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Susanne von Loessl

Mal Cashmere, mal Persil

Roman

Copyright der E-Book-Originalausgabe © 2015 bei hey! publishing, München

Originalausgabe © 1994 bei Langen Müller

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-95607-178-2

www.heypublishing.com

Anna Sander stand mit ihrem Wagen an der Verladerampe des Autozuges in Niebüll. Regen klatschte an die Scheiben, der Wind tobte sich in den Silberpappeln aus. Die Tagestemperatur betrug 17 Grad, schließlich war Sommer. Genauer gesagt, Mitte August.

Es ist eigentümlich, wenn Katastrophen auf einen zukommen, herrscht, um dem Ganzen noch mehr Würze zu geben, nieseliges Herbstwetter, plötzlicher Wintereinbruch, ein mieser Sommer, oder man hat zumindest eine saftige Erkältung. Irgend etwas kommt mit Sicherheit als kleines Extra hinzu: das Sahnehäubchen des Schicksals. Bei Anna hatte sich das Schicksal für den miesen Sommer entschieden. Die lauen Sommerabende fanden in diesem Jahr im Pullover statt oder bei voll aufgedrehten Heizungen.

Anna wußte nicht, wie sie es bis Niebüll geschafft hatte, sie fühlte sich leer, hohl, ausgeheult. Ganz abgesehen davon, war sie in ihrem Zustand eine permanente Verkehrsgefährdung, aber in solchen Fällen setzt der liebe Gott offenbar einen pummeligen Schutzengel auf den Kühler, eine Art »Himmlischen Airbag«.

An Annas Scheibe wurde geklopft.

»Nun machen Se mal, daß Sie weiterkommen! Die Ampel ist grün, andere wollen auch noch mit! Ich hasse Frauen am Steuer und ganz besonders schwerhörige!«

Der Dicke im bischofslila Freizeitlook tippte sich an die Halbglatze und verschwand.

Anna hatte das Hupen nicht gehört, sie war immer noch unter Schock. Heinrich, Annas Heinrich seit über zwanzig Jahren, wollte sie verlassen. Wollte weg von ihr. Nicht mehr mit ihr zusammenleben.

Anna wurde in die untere Hälfte des Autozuges eingewiesen. Kein Gefühl von Freiheit und Abenteuer, bei der Fahrt über den Hindenburgdamm. Wieder so ein kleines Extra: unten. Fast dunkel. Viel Eisen und dicke Drahtseile.

Gedankenverloren betrachtete Anna ihren – was stand da – Autozug-Sylt-Beförderungsschein. Sie las, daß sie eine Preisberechtigungslänge bis 6 Meter hatte. Ihr Gehirn nahm langsam den Normalbetrieb wieder auf.

Was auf solchen und ähnlichen Scheinen an verquerem Deutsch zustande kommt, treibt einem die Nackenhaare zur fröhlichen Punkerbürste. Solche Sätze zu bauen muß doch mit einem enormen Zeitaufwand verbunden sein.

Anna faltete den Schein – großes N, Nummer 0243576 – zusammen, sah noch, daß oben rechts »Gültig zur Rückfahrt 2 Monate« stand, na dann.

Ratternd und schaukelnd verließen sie Klanxbüll. Klanxbüll, dachte Anna, da möcht ich nicht tot überm Zaun hängen. Na also. –

Der Zug durchfuhr die feuchten, dem Meer abgewonnenen Wiesen. In dieser territorialen Grauzone kämpfen Mensch und Meer seit ewigen Zeiten gegeneinander, mal gewinnt der eine, mal der andere. Hier hatte der Mensch gewonnen, es weideten Schafe auf der Wiese und – typisch Schaf – nicht eines sah zu dem vorbeirauschenden Zug hoch; aber wahrscheinlich fahren mittlerweile schon so viele Züge auf die Insel, daß die Schafe nicht mehr zum Fressen kämen, wenn sie jedesmal hochgucken würden, dachte Anna.

Diesmal standen die Schafe zur Linken, Gott sei Dank! Jeder weiß, stehen sie rechts, können sie einem gleich zu Beginn eine Reise vermiesen. Der Einfluß des Schafes auf das menschliche Wohlbefinden.

Anna dachte zum ersten Mal in den letzten vierundzwanzig Stunden etwas ganz anderes. War sie auf dem Wege der inneren Erholung, Genesung, Besserung? Man wird sehen. Jedenfalls ganz so trist waren ihre Gedanken nicht mehr, ließen sie doch schon wieder »Allgemeines« zu.

Sie kramte in der Tüte, die ihr in Niebüll von einer Regenjacke mit Kapuze zugesteckt worden war. Darauf stand in großen Lettern: DAS LEBEN IN SEINER GANZEN FASZINATION GENIESSEN! Am liebsten hätte sie die Tüte aus dem Fenster gefeuert, aber das darf und macht man nicht. Aus purer Langeweile blätterte Anna in den beigelegten Zeitschriften, wohlbemerkt, keine neuen Zeitschriften, auch Remittenden müssen unter die Leute!

Sie las ihr Horoskop. Sie las es zweimal. STIER 21.4.-20.5. »Führt nach außen hin eine Vorbildehe, hat VENUS im Zeichen. Intern nervt …« – das stand da wirklich, so salopp »… nervt der Partner mit Lapalien; MARS: unterstützt Seitensprunggefahr. Den Tip, daß sie im Urlaub die Sonnencreme mit hohem Lichtschutzfaktor nicht vergessen sollte, den las sie schon nicht mehr. Das andere war das Wichtige und traf 100 % ins Schwarze.

Anna, die sonst solchen Astro-Schnickschnack gar nicht ernst nahm, war betriebsblind in ihrem Kummer. Denn sollte diese Voraussage allgemein zutreffen, müßte eine Welle von Trennungen und Scheidungen die Welt erfassen, zumindest bei den Stiergeborenen. Außerdem war die Zeitung vom 15. Juni und wahrscheinlich nicht einmal von diesem Jahr. Anna riß die Seite aus, um sie Christiane zu zeigen.

