Kopf herausgefiltert und in der Schublade »Vergiss es« abgelegt haben würde. Abgelegt im Fach für unwichtige und unangenehme Erlebnisse.

Zum Glück rollte mein Zug ein. Erwartungsgemäß warf Barbara mir ihren Körper entgegen. Küsse, feuchter Atem, vorgetäuschte Innigkeit. Brust an Brust. Wonderbra an Standardmodell. Barbara verfügte über im Fitnessstudio gestylte Kräfte und drückte mich heftig, gerade so, als wäre ich ihre Geliebte, die jetzt keinesfalls in den Zug, sondern sonst wo einsteigen sollte. Ihre Körperkraft war allerdings das einzig männliche Attribut an dieser fehlfarbig blondierten Plaudertasche. Ich nahm mir vor, mich für den Rest meines Lebens daran zu erinnern, dass meine Kindheitsfreundin wesentlich besitzergreifender war als jeder Mann, der bislang meinen Weg gekreuzt hatte.

»Ach, Meta«, stöhnte Barbara, »wie schrecklich, dass du schon wieder fahren musst.«

Wie oft hatte ich dieses »ach« gehört? »Ach, Meta«, jeden zweiten Satz leitete die Neunundzwanzigjährige im Jackie-O-Kostüm mit dieser unsäglichen Floskel ein.

Zögernd – bloß nicht zu viel Enthusiasmus in die Stimme legen – antwortete ich: »Tja, Barbara, so geht alles …«

Und wie immer ließ sie mich nicht ausreden. Bereits mein zweites Wort war falsch und musste unbedingt korrigiert werden: »Ach, Meta, Bärbel, nicht Barbara.«

Natürlich! Wie konnte ich das vergessen? Cirka 780 Mal hatte Barbara mich in den beiden Tagen, die ich bei ihr in Hannover verbracht hatte, darauf hingewiesen, dass sie sich nun Bärbel und nicht mehr Barbara nannte.

»Bärbel«, erwiderte ich betont gelassen: »Ich muss einsteigen, sonst fährt der Zug ohne mich ab.«

»Das wäre nicht das Schlechteste, Meta, dann würde ich dich einfach in den Golf packen und wieder mitnehmen. Ich finde es schauderhaft traurig, dass du schon wieder fahren musst. Es war nämlich ein ganz, ganz tolles Wochenende. Beim nächsten Mal besuche ich dich in Köln. Ganz bald.«

Das klang natürlich nur in meinen Ohren wie eine Drohung, und selbstredend fragte Barbara nicht, ob ich das Wochenende auch »ganz, ganz toll« fand, denn Zweifel passten nicht in ihr Repertoire. An dem Satz »Bleib bloß, wo du bist«, erstickte ich fast, aber ich wahrte die Form, schließlich bin ich ein höflicher Mensch.

»Du kannst mich ja bei Gelegenheit mal anrufen, tschüss, Barb… Bärbel.«

Sie drückte mir noch einen dritten überaus feuchten Kuss auf den linken Mundwinkel. Dann stand ich endlich auf dem Trittbrett.

»Winke, winke«, schrie sie.

»Ciao«, schrie ich zurück. Oh, ich war ihr entronnen! Was für ein riesengroßes Glück.

Ich versuchte, mich und meine kleine blaue Reisetasche von der ersten bis zur zweiten Klasse durchzuschlagen. Der Zug war ziemlich voll, aber ich wollte unbedingt ein Raucherabteil finden und möglichst eines, wo ich allein sitzen konnte. Bloß nicht reden. Dann wurde es auch noch eng. Eine Frau mit Kinderwagen blockierte den Gang. Umständlich kramte sie in ihrem überdimensionierten Bree-Rucksack. Vermutlich suchte sie ihre Platzreservierungskarten. Es gibt nichts Umständlicheres als Mütter mit kleinen Kindern.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich, um meinem Ziel, ebenfalls einen Sitzplatz zu finden, endlich näher zu rücken, aber sie schüttelte nur den Kopf und wühlte in aller Ruhe weiter.

Drei Waggons weiter fand ich endlich ein relativ leeres Abteil. In den nächsten drei Stunden wollte ich aus dem Fenster starren, ohne auch nur einem einzigen Menschen mein Gehör schenken zu müssen. Erleichtert ließ ich mich auf den Sitz plumpsen.

Kaum hatte ich mich bequem zurechtgerückt, fragte ich mich, wie ich mir das hatte antun können. Was für eine bodenlose Dummheit, fast dreihundert Kilometer in die Vergangenheit zu reisen, nur um eine alte Freundin zu besuchen. Wenn ich brav in meiner gemütlichen Wohnung unterm Dach geblieben wäre, hätte ich an diesem Montagmorgen garantiert bessere Laune gehabt. Aber nein, ich hatte mich verlocken lassen. Und das hatte ich nun davon: Ich war von Grund auf erschöpft und fühlte mich, als hätte ich an zwei aufeinander folgenden Tagen am Köln-Marathon teilgenommen und jeweils die Bestzeit erzielt.

Vorrangig hatte es an Barbaras penetranter Überzeugungskraft gelegen. Schon als Teenager war sie mehr als hartnäckig. Sie bettelte, flehte, drohte und gab keine Ruhe, bis sie das bekam, was sie haben wollte. Daran hätte ich mich erinnern sollen, als Barbara mich vor vier Monaten – nach jahrelanger freundschaftlicher Abstinenz – anrief. Ich war maßlos überrascht, als mir an einem ungemein friedlichen Sonntagvormittag Anfang Februar eine weibliche Stimme durch den Hörer entgegen schallte, die in einer ziemlich hohen Stimmlage flötete: »Hey, hab ich dich endlich!«

Unbeholfen antwortete ich: »… wer hat mich?«

»Du bist die Meta«, sagte die Frau.

