Peter Sloterdijk ist erwiesenermaßen ein Schriftsteller von hohem Rang. Was nicht jedermann vertraut ist: Er ist ein brillanter Rhetor. Seine in diesem Band gedruckten Vorträge entstanden zwischen 2005 und 2014 und thematisieren, aus unterschiedlichen Perspektiven und zu unterschiedlichen Anlässen, welche Lasten, welche Lehren, welche Hoffnungen das 20. dem folgenden Jahrhundert vermacht hat.

Kein einzelner Begriff, kein einprägsamer Slogan, von »Atomzeitalter« bis »Globalisierung«, beantwortet die im Titel aufgeworfene Frage – Was geschah im 20. Jahrhundert?. Eine reine Ereignis- oder Ideengeschichte kann die Bedeutung dieses Jahrhunderts für die Nachwelt ebenfalls nicht erfassen. Deshalb, so die These von Peter Sloterdijk, sind völlig neue Vorgehensweisen auf allen Feldern notwendig, von der Ökonomie bis zur Philosophie. Und dabei kommt, nicht ohne Sloterdijks Ironie und Metaphernkunst, dem Schatz eine zentrale Stellung zu: Diesen Schatz, also die Natur, die Heimat, das Raumschiff Erde, gilt es zu bewahren gegen die extremistische Vernunft, die das vergangene Jahrhundert prägte. Als explizite Botschaft formuliert: »Der Mensch ist für die Bewohnung und Geschäftsführung der Erde im ganzen verantwortlich geworden, seit seine Anwesenheit auf ihr sich nicht länger im Modus der mehr oder weniger spurlosen Integration vollzieht.«

Peter Sloterdijk, geboren 1947, ist Professor für Ästhetik und Philosophie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe.

Peter Sloterdijk

Was geschah im 20. Jahrhundert?

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-74303-4

www.suhrkamp.de

Inhalt

Das Anthropozän – Ein Prozeß-Zustand am Rande der Erd-Geschichte?

Von der Domestikation des Menschen zur Zivilisierung der Kulturen
Zur Beantwortung der Frage, ob die Menschheit zur Selbstzähmung fähig ist

Das Experiment Ozean
Von der nautischen Globalisierung zur Allgemeinen Ökologie

Die synchronisierte Welt
Philosophische Aspekte der Globalisierung

Was geschah im 20. Jahrhundert?
Unterwegs zu einer Kritik der extremistischen Vernunft

Der Denker im Spukschloß
Über Derridas Traumdeutung

Starke Beobachtung
Für eine Philosophie der Raumstation

Die permanente Renaissance
Die italienische Novelle und die Nachrichten der Moderne

Heideggers Politik: Das Ende der Geschichte vertagen

Odysseus der Sophist
Über die Geburt der Philosophie aus dem Geist des Reise-Stress

Fast heilige Schrift
Versuch über das Grundgesetz

Der andere Logos oder: Die Vernunft der List
Zur Ideengeschichte des Indirekten

Editorische Notiz

Das Anthropozän – Ein Prozeß-Zustand am Rande der Erd-Geschichte?

§ 1 Gewichtlose Menschheit

Als der niederländische Atmosphärenchemiker Paul J. Crutzen im Jahr 2000 den Ausdruck »Anthropozän« vorschlug – ein analoges Konzept des italienischen Geologen Stoppani (1824-1891) von 1873 aufgreifend –, um das gegenwärtige Zeitalter in naturgeschichtlicher Sicht zu markieren, lag die Vermutung nahe, dieser Terminus würde Teil eines hermetischen Diskurses bleiben, der hinter den geschlossenen Türen von Instituten für Gas-Analyse oder Geo-Physik gesprochen wird.

Durch eine unbekannte Serie von Zufällen jedoch muß es dem synthetischen semantischen Virus gelungen sein, die gut isolierten Türen der Laboratorien zu passieren und sich in der allgemeinen Lebenswelt auszubreiten – wobei man den Eindruck gewinnt, er reproduziere sich im Kontext des gebildeten Feuilletons, des Museumsbetriebs, der Makrosoziologie, der neuen religiösen Bewegungen und der ökologischen Alarm-Literatur besonders leicht.

Die Proliferation des Begriffs dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, daß er im Gewande wissenschaftlicher Neutralität eine Botschaft von nahezu unüberbietbarer moralisch-politischer Dringlichkeit übermittelt, eine Botschaft, die in expliziter Sprache lautet: Der Mensch ist für die Bewohnung und Geschäftsführung der Erde im ganzen verantwortlich geworden, seit seine Anwesenheit auf ihr sich nicht länger im Modus der mehr oder weniger spurlosen Integration vollzieht.

Der scheinbar geologisch relevante Begriff »Anthropozän« beinhaltet eine Geste, die man in juristischen Kontexten als die Benennung einer verantwortlichen Agentur charakterisieren würde. Mit der Zuschreibung von Verantwortung wird eine Adresse für mögliche Anklagen eingerichtet. Eben damit haben wir es heute zu tun, wenn wir »dem Menschen« – ohne näheres Beiwort – die Fähigkeit zur Täterschaft in geo-historischen Dimensionen zuschreiben.

Wir sitzen, wenn wir »Anthropozän« sagen, nur dem Anschein nach in einem geo-wissenschaftlichen Seminar. In Wirklichkeit nehmen wir an einer Gerichtsverhandlung teil – genauer an einer Vorverhandlung zur Hauptverhandlung, bei welcher fürs erste die Schuldfähigkeit des Angeklagten abgeklärt werden soll.

In dieser Vorverhandlung geht es um die Frage, ob es angesichts der Minderjährigkeit des fraglichen Täters überhaupt sinnvoll wäre, den Prozeß gegen ihn zu eröffnen. In diesbezüglichen Anhörungen würde unter anderem der Autor Stanisław Lem angehört werden, der »den Menschen« zu entlasten scheint, indem er ihm im tellurischen Kontext den Status einer quantité négligeable zuspricht, wörtlich:

»Würde man … die gesamte Menschheit versammeln und an einer Stelle zusammenpferchen, so würde sie einen Raum von dreihundert Milliarden Litern, also nicht ganz ein Drittel eines Kubikkilometers einnehmen. Das scheint viel. Aber die Weltmeere enthalten eine Milliarde zweihundertfünfundachtzig Millionen Kubikkilometer Wasser. Würde man also die ganze Menschheit, diese fünf Milliarden Menschenkörper, in den Ozean werfen, dann würde sich der Meeresspiegel nicht einmal um ein Hundertstel Millimeter heben. Mit diesem einen Aufplätschern würde die Erde ein für allemal menschenleer werden.«[1]

Bei quantitativen Verhältnissen wie diesen spielt es keine Rolle, wenn wir statt der von Lem angenommenen 5 Milliarden-Menschheit die heute erreichte Zahl von 7 Milliarden in das Bild einsetzen, oder die von acht oder neun Milliarden, die nach dem Jahr 2050 erreicht sein werden. Unter dem Aspekt der Bio-Massivität wird auch eine beliebig rasch sich vermehrende Menschheit eine verschwindende Größe bleiben – falls man die Menschheit toto genere im Ozean versenken könnte. Wozu also einen Prozeß gegen eine Species führen, die im Verhältnis zu der materialen Hauptmasse des Gaia-Systems, dem Welt-Wasser, ein Beinahe-Nichts darstellt? Lems Position liegt im übrigen sehr nahe bei jener der Klassiker der Geringschätzung des Menschen – man erinnert sich an Schopenhauers verächtliche Bemerkung über die Menschenrasse als flüchtiger Schimmelpilz an der Oberfläche des Planeten Erde.

