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Was ist gute politische Bildung?

Autorengruppe Fachdidaktik

Was ist gute politische Bildung?

Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht

Wolfgang Sander, Sibylle Reinhardt, Andreas Petrik, Dirk Lange, Peter Henkenborg, Reinhold Hedtke, Tilman Grammes, Anja Besand

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Inhalt

Was ist gute politische Bildung? – Zur Einführung

Politische Bildung: Warum und wozu?

1    Wie fördere ich Mündigkeit in der politischen Bildung?

2    Wie politisch darf mein Unterricht sein?

3    Warum und wie plane ich Unterricht?

Lehrer- und Schülerperspektiven: Wer?

4    Wie gestalte ich Lehrer-Schüler-Beziehungen?

5    Wie gehe ich auf Schülervorstellungen ein?

6    Wie unterrichte ich heterogene Lerngruppen?

Inhalte: Was?

7    Wie gehe ich mit verschiedenen sozialwissenschaftlichen Denkweisen um?

8    Was müssen Schüler wissen?

9    Wie entwickele ich Themen?

Methoden und Unterrichtsprozesse: Wie?

10  Wie wecke ich Interesse für meinen Unterricht?

11  Wie begründe ich Methoden?

12  Wie unterrichte ich kompetenzorientiert?

Medien und Aufgaben: Womit?

13  Wie wähle ich Medien aus?

14  Wie entwickle ich Lernaufgaben?

Lernprozesse: Wohin?

15  Wie entwickelt sich politisches Lernen?

Lernkontexte: Wo?

16  Wie fördere ich politische Bildung in meinem anderen Fach?

17  Wie bette ich das Fach in eine demokratische Schulkultur ein?

Gesamtliteraturverzeichnis

Autorengruppe Fachdidaktik

Was ist gute politische Bildung? – Zur Einführung

Gibt es überhaupt „schlechte“ politische Bildung? Politische Bildung basiert auf der Mündigkeit des Menschen und fördert die Urteilskraft des demokratischen Souveräns. Sie verbessert die Orientierungsfähigkeit in der sozialen Welt. Sie entwickelt die Urteils- und Kritikfähigkeit gegenüber gesellschaftlichen Phänomenen. Sie befördert die Kompetenzen zur politischen Partizipation und zum bürgerschaftlichen Engagement. Diese Intentionen sind normativ grundsätzlich positiv besetzt. Ist politische Bildung dadurch nicht schon im Grundsatz „gut“ – im Sinne einer Gemeinwohl- und Demokratieorientierung?

Gleichwohl kennt jede und jeder Unterricht zur politischen Bildung, der nicht gelungen ist. Dann bleibt nach dem Unterricht ein mulmiges Gefühl. In der Regel wartet schon die nächste Stunde und es ist wenig Zeit zu überlegen, ob und wie eine andere Planung zum besseren Gelingen des Unterrichts beitragen kann. Waren die Ziele ungenau bestimmt oder habe ich sie einfach nicht erreicht? Waren die Unterrichtsinhalte politikrelevant und konnten die Schülerinnen und Schüler ihre Vorstellungen einbringen? Waren meine Methoden gut gewählt oder haben sie die inhaltliche Auseinandersetzung erschwert? War die Aufgabenstellung sinnvoll und die Lehrer-Schüler-Interaktion zielführend?

Diese Fragen entstehen im Unterrichtsalltag, sie bleiben aber oftmals unbeantwortet. Der vorliegende „Leitfaden für den sozialwissenschaftlichen Unterricht“ sucht nach Antworten. Die Autorinnen und Autoren orientieren sich an den aktuellen fachdidaktischen Diskursen, um den Theorie-Praxis-Austausch in der politischen Bildung zu beleben. Beim Verfassen der Beiträge hatten sie die Frage vor Augen „Wie kann ich bei der Planung, der Durchführung und der Reflexion sozialwissenschaftlichen Unterrichts vom Stand der didaktischen Forschung profitieren?“