Das war mir keinesfalls neu, und mit den Worten »stimmt genau« reagierte ich weniger ironisch, als ich es mir gewünscht hätte und fragte ratlos und ungeschickt: »Und wer bist du?«

»Du musst raten!«

Zwei Dinge sind mir wirklich verhasst. Lange Telefonate und sinnlose Ratespiele. Jeder, der mich kennt, weiß das. Also schloss ich daraus, dass mich die Frau am anderen Ende der Leitung nicht besonders gut kannte. Noch bevor ich den Mund erneut öffnen konnte, überfiel mich ihr zweiter Satz.

»Ach, Metalein, erkennst du meine Stimme wirklich nicht?«

Die Stimme erschien mir immer noch fremd, aber das »Ach« und auch das »Metalein« kamen mir sehr bekannt vor. Barbara, meine ehemals beste Freundin Barbara Wollmacher. Bereits im fünften Schuljahr pflegte sie jeden Satz mit einem »Ach« einzuleiten, und ab der siebten Klasse mutierte ich zum »Metalein« oder, wenn ich Glück hatte, zu »Metalina«.

»Barbara?«, flüsterte ich erstaunt.

»Bärbel«, antwortete sie. »Ich nenne mich jetzt Bärbel, aber, Gratulation und Glückwunsch, du hast es prompt erfasst.«

Komische Umkehrung, hatte ich damals spontan gedacht, Bärbel passt besser zu einem jungen Mädchen und Barbara passt besser zu einer Frau. Aber logischerweise bleibt die Wahl des Rufnamens jedem selbst überlassen. Doch überrascht war ich wirklich. Seit mindestens fünf Jahren hatte ich nichts mehr von ihr gehört.

Während unserer Schulzeit waren wir allerbeste Freundinnen. Barbara tat keinen Schritt ohne Meta und Meta keinen ohne Barbara. Wir fuhren morgens mit dem gleichen Bus zur Schule, wir saßen meistens in derselben Bank, wir machten nachmittags gemeinsam unsere Hausaufgaben (wenn wir sie machten) und gingen beinahe allabendlich ins Jugendzentrum oder in die Disco. Oft schliefen wir sogar in einem Bett. Bei ihr oder bei mir. Wir schrieben uns Buchstaben auf den Rücken und lasen auf diese Weise ganze Sätze, die direkt aus dem Herzen der anderen kamen und schwer auszusprechen waren. Zur gleichen Zeit entdeckten wir unsere Körper, und es gab nur wenige Gedanken, die ich vor Barbara verbarg. Busenfreundinnen eben.

Inzwischen habe ich festgestellt, dass Beziehungen zu Männern niemals die Intensität und vielleicht nicht einmal die Qualität erreichen können, die Mädchenfreundschaften auszeichnet. Wobei man sich, glaube ich zumindest, im weiteren Verlauf seines Lebens auch niemandem mehr so unbedingt und hemmungslos öffnet wie der ersten, allerbesten Freundin.

Nur zwei Dinge haben uns damals voneinander unterschieden: Ich war besser in der Schule, und Barbara hatte mehr Chancen bei den Jungs. Zur Strafe litt sie allerdings ständig unter massivem Liebeskummer. Zwei Mal beschloss sie sogar, nicht mehr leben zu wollen. Sobald ihre Mutter am Morgen die Wohnung verlassen hatte, rief sie an, um mir mitzuteilen, dass sie sich jetzt umgehend die Pulsadern aufschneiden würde. Ungewaschen sprang ich in die Klamotten und auf meine heiß geliebte Zündapp. An diesen Vormittagen zeigte Barbara mir stolz die kaum sichtbaren Ritzer mit den Rasierklingen, die sie vom jeweiligen Liebhaber ihrer Mutter stibitzt hatte. Sie weinte lange und ausgiebig, ich tröstete sie, wir lagen uns in den Armen, streichelten uns Kopf und Rücken und beschlossen auf ewig zusammenzubleiben, zur gleichen Zeit Kinder unterschiedlichen Geschlechts in die Welt zu setzen, damit diese sich später ineinander verlieben konnten. Seelenverwandtschaft. Unser Nachwuchs sollte die Rolle einnehmen, die uns versagt blieb. Ich würde einen Sohn zur Welt bringen und Barbara eine Tochter. Die beiden würden, sobald sie halbwegs erwachsen waren, ein traumhaftes Liebespaar abgeben.

Ich hatte »Paul und Virgine«, diese großartige Liebesgeschichte aus dem 18. Jahrhundert gelesen, und obwohl mir klar war, dass sich die Zeiten geändert hatten und dass weder Barbara noch ich wichtig oder außergewöhnlich genug waren, um von der Gesellschaft verstoßen zu werden, dachten wir uns eine moderne Version dieser Legende aus. Unsere Kinder würden im zivilisierten 21. Jahrhundert erwachsen werden und eine ideale Partnerschaft erleben dürfen. Und wir beiden lebens- und welterfahrenen Mütter würden uns von Zeit zu Zeit einen Mann gönnen, um unsere sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen.

Dass Sex wichtig ist, hatten wir nämlich von Barbaras Mutter gelernt, die uns ab unserem vierzehnten Lebensjahr gerne und ausführlich darüber belehrte, wie wichtig Männer für Frauen sind.

»Sex macht schön«, pflegte sie zu sagen.