Diesen Einwänden wird die Anklagevertretung entgegenhalten, die aggregierte Menschheit sei in ihrem heutigen Evolutionsstadium keineswegs bloß eine bio-massische Realität. Wenn sie auf die Anklagebank gebracht werden soll, so vor allem deswegen, weil sie eine meta-biologische Agentur verkörpert, die kraft ihrer Handlungsmacht sehr viel mehr Umwelteinfluß auszuüben vermag, als ihre relative physische Gewichtlosigkeit vermuten ließe.

Selbstverständlich denkt man in diesem Zusammenhang sofort an die technischen Revolutionen der Neuzeit und deren Nebenwirkungen, die man nicht ohne Grund auf das Konto des menschheitlichen Kollektivs setzt. In Wahrheit redet man hierbei zunächst nur von der europäischen Zivilisation und ihrer technokratischen Elite. Die letztere ist es, die seit dem 17. und 18. Jahrhundert durch den Gebrauch von Kohle, später von Erdöl, in Kraftmaschinen aller Art einen neuen Akteur ins Spiel der globalen Kräfte einbrachte. Obendrein hat die Entdeckung und Darstellung der Elektrizität kurz vor dem Jahr 1800 und ihre technische Meisterung im 19. Jahrhundert eine neue Universalie im Diskurs über die Energie hervorgebracht, ohne die man sich den Stoffwechsel des Menschen mit der Natur – um an die Marxsche Definition der »Arbeit« zu erinnern – nicht mehr vorstellen kann. Das Kollektiv, das heute mit Ausdrücken wie »Menschheit« charakterisiert wird, besteht in der Hauptsache aus Agenten, die binnen weniger als einem Jahrhundert sich die in Europa entwickelten Techniken angeeignet haben. Wenn Crutzen von »Anthropozän« spricht, hat man es mit einer Geste niederländischer Höflichkeit – oder Konfliktscheu – zu tun. In der Sache wäre die Rede von einem »Eurozän« oder einem von Europäern initiierten »Technozän« eher angebracht.

Daß menschliche Akteure auf die Natur zurückwirken, ist keine ganz neue Beobachtung. Schon in der Antike notierte man in Hellas und Italien Entwaldungen, die auf den Holzbedarf des Schiffbaus zurückgeführt wurden. Auch ist die Entstehung der europäischen Kulturlandschaften ohne den Einfluß von Ackerbau, Weinbau und Viehwirtschaft nicht zu denken. Vor allem die letztere ist bis heute ein explosiver Posten auf der Rechnung geblieben, die das Ökosystem »Erde« den Menschen präsentieren wird. Erst in jüngerer Zeit hat man den Zusammenhang zwischen menschlicher Pastoralmacht und politischem Expansionismus herausgestellt.[2] Es gibt offenbar einen makrohistorisch gesehen relativ jungen, d. h. ca. 3000 Jahre umspannenden Kausalnexus zwischen Rinderzucht und Reichspolitik: Nicht wenige historische Imperien – wie das der Römer, der Briten, der Habsburger und der Amerikaner – beruhten letztlich auf der Kultivierung von Großviehherden, die ihren Hirten einen bedeutenden Überschuß an Arbeitskraft, Mobilität, Protein und Leder zur Verfügung stellten, um von dem Nexus zwischen alltäglicher Kaloriensicherheit und politischem Expansionismus nicht zu reden. Seit jüngster Zeit weiß man auch, daß Rinderherden aufgrund ihrer metabolischen Funktionen einen nennenswerten Einfluß auf die Umwelt ausüben.

Es soll gegenwärtig circa 1,5 Milliarden Rinder auf der Erde geben – würde man sie allesamt im Ozean versenken, würde der Anstieg des Weltmeeres circa das Fünffache dessen ergeben, was aus der Versenkung der Menschheit resultierte: Man käme immerhin in die Dimension von Zehntelmillimetern und würde doch den Bereich der Quasi-Gewichtlosigkeit noch immer nicht verlassen.

Die indirekte anthropogene Umweltbelastung durch Viehzucht ist gleichwohl imposant: Jede von Menschen gehaltene Kuh produziert in einem dreijährigen Leben aufgrund von verdauungsbedingter Flatulenz eine Menge von Treibhausgasen, die einer Fahrt von 90 000 Kilometern mit einem Mittelklassemotor entspricht.

Mit dem Hinweis auf die menschliche Pastoralmacht in den aktuellen Dimensionen ihrer Ausübung verlassen wir den Bereich der vernachlässigbaren Größen. Als der Produzentin von enormen indirekten Emissionen kommt der »Menschheit« des Industriezeitalters, ihrer bio-massischen Gewichtlosigkeit ungeachtet, möglicherweise tatsächlich eine erdgeschichtlich relevante Rolle zu – namentlich in ihrer Eigenschaft als Betreiberin riesenhafter Flotten von Automobilen, Flugzeugen und Schiffen auf der Basis von Verbrennungsmotoren, doch ebenso in Hinsicht auf ihren Wärmehaushalt in den Erdregionen, in denen ausgeprägte Winter zu pyrotechnischen und architektonischen Kompensationen Anlaß geben. Die Streitsache »Anthropozän« kann zur Hauptverhandlung zugelassen werden.

§ 2 Weltalterlehren

Mit dem Begriff »Anthropozän« greift die heutige Geologie den epistemologischen Habitus des 19. Jahrhunderts auf, jeden beliebigen Gegenstand zu historisieren und alle historisierten Felder in Äonen, Weltalter oder Epochen zu gliedern. Der Siegeszug des Historismus wurde vor allem durch den Evolutions-Gedanken befeuert, der sich auf sämtliche Realitätsgebiete beziehen ließ – von den Mineralien bis zu den zusammengesetzten Großkörpern, die man menschliche »Gesellschaften« nennt.