Der Theorie-Praxis-Austausch ist keine Einbahnstraße von der wissenschaftlichen Didaktik in die schulische Praxis. Letztlich reflektiert jede Lehrerin und jeder Lehrer vor Ort spezifische Bedingungen und trifft konkrete Entscheidungen, um „gute“ politische Bildung zu leisten. Die Didaktik der politischen Bildung hat im letzten Jahrzehnt starke Forschungsleistungen erbracht, die neue und manchmal überraschende Einblicke in den Unterrichtsalltag ermöglichen. Diese Fortschritte sollen durch den Leitfaden mit Anwendungssituationen konfrontiert werden. Das vorliegende Buch will den Austausch zwischen Politikdidaktik und Politikunterricht befruchten. Wir suchen neue Antworten auf alte Fragen und neue Fragen auf alte Antworten.

Im Zentrum politischer Bildung stehen die Förderung von Urteilskraft und kritischem Denken sowie die Befähigung zu Partizipation. Dem dient auch die Wissensvermittlung. Insofern ist der fachliche Zuschnitt nicht aus den Bezugsdisziplinen abzuleiten. Der Ausgangspunkt jedes Politikunterrichts ist die Mündigkeit der Schülerinnen und Schüler. Diese Orientierung an den Subjekten von Bildung ist ein gemeinsamer Nenner unserer didaktischen Überlegungen. Sie eint uns als eine Autorengruppe, in der sich gleichwohl heterogene Ansätze und kontroverse Positionen der Sozialwissenschaften widerspiegeln. So verfügen wir als fachdidaktische Autorengruppe zwar über keinen gemeinsamen Theoriehintergrund, aber trotzdem über gemeinsame Vorstellungen von „gutem Unterricht“.

Das „Politische“ der politischen Bildung verweist nicht vornehmlich auf die Politikwissenschaft. Es bezeichnet die öffentliche Gestaltungskraft mündiger Bürgerinnen und Bürger. Das Politische der Bildung transportiert den Anspruch und die Fähigkeit von Lernenden, die soziale Welt zu verstehen, zu beurteilen, zu kritisieren und zu verändern. Die aktuellen Herausforderungen von Mündigkeit und demokratischer Selbstbestimmung bestimmen die Lerngegenstände. Sie sollten als Kontroversen didaktisiert und mit wissenschaftlichen Diskursen in Beziehung gesetzt werden. Insofern haben wir ein interdisziplinäres beziehungsweise transdisziplinäres Verständnis politischer Bildung. Dabei spielen zwangsläufig die Politikwissenschaft, die Soziologie und die Wirtschaftswissenschaft eine zentrale Rolle, aber auch die Geschichtswissenschaft, die Ethik und die Rechtswissenschaft erscheinen unverzichtbar.

Je nach Bundesland, Schulform und Jahrgangsstufe gibt es in Deutschland verschiedene Bezeichnungen des Unterrichtsfaches für politische Bildung. Sei es Politik-Wirtschaft, Politik, Gemeinschaftskunde, Sozialkunde oder ein anderer Name – immer handelt es sich um sozialwissenschaftlichen Unterricht. Dafür ist unser Buch gemacht. Die vorliegende Anstiftung für guten sozialwissenschaftlichen Unterricht gliedert sich in 17 Unterkapitel, die sich mit der Zielbestimmung, mit der Inhaltsdimension, mit methodischen und medialen Aspekten, mit Lehrer- und Schülerperspektiven, mit Lernprozessen und Lernkontexten politischer Bildung befassen. Unter Rückgriff auf aktuelle fachdidaktische Diskurse werden jeweils unterrichtsbezogene Fragestellungen behandelt. Beispielsweise: „Wie politisch darf mein Unterricht sein?“, „Was müssen Schüler wissen?“, „Wie unterrichte ich kompetenzorientiert?“, „Warum und wie plane ich Unterricht?“, „Wie unterrichte ich heterogene Lerngruppen?“ oder „Wie fördere ich politische Bildung in meinem anderen Fach?“.