Auf Erika Wollmacher traf dieser Satz allerdings nicht unbedingt zu, denn Erika wurde nicht schöner, sondern lediglich älter. Barbaras Eltern waren geschieden, und wenn Tochter Barbara den jeweiligen Freunden erstmals vorgestellt wurde oder wenn Restaurantbesuche anstanden, durfte ich dabei sein.

»Dann können sich die Mädchen auch unterhalten«, kicherte Erika und blinzelte ihrem Lover verheißungsvoll zu.

Das hieß natürlich nichts anders als »dann ist der lästige Teenager beschäftigt, und wir haben mehr Zeit für uns.«

Barbaras Mutter war eine egoistische und strenge Frau, der man deutlich anmerkte, wie sehr sie sich auf die Zeit freute, wo Barbara endlich aus dem Haus sein würde. Wenn ich heute darüber nachdenke, bin ich fest davon überzeugt, dass Erika Wollmacher für die Mutterschaft nur wenig geeignet und überdies nymphomanisch veranlagt war.

Erikas einzige Tochter Barbara hatte viel von ihrer Frau Mama geerbt. Während unserer Schulzeit galt sie als äußerst begehrenswert, und das war zugegebenermaßen nicht leicht für mich. Sie war nicht wirklich hübscher und erst recht nicht klüger als ich. Später begriff ich, dass die Jungs ihre Kleinmädchen-Allüren niedlich und anziehend fanden. Barbara war weich, nachgiebig, ein bisschen naiv – und sie versprach, eine »richtige Frau« zu werden. Ganz im Gegensatz zu mir.

Von Zeit zu Zeit war ich neidisch auf Barbaras weibliche Attitüden, meistens dann, wenn meine Mutter mahnend ihre Stimme erhob und zischte: »Meta, für ein junges Mädchen bist du viel zu spröde.«

Nichtsdestotrotz: Schon damals hätte ich um nichts in der Welt mit Barbara tauschen mögen. Schließlich konnte ich bei den Gesprächen mit unseren Klassenkameraden und Freunden stets mithalten – außer wenn es um Sport ging –, und zum Glück bewies mir jeder Blick in den Spiegel, dass mein Gesicht im Gegensatz zu Barbaras kein gefälliges Durchschnittsgesicht war.

Jetzt, wo wir beide fast dreißig Jahre alt sind, begreife ich erst, wie glücklich ich sein darf, mich auf eine andere Art und Weise entwickelt zu haben. Wenn man es bösartig ausdrücken wollte, könnte man sagen, dass Barbara bis zum heutigen Tag nichts anderes ist als ein spätpubertierendes Weibchen.

Eigentlich lächerlich, und doch habe ich mich damals tagelang über diese Kussgeschichte aufregen können. Offenbar konnte Barbara nämlich besser küssen als ich. Zumindest lag sie immer unglaublich lange in den Armen dieser ebenfalls von der Pubertät gebeutelten Knaben und knutschte heftig und ausdauernd, während ich spätestens nach zwei Minuten nach Luft und Distanz rang und meinen Mund wieder von dem dieser Michaels, Pauls oder Achims zu lösen versuchte.

Torsten hieß der Widerling, der mir meine Unfähigkeit sogar persönlich bestätigt hat. Er war der Einzige, den ich nach Barbara küsste. Es war nämlich ein ehernes, felsenfest in meinem Kopf verankertes Gesetz, mich niemals in jemanden zu verlieben, der zuvor mit Barbara zusammen war. Wie recht ich damit hatte, wurde mir durch meine kurze Liaison mit Torsten nachhaltig bestätigt. Ich war ziemlich verliebt in dieses attraktive Großmaul und litt Qualen der Eifersucht in den zwei Wochen, wo Bärbel mit ihm herumschmuste. Dann interessierte Torsten sich plötzlich für mich, und ich konnte diesem pickellosen, wortgewandten Knaben schlichtweg nicht widerstehen. Großzügig verzieh ich ihm die Knutschereien mit Barbara, zumal er mir bereits am ersten Tag erzählte, dass er über Barbara nur versucht hätte, an mich ranzukommen. Das erschien mir zwar nicht unbedingt logisch, weil wir Torsten gemeinsam in der Disco kennen gelernt hatten, aber ich wollte ihm nur allzu gerne glauben und fuhr an diesem Abend allein nach Hause. Ich fiel ausnahmsweise nicht in Barbaras Bett und sie nicht in meins, und ich war sehr, sehr glücklich.

Für den nächsten Nachmittag hatte Torsten mich zu sich nach Hause eingeladen. Ich zog meine beste Jeans und mein engstes T-Shirt an und begriff in der ersten Stunde, was der Knabe wollte. Mit mir ins Bett. Nichts anderes. Ich sagte ihm, dass mir das zu schnell ginge. Er fragte zuerst, ob ich etwa noch Jungfrau sei, was ich, ohne rot zu werden, bejahte, und anschließend, wann ich denn bereit wäre, mit ihm zu schlafen. Ich erwiderte, das würde von der Intensität unserer Beziehung abhängen, und ich ginge davon aus, es könne ungefähr in einem halben Jahr so weit sein. Torsten lachte. Ich freute mich über seine Fröhlichkeit, aber leider hatte ich ihn missverstanden.

»Das ist doch nicht dein Ernst«, prustete er.

»Doch, doch«, wisperte ich zärtlich und versuchte, ihm eine widerspenstige Locke aus der Stirn zu streichen.

Und wenn ich hundert Jahre alt werde: Das vergesse ich nie! Der gute Torsten stand unverzüglich auf und fauchte, ich solle doch nicht so zickig sein, schließlich sei die Virginität (das Wort musste ich später im Wörterbuch nachschlagen) nichts Heiliges und eine Meta keine Maria.