Daher konnten Marx und Engels im Einklang mit dem Geist ihrer Zeit behaupten: »Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte.«[3] In ihren Augen stellt darum die Humangeschichte bloß einen Sonderfall der Naturgeschichte dar, sofern der Mensch per se das »Tier« ist, das sein eigenes Dasein durch Produktion zu sichern hat. Die Geschichte der »Produktionsverhältnisse« wäre somit nichts anderes als die Fortsetzung der Naturgeschichte in einem anderen Register. Der humane Meta-Naturalismus wäre bloß technisch verfremdete Naturgeschichte. Was wir die innere »Natur« des Menschen nennen, wäre der von Spinoza benannte Impuls (conatus) zur Selbsterhaltung um jeden Preis, der allem Leben die Form der Flucht nach vorn aufprägt.

Das marxistische Weltbild hatte zeitweilig die Saga von den »Produktionsverhältnissen« populär gemacht – mitsamt ihren großen Stadien von der Jäger- und Sammler-Ära über die sklavenhaltenden Gesellschaften, den Feudalismus, den Kapitalismus bis zum »Kommunismus«. Diesem Mythos kam das große Verdienst zu, die antiken Weltalter- oder Äonen-Lehren – die vom Goldenen bis zum Eisernen Zeitalter abstiegen – und die Weltreiche-Lehre nach dem biblischen Buch Daniel durch eine pragmatische Epochen-Theorie zu ersetzen. Demnach hätten sich die Weltalter voneinander durch die Art und Weise unterschieden, wie die Menschen ihren »Stoffwechsel mit der Natur« organisierten.

Der Begriff »Anthropozän« gehört seiner logischen Grammatik nach zu der Gruppe der pragmatischen Weltalter-Theorien. Er statuiert einen Zustand des tellurischen Metabolismus, in dem die von Menschen bewirkten Emissionen angefangen haben, den Verlauf der »Erdgeschichte« zu beeinflussen. Der Begriff »Emission« gibt zu erkennen, daß die Art der Beeinflussung bislang im Modus »Nebenwirkung« erfolgt – andernfalls würde man von einer »Mission« oder einem »Projekt« sprechen. Das »E« in Emission verrät den unfreiwilligen Charakter der anthropogenen Einwirkung in die exo-humane Dimension. Der Begriff »Anthropozän« enthält also nichts Geringeres als die Aufgabe, zu prüfen, ob die Agentur »Menschheit« imstande ist, aus einem Ejekt (Auswurf) ein Projekt zu machen oder eine Emission in eine Mission umzuwandeln.

Wer also »Anthropozän« sagt, appelliert an eine noch kaum existente »Kritik der narrativen Vernunft«. Da effektvolle Geschichten nur von ihrem Ende her organisiert werden können, ist der anthropozänische Standpunkt der Erzählung mit einer starken moralischen Option identisch. In den Erzählkulturen des Westens war diese Position bisher ausschließlich der apokalyptischen Literatur vorbehalten. Apokalyptik ist der Versuch, die Welt von ihrem Ende her zu evaluieren – sie impliziert ein kosmisch-moralisches Sortierungsverfahren, in dem die Guten von den Bösen getrennt werden. Die Guten von den Bösen trennen heißt nichts anderes, als die Überlebenswürdigen von den Nicht-Überlebenswürdigen sondern: Was man ewiges Leben nennt, ist ein metaphysisch überhitzter Ausdruck für Weitermachendürfen, indes ewige Verdammnis bedeutet, daß ein bestimmter modus vivendi zukunftslos ist und aus der Serie der überlieferungswürdigen Daseinsformen ausscheidet.

So spricht alles dafür, den Begriff »Anthropozän« als einen Ausdruck aufzufassen, der erst im Rahmen der apokalyptischen Logik sinnvoll wird. Apokalypse bedeutet: Evidenz vom Ende her. Da wir als Kollektiv jedoch noch nicht ganz am Ende sein können, sondern bis auf weiteres immer irgendwie weitermachen, kann die menschliche Intelligenz den Rückblick auf ihre Geschichte nicht schlüssig vollziehen. Sie kann ihn nur in diversen Formen der Antizipation erproben – was durch eine illustre Reihe von Simulationen belegt wird, erhabenen wie profanen, von den ägyptischen Totenbüchern bis zum ersten Bericht des Club of Rome.

Die aktuelle Einmischung des Menschen in die Naturgeschichte beweist, daß Heideggers ursprüngliche Einsicht, Sein als Zeit aufzufassen, von Grund auf richtig war. An dieser Intuition fehlte freilich ein wesentliches Element: nämlich daß Zeit als Zeit erst auffällig wird, wenn sie bei ihrem gleichmäßigen Verfließen gestört wird.

Die Störung, die den Alten am frühesten zu Bewußtsein kam, war die Verspätung – sie liefert eine der Grundformen der Tragödie. Auch die aktuelle Menschheit ist von Verspätungen bedroht – namentlich was das Ergreifen von »umweltpolitischen« Maßnahmen angeht. Im allgemeinen jedoch wird für die Modernen die Zeit als solche vor allem durch Beschleunigungen auffällig. Beschleunigung bis zur äußersten Grenze der Bewegungsbahn ist das Movens der Apokalyptik als zeitlogischer Gestalt. Heidegger hat hieraus die Denkfigur des »Vorlaufens in den eigenen Tod« abgeleitet – indem er bei der Vorwegnahme des Endes eine existentialistische Verkürzung in Kauf nahm. Die eigentliche Denkaufgabe hätte schon zu seiner Zeit darin bestanden, zu erkunden, warum die Moderne aus immanenten Gründen auf eine Vorwegnahme eines Gesamt-Endes angelegt ist. Dies hätte eine Untersuchung über die Motive der allgemeinen Prozeßbeschleunigung erfordert, die dem modus vivendi der Modernen die Form des absoluten Vorwärts aufgezwungen hatte.

§ 3 Moderne Erfolgskreise

Wer nach dem Movens der neuzeittypischen Beschleunigung fragt, wird auf Mechanismen der positiven Rückkoppelung aufmerksam, für welche der amerikanische Soziologe Robert K. Merton in Anlehnung an einen bekannten Passus des Neuen Testaments den Ausdruck »Matthäus-Effekte« vorgeschlagen hat. In dem Jesus-Wort: »Wer hat, dem wird gegeben werden, wer aber nicht hat, wird auch das genommen, was er hat« (Mt, 25,29) wird die Logik des selbstverstärkenden rückgekoppelten Wirkungskreises auf intuitive Weise vollendet vorweggenommen. Effekte dieser Art prägen den typischen Modernisierungen die Form des circulus virtuosus bzw. des Glückskreises auf. Obschon die Neuzeit auch durch das Auftreten von verheerenden circuli vitiosi markiert ist, bildet sie doch ihrem gesamten Verlaufsbild nach bisher einen Nexus aus Glückskreisen, deren Wirkung sich zu einer neuartigen Wahrnehmung von Zeit summieren.