Christiane hatte Anna gestern abend telefonseelsorgerisch betreut, sie zu mindestens zwei Gläsern Rotwein verdonnert und befohlen: »Morgen kommst du auf die Insel. Aber schlaf dich aus!« Erst gegen Mittag war Anna dann aus der nächtlichen Rotwein-Narkose erwacht. Sie hatte drei Tassen Espresso gefrühstückt und versucht, sich das Blei von der Seele zu duschen; hatte sich sommerlich warm angezogen, Unnützes eingepackt, einen Zettel für Frau Becker, ihre Haushälterin, hingelegt und war wie in Trance nach Niebüll losgefahren.

Verschwommen konnte Anna durch den Regen die Keitumer Kirche ausmachen. Ihr war kalt, ihre Seele klamm. Sie nahm vom Rücksitz ihren Cashmereschal und wickelte soviel Anna wie möglich hinein. Der Zug erreichte Westerland. Dort, wo sonst Urlauber neu ankommende Freunde und Verwandte erwarten, stand heute nur ein bayerischer Regenschirm, plakatierte in Großbuchstaben: SAUWETTER.

Christiane war da. Eine rasche, nasse Begrüßung, schon wieder wurde gehupt – nichts wie einsteigen, durchstarten und ab nach KÄMPEN.

Christiane war mit »Nachbars«, wie sie sich ausdrückte, nach Westerland reingefahren, um Anna abzuholen. Und das mitten in der Hochsaison, das war Freundschaft.

Anna heulte wieder, das war Rührung. Ab jetzt war sie nicht mehr allein mit ihrem Kummer.

»Anna Sander, ich habe wirklich keine Lust auf Nordseeklinik, laß mich mal ans Steuer. Es ist ja ein Wunder, daß du heil angekommen bist.«

Die Heckenrosen wucherten Anna ihr »Herzlich Willkommen« durch den Regen entgegen, und das Haus schluckte sie in seine reetdachgedeckte Gemütlichkeit. Es duftete nach Kaffee und frisch Gebackenem. Anna plumpste in den Sessel und ihre Seele auch.

Nicht nur Kinder, auch Tiere sind unberechenbar, lassen sie doch den Erwachsenen oftmals keine Chance zu ausgiebiger Freude oder Tränen. Sie sind da und erwarten, daß man sie beachtet. Und wie! So erging es Anna mit Fiete, Christianes »Sylter Mutation«, Heinrichs Worte. – Ach Heinrich. Weiter kam Anna nicht mit ihren Gedanken. Fiete ergriff Besitz von ihr. Ohne Rücksicht auf Sessel und Kleidung. Seine Freude war grundehrlich und kam aus vollem Hundeherzen – man konnte ihm also nicht böse sein.

Christiane und Frau Bahnsen, die gute Seele, zerrten mit vereinten Kräften an Fiete, doch je mehr sie zogen, um so mehr ergriff Fiete Besitz von Anna: Endlich ein netter Besuch, außerdem war Anna eine Lieblingsbekannte von Fiete. Sie war von seiner Anhänglichkeit gerührt, fast schon wieder zu Tränen. Endlich besann Fiete sich seiner in den Genen gelagerten englischen Vorfahren und rollte sich brav von einer Sekunde zur anderen an Annas Füßen zusammen. Im Haus war man von Fiete ganz andere Aktionen gewohnt. Es kam vor, daß er aus heiterem Himmel eines von zwei herumstehenden Damenbeinen umklammerte, um sich schonungslos und in aller Öffentlichkeit daran zu amüsieren. Hinzu kam, daß er ein Faible für ältere Semester, beziehungsweise deren Beine, hatte.

Jeder hat Phantasie genug, um sich dieses Fiete-Fiasko auszumalen, wenn die Damen so unauffällig wie möglich versuchten, den Hund vom Bein zu schütteln. Heinrich hatte immer gesagt: »Nicht hinsehen, Anna, wir KENNEN diesen Hund NICHT!« – Ach Heinrich!

Nach Fiete kam nun auch Frau Bahnsen dazu, Anna zu begrüßen. Sie sagte nichts weiter, nahm Anna stumm in die Arme, strich ihr über Wange und Haar, dann erreichte auch Frau Bahnsens Augen die Schneeschmelze. »Ich hol nur schnell die Sahne«, schnüffelte sie, und weg war sie in Richtung Küche.

»Sahne«, protestierte Anna.

»Sahne«, nickte Christiane, »meinst du, es bekommt dir und der gesamten Situation, wenn du aussiehst wie Rosinante in Jil Sander? Iß, mein Herz. Und danach reden wir.«

In einer Freundschaft darf es keine gesetzlichen Feiertage, keine Ruhezeiten oder einen Tag- und Nachtrhythmus geben. Richtige Freunde erreicht man rund um die Uhr. Ganzjährig. Genau so eine Freundschaft verband Anna mit Christiane.

Kennengelernt hatten sie sich 1972, Annas Philipp war noch kein Jahr alt, machte die ersten Kriechversuche im Sand.

Christianes Maximilian, fast vier Jahre alt und schon ein »kracheter« Bayer, hatte Philipp einen mit Schlick, Sand und Tang gefüllten Eimer über den Kopf gestülpt. Philipp schrie, so gut es der Eimer zuließ.

Aus der Ferne hörte man eine Stimme »Max!« rufen. »Max, wo steckst du? Max! Was hast du angestellt?«

Mit schnellem Schritt, so gut man eben durch Sand laufen kann, eilte die Stimme plus Flattermutter in Richtung Kindergeschrei. Es mußte sich um die Mutter handeln, Rufe von Müttern sind weltweit erkennbar, schon wegen der vielen Ausrufezeichen, die darin enthalten sind.