Wir stritten, und unser Wortwechsel endete mit den bereits erwähnten und vielleicht wahren, auf jeden Fall aber verletzenden Worten: »Ich dachte, du wärst etwas fixer, dann kann ich ja auch Barbara noch mal anbaggern. Was das Küssen angeht, ist die auf jeden Fall um einiges talentierter als du.«

Da kam auch ich endlich auf die Füße, straffte die Schultern, riss mich zusammen und hielt die Tränen zurück, bis ich mich mit meinem Mofa auf dem Nachhauseweg befand. Leer geweint und stinkwütend fuhr ich direkt zu Barbara. Ich drängte sie in ihr Zimmer.

»Hast du etwa mit ihm geschlafen, du dumme Kuh?«

Barbara war verwirrt.

»Mit wem?«, stotterte sie.

»Mit Torsten, du Ziege«, herrschte ich sie an.

Meine beste Freundin zögerte kurz und raunzte: »Na, fast«.

Damit wusste ich genug. Also nur die üblichen Petting-Geschichten, nichts weiter.

»Besten Dank«, schnaubte ich und rannte zum zweiten Mal an diesem Tag davon. Barbaras Auskunft beruhigte mich und stellte mich fürs Erste zufrieden, sie war also auch noch nicht weiter als ich.

Dennoch, ein paar Tage knackte ich daran, dass Barbara offenbar einen Vorzug hatte, den ich nicht besaß, und einzig und allein dieser Gedanke führte dazu, dass ich noch in der gleichen Woche mit irgendeinem Kerl ins Bett ging. Holger hieß er, wenn ich mich richtig erinnere, aber das war unwichtig. Er war mir gleichgültig. Alles war mir gleichgültig. Wichtig war einzig und allein: Ich wollte vor Barbara mit einem Mann geschlafen haben. Deshalb war ich auch bereits eine knappe Stunde nach meiner Entjungferung bei ihr, um mit meinem Vorsprung zu prahlen.

Und das ist mir auch gelungen! Barbara starrte mich entgeistert an: »Du hattest versprochen, wir machen das gemeinsam.«

Ich lachte aus vollem Hals, obwohl mir ein ganz anderes Gefühl in der Kehle steckte. »In einem Bett am besten, ja? Ein gemischtes Doppel, was?«

Barbara war entsetzt. Derart heftige Reaktionen war sie von mir nicht gewohnt. Ich weiß es bis heute nicht genau, aber es könnte sein, dass dieses unschöne Erlebnis die erste ernst zu nehmende Kerbe in unsere Freundschaft schlug.

Direkt nach dem Abitur war ich nach Köln gezogen, um dort Biologie zu studieren. Barbara blieb in Hannover und machte eine Lehre als Großhandelskauffrau. Anfangs telefonierten wir häufig, aber zumindest mir entging nicht, dass wir uns zunehmend mehr voneinander entfernten. Ich fand sie oberflächlich und entwickelte eine stoisch verschwiegene Abneigung gegen ihre unsäglichen Liebesgeschichten, die sie mir am Telefon in epischer Breite zu schildern pflegte. Eines Tages beschloss ich, sie einfach nicht mehr anzurufen, aber Barbara stellte erneut ihre Beharrlichkeit unter Beweis, schrieb Kärtchen und Briefe und besprach meinen Anrufbeantworter mit Erlebnissen aus ihrer Berufs- und Freundeswelt.

Das dauerte so lange, bis sie Michael kennen lernte. Michael nahm ihre ganze Liebe und offenkundig auch ihre gesamte Freizeit so sehr in Anspruch, dass sie mich langsam aus dem Gedächtnis verlor. In den ersten beiden Jahren ihrer Beziehung kamen noch die obligaten Glückwunschkarten zum Geburtstag und zum Weihnachtsfest. Weil ich darauf nicht reagierte, blieben auch die nach einer Weile aus.

Seit meiner Jungmädchenzeit hat sich eine ganze Menge verändert. Spätestens seit der Geschichte mit Torsten glaube ich, dass Männer das schwächere Geschlecht sind. Ich gehe von Zeit zu Zeit mit einem ins Bett und habe sogar Spaß daran. Aber es gibt unendlich viele Dinge, die mich viel mehr interessieren als das klassische Rein-Raus-Spiel. Allerdings kann ich unumwunden zugeben, dass ich mich heutzutage lieber mit einem guten Lover beschäftige, als auch nur eine Stunde mit Barbara zu verbringen. Und ich muss gestehen, dass ich bislang nicht besonders viel Glück mit meinen Beziehungen hatte.

Jedenfalls hatte ich in den letzten fünf Jahren nur noch selten an sie gedacht. Ich war erwachsen geworden, stets beschäftigt und hatte hier in Köln viele sympathische Leute kennen gelernt. Aber immer wenn mir Barbara in den Sinn kam, dachte ich mit einer gewissen Rührung an sie und unsere gemeinsame Zeit. Schließlich hatte ich beinahe meine gesamte Jugend mit ihr verbracht.

In den Stunden, die Barbaras erstem Anruf folgten, war von dieser Rührung nur noch wenig übrig geblieben. Schon dieses Geplänkel mit »Ach« und »nicht Barbara, Meta, sondern Bärbel« hätte mich vorsichtig stimmen , müssen. Wir plauderten beiläufig über dieses und jenes, über ihre Mutter und meine, über Michael, über ihre Arbeit – und wir beschlossen, uns in näherer Zukunft wiederzusehen. Für mich konnte diese »nähere Zukunft« allerdings auch im übernächsten Jahrzehnt liegen. Ich bin da nicht so.

