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ADRIANA

Eine ganz normale Hexe

von

Roswitha Springschitz

© 2017 Roswitha Springschitz

Autorin: Roswitha Springschitz

Verlag: myMorawa von Morawa Lesezirkel GmbH

ISBN: 978-3-99057-493-5 (Paperback)

ISBN: 978-3-99057-494-2 (Hardcover)

ISBN: 978-3-99057-495-9 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1. Kapitel

Adriana war ganz und gar nicht zum Lachen. Zurzeit jedenfalls nicht, denn sie hatte so viel zu tun in der Schule: Englischtest, Physikprüfung, Deutschreferat und Mathematikschularbeit: all das in einer Woche!

Adriana war vierzehn, lebte mit ihrer Mutter Kunigunde in Wien und ging in die dritte Klasse Gymnasium. Sie sah aus wie viele ihrer Altersgenossinnen: hatte die Haare neuerdings kohlrabenschwarz gefärbt, trug gern schwarze Kleidung und zerfetzte Jeans. Hatte einen mit diversen Sprüchen und Badges versehenen Schulrucksack, abgetragene Turnschuhe und wollte sich unbedingt die Zunge piercen lassen.

„Kommt nicht in Frage!“, sagte ihre Mutter. „Dass du daherkommst wie alle anderen auch! Schließlich bist du eine Hexe!“

„Ist das ein Grund?“, entgegnete Adriana trotzig. Ihre Mutter hatte so gar keine Ahnung: Adriana musste sich nämlich unbedingt piercen lassen, um endlich wieder ein bisschen Achtung der MitschülerInnen zu gewinnen! Denn seit einiger Zeit ging es ihr nicht gut mit ihnen: andauernd stichelten sie und spotteten: darüber, dass Adriana einen Raben, Balduin, als Haustier hatte, darüber, dass Adrianas Mutter Kunigunde als Kandidatin der „Bürgerpartei“ bei den nächsten Gemeinderatswahlen antrat, darüber, dass Adriana keine „richtigen“ Geschwister – nur zwei Halbbrüder hatte, darüber, dass sie in Englisch mitarbeitete, darüber, dass sie nie lächelte, wenn sie die Klasse betrat, darüber, dass sie einen so uncoolen Klingelton auf ihrem Handy hatte, darüber, dass ihr Vater Isfahan hieß, wie die Stadt im Iran, wie kann man nur so heißen...und...und...und.

Der Einzige, der ihr zurzeit Trost spenden konnte, war Balduin. Ihm klagte sie ihr Leid und erzählte, dass sie plane, sich zu rächen. Nachts las sie nun oft heimlicher- und verbotenerweise in den dicken Hexenbüchern ihrer Eltern, die sie – ganz verstaubt – in einem alten Kasten am Dachboden gefunden hatte. Sie hatte ihrer Mutter von diesem Fund nichts erzählt, denn sie wusste, dass es ihr verboten war, in den Büchern zu lesen und Zaubersprüche auszuprobieren.

„Eines Tages wirst du von deinem Vater und mir die alten Bücher überreicht bekommen!“, sagte ihre Mutter immer wieder einmal auf ihre Frage, wann sie denn nun endlich zaubern lernen würde. Eines Tages, eines Tages... jetzt musste sie es können, um sich aus ihrer misslichen Lage in der Schule zu befreien! Da musste es doch den geeigneten Spruch geben! Verbissen suchte sie, blätterte in den Büchern, grübelte über die geheimnisvollen Worte, die sie fand, traute sich aber nicht, diese laut auszusprechen.