Zur Beantwortung dieser Fragen orientieren wir uns an einer einheitlichen Kapitelstruktur. Zunächst wird jeweils das Problem eingekreist und bestimmt. Es werden die relevanten didaktischen Kontroversen nachgezeichnet, die sich mit dem Problem beschäftigten. Oftmals werden sich die Kontroversen nicht aufheben lassen. Aber wir suchen nach einem „didaktischen Minimum“, das als vorläufige Antwort auf die Ausgangsfrage betrachtet werden kann. Abschließend konkretisieren wir die didaktische Erkenntnis an unterrichtsnahen Praxisbeispielen. Die Auswahl der Beispiele verdeutlicht die notwendige Kontinuität einer nachhaltigen politischen Bildung von der Grundschule bis in die gymnasiale Oberstufe oder das berufliche Schulwesen – ganz unabhängig von den jeweiligen Fächerbenennungen und Fächerzuschnitten.

Die Anstiftung für den sozialwissenschaftlichen Unterricht haben verfasst: Wolfgang Sander, Sibylle Reinhardt, Andreas Petrik, Dirk Lange, Peter Henkenborg, Reinhold Hedtke, Tilman Grammes und Anja Besand.

Nach Abschluss des Manuskripts für dieses Buch ist unser Mitautor Peter Henkenborg wenige Wochen vor seinem 60. Geburtstag verstorben. Er hat unsere gemeinsame Arbeit mit seinen Beiträgen und Vorschlägen, seiner konstruktiven Kritik und seiner menschlichen Zugewandtheit sehr bereichert. Wir trauern um einen ideenreichen Wissenschaftler und verlässlichen Kollegen, der uns sehr fehlen wird.

Politische Bildung: Warum und wozu?

1    Wie fördere ich Mündigkeit in der politischen Bildung?

Was ist das Problem?

„Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ (Kant 1783/1964, 53). Diese Formel für Mündigkeit gehört seit Kant zum Kernprogramm der Aufklärung. Sie gilt als Leitidee von Bildung und als Maxime politischer Bildung. Die Autonomie des freien Denkens sieht Kant als Teil der menschlichen Natur und als Ziel menschlicher Existenz. Das macht Mündigkeit möglich und wünschenswert. Für Kant basiert Mündigkeit im Sinne von Autonomie auf Vernunft; Mündigwerden als Lernen, den Verstand richtig zu nutzen, verlangt nach Bildung. Mündigkeit bezeichnet damit das Ziel der eigenen Handlungen des Menschen.

Mündigkeit gilt als allgemein anerkannte Zielformel für Bildung und Erziehung. Autonomie beruht auf der Fähigkeit des Subjekts, sich in der Gesellschaft selbst zu erhalten. Diese Denktradition schlägt sich auch in Lehrplänen nieder.

Im Kontext Schule stößt Mündigkeit allerdings auf mindestens sechs Schwierigkeiten (s. Abb. S. 14).

Das didaktische Minimum

Der Psychologe und Erziehungswissenschaftler Heinrich Roth interpretiert Mündigkeit dreidimensional als Selbstkompetenz, Sachkompetenz und Sozialkompetenz umfassend (vgl. Sander 2014b, 113-114). In handlungs- und rechtlfertigungsorientierter Perspektive erscheint Mündigkeit „als Kompetenz, selbstbestimmt zu handeln sowie sich und anderen darüber Rechenschaft ablegen zu können, also den jeweiligen Standpunkt zu reflektieren“ (Grammes 1998, 92). Rechenschaft unterstreicht die gesellschaftliche Einbindung von individueller Mündigkeit.

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Aufklärung ist nicht nur ein pädagogisch-persönliches, sondern ebenso ein gesellschaftlich-politisches Projekt. Mündigkeit ist auch eine kollektive Angelegenheit. Zu Demokratien gehört das allgemeine Wahlrecht. Es unterstellt die politische Mündigkeit aller Bürger, politische Bildung fördert sie. Was mündige Bürgerinnen frei entscheiden können (sollen) und was sie sich vom Staat vorschreiben lassen wollen (sollen), bleibt umstritten. Sollen sie konsumieren dürfen, was sie wollen, sollen sie zur Nachhaltigkeit erzogen oder gar durch Verbote und Gebote dazu gezwungen werden? Soll der Staat in die Gesundheitsvorsorge des Einzelnen zu seinem Besten eingreifen, wenn ja, wie und wie weit?