Meine Einstellung änderte sich im Wonnemonat Mai, weil mein Selbstwertgefühl zu dieser Zeit leider ziemlich angeschlagen war. Wenige Tage vor Weihnachten war meine Beziehung zu Bernd in die Brüche gegangen. Und das, obwohl ich Bernd, mit dem ich zwei Jahre lang zusammen war, liebte und vielleicht sogar immer noch liebe. Es kommt mir selbst verdächtig vor: Immer wenn ich an ihn denke oder von ihm rede, gerate ich ins Schwärmen. Der gute Bernd konnte auf Menschen eingehen, er konnte Fragen stellen, er war ziemlich beweglich, was das Leben und die Welt anging, und er zeigte seine Gefühle. Mein Exfreund Bernd verfügte über eine Form von sozialer Intelligenz, die man bei Männern selten antrifft. Auch Bernd ist Biologe, aber einer mit Feingefühl. Kein reiner Experimentator. Ein neugieriger Zeitgenosse. Trotzdem ging es nicht gut mit uns beiden. Wahrscheinlich klingt es befremdlich, aber kurz vor meinem neunundzwanzigsten Geburtstag fühlte ich mich plötzlich eingeengt. Von einem Tag auf den anderen entwickelte sich in mir das Gefühl, eine so enge Beziehung zu einem Mann müsse zwangsläufig auf eine Hochzeit und zwei Kinderchen hinauslaufen. Keins von beiden passte in meinen Lebensplan. Dazu fühlte ich mich schlichtweg nicht reif genug. Bernd hingegen wollte Sicherheit, er strebte nach diesem klassischen »auf immer und ewig«. Ich ging immer häufiger aus, ohne ihm zu sagen, wohin ich gehen würde. Bernd begriff nicht, dass ich ihm damit etwas sagen wollte, dass ich versuchte, auf diese Art und Weise meine Angst vor zu wenig emotionaler Distanz auszudrücken und meinen Wunsch nach mehr Freiheit artikulierte. Aber wenn etwas nicht den gängigen Beziehungsklischees entsprach, die seine glücklich verheirateten Eltern ihm und seinen Geschwistern vorgelebt hatten, weigerte mein Ex sich standhaft, dies auch nur in den Grundzügen zu akzeptieren. Als ich anfing, von einer offenen Beziehung zu reden, was so viel bedeuten sollte wie: Jeder schläft vorläufig, mit wem er will, schaute Bernd mich ratlos und fragend an – und begann mit seiner Form des Entzugs. Ohne dass ich es wollte, verabschiedete er sich innerlich von mir. Mir war nach einem freiheitlichen Miteinander, nach einer lockeren Beziehung, nach mehr Eigenständigkeit, und ich wollte anders leben als unsere spießigen Eltern. Paradoxerweise strebte ich gleichzeitig danach, dass Bernd mich festhalten und beschützen sollte, dass er mir sagen würde, unsere Beziehung sei völlig anders als die anderer Leute, sie sei einmalig und unauflöslich. Inzwischen glaube ich, dass ich vor allem darauf wartete, dass er mir befehlen würde, endlich mit dem blödsinnigen Gequatsche aufzuhören, weil Bernd und Meta das perfekte Paar und füreinander geschaffen seien. Jeden Satz könnte ich dem Mistkerl heute vorgeben. Aber ich hatte ihn gekränkt und verunsichert mit meinem Vorschlag, und er sagte nichts von all dem. Er entzog sich. Er verweigerte jedes Gespräch über diese Themen. Und ich schwieg ebenfalls. Wir kochten bei mir oder bei ihm, wir sprachen über die Uni, wir gingen ins Kino, wir luden Leute zum Essen ein, und nach einem weiteren halben Jahr war es vorbei. Befriedete Langweile. In scheinbar gegenseitigem Einvernehmen trennten wir uns. Ich litt unter der Trennung, aber ich war zu stolz, um erneut auf Bernd zuzugehen, meine idiotischen Vorschläge zurückzunehmen und ihn darum zu bitten, uns eine zweite Chance zu geben.

Stattdessen tröstete ich mich mit dem schönen Jens. Und diese fischblütige Null hatte es gewagt, mir nach knapp vier Monaten den Laufpass zu geben. Obwohl all das, was zwischen Jens und mir in den wenigen Wochen unserer Affäre geschehen war, rein gar nichts mit großer Liebe zu tun hatte – und auch ich, ehrlich gesagt, oft mit dem Gedanken gespielt hatte, Schluss zu machen war ich entsetzt. Äußerlich genügte der schöne Jens sämtlichen Ansprüchen, aber in Bezug auf ein partnerschaftliches Miteinander war er ein absoluter Versager. Jens ging es einzig und allein um aktive Unternehmungen, bei denen der Sport im Mittelpunkt stand: Joggen im Stadtwald, Schwitzen beim Squash, gymnastische Übungen in seinem oder meinem Bett. Für mich und mein Leben interessierte er sich einen feuchten Kehricht. Emotional hatte ich mich sechzehn Wochen lang in der Diaspora befunden, allein gelassen mit mir und meiner Gefühlswelt.

Aber als dieser Kretin mich eines schönen Nachmittages beim Joggen am Adenauer Weiher mit dem Satz überfiel, »sorry, Meta, aber ich hab mich unsterblich verknallt«, war ich nicht nur sauer, sondern vor allem maßlos enttäuscht. Und plötzlich war ich keinesfalls bereit, Jens widerstandslos aufzugeben. Es ist ja im Leben leider oft so, dass man genau das haben will, was man nicht haben kann. Obwohl ich genau wusste, wie irrational (um nicht zu sagen dämlich) mein frisch aufgekeimtes Verlangen nach diesem egomanischen Rohling war, kämpfte ich eine geschlagene Woche darum, ihn zurückzugewinnen. Aber da war nichts zu machen!