»Max!« Christiane sah erst auf Philipp mit dem Eimer, dann auf die daneben stehende Mutter, die ohne Erfolg an dem Eimer zerrte. Flink erteilte sie aus dem rechten Handgelenk dem kleinen indianerbraunen Urbayern eine kräftige Ohrfeige, bevor sie mit der linken Hand, ohne Schwierigkeiten, Philipp den Eimer von den Ohren zog, Entschuldigung sagte und lachte.

Anna und Christiane standen sich gegenüber.

»Wenn es irgendwo schreit, ist meistens mein Max nicht weit. Ich rufe schon automatisch nach ihm, die Wahrscheinlichkeit, daß er der Übeltäter ist, liegt bei neunzig Prozent.«

»Halb so wild«, lachte Anna, »wer weiß, was mir mit meinem Sohn noch alles bevorsteht.«

Nebenbei säuberte sie ihren Philipp, pustete ihm Sand aus den Wimpern.

»Sie sind aber eine Ausnahme«, erwiderte Christiane. »Die meisten Mütter schreien und plärren genauso wie ihre Kinder, nur schriller und mit noch mehr Phon.«

»Mein Gott«, sagte Anna, »Phipps hat die Geburt überstanden, da wird er wohl noch mit einem Eimer Schlick fertig werden.«

Sie lächelte.

»Ich bin Anna Sander.«

»Ich bin Christiane Melchinger.«

Das war er: der Urknall einer wundervollen Freundschaft.

Beide Frauen verbrachten die Ferien in Kämpen. Anna wohnte im Bergentenweg, Christiane in der Alten Dorfstraße. Anna kam ans Hamburg, Christiane aus München.

Sie rückten ihre Strandkörbe zusammen und hatten sich umgehend viel zu erzählen, viel zu sagen, während Max sich mit dem Kriechwurm, wie er Philipp nannte, arrangierte. Er zeigte eine völlig maxfremde Geduld mit dem Kleinen, denn Philipp kroch ihm überall hinterher.

Im nächsten Jahr ging es dann schon besser, und ungefähr drei Jahre später wurde es für Anna und Christiane ein richtiger Urlaub. Da scheuchten sie sich nicht mehr gegenseitig hoch mit: »Die Kinder!« Da war Ruhe, richtige Ruhe und nicht mehr verdächtige. Jeden Sommer lernte Philipp bayerisch, jeden Sommer etwas mehr.

Schon im zweiten Sommer hatten Christiane und Anna es so eingerichtet, daß Lorenz aus München und Heinrich aus Hamburg wenigstens für ein langes Wochenende dabei waren. Lorenz Melchinger, Architekt in München; Heinrich Sander, Pumpen und Filtertechnik, kam aus Hamburg. Es klappte bestens. Zu viert saßen sie im Kamp-Kroog, nahmen Drinks bei Karlchen – unvergeß­lich sein Planter’s Punsch – schwooften im Pony oder Village und tanzten Nächte durch nach der Musik von Barry White: »My first, my last, my everything.« Glückliche Zeiten.

Und auch die Kinder konnte man von Jahr zu Jahr mehr abends sich selbst überlassen. Erstens gab es Frau Bahnsen, die einen Narren an ihnen gefressen hatte, zweitens waren Max und Philipp Wachs in den Händen von Frau Bahnsen. Ein Wunder, daß weder Anna noch Christiane ansprachen, geschweige hinterfragen wollten. Wie oft hatten die Kinder gesagt: »Wir kommen nicht mit euch mit, Frau Bahnsen macht uns Kartoffelpuffer.

Und vorlesen tut sie auch«, zwitscherte Philipp dem schlechten Gewissen seiner Mutter hinterher.

»Seeluft macht müde, in längstens einer halben Stunde schlafen sie sowieso«, beruhigte Christiane ihre Freundin.

Anna wohnte mit ihrer Familie auch in dem Bendixschen Haus in der Alten Dorfstraße, umgeben von anderen netten, sandigen Urlaubern. Fast jeden Tag konnte man draußen frühstücken, herrliches Sylter Schwarzbrot mit dicker Butter, dazu Milchkaffee eimerweise, mit frisch unter der Henne weggezogenen Eiern und einer Leberwurst, bei der selbst Lorenz Melchinger seine bayerischen Augen verdrehte. Auch wenn Lorenz und Heinrich nicht jedes Jahr die gesamten Ferien auf der Insel verbringen konnten, für zwei lange Wochenenden klappte es immer.

Im Bendix-Haus kannte mit den Jahren jeder jeden, wußte um Freud und Leid der zugehörigen Festland-Mischpoche, man war sich sanft vertraut. Nur einmal kam es fast zum Eklat, dank der freundlichen Mithilfe von Max und seinem gelehrigen Schüler Philipp. Gräfin Werauchimmersiewar – von den Miturlaubern so betitelt – hatte sich samt Sohn, von Max kurz »Babygraf« genannt, auch bei Bendix einquartiert. Der arme kleine Graf mußte bei der Affenhitze Blazer und Flanellhosen tragen, was Christianes Max veranlaßte, die Gräfin im Vorübergehen mit »Kinderschänderin« zu betiteln.

Das Geschrei der edlen Dame war von Hörnum bis List zu hören. »Eine Stimme wie eine Sirene«, meinte Christiane später. »Aber keine griechische.« So Anna. Ihr Philipp hatte nämlich noch ein »Du Tierquäler« dazugesetzt, mehr wußte er noch nicht, in seinem Alter. Und Philipp fing auch die schallende Ohrfeige ein, von gräflicher Hand mit Wonne ausgeteilt. Geschrei auf der ganzen Linie. Alles, was Beine hatte im Bendix-Haus und in der Nachbarschaft, strömte zusammen. Phipps entrüstete sich lautstark und wütend: »Die Gräfin Scheißinteich hat mir eine geklebt!«, worauf sich der Rasen in Windeseile leerte. Anna zog Philipp mit sich, Max war sowieso verschwunden, genauso wie die Gräfin samt Kind. Frau Bahnsen hatte das erledigt, das war sie »ihren Kindern« schuldig.