An dieser Stelle seien sechs solcher selbstverstärkender Kreisprozesse genannt, die untereinander in vielfacher Wechselwirkung verwoben sind: die bildenden Künste, das Kreditwesen, der Maschinenbau, das Staatswesen, die wissenschaftliche Forschung und das Rechtswesen.

Tatsächlich weisen die bildenden Künste in Europa seit dem 14. Jahrhundert eine historisch völlig neuartige Organisation auf. Was man die Renaissance nennt, ist die Folge einer über Jahrhunderte fortgehenden Selbstintensivierung des Kunstvermögens in den Werkstätten Oberitaliens, Flanderns und Deutschlands, bis schließlich im 16. und 17. Jahrhundert dank stetiger positiver Rückkoppelung – gesteigert durch Konkurrenz und gegenseitige Ausspähung – eine Höhenlage von nicht mehr überbietbarer Meisterschaft erreicht war – es genügt, Namen wie Tizian, Caravaggio oder Rembrandt zu erwähnen, um anzudeuten, wie das artistische Können ins Stratosphärische vordrang. In den Ateliers bescheidener Meister des 14. Jahrhunderts hatte sich der virtuose Zirkel eingespielt, in welchem die neuzeitliche Kunst sich glücklich aufwärts bewegte, solange sie wesensmäßig Virtuosenkunst war. Hingegen haben sich mit dem Aufkommen der modernen Kunst und deren Überführung ins Global-Art-Zeitalter die Standards eines Weltmarkts für post-virtuose Produktionen durchgesetzt.

Analoge Vorgänge lassen sich auf dem Wirkungsfeld der positiven Rückkoppelungen beobachten, das man gemeinhin das der Wirtschaft nennt. Auch in ihm wurde vom 14. und 15. Jahrhundert an ein mächtiger circulus virtuosus aktiviert. Dieser sorgte dafür, daß aus der Verbindung von Kredit und Talent – letzteres Wort im modernen Sinn verstanden – große Vermögen entstanden und aus bescheidenen Anfangskapitalen weltweit ausgreifende Unternehmen heranwuchsen.

Freilich wäre die selbstverstärkende Dynamik der ökonomischen Betriebsführungskunst auch in diesem Teil der Welt, wie im klassischen China, auf dem Niveau einer entfalteten Manufakturwirtschaft zum Stillstand gekommen, wenn sie sich nicht an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert mit einer zusätzlichen vorantreibenden Dimension selbstverstärkender Prozesse verbündet hätte. Wir sind es gewohnt, diese Sphäre mit summarischen Namen wie Maschinenbau oder Ingenieurswesen zu belegen, und wer in dieser Sache ganz gedankenlos bleiben möchte, kann einfach Technik sagen. Die enge Allianz des zweiten mit dem dritten Glückskreis, sprich der zinsgetriebenen Wirtschaft mit dem innovationsgetriebenen Maschinenbau, ergab das dynamische Ungeheuer, das man aufgrund einer seit dem 19. Jahrhundert eingeübten Geistesträgheit noch immer mit dem ungeschickten Terminus »Kapitalismus« bezeichnet – obschon, wenn es um wahre Namen gegangen wäre, von Anfang an »Kreditismus« oder »Inventionismus« hätte heißen müssen. Von diesem sich selbst fortzeugenden Ungeheuer spricht Schumpeter, wenn er im Jahr 1912 den harmlos klingenden, in Wahrheit abgründigen Satz notiert: »Die Entwicklung erzeugt immer weitere Entwicklung.«

Diese Aussage ließe sich ebensogut auf den folgenden Selbstverstärkungskreis beziehen, der sich durch das moderne Staatswesen entfaltet hat. Seit seinen mühevollen Anfängen im Zeitalter der Konfessionskriege erzeugt der moderne Verwaltungs-, Betreuungs- und Steuerstaat einen Matthäus-Effekt eigenen Typs, indem er, der Logik seiner erweiterungsfrohen Eigentätigkeit gehorchend, fortwährend neue Zuständigkeiten, weitere Regelungsbereiche und tiefergehende Eingriffsvollmachten für sich generiert. Hier ist an das Wagnersche Gesetz zu erinnern, das auch als das »Gesetz der steigenden Staatsquote« oder als das »Gesetz der stetigen Erweiterung der Staatstätigkeit« bekannt ist – zwei Beobachtungen, die im übrigen von ihrem Urheber, Adolph Wagner (1835-1917), dem rüstigen Entwicklungsoptimisten auf einem Berliner Lehrstuhl, durchaus positiv beurteilt wurden. Wagner, der Prototypus der nachmals arg gescholtenen »Kathedersozialisten«, verfügte über die Gabe, die autogene Ausdehnung der Staatsaktivitäten noch ganz im Rahmen von Gemeinwesenbedürfnis-Erfüllung zu sehen, indessen wir heute den Komplex aus Etatismus, Fiskalismus und Interventionismus eher mit skeptischen Blicken betrachten und in ihm mehr und mehr das absurde Theater einer sich selbst dienenden und kontra-produktiven Großinstitution vermuten.

Daneben verdient auch der Selbstverstärkungskreis der zeitgenössischen Kognitions-Industrie eine besondere Erwähnung. Jedes europäische Schulkind weiß heute, daß die modernen Zeiten Forschungszeiten sind – sie sind es, seit Bacon sein Novum Organon schrieb und die Göttin der Erfahrung anrief, um das no-nonsense-Wissen und die geprüften Kenntnisse der Menschheit zu mehren, und seit Leibniz Akademien ins Leben setzen wollte, damit die Forschung ein Obdach in eigenen, nur der Suche nach neuen Wahrheiten verpflichteten Häusern erhielte. Tatsächlich gibt es für die Welt, in der wir leben, kein stärker prägendes Merkmal als die Tatsache, daß wir ein Einwanderungsland für jüngst erzielte Erkenntnisse geworden sind. Man muß dies wohl so ungewöhnlich ausdrücken, wie es klingt, weil Forschung modernen Stils keineswegs die idyllische Vermehrung von Kenntnissen bedeutet, die in separaten Speichern aufbewahrt würden, um die kontemplativen Gemüter zu erfreuen. Forschung bedeutet per se die Generierung von Mehrwissen durch Wissen. Das typische Neuzeitwissen, das in den kognitiven circuli virtuosi umläuft, um sich ständig zu vermehren, ist zudem überwiegend Praxiswissen – somit Wahrheit auf der Suche nach Anwendung. Es wartet darauf, bei der nächsten Gelegenheit in die Lebenswelten der modernen Populationen infiltriert zu werden. Wir existieren in einer Form von Wirklichkeit, für welche die ständige, kaum kontrollierte Zuwanderung von epistemischen und technischen Aliens charakteristisch ist, wobei wir nur hoffen können, die neuen Mitbewohner unseres kognitiven Environments würden sich auch auf die Dauer als zivilisierbare Nachbarn erweisen.