Jens ließ sich zu einer Abschiedsgala in meinem Bett unterm Dach herab, küsste mich anschließend gönnerhaft auf die Stirn, warf ein lässiges »du bist echt ne tolle Frau, Meta, aber gegen wahre Liebe ist eben kein Kraut gewachsen« in meine Richtung und verließ meine Wohnung. Ich hätte mir ob meiner eigenen Blödheit in den Allerwertesten treten können und warf bedauerlicherweise spontan meine Lieblingsvase gegen die Wohnungstür.

Anschließend war meine Selbstachtung völlig im Keller, ich fühlte mich hundsmiserabel, und einzig und allein aus diesem Grund kam mir Bärbels Vorschlag gar nicht so unrecht. Vielleicht würde mir ein bisschen Ablenkung gut tun.

Nachdem Barbara also ungefähr fünfzehn Mal angerufen hatte, ließ ich mich darauf ein, Anfang Juli in meine alte Heimatstadt zu fahren. Meine Jugendfreundin hatte mich sogar so weit gebracht, die Rückfahrt auf Montagmorgen zu legen. 6.00 Uhr früh. Was für ein Wahnsinn!

Aber dann hatte ich es endlich geschafft! Kurz vor 9.00 Uhr war ich wieder dort, wo ich hingehörte. Einer der für Köln typischen Taxifahrer beförderte mich vom Bahnhof nach Hause.

»Schönet Wetter, wat Fräulein, da freun mir uns aber …«

Immer zu einem Schwätzchen bereit, diese Deutsch-Griechen, Deutsch-Türken, Deutsch-Kölschen. Ich blieb einsilbig, obwohl ich diese unverbindlichen Schwätzchen eigentlich liebe, aber ich hatte mein Redepulver verschossen und mochte den Mund nur noch öffnen, um Ja oder Nein zu sagen.

Das änderte sich rapide, als ich aus dem Taxi stieg und direkt Fritz Lessander, unserem Hausbesitzer, in die Arme lief. Diesen Mann fand ich schon bei unserer Begegnung anziehend. Er wirkte souverän, gebildet und sah ziemlich gut aus. Als Gespiele oder Partner kam er natürlich keinesfalls in Frage, zumal er viel zu alt für mich war. Aber er löste wie immer ein leichtes Beben in mir aus, und in seiner Gegenwart wurde ich, wie so oft, verlegen.

Er wünschte höflich »Guten Morgen« und ließ es sich nicht nehmen, mich zu fragen, wie es um meine Befindlichkeit stünde.

»Äh, gut«, stotterte ich und errötete. »Und wie geht es Ihnen, Herr Lessander?«

»Danke, ebenfalls gut.«

Das war garantiert eine Lüge, denn er machte einen gestressten Eindruck, und ich bildete mir ein, ein paar neue Krähenfüße zu sehen, die vergangene Woche noch nicht da waren.

»Sie gehen also hinein und nicht wie sonst um diese Uhrzeit hinaus, Frau Staudt?«

»Was?«, fragte ich und korrigierte mich sogleich. »Wie bitte?«

»Sie betreten das Haus, obwohl Sie sonst um diese Uhrzeit zur Universität gehen, meine Liebe, und Sie haben nicht einmal eine Tüte mit Brötchen in der Hand, die auf einen freien Tag und ein ausgedehntes Frühstück schließen lassen würde.«

Wie aufmerksam von ihm!

»Ich war übers Wochenende verreist, Herr Lessander, und heute habe ich frei«, antwortete ich und bemerkte verärgert, dass ich mich benahm, als wäre ich vor kurzem fünfzehn Jahre alt geworden.

»Wie schön, dann genießen Sie Ihren freien Tag, Frau Staudt. Bis bald.«

Und schon war er entschwunden. Keinen der Hausbewohner traf ich so häufig im Flur wie Fritz Lessander. Stets richtete er das eine oder andere freundliche Wort an mich, und es imponierte mir, dass er nie über das Wetter redete. Eine Bemerkung wie »was für ein Wetter heute!«, die ich regelmäßig mit »na, immer noch besser als gar keins« kommentiere, kam in Lessanders Wortschatz nicht vor.

Ich stellte meine Tasche im Flur ab, um bei meiner Schwester Jill zu klingeln, aber dann fiel mir ein, dass Alexander um diese Uhrzeit noch zu Hause sein würde, und ich ließ es bleiben. Auf eine Begegnung mit meinen Schwager hatte ich keine Lust, zumal er unter Garantie darüber lästern würde, wie gut es die modernen Frauen hätten, die keiner geregelten Beschäftigung nachgehen mussten. Jill würde ich abends ohnehin treffen. Montags gingen wir nämlich gemeinsam zum Yoga in die Flandrische Straße.

Nachdenklich stiefelte ich unser prächtiges Treppenhaus mit den Buntglasfenstern hinauf und schaute im Vorübergehen auf die Türen der Menschen, mit denen ich unter einem Dach lebe. Unter dem wohl geformten Dach der Wiedstraße 4. Einem mehr oder minder anonymen Mehrfamilienhaus in Köln. Eine Adresse, eine Hausnummer. Sonst nichts!

Sonst nichts? Anonym? Nein, das kann man so nicht sagen! Ich weiß, wer hier wohnt. Kenne alle Namen, alle Gesichter, alle Bewohner und plaudere mit jedem, sobald sich die Gelegenheit ergibt. Was ich nicht weiß, denke ich mir. Nicht umsonst interessiere ich mich, seit ich denken kann, für die Psychologie meiner Mitmenschen.