Mit Einschulung von Max Melchinger mußten die Ferien geplant werden. Mit Einschulung von Philipp Sander war das Generalstabsarbeit. Unterschiedliche Bundesländer, unterschiedliche Ferien, aber gemeinsame Strandtage.

Ein paar Jahre später kam für die Jungens die Reiterhof-Phase, dennoch ließen sich weder Sanders noch Melchingers von ihrem Sylturlaub abbringen. Wie immer ein Genuß ohne Reue.

Lediglich Frau Bahnsen fehlten die Kinder in diesen Jahren; die zähmten aber lieber Ponys.

»Hab ich beim Räumen gefunden«, sagte Frau Bahnsen und wedelte mit einem Foto von 1975. Jetzt war 82. Es zeigte Heinrich, Anna, Christiane und Lorenz lachend und beinebaumelnd auf dem Friesenwall vor dem Gogärtchen. Die Männer trugen Pullover aus Uwe’s men shop, Lorenz in Rot, Heinrich in Blau. »Uwe’s« stand in großen Buchstaben quer über der Brust. Herrlich bekloppt, aber damals war es »In«, ein absolutes Muß. »Forever in blue jeans«, sang Neil Diamond in diesem Sommer, und Anna und Christiane zeigten ihre langen, braunen Beine in franseligen Jeansröcken!

Heinrichs Mutter hatte bei Ansicht des teuren Stücks ihre hanseatische Nase in Falten gezogen:

»Das Stück ist ja kaputt. Wie kann man nur« und irgend etwas von Schickimickiferienfummel gebrabbelt. Bevor Mutter sagen konnte: »Und dafür muß mein Heinrich arbeiten«, hatte Anna schnell die Schranktür geschlossen.

Das waren die Zeiten vor der großen Gelbjacken-Invasion. Kämpen boomte unter sich. An Bühne 16 spielten nebeneinander Sachs, Orsini, Beitz und Flick im Sand. Durch die berühmte Whisky-Straße knatterten die internationalen Sportwagen, aber mit Niveau. – Es gab noch keine Ampeln, jedenfalls nicht so viele. Heute hat eine Drückampel durchaus ihre Berechtigung, kann doch ein in die Jahre gekommener Playboy hier eine kurze Rast einlegen, statt wie früher mit drei, vier großen Sprüngen zwischen den Flitzern durchzuhechten.

Auch die gemütliche Kampener Sauna hatte ihre Pforten geschlossen; der Eigentümer anders disponiert, schlicht mehr Miete verlangt und von anderen auch gerne bekommen. Dieser Immobilien-Hickhack war selten zum Vorteil der Insel.

Bascheks Sauna war Latschenkiefer mit Ambiente; Anna und Christiane hatten dort manchen Abend verbracht, waren zwischen den Saunagängen in das riesige Faß im Hinterhof getaucht, hatten mit Gott und der Welt geklönt und anschließend die verlorene Flüssigkeit mit trockenem Weißwein ersetzt.

Damals war Saunieren noch keine Weltanschauung, man durfte miteinander reden, heute erntet man bereits für einen harmlosen Lacher strafende Blicke, die signalisieren: Ruhe, hier tut man etwas für die Gesundheit!

Es war Ende der siebziger Jahre, da schloß auch der Milchmann, der mit den besten Frikadellen der Insel, seine Pforten. Auf dem Weg zum Strand hatten sie bei ihm ihren Proviant besorgt und nicht zu vergessen: die Bild-Zeitung. Jeder hatte sie damals unter dem Arm, im Strandbeutel, in der Bermuda, um sie später am Festland wieder schnöde von sich zu weisen. Aber in der Saison quollen gegen Abend die Papierkörbe am Strand davon über. Lesen und gesehen werden hieß die Devise, fast jeden Tag kraxelte ein Reporter durch die Dünen, um abends seine Beute im Hamburger Stammhaus abzuliefern. Die »schönen Reichen« war das Thema.

Zur nachträglichen Beruhigung: Auch die hatten normale Figurprobleme und waren nackt und abgeschminkt nicht leicht zu erkennen. Das gab dann den »Wissen-Sie-Sie-sehen-aus-wie«-Effekt. Manch langbeinige Blondine schmiß daraufhin die Löwenmähne – drei Kilo Haarteil – nach hinten, stackste von dannen, indigniert durch die Ganzkörper-Beleidigung.

1983 stieß Fiete zu ihnen. Max hatte ihn an der Sturmhaube gefunden. Er war mit Absicht vergessen worden.

Das bißchen Hund bekommen wir auch noch groß, hatte Christiane gesagt. Sie konnte zu dem Zeitpunkt nicht ahnen, zu welch stattlicher Höhe und Länge sich das Bündel Hund auswachsen würde.

Im nächsten Sommer bekam das Planungs- und Architekturbüro Melchinger, München, einen Großauftrag der Saudis. Es war das erste Jahr, als Christiane, sie war schon auf der Insel (wieso eigentlich?), Anna beim ersten gemeinsamen Abendessen im Landhaus Stricker, bei Hausente mit Pilzpiroggen, erklärte: »Anna, halt dich fest. Ganz fest! Ich bleibe für immer auf der Insel.«

Anna erbleichte unter ihrem Make-up. Wurde fast durchsichtig. »Bleib ganz ruhig« sagte Christiane. »Ich bin es auch. Der Hintertreppenroman, den ich dir erzählen werde, hat es in sich. Doch zuerst das Positive: Mir gehört seit gestern das Bendix-Haus in der Alten Dorfstraße.«

Um Haaresbreite hätte Anna, die auf den Schreck einen herzhaften Schluck Rotwein genommen hatte, Christiane denselben ins Gesicht geprustet. Aus Freundschaft hatte sie sich lieber verschluckt. Nachdem sie einige Minuten in die Serviette gehustet hatte, konnte Christiane fortfahren.