Damit gelangen wir zum letzten circulus virtuosus dieser Aufzählung, der gleichwohl seiner Wirkung nach nicht den schwächsten darstellt. Die Rede ist vom Rechtswesen, wie es uns in seiner aktuellen systemischen Verfassung begegnet. Nur in dem neuzeitlich erregten Europa, das bereits von Selbstverstärkungsspielen aller Art erfaßt war, konnte die scheinbar triviale, in Wahrheit abenteuerlich kühne Vorstellung aufkommen, Menschen seien von Natur aus Wesen, denen unentäußerbare Rechte zustehen – ja, das Leben selbst sei nichts anderes als die Erfolgsphase der Geltendmachung von Rechten durch deren Inhaber. Gewiß suchen Menschen von alters her Schutz in lokalen Konstruktionen von Gerechtigkeit – aber nur in Europa, im Mutterland der Matthäus-Effekte, konnte sich der Zirkel entfalten, der aus dem Meta-Recht schlechthin, dem »Recht, Rechte zu haben« hervorging – um eine Formulierung Hannah Arendts zu zitieren. Sie bringt den Keim zur Ausweitung der Rechtszone in aller Deutlichkeit auf den Begriff. Nur in einer Zivilisation, in der das Recht auf das Haben von Rechten zur inneren Haltung und zur von staatlichen Organen getragenen Institution geworden war, konnte sich die Spirale ständiger erweiterter Verrechtlichung in Gang setzen, die für die europäische Sozialdynamik in den letzten Jahrhunderten durch und durch typisch geworden ist. Diese Ausweitung der Rechtsanspruchszone wirft freilich einen wachsenden problematischen Schatten. Durch die intensive Wechselwirkung der entgrenzten Rechte-Macherei mit dem gargantuesken Selbstverstärkungssystem der Staatlichkeit entsteht in unseren Tagen ein Monstrum an nationaler und übernationaler Regulierungs-Juristerei, für das die Geschichte kaum ein Beispiel aufweist.

Alle genannten Mechanismen tragen das Ihre zu wachsendem Auffälligwerden der temporalen Dimension bei, indem sie die antizipierende Intelligenz vor die Aufgabe stellen, das Vorauslaufen ins Ende nun nicht mehr nur für die einzelne sterbliche Existenz zu vollziehen, sondern für das Ensemble von Verhältnissen im ganzen, das man die »moderne Gesellschaft« nennt.

§ 4 Krise der starken Externalisierung

Die Prägung des Begriffs »Anthropozän« gehorcht somit unvermeidlicherweise der apokalyptischen Logik: Er zeigt das Ende der kosmischen Unbesorgtheit an, die den historischen Formen menschlichen In-der-Welt-Seins zugrunde lag. Man könnte die herkömmliche »Stellung des Menschen im Kosmos« – um an Schelers Traktat zu erinnern – als eine Art von Kulissen-Ontologie umschreiben: In ihr agiert der Mensch als das dramatische Tier vor dem Massiv einer Natur, die nie etwas anderes sein kann als der ruhende Hintergrund für menschliche Operationen. Das kulissen-ontologische Denken bleibt auch nach dem Beginn der industriellen Revolution noch längere Zeit in Kraft, obschon die Hintergrund-Natur jetzt als integrales Ressourcen-Lager und als universale Deponie aufgefaßt wird.

Die Möglichkeit einer Erschöpfung von Ressourcen wird erst spät erwogen: Der deutsche Chemiker Wilhelm Ostwald (1853-1932) bringt 1912 in seiner Schrift Der energetische Imperativ die Endlichkeit der terrestrischen Ressourcen erstmals explizit auf den Begriff – wobei er bereits eine industrie- und staatskritische Wendung vollzieht: Weil auf einer endlichen Basis kein unendlicher Überbau errichtet werden kann, sei die Menschheit ab sofort zu einem alternativen Ethos des Naturgebrauchs aufgerufen – der energetische Imperativ heißt Sparsamkeit: »Vergeude keine Energie, nutze sie!« Weil Kriege die schlimmste Form der Energieverschwendung darstellen, sollten sie umgehend aus dem Verhaltensrepertoire der Menschheit verschwinden – ein Argument, das zwei Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht ganz ohne Pointe war. In Ostwalds Schrift beginnt jene »Analytik der Endlichkeit«, die von Heidegger wenig später aus der Sphäre der Naturwissenschaften in die existentiale Dimension übersetzt werden wird. Auch Max Webers bekanntester Satz, der sich am Ende seines Essays Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus von 1920 findet, enthält eine verdeckte Antwort auf die Ostwaldsche Spar-Ethik für endliche Geschöpfe in einer endlichen Welt: Weber statuiert, daß die aktuelle Wirtschaftsordnung die Menschen in ein »stahlhartes Gehäuse« bannt und sie darin »mit überwältigendem Zwang bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist«.[4] Dem Zeugnis Werner Sombarts verdankt man eine dramatischere Version des gleichen Gedankens: Weber habe im Gespräch mit ihm gelegentlich bemerkt, der Kapitalismus werde nicht eher ans Ende kommen, bis nicht »die letzte Tonne Erz mit der letzten Tonne Kohle verhüttet sein wird«.[5] Wie sehr diese Äußerung datiert ist – und dies nicht nur durch den inneren Dialog mit Ostwald –, verrät sich an der Gleichsetzung von Kapitalismus mit Schwerindustrie alten Stils, wobei die schon um 1920 im Umriß erkennbaren neuen Akteure auf der industrie-gesellschaftlichen Bühne: Erdöl, Chemie, Finanzkapital, Solartechnik und Telekommunikation keine Erwähnung finden. Die Rede von den »letzten Tonnen« läßt die apokalyptische Logik des Weberschen Räsonnements deutlich hervortreten: Dank eines rapiden Vorlaufens in den System-Tod gewinnt der melancholische Soziologe eine synoptische Sicht über den »Kapitalismus« als weltumspannende Fatalität.