Für die politische Bildung der Neuzeit, so Wolfgang Sander, ist Mündigkeit neben Herrschaftslegitimation und gesellschaftspolitischer Mission eins ihrer drei Grundmuster. Politische Mündigkeit verlangt die eigenständige und ergebnisoffene Auseinandersetzung mit dem Wirklichkeitsbereich Politik, in der sich die Meinungen, Leitideen, Überzeugungen und Urteile der Lernenden frei sowie unabhängig von denen der Lehrenden und den in den Lehrplänen vorgegebenen entwickeln können und sollen (Sander 2014a, 28).

Im Kontext politischer Bildung umfasst Mündigkeit mindestens soziale, politische und ökonomische Mündigkeit; man kann sie gesellschaftliche Mündigkeit nennen. Sie bezeichnet die Fähigkeit, sich mit Gesellschaft, Politik und Wirtschaft eigenständig und sachkompetent sowie interessengeleitet auseinanderzusetzen, dort selbstbestimmt und selbstwirksam handeln und dies nachvollziehbar rechtfertigen zu können.

Mündigkeit schließt Kritikfähigkeit ein. Erziehung zur Mündigkeit ist für Theodor W. Adorno „eine Erziehung zum Widerspruch und zum Widerstand“ (Adorno 1970, 145). Sie zielt auf die „Widerstandsfähigkeit“ des Subjekts gegen geltende Autorität und auf seine „Kraft zur Differenz“ (Ludwig A. Pongratz). Im Unterricht bleibt die kritische Auseinandersetzung ergebnisoffen, sie kann auch mit der begründeten Bestätigung des Bestehenden enden.

Unterricht in sozialwissenschaftlichen Fächern, der sich glaubwürdig der Zielformel Mündigkeit verschreibt, muss einige Mindestkriterien erfüllen. Grundsätzlich verzichtet er auch darauf, Herrschaft als legitimiert vorauszusetzen und für Leitbilder politischer, ökonomischer oder sozialer Art zu missionieren.

Kriterien für Mündigkeit

Im alltäglichen Unterricht steht und fällt Mündigkeit zunächst damit, dass die Lehrenden die Lernenden in eigener Sache zu Wort kommen lassen. Erweitert gilt dies auch für die Menschen, deren Lebenslagen, Interessen und Überzeugungen Thema werden. Ihre Mündigkeit zu achten verlangt, dass sie selbst für sich sprechen können (Authentizität der Positionen).

Ein radikales Verständnis von Mündigkeit verlangt den Verzicht auf vorgefasste Klarheiten und Wahrheiten bspw. auch für Demokratie oder Marktwirtschaft. Eine normativere Variante setzt der Mündigkeit mit Blick auf demokratische Strukturen, Grundrechte und Gesellschaft Grenzen durch einen nicht zur Debatte stehenden Werterahmen. In der Pflichtschule muss man die Lehrplanvorgaben umsetzen. Bildung für Mündigkeit geht darüber hinaus.

Die Mindestkriterien, die auf gesellschaftliche Mündigkeit zielende Bildungsprozesse einhalten müssen, beschreibt der Beutelsbacher Konsens von 1977 (vgl. Kap. 2): Verbot der Überwältigung der Lernenden, Gebot der Repräsentation von Kontroversität im Unterricht und Befähigung der Lernenden zur politischen Vertretung ihrer Interessen. Daraus folgt beispielsweise, dass der Unterricht auch auf Vorweg-Definitionen „des Politischen“, „des Wirtschaftlichen“, „der Demokratie“, „des Gemeinwohls“ usw. verzichten muss. Zugleich benötigen die Lehrkräfte selbstverständlich eigene, sozialwissenschaftlich und politisch begründete Positionen dazu (vgl. Kap. 2).