Und dann, eines Nachts, genauer gesagt: in der Nacht von Sonntag, den 4. auf Montag, den 5. April, passierte es: Adriana war aufgewacht, vielleicht wegen des Mondlichts, das hell in ihr Zimmer leuchtete – Vollmond! Vielleicht wegen ihres schlechten Gewissens: wieder hatte sie die Mathematikhausübung für den nächsten Tag nicht gemacht. Sie konnte nicht mehr einschlafen, wälzte sich stundenlang von einer Seite zur anderen und murmelte schließlich einen Zauberspruch, den sie sich irgendwie gemerkt hatte: „Weiß zu Weiß und Schwarz zu Schwarz, das befehle ich!“

Und da war er da, aus dem Nichts: der Rabe Braxas und saß auf ihrer Bettdecke. „Ich bin Braxas!“, stellte er sich vor – und das war das erste und letzte Mal, dass Adriana ihn reden hörte. Von da an krächzte er nur mehr. Und wie: so laut und aufdringlich! Er nervte! „Ich wollte doch nicht noch einen zweiten Raben!“, stöhnte Adriana. „Als hätte ich nicht schon genug am Buckel!“

„Krah, krah!“, bekräftigte Braxas. Balduin, in seinem Käfig, sprang aufgeregt hin und her. „Um Gottes willen!“, rief Adriana, sprang aus dem Bett und stürzte zum Käfig, um die Türe zu schließen. (Denn Balduins Käfig stand immer offen, war im Grunde überflüssig, da Balduin absolut zuverlässig und gehorsam war, Adriana auf‘s Wort folgte und niemals Anstalten gemacht hatte, wegzufliegen.) Adriana wollte vermeiden, dass die beiden sich in die Federn kriegten.

„Was soll ich tun, Balduin?“, fragte sie. „Was hältst du von Braxas?“ – „Krah, krah, krah!“ Braxas krächzte so laut, dass Adriana Balduins Antwort gar nicht verstand. Falls er überhaupt geantwortet hatte…

„Könnt ihr beiden euch vertragen?“, fragte Adriana. Und dachte: Nein, nein, nein! Das Erste was ich jetzt zu tun habe, ist, einen Zauberspruch zu finden, um Braxas wieder loszuwerden. „Braxas, du bist einer zu viel!“, sagte Adriana, gerade in dem Moment, als ihre Mutter Kunigunde ihr Zimmer betrat: „Frühstück ist fertig!“„ Hast du eine Idee, wie man einen lästigen Raben wieder loswird?“, fragte sie, beziehungsweise wollte sie fragen, denn Braxas kam auf ihre linke Schulter geflattert und krächzte so laut, dass er ihre Worte übertönte.

„Wo kommt der denn her?“, fragte Kunigunde, „Und warum willst du ihn denn loswerden, er ist doch sehr hübsch! Wirklich ein besonders schönes Exemplar! Hast du gesehen, wie seine Federn glänzen? Wenn das ein kleiner Zauberversuch von dir war: gratuliere! Aber komm jetzt frühstücken, ich hab’s eilig!“ Wie immer, dachte Adriana, immer ist sie in Eile, nie kann man mit ihr reden!

„Wann habt ihr die nächste Mathematikschularbeit?“, fragte Kunigunde, während sie für Adriana Cornflakes in ein Schüsselchen gab. „Hab ich dir doch eh gesagt!“, antwortete Adriana patzig. „Am Mittwoch! Ich will keine Cornflakes!“ – „Ja dann“, meinte Kunigunde, während sie die Cornflakes in die Packung zurückleerte, „weißt du ja, was du zu tun hast! Du willst ja wohl nicht die Klasse wiederholen! Also setz dich endlich mal hin und lern anständig!“

„Ich schaff das alleine nicht!“ – „Pah, faul bist du, ständig andere Dinge im Kopf. In deinem Alter war ich...aber ich muss jetzt...Übrigens bist du dieses Wochenende nicht bei deinem Vater. Er verreist!“ Mit diesen Worten verschwand Kunigunde im Badezimmer.

Wie ich sie hasse! , dachte Adriana, immer ist sie gestresst und hektisch und hetzt von einem Termin zum anderen. Vor allem seit sie Politikerin ist. (Sicher war Adriana dann und wann auch wieder stolz auf ihre Mama, die ihr nun schon nicht mehr nur aus der Zeitung, sondern auch von diversen Wahlplakaten entgegenlachte: Das hatte sie geschafft, und zwar ganz ohne Magie – behauptete sie jedenfalls.)