Sie berichtete, daß Inken Bahnsen, der gute Hausgeist, sie in München angerufen hatte – aufgeschreckt wie drei Perlhühner, denen der Hackklotz drohte —, denn Bendixen wollten verkaufen!

Anna fragte dazwischen, wieso wollten sie so plötzlich verkaufen?

Bei Bendixen war es nicht anders, als in Hunderten von anderen Familien auch, erfuhr Anna. Sohn Hinnerk wollte dies, Tochter Sünje wollte das mit dem Haus machen. Der alte Bendixen sah sich schon in der Mansarde oder im Anbau sein Altenteil fristen. Kurzentschlossen sagte der olle Bendixen zu seiner Meta: »Weißt du wat, min Deern, wi verköpt dat Huus, un wie god nach Majorka. Jawoll!«

»Da habe ich zugegriffen. Ich hatte noch einiges Geld zur Verfügung. Ein Dannenbergsches Erbe schlummerte still vor sich hin auf einer bayerischen Bank.« Sei bemerkt, Christiane war eine geborene von Dannenberg, mit Brauerei, Wald und Forst im Hintergrund sowie einigen jungfräulichen Großtanten.

Nachdem Friederike, Elisabeth und Clara, die Tanten, viel Gutes für verlassene Tiere und die katholische Kirche getan hatten, blieb dennoch ein »richtiges Geld«, wie die Bayern sagen, für Christiane übrig.

Anna sah ihre Freundin an: »Christiane, warum bleibst du auf der Insel? Das ist doch nicht einfach nur so.« Sie wischte mit der Hand durch die Luft.

»Nein, nein, durchaus nicht. Da ist noch die Hintertreppe. Das Negative – das Haar in der Suppe.« In diesem Moment betrat eine größere Gruppe Rhein/Ruhr lautstark mit viel Kettengedöns, die Damen und Herren waren geschmückt wie die Schellenbäume, das friedliche Landhaus Stricker. Gegacker, Gekicher, bis einer meinte: »Jupp, sach doch watt.«

Jupp besann sich seiner Eigenschaft als Maître de plaisir. »Tja«, strahlte er den Ober an: »Mir haben’ne Tisch beschteilt, auf Direktor Schmitz, Herrenhausen. Für zwanzisch Uhr dreisisch, datt isset doch. Woll?«

»Wir zahlen«, sagte Anna, »zu Hause ist es gemütlicher.«

Christiane nickte. »Ich habe einen wunderbaren Rotwein, der steht schon seit drei Sommern im Bendix-Keller. Der ist heut grad recht. Komm.«

Schweigend fuhren sie zurück. Das Haus war erleuchtet, Frau Bahnsen, die gute Seele, hielt Stallwache.

Als hätte Christiane Annas Gedanken erraten, sagte sie: »Frau Bahnsen bleibt. Ich bin sehr froh.«

»Ich auch«, sagte Anna. »Sie ist schon ein Teil der Familie geworden, findest du nicht?« Christiane nickte.

Frau Bahnsen hatte sich noch nicht hingelegt. Sie ließ es sich nicht nehmen, »den Mädchen« noch das Feuer im Kamin anzuzünden. »Nee, nee, Sie beiden machen mir da immer zuviel Wirtschaft.« Mit »Gute Nacht, Kinners« war sie dann verschwunden.

Anna und Christiane waren allein, den Rest der Hausgäste hatte das Kampener Nachtleben geschluckt.

Das Licht der flackernden Scheite im Kamin, dazu der Schein der Lampe verbreiteten Behaglichkeit, Christiane erzählte:

»Es war ungefähr vor zwei Monaten, mittags, ich saß in meiner kleinen Werkstatt und arbeitete«, Christiane war studierte Restauratorin. Ihr Beruf war immer noch wichtig für sie, sie nahm nur soviel Arbeit an wie »Rind und Kind« (O-Ton) es zuließen.

»Anna«, hatte sie einmal gesagt, »es ist wundervoll, wenn du eigenes Geld verdienst, um dir eventuell damit einen Hut zu kaufen, den du gar nicht brauchst.«

An jenem Tag, Christiane hatte eine pfriemelige Arbeit vor sich, eine Miniatur aus dem 18. Jahrhundert, da läutete das Telefon; da sie allein im Haus war, hob sie ab.

Eine fröhliche Stimme meldete sieh:

»Guten Tag, Reisebüro Cook, Ihre Tickets sind da.«

»Tickets?«

»Ja, nach Hongkong. Haben Sie das vergessen? Sie waren doch letzte Woche mit Ihrem Mann bei uns«, flötete die Stimme. »Sollen wir die Tickets schicken, oder holt Ihr Mann sie ab?«

Christianes Gehirn startete durch.

»Nein, bitte ins Büro schicken.«

»Huch«, kickste die Stimme. »Hier steht es, auch noch mit Textmarker notiert; manchmal ist man auch zu blöd. Ich schicke sie per Boten ins Büro. Entschuldigen Sie die Störung. Trotzdem gute Reise.« Der Uppercut saß.

Sehr oft bringen arglose Wesen, wie in diesem Fall Fräulein Unbekannt aus dem Reisebüro, ganze Leben zum Einsturz, ziehen den Boden unter den Füßen weg, schieben einen auf Nebengleise; und das alles mit weichgespülten Stimmen.