Alternativen und Widerspruch

Fehlen Kontroversität oder Interessenbezug in den Lehrplänen, führt ein mündigkeitsorientierter Unterricht sie selbstständig ein. Damit überschreiten Lehrende Grenzen. Das verlangt Zivilcourage, denn es kann Kritik und kontroverse Debatten auslösen – eine gute Gelegenheit, Mündigkeit vorzuleben.

Das Beutelsbacher Minimum reicht für Mündigkeit nicht aus. Eigenständigkeit, Ergebnisoffenheit und Selbstbestimmung setzen voraus, dass Lehrende existierende Kontroversen aufgreifen. Sie müssen aber auch Alternativen zu nicht kontroversen Sachverhalten und Positionen aufzeigen. Erst das Wissen um Alternativen macht Mündigkeit möglich, erst der Widerspruch gegen angebliche Alternativlosigkeit bringt sie zur Geltung (vgl. Kap. 2).

Mündigkeit umfasst die Reflexion über die eigene Mündigkeit und über verschiedene Vorstellungen von Mündigkeit. Dafür muss der Unterricht Raum geben. Auch dies bleibt ergebnisoffen, einschließlich einer individuellen Mündigkeitsverweigerung. Ein Beispiel: Im gegenwärtigen Kapitalismus, so einige Kritiker, machen viele Menschen die Ökonomisierung ihrer Lebenswelt zu ihrer eigenen Angelegenheit. Dies kann man „Selbstunterwerfung der Subjekte“ nennen (Heinz Bude).

Schließlich verlangt das Ziel Mündigkeit Selbstreflexion und Zurückhaltung von den Lehrenden. Im sozialwissenschaftlichen Lernbereich stehen sich Lehrende und Lernende oft als Gleiche gegenüber. Denn beim Diskurs über grundlegende gesellschaftliche Fragen haben Lehrende den Lernenden außer breiterem Wissen nichts voraus (vgl. Kap. 8).

Was sind relevante Kontroversen?

Unterscheiden muss man zwischen Kontroversen um Bildungskonzepte zur Mündigkeit und Debatten um die Möglichkeit von Mündigkeit heute. Ist Mündigkeit nur eine naive Idee?

Ist Mündigkeit möglich? Zweifel an der Möglichkeit verbreiten sich bspw. aus neuro- und verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnissen über die systematischen Schwächen bei der rationalen Steuerung des eigenen Denkens und Handelns. Dazu gehört die Neigung zur nachträglichen Rationalisierung nicht rational motivierten Handelns. Wohlbekannte sozialpsychologische Erkenntnisse über automatisches Denken, Konformität oder Gruppendruck kommen hinzu.

Rationalität und/oder Leidenschaft? Im üblichen fachdidaktischen Verständnis setzt Mündigkeit auf Rationalität bei Urteilen sowie bei Entscheidungen und Handlungen. Dies unterstellt eine rationale und rationalisierende Haltung zur eigenen Lebensführung. Mündigkeit richtet sich dann auf das rational Entschiedene (z. B. bestehende Institutionen), das rational Entscheidbare (als Generalannahme für alle Probleme) und das rational zu Entscheidende (z. B. als politische oder persönliche Agenda). Emotion und Kampf gehören gar nicht, Eigeninteressen und interessiertes Handeln nur bedingt dazu.

Dagegen sieht eine Strömung der Politischen Theorie die Charakteristika des Politischen vor allem in grundsätzlicher Uneinigkeit und Leidenschaft, Gegnerschaft und kollektiven Identitäten, Konfrontation und Kampf um Vorherrschaft (z. B. Chantal Mouffe). Danach kann man den politischen Basiskonflikt zwischen miteinander unvereinbaren Politikprojekten nicht durch rationale Lösungen oder pluralistische Kompromisse aufheben. Man kann die unüberwindbare Konfrontation nur durch demokratische Verfahren regulieren (Mouffe 2007, 30-33). Politische Mündigkeit als Modus rationaler, distanziert-unter-kühlter Urteilsbildung passt schlecht dazu.