Im Erdgeschoss wohnen die prolligen Gröllmanns, bei denen sich vermutlich jeder hier insgeheim fragt, wie sie in dieses »Bessere-Leute-Haus« geraten sind. Allerdings macht Heinz Gröllmann uns den Hausmeister. Im ersten Stock links wohnt meine Schwester Jill mit ihrem Mann Alexander Marz. Immer wenn ich die beiden gemeinsam erlebe, werden mir sämtliche Vorteile meines Single-Daseins bewusst. Rechts von ihnen wohnt der etwas biedere Kurt Tellur mit seiner behinderten Schwester Elsie. Er verhält sich ihr gegenüber stets unglaublich nett und fürsorglich, und ich wüsste allzu gern, wie er dazu gekommen ist, sich um seine Schwester zu kümmern. Aber all meinen vorsichtigen Fragen nach seinen und Elsies Eltern ist er bislang geschickt ausgewichen. Über ihnen wohnt Fritz Lessander nebst Gattin Hilde, die einen überaus gepflegten Eindruck macht, bei der ich aber das Gefühl nicht los werde, dass sie dem Alkohol oder irgendwelchen Stimmungsaufhellern zuspricht. Links von Lessanders leben die beiden entzückenden Lesben Tara Schrat und Klara Merker. Tara ist hier in Köln eine lokale Größe, sie moderiert bei KPR2 den täglichen Radiotalk. Im dritten Stock logiert Katharina Legrand, die sich mit aller Kraft ihrem Alterungsprozess widersetzt, mit ihrem jungen Galan August Perle, den auch ich nicht von der Bettkante stoßen würde, wenn er mir nicht bei den meisten Gesprächen im Hausflur vermitteln würde, dass er die Intelligenz nicht gerade mit Löffeln gefressen hat, wie man so schön sagt. Das mag aber auch daran liegen, dass diese auffällige alte Dame über ein unglaubliches Charisma verfügt. Neben ihr wirkt jede andere Person blass und unbedeutend.

Eine der im Verhältnis zu den anderen kostengünstigeren Wohnungen unter dem Dach bewohne ich. Links von mir lebt Clarissa Salz, die ähnlich aufdringlich ist wie meine gute Bärbel, mit der ich mich aber in den letzten beiden Jahren angefreundet habe, weil sie trotz ihrer häufig penetranten und nervigen Nachfragerei eine sympathische und hilfsbereite Person ist. Tja, und rechts von mir wohnt die wunderschöne und nicht immer leise Fußpflegerin Inka Brabant.

Es ist eine sehr bunte Mischung von normalen Menschen, die diesem Wohnhaus Leben einhaucht. Obwohl, ganz normal sind sie eigentlich nicht, wie sich in diesem in jeder Hinsicht heißen Sommer herausstellte.

Irmgard Gröllmann

 

Als Meta Staudt und Fritz Lessander vor dem Haus standen und plauderten, befand sich Irmgard Gröllmann wie jeden Morgen auf ihrem Aussichtsposten. Sie hatte den grünen Wohnzimmervorhang im Erker ein Stück zur Seite geschoben und ein schweres Brokatkissen auf die Fensterbank gelegt, das ihren üppigen Busen stützte. Eher gelangweilt starrte sie auf die Wiedstraße, bis sie Lessander und Meta erspähte. Der erste Gedanke, der ihr in den Sinn kam, war: »Sieh mal einer an, was die Studentin aus dem Obergeschoss für rote Bäckchen kriegt, nur weil der alte Charmeur ihr ein paar freundliche Wörtchen flüstert. Da heißt es aufpassen, Mädel, sonst steigt dem dein frisches Fleisch so in die Nase, dass ihm die Pfötchen zucken.«

Neugierig schob sie ihren Oberkörper ein gutes Stück nach vorne, passte aber auf, dass sie nicht zu sehr ins Blickfeld geriet. Denn darauf achtete Irmgard mit peinlicher Sorgfalt: Ihr Ausguck war sicher, und nur sehr aufmerksame Beobachter, die gründlich und zweimal hinschauten, konnten sie entdecken. Bei aller Neugier wollte Irmgard stets eine gewisse Form von Sitte und Anstand wahren. Und alles und jeden zu beobachten gehörte nun einmal nicht zu den Dingen, die man als anständig und wohlerzogen zu bewerten pflegte. Hätte Irmgard sich verhalten können, wie es ihren ureigenen Bedürfnissen und ihrer Anlage entsprach, hätte sie das Fenster bis zum Aber selbst in dem traditionsreichen Arbeiterviertel in Gelsenkirchen, wo Irmgard ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte, war sie häufig damit konfrontiert worden, dass man sich über ihre Mutter aufregte oder lustig machte.

»Die hat wohl nichts Besseres zu tun«, lästerten die Leute, oder: »Die sollte mal besser auf ihre Blagen aufpassen, vor allem auf die Kleene, die sich jetzt schon mit die Kerle rumtreibt.«

Mit »die Kleene« war sie, Irmgard, gemeint gewesen, die früh in die Pubertät gekommen war und bereits im zarten Alter von dreizehn Jahren für die großen, von ihr übertrieben angeschwärmten Jungen aus der Nachbarschaft die Beine breit machte. Der Grund dafür war allerdings nicht das blanke Vergnügen gewesen, das die Nachbarn dem Mädchen unterstellten, sondern ihr Elternhaus und ihr ungestilltes Bedürfnis nach Liebe, Zuneigung und ein bisschen Zärtlichkeit. Der Vater fuhr mit dem LKW durchs Land, und die Mutter war mit der Erziehung ihrer vier Kinder total überfordert und griff zur Flasche, sobald sie sich unbeobachtet glaubte. Der ständige Rauschzustand, in den sie sich durch den billigen Korn oder Weinbrand aus den Flachmännern vom Konsum, Edeka oder notfalls vom Kiosk versetzte, führte dazu, dass Irmgards Mutter jeden, der an ihrem Fenster vorbeikam, hemmungslos angequatscht und, was noch schlimmer war, ausgefragt hatte.