Die Ablösung der traditionellen Kulissen-Ontologie durch eine ökologische Logik reicht weit bis ins 19. Jahrhundert zurück. Schon Marx und Engels hatten in ihrer Schrift Die deutsche Ideologie von 1845/1847 summarisch eine gemeinsame Geschichte von Natur und Mensch postuliert, jedoch im weiteren die Naturgeschichte ausgeklammert, da man sich auf das Studium der historischen Formationen von »Produktionsverhältnissen« beschränken wollte. Diese Auslassung charakterisiert eine Zeit, in der die Differenz zwischen intendierten Produkten und nicht intendierten Nebenwirkungen noch nicht in der brisanten Weise aufklaffte, wie es für das spätere 20. Jahrhundert typisch wurde. In ihrem heiteren Produktivismus setzten Marx und seine Nachfolger weiterhin auf die kulissen-ontologische Grundannahme, wonach die zur Ressource umgedeutete Natur die Externalisierung von Effekten der Industrieproduktion auch in Zukunft mehr oder weniger unbemerkt absorbieren werde. Die Annahme einer grenzenlos duldsamen äußeren Natur verlieh der kosmischen Unbesorgtheit der Menschen nach der Industriellen Revolution ein längeres Leben, als ihr aufgrund der aufdämmernden Umweltproblematik zugestanden hätte. Mit dem Ende der Sorglosigkeit erreichen auch die Kulissen-Ontologie und die sie tragende alt-eingefleischte Vordergrund-Hintergrund-Unterscheidung die Grenzen ihrer Plausibilität.

§ 5 Ignoranzmanagement

Als Buckminster Fullers berühmte Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde 1968 im Original erschien, machte er die kühne, ja utopische Annahme, in den sozialen Systemen sei die Zeit reif geworden für eine Übergabe der Steuerungskompetenzen von den Politikern und Finanziers zu den Designern, Ingenieuren und Künstlern. Die Annahme beruhte auf der Diagnose, wonach die Angehörigen der ersten Gruppe – wie alle »Spezialisten« – immer nur durch ein kleines Loch auf die Realität blicken, das ihnen nicht mehr als einen Ausschnitt zu sehen erlaubt. Indessen entwickelten die letzteren von Berufs wegen holistische Ansichten und bezögen sich auf das Panorama der Realität im ganzen.

Es war, als hätte die romantische Devise »Die Phantasie an die Macht!« den Atlantik überquert und wäre an der anderen Küste als die Parole »Das Design an die Macht!« entschlüsselt worden. Die Kühnheit von Buckminster Fullers Publikation, die bald zu einer Bibel der »Gegenkultur«, nachmals der »Alternativen« wurde, zeigte sich nicht in seiner Verachtung für die scheinbar Großen und Mächtigen der Welt, von denen er meinte, sie seien »heute nur noch von geisterhafter Erscheinung«. Sie bestand in der wahrhaft ungeheuerlichen Neudefinition des heimatlichen Planeten: Von diesem kritischen Moment an durfte die gute alte Erde nicht länger als eine Naturgröße vorgestellt werden, sondern war als ein riesenhaftes Artifizium aufzufassen. Sie war kein Fundament mehr, sondern ein Konstrukt, sie war keine Basis mehr, sondern ein Fahrzeug.

Es spricht für die Ungeheuerlichkeit wie die Unwiderstehlichkeit von Buckminster Fullers Metapher, binnen weniger als eines halben Jahrhunderts ins kollektive Bewußtsein einzusickern. Zugleich bezeichnet es die akute Bedrohlichkeit an Bord des Raumschiffs Erde, daß sie kein Ausweichen in poetische Unverbindlichkeit mangels präziserer Begriffe zuläßt, wie die, zugegebenermaßen erfolglosen, zahlreichen »Klimagipfel« belegen. Die Metapher stellt hier die höhere Form des Begriffs dar. Seine Wahrheit enthüllt sich in der Angemessenheit seiner Implikationen für die reale Lage. Wenn die Erde ein Raumschiff ist, so muß seine Besatzung sich tatsächlich vor allem an der Aufrechterhaltung lebbarer Verhältnisse im Innern des Fahrzeugs interessiert zeigen – die Raumfahrttechnologen sprechen diesbezüglich von dem Life Support System (LSS), das an Bord von Raumstationen die biosphäre-mimetischen Konstanten kontrolliert. Atmosphären-Management wird darum zum ersten Kriterium der von jetzt an zu postulierenden Steuerungskunst für das integrale Raumschiff. Zu bedenken ist hierbei: In diesem Gefährt fallen keine Sauerstoffmasken automatisch von der Kabinendecke, sollte der »unwahrscheinliche Fall« einer Luftverknappung eintreten. Es wäre auch absurd zu behaupten, Leuchtstreifen am Boden führten zu den Notausgängen – das Raumschiff Erde besitzt keine Ausgänge, weder für den Notfall noch für den Normalfall. Und was die Leuchtstreifen am Boden angeht, was sind sie anderes als eine milde Hypnose für Passagiere mit Flugängsten? Die Angst der Gäste an Bord des Raumschiffs Erde muß mit konkreteren Mitteln gemildert werden. Zu ihrer Behandlung sind revolutionäre kognitive und technische Prozeduren erforderlich.

Buckminster Fuller hat die bisher wichtigste Bedingung für den Aufenthalt von Menschen an Bord des Raumschiffs Erde präzise benannt: Den Passagieren wurde keine Bedienungsanleitung mitgeliefert, vermutlich, weil sie von selber hinter das Geheimnis ihrer Situation kommen sollten. Tatsächlich wird die Erde, soviel wir wissen, seit fast zwei Millionen Jahren von Menschen und Menschenvorläufern bewohnt, »die nicht einmal wußten, daß sie an Bord eines Schiffes sind«.[6] Anders ausgedrückt: Den Menschen war in der Vergangenheit bei ihren Navigationen ein hohes Maß an Ignoranz zugestanden, da das System auf die Duldung hoher Grade menschlicher Desorientierung ausgelegt war. Doch in dem Maß, wie die Passagiere anfangen, das Geheimnis der Lage zu lüften und mittels der Technik Macht über ihre Umwelt zu ergreifen, sinkt die anfängliche Ignoranzduldung durch das System ab, bis ein Punkt erreicht ist, an dem bestimmte Formen des unwissenden Verhaltens mit dem Aufenthalt der Passagiere an Bord nicht mehr verträglich sind. Das In-der-Welt-Sein des Menschen, von dem die Philosophie des 20. Jahrhunderts sprach, enthüllt sich somit als ein An-Bord-Sein auf einem störungsanfälligen kosmischen Fahrzeug. Für die angemessene kognitive Beziehung von Menschen zu diesem Gebilde habe ich vor einiger Zeit den Begriff »Monogeismus« vorgeschlagen – ein Terminus, der gleichsam das Minimum eines zeitgenössischen nicht-ignoranten Verhältnisses zur Vorrangigkeit der Erde bezeichnet. Er bildet zugleich das Axiom für eine politische Ontologie der Natur.