Verschwindet Mündigkeit in der Gesellschaft? Aus soziologischer Sicht gerät Mündigkeit als Möglichkeit doppelt unter Druck. Zum einen gelten die herrschenden Verhältnisse als alternativlos. Zum anderen finden Techniken der unbemerkten Steuerung öffentlicher Debatten, des privaten Konsumverhaltens und der persönlichen Lebensführung vermehrt Anwendung (vgl. Eis 2013). Zunehmend überwachen Staat und Unternehmen die Bevölkerung mittels Analyse von Massendaten (Big Data), und die Ausgeforschten wirken dabei willig mit.

Auch muss man fragen, ob Mündigkeit ein universales oder ein kulturspezifisches Leitbild ist, das etwa für kollektivistisch geprägte Kulturen bspw. in Asien nicht, kaum oder ganz anders greift.

Diese sozialwissenschaftlichen Thesen und Befunde bieten gute Gelegenheiten für eine Thematisierung von Mündigkeit im Unterricht. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf konzeptionelle Kontroversen um Mündigkeit im sozialwissenschaftlichen Lernbereich.

Muss man Mündigkeit messen?

Eine wichtige Kontroverse betrifft die Frage, ob sich Mündigkeit mit Kompetenzorientierung verträgt (vgl. Kap. 12). Joachim Detjen, Peter Massing, Georg Weißeno und Dagmar Richter verabschieden den Begriff der politischen Mündigkeit. Sie kritisieren Mündigkeit als „zu allgemein und unscharf“, der Begriff erlaube es nicht, „den outcome des Unterrichts messen zu können“ (Detjen u. a. 2012, 9).

Dies ist nur ein Exempel von vielen, wie Wunsch und Zwang zum Messen und Vergleichen wirken: Quantifizierung verdrängt Mündigkeit, Ergebnisorientierung Offenheit, Rechnen Aufklärung. Kurz: Es zählt das, was man zählen kann (Biesta 2009). Es geht nicht mehr um guten Unterricht, sondern um effizientes, ökonomisch durchrationalisiertes Lernen (Biesta 2009, 44). Diese Umwertung ist politisch gewollt, wie etwa die OECD-Politik zur Durchsetzung einer funktionalistischen Kompetenzorientierung und ihre Umsetzung in vielen Ländern zeigt. Dies fordert bildungstheoretisch begründeten Widerspruch und Widerstand heraus.

Wer braucht Mündigkeit wozu?

Eine zweite Kontroverse dreht sich um Begründung und Akzentuierung von Mündigkeit.

Ein Ansatz betont die Bedeutung von Mündigkeit für die Person (vgl. Kap. 12). Danach ist politische Mündigkeit „das Persönlichkeitsideal einer demokratischen Gesellschaft“ und umfasst die „Befähigung zu Autonomie und Verantwortung“ (Henkenborg 2002, 112). Es geht um Gestaltung des eigenen Lebens, autonome Partizipation in Politik und Gesellschaft, die Wahrnehmung von Pflichten und Rechten sowie die kritische Reflexion und das Durchschauen der Strukturen, in denen man lebt.

So gesehen ermöglicht ein an Mündigkeit orientierter Unterricht die Lernenden, ihre eigenen Selbst- und Weltdeutungen zu entwickeln (Henkenborg 2002, 114). Diese beziehen sich sowohl auf in der Gesellschaft vorhandene Deutungsmuster als auch, vermittelt insbesondere durch Unterricht, auf wissenschaftliche Deutungsansätze.

Ein anderer Ansatz versteht unter Mündigkeit zwar auch die Fähigkeit zu Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit. Mündigkeit entspreche „einem Erfordernis des demokratischen Systems“ und zugleich auch „dem abendländischen Menschenbild“ (Detjen 2007, 213). Jugendliche müssten lernen, „intentional auf das Wohl des demokratischen Gemeinwesens bedacht zu sein sowie in politischen Dingen rational und nicht emotional zu urteilen und zu handeln“ (Detjen 2007, 214). Eine solche funktionalistische Mündigkeitserziehung will vor allem den Staat stützen.