Irmgard war diese Marotte als Kind mehr als peinlich gewesen. Dass das Nichtvorhandensein eines wie auch immer gearteten Schamgefühls damit zu tun hatte, dass ihre Mutter soff, begriff sie erst viele Jahre später, als diese längst an einer Leberzirrhose erkrankt war und im Krankenhaus qualvoll vor sich hin starb.

Bombenfest hatte Irmgard hingegen daran geglaubt, dass einer ihrer Freunde sie über kurz oder lang aus diesem lieblosen Haushalt befreien würde, indem er sie als weiß gekleidete Braut über die Schwelle einer funkelnagelneu eingerichteten Wohnung tragen würde. Frauen heirateten, und damit sie geheiratet wurden, mussten sie sich dem potenziellen Kandidaten zuvor eben hingegeben haben. Schließlich wollte niemand die Katze im Sack kaufen. So hatte Irmgard zumindest all die verschlüsselten Botschaften in den Zeitschriften gedeutet, die sie ausgiebig studierte, wenn sie ihre Mutter alle drei Wochen zum Friseur begleiten durfte. Auf ihre Haare hatte Irmgards Mutter nämlich stets höchsten Wert gelegt, selbst als ihre Kleidung zunehmend eintöniger und schmuddeliger wurde. In ihren letzten Lebensjahren trug sie selten etwas anderes als ein kleinkariertes Kittelkleid. Aber den Friseurbesuch vergaß sie niemals. Waschen, schneiden, legen.

Wenn Irmgards Vater einmal wöchentlich einen Zwischenstopp in Gelsenkirchen einlegte, forderte er sein Gattenrecht ein. Sein Geschnaufe war in dem Zimmer, das die drei Ältesten sich teilten, nicht zu überhören, und auch auf das aufgeregte Geschnatter ihrer Mutter konnten die Kinder sich schon früh einen Reim machen.

Erst mit sechzehn dämmerte Irmgard, dass sie falschen Ideen nachgehangen hatte: Die Jungs buhlten zwar um sie, weil sie hübsch, sexy und leicht zu erobern war, aber es ging ihnen letztendlich nur darum, Irmgard aufs Kreuz zu legen. An eine Hochzeit dachte keiner der um einige Jahre älteren Knaben. Im Gegenteil: Zwei Tage nach ihrem siebzehnten Geburtstag sagte einer ihr offen ins Gesicht: »Eine Hure wie dich wird garantiert keiner heiraten. Nie und nimmer.«

Mit einundzwanzig hatte sich dieser Satz bewahrheitet, der Irmgard zwar erschreckt, an dessen Treffsicherheit sie aber trotzdem nicht' geglaubt hatte. Ihre Schwestern, selbst die jüngste, waren längst verheiratet, ihre Klassenkameradinnen ebenso. Nur für sie war auch in weiter Ferne kein Ehemann in Sicht. Dumm war Irmgard nun wirklich nicht, deshalb überlegte sie, was zu tun sei, und beschloss, ein neues Leben zu beginnen. Sie zog nach Köln, fand einen Job als Fabrikarbeiterin bei der Wicherath AG und ging lediglich samstags mit einer ihrer Arbeitskolleginnen zum Tanzen in die Satory-Säle. Dort lernte sie drei Monate später Heinz kennen. Den kleinen, unscheinbaren Heinz, der so schüchtern war, dass Irmgard ein geschlagenes halbes Jahr brauchte, bis sie ihn so weit ermutigt hatte, dass er vorsichtig nach ihrem Busen griff.

Ihr Traummann war Heinz Gröllmann gewiss nicht, aber er war fleißig, verständnisvoll und heiratswillig. So traten die beiden im Jahr darauf in den heiligen Stand der Ehe. Irmgard hatte ihrem Heinz gestanden, dass sie keine Jungfrau mehr war. Und der kleine Heinz hatte zwar bedauert, dass ihm das lang ersehnte Vergnügen einer Entjungferung in der Hochzeitsnacht versagt bleiben sollte, aber er hatte es akzeptiert, weil er nie im Leben damit gerechnet hatte, eine so rassige Frau wie Irmgard heimführen zu dürfen. Genau wie Irmgards Vater arbeitete Heinz als LKW-Fahrer. Aber im Gegensatz zu ihm beklagte Heinz sich nie über seinen harten Job, obwohl er oft mehr als vierzehn Stunden hinter dem Lenkrad saß.

Zehn Monate später kam ihre erste Tochter zur Welt, und Irmgard, die sich auch früher nie um Verhütung gekümmert, sondern stets auf ihr Glück vertraut hatte, wunderte sich. Zehn bis zwanzig Schäferstündchen und hopps war ein Kind im Bauch. Was der kleine, kräftige Heinz so alles auf den Weg brachte …

Aber auch als verheiratete Frau geriet Irmgard schnell ins Trudeln. Kaum war die kleine Janine auf der Welt, genügte ihr Heinz nicht mehr. Sie fand es schrecklich langweilig und unbefriedigend, in der kleinen Wohnung mit dem plärrenden Kind eingesperrt zu sein, und ließ sich knapp sieben Monate später auf ein Verhältnis mit Heinzens Speditionschef ein.