Vom aktuellen Blickpunkt aus gesehen erweist sich die Geschichte des Denkens auf dem Planeten als ein finalisiertes kognitives und pragmatisches Experiment, in dessen Verlauf die Wahrheit über die globale Situation ans Licht gebracht werden mußte. Wer an Bord des Raumschiffs den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, legt sich früher oder später Rechenschaft ab über die Tatsache, daß wir Autodidakten der Raumfahrt sind. Der wahre Begriff für die conditio humana heißt darum: Autodidaktik auf Leben und Tod. Autodidakt ist, wer die entscheidenden Lektionen ohne Lehrer lernen muß. Ich füge hinzu, daß uns deswegen ein bloßer Rückgriff auf religiöse Überlieferungen in diesen Dingen nicht weiterhilft, weil die sogenannten Weltreligionen ausnahmslos einem prä-astronautischen Weltverständnis verhaftet sind – selbst Jesus konnte durch seinen Aufstieg in den Himmel zur Bedienungsanleitung des Raumschiffs Erde nichts Nennenswertes beitragen.

Mit diesen Überlegungen ist eine Aussage über das Verhältnis von Sein und Wissen verbunden: Das traditionelle Wissen hat wesenhaft einen Rückstand auf die Wirklichkeit – ja, man könnte sagen, es trifft prinzipiell verspätet ein. Angesichts dessen drängt sich die Frage auf, ob aus der gewöhnlichen Verspätung des Wissens gefolgert werden muß, daß es auch in bezug auf unsere künftigen Probleme notwendigerweise zu spät komme. Glücklicherweise sind wir in der Lage, diese Frage verneinen zu können. Es gibt eine prognostische Intelligenz, die sich genau in der Lücke zwischen »spät« und »zu spät« geltend macht. Diese Intelligenz ist es, die sich hier und heute energisch artikulieren sollte. Während bisher für einen Großteil des menschlichen Lernens das Gesetz galt, daß man allein »aus Schaden klug wird«, muß die prognostische Intelligenz klug werden wollen, bevor der Schaden eingetreten ist – ein Novum in der Geschichte der Didaktik. Um in die Logik solcher Lernprozesse einzudringen, ist eine Kritik der prophetischen Vernunft vonnöten. Diese darf sich von dem basalen Paradoxon des Unheilsprophetismus nicht abschrecken lassen: Daß er, wenn er erfolgreich war, ex post wie ein überflüssiger Alarm aussehen wird, weil eben aufgrund seines Dazwischentretens nicht passiert sein wird, wovor er warnte. Umrisse einer solchen Kritik hat Jean-Pierre Dupuy in seiner Studie aus dem Jahr 2004 Pour un catastrophisme éclairé präsentiert. Demnach können nur erfahrene Apokalyptiker vernünftige Zukunftspolitik betreiben, weil sie mutig genug sind, auch das Schlimmste als reale Möglichkeit bedenken.

Klug werden heißt heute vor allem: verstehen, daß der kinetische Expressionismus der letzten Jahrhunderte radikal modifiziert werden muß, wenn er schon nicht beendet werden kann. Unter kinetischem Expressionismus verstehe ich den Daseinsstil der Modernen, der vor allem durch die leichte Verfügbarkeit von fossilenergetischen Brennstoffen ermöglicht wurde. Seit diese Stoffe praktisch in jedermanns Hand gelangt sind, führen wir ein Leben, als ob Prometheus das Feuer ein zweites Mal gestohlen hätte. Was das bedeutet, wird klar, wenn wir zugeben, daß die zweiten Feuer längst nicht nur unsere Motoren treiben, sondern auch in unseren existentiellen Motiven, in unseren vitalen Begriffen von Freiheit brennen. Wir können uns keine Freiheit mehr vorstellen, die nicht immer auch Freiheit zu riskanten Beschleunigungen einschließt, Freiheit zur Fortbewegung an fernste Ziele, Freiheit zur Übertreibung und zur Verschwendung, ja schließlich auch Freiheit zur Explosion und zur Selbstzerstörung. Den kinetischen Expressionismus hören wir sprechen, wenn der junge Goethe 1776 in einem Sturm-und-Drang-Brief an Lavater schreibt: »Ich bin nun ganz eingeschifft auf der Woge der Welt – voll entschlossen: zu entdecken, gewinnen, streiten, scheitern, oder mich mit aller Ladung in die Luft zu sprengen.« Wir hören ihn, wenn Nietzsche in Ecce homo erklärt: »Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.« Und wir sehen ihn praktisch am Werk, wenn Phileas Fogg, der Held von Jules Vernes Reise um die Erde in 80 Tagen auf dem letzten Stück seiner Erdumrundung während der Atlantikpassage – von New York zurück nach England – in Ermangelung von Kohlen damit beginnt, die Holzaufbauten des eigenen Schiffes herunterzureißen, um mit ihnen die Brennkammern der Dampfmaschinen zu füttern. Jules Verne hat mit dem sich selbst verbrennenden Schiff des Phileas Fogg nicht weniger als eine Weltmetapher für das industrielle Zeitalter gefunden: Sie evoziert die fatale Selbstreferentialität eines Verkehrs, der die eigenen Grundlagen verheizt – man muß bis zu dem frühromantischen Dichter Novalis und seiner kritischen Vision der »sich selbst mahlenden Mühle« zurückgehen, um ein Bild von ähnlicher Prägnanz zur Beschreibung des aktuellen modus vivendi zu entdecken. Kinetischer Expressionismus ist aber schon der Geste inhärent, mit welcher Queen Elisabeth I. von England auf den bekannten Stichen des 16. Jahrhunderts ihre herrscherliche Hand auf den Erdglobus legt, wie um zu zeigen, nun habe eine Ära begonnen, in der die Herren der Welt sich nicht mehr mit ihren eigenen Ländereien begnügen, sondern ihre Macht auf die fernsten Weltgegenden ausdehnen. Der Expressionismus wird politisch, sobald das Subjekt, das sich verwirklichen will, die Güter der ganzen Erde für seine Sehnsucht und seinen Konsum reklamiert. Das für moderne Lebensformen konstitutive Prinzip Wachstum meint nichts anderes als kinetischen Expressionismus in Aktion.