»Christiane«, erwiderte Anna. »Manchmal bringen diese arglosen Wesen, wie du sie nennst, auch Klarheit in Hochnebelfelder, durch die man schon länger orientierungslos tappert.«

»Mit meinem Elchgeweih paßte ich in keine Münchner Tram«, lächelte Christiane tapfer. »Die Insel wird mir guttun, der Wind wird mir den Kopf freiblasen. Bitte halte mich nicht für kleinkariert, spießig oder ähnlich bürgerlich zugemauert. Anna, wir leben in einer Konsumgesellschaft, das weiß ich, aber das überträgt man doch nicht auf eine Beziehung, nicht auf die Liebe. Anna, ich weiß nicht, wie lange ich das Telefon angestarrt habe. Ich weiß es nicht.«

Mehr hatte Christiane nicht dazu gesagt. Tapfer und »preußisch« ist sie ihren Weg »durch den Wind« gegangen.

Anna bewunderte sie sehr.

Ende der achtziger Jahre. Nach einer Ehrenrunde machte Max Melchinger ein glänzendes Abitur, ging anschließend zum »Relaxen« auf große Tour durch Amerika.

»Mein Gott, Christiane, hast du keine Angst um ihn?« fragte Anna.

»Um meinen Wurschtl muß ich mir keine Gedanken machen, der ist viel zu sehr Bayer, um sich ins Bockshorn jagen zu lassen; außerdem konnte ich ihm wenigstens das Motorrad ausreden, das nennt man in der Politik einen Teilerfolg, oder?«

»Bei Philipp hätte ich keine ruhige Minute«, erwiderte Anna.

»Erstens hast du noch Zeit, zweitens weißt du nicht, was zu dem Zeitpunkt das Nonplusultra ist, um sich vom Schulstreß zu erholen, drittens, liebe Glucke Anna, scheinst du nicht zu bemerken, daß du nur noch mit der halben Popobacke auf deinem Ei Philipp sitzt.«

»Was willst du damit sagen?«

»Klosterschwester Anna, dein Sohn wird sechzehn! Da steht die erste große Liebesgeschichte ins Haus. Je nach Lage der Dinge kann es dir passieren, daß dein Herr Sohn in dunklem Nappa oder per Schlips und Kragen einhergeht, alles aus Liebe, um der Dame seines Herzens zu imponieren. Von allem anderen ganz zu schweigen. Erinnerst du dich noch an Maxis wallende Haare, Batik-Flatterhemden und Holzketten? Es war eine grauenvolle Phase. Aber keine Bange, mit ausklingender Liebe werden sie wieder normal.«

»Baue mich nur weiter auf, zudem gießt es in Hamburg wieder mal aus Kübeln.«

»Komm auf die Insel, hier knallt die Sonne vom Himmel, in nur einer Stunde war die Wäsche trocken geflattert.«

Anna versprach bald zu kommen, mindestens für ein langes Wochenende. Komtess Dannenberg an den Waschtrögen, lächelte Anna, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte. Mal Cashmere, mal Persil.

Christiane Melchinger hatte nicht nur den Ferienhotelbetrieb übernommen. Sie hatte zusätzlich ein kleines, exquisites Geschäft aufgemacht. Interieur aus Frankreich und Italien. Sie importierte die schönsten Stoffe, machte Fabriken ausfindig, die zum Teil nach ihren Entwürfen herstellten. Sie ließ Möbel schreinern und in Farben lackieren, die nirgendwo anders zu finden waren; und ihre Adresse wurde bereits runter bis Süddeutschland als Geheimtip gehandelt.

Ein halbes Jahr nach Hongkong hatte Lorenz wieder an ihrer Tür gescharrt. Vergeblich. Aber sie wurden nicht geschieden. Lorenz lebte in München, Christiane auf Sylt. Sie sahen sich zu Familienfesten, besuchten sich gegenseitig, nun auf freundschaftlicher Basis, wie Christiane sich ausdrückte. Lorenz war ihr als hundertprozentiger Freund lieber, besser als ein fünfzigprozentiger Ehemann. Wer weiß, wie viele Affären dieser M. M. – das stand für Melchinger Macho – noch mit der Ausrede, man muß sich um die Baustellen kümmern, vertuscht hätte. O-Ton Christiane.

Max studierte inzwischen in Siena, sprach ein tolles Italienisch mit bayerischem Unterton und war Vaters Stolz und Mutters Freude, oder auch umgekehrt.

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Der Dezember graupelte sich durch Hamburg. Die ganze Stadt war klamm, und die Menschen sahen auch so aus. Obgleich in jeder zweiten Passage »O du Fröhliche« oder »Bald nun ist Weihnachtszeit, fröhliche Zeit« gedudelt wurde, hatte Anna das Gefühl, daß die Menschen hier zu Weihnachten immer besonders miesepetrig waren, vielleicht lag das an dem fehlenden Schnee? Nicht, daß sie sich nicht um Weihnachten bemühten, aber es war immer Lichterkette mit Krampf.

Anna war noch deutlich das Erlebnis des letzten Heiligen Abends in Erinnerung. Sie waren in die Elbchaussee gefahren, um in der schönen Nienstedtener Kirche zum Gottesdienst zu gehen. Frei nach dem Motto, Weihnachten gehen sie alle und sei’s nur wegen der Musik. Schwiegermutter Sander hatte gesagt, besser einmal im Jahr als keinmal im Jahr. Es bezog sich in ihrem Fall nur auf die Kirche.

Vor ihnen in der Kirche saß ein Ehepaar, zum Schluß des Weihnachtsgottesdienstes schmetterten sie aus vollem Halse mit allen anderen »Tochter Zion, freue dich«, selbst der pubertierende Sohn kieckste kräftig mit.

Doch unmittelbar nachdem sie die Kirche verlassen hatten, noch mit dem Weihnachtssegen auf dem Kopf, beschimpfte die Dame Heinrich. Warum? Nur weil er seinen Wagen halb auf dem Bürgersteig geparkt hatte. Weihnachten! Friede auf Erden! Philipp hat wundervoll reagiert, er rief ihnen »Halleluja, ihr Arschlöcher« hinterher.

Selbst Großmutter Sander fand seine Reaktion völlig legitim.

Schon wieder war Dezember, Halleluja …!