Zugespitzt formuliert: Die Bürgerin erscheint hier als umso mündiger, je rationaler und je weniger eigeninteressenorientiert sie urteilt und handelt. Diese Interpretation von Mündigkeit zähmt die Interessen der Lernenden und ihr politisches Handeln, indem sie sie auf Gemeinwohl und Gemeinwesen verpflichtet. Ein Gegenbild zeichnet Oskar Negt mit der Figur des „politischen Menschen, dem der pflegliche Umgang mit dem Gemeinwesen genauso wichtig ist wie die individuelle Emanzipation aus fremdem Zwang oder selbst verschuldeten Abhängigkeiten“ (Negt 2010, 487).

Ein konkretes Beispiel: Mündigkeit als Aufgabe für die Aufgaben

Wie Mündigkeit zum Thema im Unterricht sozialwissenschaftlicher Fächer werden kann, haben wir bereits skizziert. Individuelle Mündigkeit als sozial konstruierte Leitvorstellung kann man sehr gut im Kontext von Unterrichtseinheiten thematisieren, die sich mit Identität, Individuum und Gruppe, Normen und Werten oder Akteurmodellen (z. B. homo oeconomicus) beschäftigen.

Mündigkeit ist eine große Idee, die im Kleinen des Schulalltags leicht untergeht. Deshalb muss man sie sorgfältig sichern. Dabei kommt es auch auf die Aufgabenstellung und das Lernmaterial an.

Nehmen wir als ein Exempel die Unterrichtseinheit „Globalisierung – Die Welt ist ein Dorf“ von der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM 2012). Das Arbeitsblatt „Einstieg in die Globalisierung“ enthält u. a. die Text-passage „Magst du Erdbeeren im Winter, findest du exotische Früchte, wie beispielsweise Bananen toll? Die neuesten Technikgeräte aus den USA faszinieren dich? Dann bist auch du mitverantwortlich für die Globalisierung.“ Der weitere Text erläutert und illustriert sechs bis sieben Globalisierungsursachen. Die „Frage zum Text“ lautet: „Was sind die Ursachen für Globalisierung? Insgesamt finden sich sechs Ursachen im Text. Notiere diese und versuche, ein Beispiel zu finden. Fällt dir etwas ein?“

Der inhaltlich-methodische Kommentar notiert dazu u. a.: „Es gilt, die sechs Ursachen herauszuarbeiten: Wunsch nach fremden Produkten, Billige Arbeitskraft, Billige Transportmöglichkeiten, Geringere Handelshemmnisse, Kommunikationstechnik, Technologie“. Als Ziele der Doppelstunde nennt er u. a. „Erkennen, in welchen Bereichen des Lebens und wie sie von Globalisierung betroffen sind“ und „Die Ursachen der Globalisierung verstehen“.

Diese Einheit ist ein Musterbeispiel für entmündigenden Unterricht. Zunächst unterschlägt sie Politik als einen wesentlichen Ursachenkomplex der Globalisierung. Politik erscheint nur als Ursprung von Hemmnissen gegen den freien Handels und als Adressat für die Aufgabe, diese abzubauen. Das entpolitisiert Globalisierung und lässt sie als naturwüchsigen Prozess erscheinen.

Das Material bevormundet die Lernenden, indem sie ihnen ihre eigenen Erfahrungen im Text schon vorgibt. Aber schon ein Minimum von Mündigkeit besteht darin, dass die Lernenden wenigstens ihre eigene Lebenswelt selbst einbringen, einordnen und kommentieren.

Mündige Menschen können die eigenen Lebensbedingungen durchschauen. Unterricht muss die Schlüsselakteure der Globalisierung und ihre Macht herausarbeiten, Kinder und Jugendliche gehören im Allgemeinen nicht dazu. Dagegen erklärt das Arbeitsblatt die Lernenden vorab und pauschal zu Mit-Verantwortlichen für die Globalisierung.

Ein mündigkeitsorientierter Unterricht unterscheidet Verursachung, Betroffenheit und Verantwortung, Handlungsoptionen und reale Einflusschancen. Verantwortlichkeit bleibt ihm eine offene Frage, zu der er unterschiedliche Antworten prüft. Dann können die Lernenden selbst ihre persönliche Verantwortung finden und begründen – oder ablehnen!