§ 6 »Wir sind auf einer Mission«

»Wir sind auf einer Mission: zur Bildung der Erde sind wir berufen.«

Novalis

Der Expressionismus der Modernen beruht auf einer Annahme, die für die Menschen früherer Zeiten so selbstverständlich war, daß sie praktisch nie explizit formuliert werden mußte. Für sie stellte die Natur ein unendlich überlegenes und darum auch grenzenlos belastbares Außen dar, das alle menschlichen Entladungen absorbierte und alle Ausbeutungen ignorierte. Diese spontane Naturidee hat die Geschichte der Menschheit bis gestern bestimmt, und noch heute gibt es unzählige Zeitgenossen, die sich nicht vorstellen können und wollen, in diesem Punkt könne ein Umdenken notwendig werden. Der entfesselte expressionistische Zug im Lebensstil der reichen Zivilisationen von heute hat jedoch klargemacht: Die Gleichgültigkeit der Natur gegen das menschliche Treiben war eine Illusion, die dem Zeitalter der Ignoranz entsprach. Es gibt Grenzen des Ausdrucks, Grenzen der Emission, Grenzen der Duldung von Unwissenheit – und weil es solche Grenzen gibt, auch wenn wir nicht wissen, wo genau sie zu ziehen wären, gerät die scheinbar unvordenkliche Idee der Natur als einer alles-absorbierenden Äußerlichkeit ins Wanken. Mit einem Mal sehen wir uns genötigt, die widernatürlich scheinende Vorstellung zuzulassen, daß die terrestrische Sphäre im ganzen durch die menschliche Praxis in ein einziges großes Interieur verwandelt worden ist. Buckminster Fuller hatte die Verantwortung für diese erschütternde Wende in die Hände der Designer legen wollen, von denen er eine »komprehensive« und »antizipatorische« Denkweise forderte. Solches Denken sollte die »Weltplanung« im »totalen Kommunikationssystem des Menschen« auf dem Raumschiff Erde ermöglichen.

Vierzig Jahre nach der Publikation von Buckminster Fullers Manifest stellt sich heraus, daß es weniger die Designer sind, die für die Durchsetzung der neuen Welt-Idee des Makro-Interieurs gesorgt haben, als vielmehr die Meteorologen. Für uns ist evident: Nicht das Design, die Meteorologie ist an die Macht gekommen. Sie hat sich politisch und wissenschaftlich durchgesetzt, weil sie für den Augenblick das suggestivste Modell des globalen Interieurs anbietet: Sie handelt von dem dynamischen Kontinuum der terrestrischen Gashülle, das wir seit den Tagen der griechischen Physiker die Atmosphäre – wörtlich: die Dunstkugel – nennen. Die Gespräche über das Wetter haben aufgehört, harmlose Konversationen zu sein, seit uns die Klimawissenschaftler bewiesen haben, daß die Atmosphäre ein Gedächtnis hat: Sie hat den Rauch aus den Schornsteinen der frühen industriellen Revolution immer noch nicht ganz vergessen, und sie wird auch nichts von alledem ignorieren, was die Kohlekraftwerke der entwickelten Länder, die Heizungsanlagen der Mega-Citys, die Flugzeuge, die Schiffe, die Automobile der Wohlhabenden und die unzähligen offenen Feuer der Armen auf allen Kontinenten in sie entlassen, obschon gewöhnlich die Hälfte davon durch Ozeane und Biosphäre gebunden wird. Gewiß, auch andere Relikte humaner Fragwürdigkeit werden von der Erde aufbewahrt: Noch in unseren Tagen werden im norddeutschen Schlamm Hufeisen entdeckt, die den Durchzug römischer Kavallerie beweisen. Dem deutschen Boden wird von der Anwesenheit der römischen Hufeisen weder warm noch kalt. Hingegen ist die Erdatmosphäre ein sensibler Deponieraum: Sie zeigt die Neigung, auf vergangene und gegenwärtige Emissionen mit Erwärmung zu antworten. Wenn die Meteorologen die Wahrheit sagen, wird die erwartbare Veränderung des Klimas in vielen Weltgegenden zu Verhältnissen führen, die mit menschlichem Dasein, wie wir es gekannt haben, nicht verträglich sind.

Somit sind die Meteorologen in die Rolle von Reformatoren geraten. Sie übermitteln den Menschen in den Industrienationen wie in den großen Schwellenländern einen Aufruf zur Umkehr hinsichtlich ihres Lebensstils: Sie fordern nicht weniger als eine mittelfristige Dekarbonisierung der Zivilisation und einen weitgehenden Verzicht auf die enormen Annehmlichkeiten des fossilenergetisch basierten modus vivendi.

Der Einschnitt, den diese Postulate bedeuten, reicht so tief, daß man berechtigt ist, nach großen Analogien zu greifen: Das von den Menschen des 21. Jahrhunderts geforderte Umdenken geht weiter als die Reformationen des 16. Jahrhunderts, in denen immerhin die Regeln des Verkehrs zwischen Erde und Himmel revidiert wurden. Es erinnert geradewegs an die Stimme Johannes’ des Täufers, die zur totalen Umkehr aufrief. Die Stimme aus der Wüste verlangte damals nicht weniger als eine Metanoia, die dazu gedacht war, das triviale egoistische Ethos des Alltags durch den moralischen Ausnahmezustand des Herzens zu ersetzen – dieser Ruf sollte die permanente Revolution auslösen, die wir Christentum nennen. Schließlich erinnert die heutige Forderung nach einem Umdenken auch an die subtile Bemerkung Platons in seinem Dialog Sophistes, wonach der Streit zwischen den Ideenfreunden (vulgo den Idealisten) und den Liebhabern der wahrnehmbaren Körper (vulgo den Materialisten) über den Sinn des Seins einem Gigantenkampf gleichkomme – einem Kampf, der auf Grund der Strittigkeit der Sache selbst so lange dauert, wie es Menschen gibt, um für die eine oder andere Position zu votieren.

Der aktuelle Kampf um das Klima hat nicht mehr die »Erdherrschaft« zum Gegenstand, von der die politischen Kommentatoren des imperialistischen Zeitalters mit Vorliebe sprachen. Vielmehr geht es in ihm um die Möglichkeit, den Zivilisationsprozeß offenzuhalten und seine Fortsetzung zu gewährleisten. Nach der gegenseitigen Entdeckung der Kulturen durch den Fernverkehr zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert führte dieser Prozeß eine provisorische Synthese der globalen Akteure durch Handel und Diplomatie herbei. Er soll demnächst vorangetrieben werden bis zum positiven Zusammenwirken der Kulturen in operationsfähigen gemeinsamen Institutionen – wobei wir die Frage beiseite lassen, ob »die Menschheit« überhaupt imstande ist, ein kohärentes Wir oder eine praxisfähige volonté générale auszubilden.

Nur zwei Dinge sind im Augenblick gewiß: Zum einen,