Zu Hause angekommen, machte ein nervös blinkender Anrufbeantworter auf sich aufmerksam. Anna wollte in aller Ruhe Mantel und Regenstiefel ausziehen, doch sie hatte das Gefühl, heute blinkte er anders, machte stärker auf sich aufmerksam.

»Jaja, ich komm schon.« Anna hinkte zum Telefon, einen Stiefel am Fuß, den anderen hatte sie bereits ausgezogen in der Hand. Er tropfte das restliche Islandtief auf den Velours. Sie drückte auf Wiedergabe, hörte die flatterige Stimme von Frau Bahnsen. »Frau Sander, Bahnsen, o Gott, ich weiß gar nicht, was ich machen soll, es ist furchtbar, Herr Melchinger ist nicht da. Max, der Max ist beim Skifahren.«

»Liebe Frau Bahnsen, reden Sie«, dachte Anna.

»Die Frau Melchinger ist zusammengebrochen, was soll ich machen.«

»Reden Sie, reden Sie«, dachte Anna.

Nein, besser sie schaltete aus, wählte die Kampener Nummer. Eine zittrige Frau Bahnsen meldete sich. Wie sie Annas Stimme hörte, kullerte Frau Bahnsen eine Lawine von der Seele. »Anna, Gott sei Dank.«

Sie erfuhr, daß Christiane ohne ersichtlichen Grund heute Morgen zusammengebrochen war. »Sie liegt auf der Intensivstation in der Nordseeklinik.«

Anna fragte nicht weiter nach, sagte nur: »Ich komme.«

Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, atmete sie durch, pfiff sich zur Ordnung, sagte Ruhe, du schaffst es, sprach mit Heinrich im Büro, telefonierte mit dem Flughafen, charterte eine Maschine, telefonierte zum dritten Mal, diesmal nach einem Taxi, schrieb Philipp eine Nachricht. So einfach gehen Dinge von der Hand, wenn man sieh nicht selber verrückt macht.

Drei Stunden später saß sie bei Christiane auf der Bettkante.

Anna war dank Heinrichs Pumpen und Filtertechnik finanziell in der Lage zu chartern, aber auch ohne die finanzielle Unterstützung hätte sie bestimmt einen Weg gefunden.

Es geht alles, wenn man nur will.

Christiane hing an diversen Schläuchen und Apparaten. Kindlich, schmal, zerbrechlich lag Annas Freundin, die nichts aus der Bahn werfen konnte, oder etwa doch?, in den Kissen. Nicht heulen, Anna Sander. Sei stark, du kannst Kraft abgeben. Bitte keine hysterischen Ich-kannes-alles-gar-nicht-fassen-Reaktionen, sagte sie sich.

»Christiane, ich bin da … Anna …« Mit liebevoller Geste strich sie ihr die Haare aus der Stirn. »Hörst du?«

Anna spürte, daß jemand gekommen war, drehte sich um. »Frau Sander.« Mehr konnte Frau Bahnsen nicht sagen. Ununterbrochen liefen dicke Tränen aus ihren himmelblauen Hans-Albers-Augen. Anna legte ihre Arme um sie. »Es wird alles gut, Frau Bahnsen.«

Inken Bahnsen hatte leise die Station betreten, unbemerkt auch von Anna. Es war ihre Art, niemals in all den Jahren hatte sie sich in den Vordergrund gespielt. Sie war sich selbst nicht wichtig, dafür war sie für alle, die ihr am Herzen lagen, ununterbrochen im Einsatz.

Eine Schwester tauchte auf.

»Meine Damen, Sie gehen jetzt am besten nach Hause. Hier können Sie doch nichts machen.«

Anna hörte sich reden. Ruhig und sachlich erwiderte sie der zickigen Schwester: »Was am besten ist, entscheiden in diesem Falle nicht Sie. Ob wir etwas machen können oder nicht, fällt auch nicht in Ihren Kompetenzbereich.« Sie fügte noch hinzu: »Ich hoffe, ich habe mich unmißverständlich ausgedrückt.«

Die Schwester war nur noch ein weißer Kittel von hinten.

»Bravo, Frau Sander.«

Vor lauter Respekt hatte Inken Bahnsen aufgehört zu weinen. Die resolute Anna hatte ihr glatt die Tränen verschlagen.

Es folgten Nächte und Tage, an die sich später weder Anna noch Frau Bahnsen erinnern konnten, alles ging ineinander über.

Lorenz kam, hielt fast vierundzwanzig Stunden Händchen, um letztlich völlig irritiert wieder abzufliegen. Am vierten oder fünften Tag nach Christianes Zusammenbruch, Anna hatte sich völlig übermüdet in einen Sessel gelegt, klingelte es Sturm. Entnervt schoß sie hoch, öffnete. Vor Anna stand, ihre Augen mußten an ihm hochklettern, ein großer, nein, ein sehr großer Mann.

Mit einem: »Wir vermieten zur Zeit nicht«, wollte sie die Tür schließen.

»Vermieten ist gut«, sagte er. »Ich wohne hier. Rainer Wolfson«, stellte er sich vor, ging an Anna vorbei ins Haus. »Bitte lassen Sie den Schlüssel nicht wieder stecken, dann werden Sie auch nicht wieder geweckt.«

Fehlt nur noch, daß der Muttchen zu mir sagt, dachte Anna. »Was erlauben Sie sich!« sagte sie laut.

»Was ist hier los?« So der Mann, der aussah wie eine dänische Bierwerbung, nur viel attraktiver. »Wer sind Sie?«

»Anna Sander, eine Freundin von Frau Melchinger.«

»Mmh, gut.« Er nahm Anna näher ins Visier, grinste, schien einverstanden. »Wo steckt sie? Sicher rast sie mit einem überfüllten Terminkalender kreuz und quer über die Insel, weil jeder UNBEDINGT seinen Klötterkram noch vor dem Fest hängen, liegen oder stehen haben will. Es ist verrückt.«

Anna bat ihn, sich zu setzen, sein Hoppla-jetzt-komm-ich-Ventil ein wenig zu drosseln, sie hätte ihm einiges zu sagen, sie war inzwischen wieder hellwach, berichtete von den Ereignissen der vergangenen Tage.