Mündigkeit setzt die Existenz und Wahrnehmung von Alternativen voraus, auch für das eigene Handeln. Mündigkeit fördern heißt deshalb auch, im Unterricht unterschiedliche Konsum- und Lebensstile zu thematisieren, etwa glo-balisierungsintensive oder lokal-regional-suffiziente Leitbilder.

Zusammenfassung

Mündigkeit ist die Leitidee des Unterrichts in den Fächern der politischen Bildung. Dazu gehören Autonomie, Verantwortung und Selbstreflexion über die eigene Mündigkeit. Die Lernenden sollen auch die Fähigkeit zu Kritik, Widerspruch und Widerstand entwickeln. Deshalb thematisiert Mündigkeit fördernder Unterricht Alternativen, statt das Bestehende nur zu bestätigen. Mündigkeitsorientiertes schulisches Lernen bewährt sich vor allem im alltäglichen Detail. Beispielsweise müssen die Lernenden gehört werden und für sich selbst sprechen dürfen.

Selbstüberprüfung

Suchen Sie Mündigkeit behindernde Aufgabenstellungen in Schulbüchern oder Unterrichtsmaterialien. Formulieren Sie sie so um, dass sie die Mündigkeit der Lernenden unter realen Unterrichtsbedingungen bestmöglich fördern können. Gehen Sie dabei mindestens einen Schritt über das Maß an Mündigkeit hinaus, das Sie Ihren Schülerinnen und Schülern gerade noch zutrauen.

Tipps zum Weiterlesen

Adorno, Theodor W. 1970/2013: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt/M., S. 133-147.

Moegling, Klaus 2007: Erziehung zur Mündigkeit. In: Lange, Dirk (Hrsg.): Konzeptionen politischer Bildung. Baltmannsweiler, S. 72-82.

Literatur

Adorno, Theodor W. (1970): Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt/M.

Biesta, Gert 2009: Good education in an age of measurement: on the need to reconnect with the question of purpose in education. In: Educational Assessment, Evaluation and Accountability, Jg. 21, Heft 1, S. 33-46.

Detjen, Joachim (2007): Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart in Deutschland. München.

Detjen, Joachim u. a. (2012): Politikkompetenz. Ein Modell. Wiesbaden.

Eis, Andreas (2013): Mythos Mündigkeit – oder Erziehung zum funktionalen Subjekt? In: Benedikt Widmaier und Bernd Overwien (Hrsg.): Was heißt heute kritische politische Bildung? Schwalbach/Ts., S. 69-77.

Grammes, Tilman (1998): Kommunikative Fachdidaktik. Politik, Geschichte, Recht, Wirtschaft. Opladen.

Henkenborg, Peter (2002): Politische Bildung für die Demokratie: Demokratie-lernen als Kultur der Anerkennung. In: Hafeneger, Benno u. a. (Hrsg.): Pädagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder. Schwalbach/Ts., S. 106-131.

INSM (2012): Globalisierung – Die Welt ist ein Dorf. http://www.wirtschaftundschule.de/fileadmin/user: upload/unterrichtsmaterialien/globalisierung: und: europa/Unterrichtseinheit: Die: Welt: ist: ein: Dorf.pdf, zuletzt geprüft: 03.09.2014.

Kant, Immanuel (1964): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1783). In: Weischedel, Wilhelm (Hrsg.): Werke in sechs Bänden. Bd. 6. Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Pädagogik. Darmstadt.

Mouffe, Chantal (2007): Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt/M.

Negt, Oskar (2010): Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform. Göttingen.

Sander, Wolfgang (2014a): Geschichte der politischen Bildung. In: Sander, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch politische Bildung. 4. Aufl. Schwalbach/Ts., S. 15-30.

Sander, Wolfgang (2014b): Kompetenzorientierung als Forschungs- und Konfliktfeld der Didaktik der politischen Bildung. In: Sander, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch politische Bildung. 4. Aufl. Schwalbach/Ts., S. 113-124.