Der Wikinger wurde immer kleiner und hilfloser. Fast hätte Anna ihn in die Arme genommen und getröstet, dabei fiel ihr auf, daß sie nicht wußte, wer er war, in welchem Zusammenhang er zu Christiane stand. Sie fragte.

Rainer berichtete Anna, er sei Christiane im letzten Sommer zugelaufen, er sei freier Mitarbeiter, kümmerte sich überwiegend um die Festlandsaufträge.

Jetzt erinnerte sich Anna, daß Christiane bei einem Telefonat davon gesprochen hatte. Anna hatte natürlich gedacht – natürlich? –, es handelt sich um eine Frau.

Frau Bahnsen betrat das Haus.

»Herr Wolfson, wie schön.«

Zuerst berichtete sie ausführlich von Christiane. Später entschuldigte sie sich, Herrn Wolfson völlig vergessen zu haben.

»Er ist auch so klein, das kann schon passieren.« Zum ersten Mal seit Tagen wurde wieder in diesem Haus gelacht. Zaghaft noch, aber es war ein Anfang.

Es sollte nicht bei einem Mann im Hause bleiben. Gegen 22 Uhr stürmte Max durch die Tür.

»Was ist mit Mami?« Anna und Frau Bahnsen berichteten in Kurzform. Erst dann schälte sich Max aus seiner dicken Lederkluft. Max war mit nur zwei Pinkelpausen nonstop auf die Insel gefahren, und zwar mit dem Motorrad.

München, das große Dorf, wenn es um Gerüchte und Meldungen geht, hatte auch in Christianes Fall erstklassig funktioniert. Irgend jemand hatte von irgend jemandem die Geschichte von Lorenz Melchingers Frau aufgeschnappt und weitergeleitet. Bis sie schließlich bei Max mit »Das ist ja furchtbar mit deiner Mutter« gelandet war.

Nach kurzem Kontakt zum Büro seines Vaters gab’s für Max nur eins: Durchstarten auf die Insel.

Im Auto auf dem Weg zur Klinik erzählte Anna ihm die Geschichte noch einmal von Anfang an. Anna hatte Max erneut beruhigt, daß es glimpflich verlaufen war: Nach dem Frühstück mit Frau Bahnsen hatte Christiane urplötzlich rasende Kopfschmerzen bekommen, von einer Sekunde zur anderen wurde ihr speiübel, dann wurde sie bewußtlos. Inken Bahnsen hatte fabelhaft reagiert, ohne Hysterie. Sie rief den Notarzt. Zehn Minuten später stand er im Haus, um Christiane bis zur Klinik mit dem Nötigsten zu versorgen. Dort angekommen wurde sie in die Innere Notaufnahme gebracht. Diagnose: Subarachnoidal-Blutung. Zwei Tage war sie bewußtlos. Die Ursache sei ein Aneurysma gewesen.

Max erfuhr, daß seine Mutter, dem Himmel sei Dank, unter die zehn Prozent jener Patienten gefallen war, bei denen man die Blutung nicht röntgenologisch darstellen konnte. Das hieß, es handelte sich um die Aussackung eines Gefäßes, das zwar geplatzt, aber so klein und minimal war, daß keine Schäden blieben oder Spätfolgen eintreten konnten.

Stumm und blaß hatte sich Max alles angehört.

Neben Anna ging einmeterneunzig Kinderunglück, als sie das Krankenhaus erreichten. Anna kraulte ihm mit der Hand den Nacken. »Es wird schon, Maxi, komm.«

Maximilian drehte sich um und fiel Anna in die Arme. Max war gar nicht mehr »cool«, er zeigte Verwundbarkeit. Die angestaute Spannung schaffte sich ein Ventil. »Mensch Anna, schön, daß es dich gibt.« Max ergriff Annas Hand, küßte sie während sie nebeneinander durch den Flur gingen.

Vor der Tür angekommen, streckte er sich und atmete durch. »Wie sehe ich aus, geht es so, oder muß ich mir die Nase pudern?« Er lächelte so gut es ging.

»Komm, Maxi, es ist alles bestens.«

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Das war der schnellste Dezember für alle. Anna blieb auf der Insel, arbeitete sich bei Christiane ein und war Rainer Wolfson eine große Hilfe. Sie lernte kalkulieren, Kostenvoranschläge zu machen, sie konnte Gardinen vermessen, sogar mit »Rapport«! »Rapport nennt man das Stück, das entfällt, wenn Muster mit Muster Anschluß haben muß«, erklärte Rainer.

Zwischendurch, wenn Frau Bahnsen mit Einkäufen für die Feiertage beschäftigt war, füllte Anna die Waschmaschine, warf den Tümmler an und lernte faltenfrei mangeln. Während Anna Laken durch die Mangel zog, saß Rainer daneben, um den nächsten Tagesplan zu besprechen. Wer mußte womit beliefert werden. Die Weihnachtshektik machte auch vor der Insel nicht halt. Dazwischen gab’s immer wieder Zwischenstops bei Christiane, die sich sichtlich erholte und ihre Besucher anfrozzelte: »Ich sehe von Tag zu Tag besser aus. Ihr werdet immer weniger. Laßt doch alles liegen. Bitte. Es ist so schön, daß ihr da seid. Was nicht fertig ist, ist eben nicht fertig.«

»Sei still, mein Kind«, sagte Anna. »Iß ein Plätzchen und lies die Weihnachts-Vogue, ich muß nach Keitum, die letzten Leuchter liefern.«

»Ich liebe dich, Anna«, lächelte Christiane ihrer Freundin hinterher.