Mit der Magie war das auch so eine Sache: Adriana verstand im Grunde gar nicht, wozu sie – angeblich! - magische Fähigkeiten haben sollte. Sie blickte da einfach nicht durch! Was nützte es ihr beispielsweise, nun zwei Raben zu haben, dafür in der Schule die größten Probleme? Immer wieder hatten ihre Eltern, beide Magier, Adriana klargemacht: Du bist eine Magierin, eine Hexe, verfügst über außerordentliche Kräfte! Zu jedem Geburtstag hatte Adriana ein Utensil für ihre Zauberausrüstung bekommen: eine Glaskugel, schwarze Vogelfedern, einen Hexenhut, sogar einen Besen: Adriana erschienen all diese Dinge wie Scherzartikel, Faschingszubehör. Sie standen und lagen in ihrem Zimmer, verstaubten dort. „Einmal wirst du wissen, dass du sie nun brauchst und wie du sie verwenden musst!“, hatte ihr ihre Mutter erklärt. „Du wirst schon noch draufkommen, wie alles funktioniert! Bei mir hat’s auch ein Weilchen gedauert...“ – „Super!“, sagte Adriana, „Und wer hilft mir, dass ich in der Schule in Mathematik durchkomme?“ – „Tja, da wirst du dich dahinterklemmen müssen, meine Liebe! Ich hab’s dir immer schon gesagt: Lern, lern, lern!“ – „Ich hasse Mathematik!

Und überhaupt: unsere Lehrerin ist total ungerecht und mich mag sie überhaupt nicht! Vor allen anderen macht sie mich zur Sau: ruft mich an die Tafel...“ – „Adriana, ich muss jetzt gehen, wir reden ein andermal!“ Wie gesagt: Kunigunde war ständig in Eile, hatte viele wichtige Termine...Dieser Montagmorgen war keine Ausnahme.

„Kann ich jetzt auch einmal ins Bad?“, rief Adriana. „Sofort, mein Liebling, ich bin gleich fertig! Und...Adriana...“ Kunigunde öffnete die Badezimmertür – natürlich hatte sie noch ein Handtuch in Form eines Turbans auf dem Kopf und war im Bademantel, war also ganz und gar nicht fertig - „hol bitte den alten Vogelkäfig vom Dachboden und sperr‘ Braxas darin ein, bevor du in die Schule gehst. Balduin gibst du, wie immer, in seinen Käfig. Man kann ja nie wissen...Braxas scheint doch etwas aggressiver zu sein als Balduin, am Ende geht er auf Balduin los. Mittags bin ich heute unterwegs. Im Gefrierfach findest du eine Pizza. Und bitte, zieh nicht wieder die ganz schäbige Jean in die Schule an! Nimm die neue, die wir vorige Woche...“ Adriana wartete nicht, bis ihre Mutter ausgeredet hatte. Wie sie diese Anweisungen hasste! Ganz sicher würde sie die schäbige Jean anziehen – obwohl sie eigentlich vorgehabt hatte, die neue zu nehmen. „Ich werde Braxas einfach rauslassen!“, sagte Adriana trotzig. Braxas krächzte, seit das Wort „Käfig“ gefallen war, laut und ohne Unterlass.

„So, du kannst jetzt ins Bad! Ich geh dann schon. O Gott, so spät schon!“ Kunigunde, immer noch im Bademantel, mit nassen Haaren, aber schon geschminkt und in eine dicke Parfumwolke gehüllt hauchte ihrer Tochter ein Küsschen auf die Wange. „Mach’s gut! Bis heute Abend! Es kann aber heute spät werden...Ich ruf dich an! Und...Braxas rauszulassen wird dir nicht gelingen! Er ist ja kein gewöhnlicher Rabe!“

Was soll ich heute anziehen, zur alten Jean? , überlegte Adriana, während sie sich kritisch im Spiegel betrachtete: Sie gefiel sich wieder einmal ganz und gar nicht. Fand sich dick, pausbäckig, hässlich. Zu allem Überfluss entdeckte sie außerdem am Kinn und auf der Stirne zwei rote Flecken, leichte Schwellungen: Das würden sicher zwei grässliche Eiterwimmerl werden! Adriana streckte ihrem Spiegelbild die Zunge heraus und fischte den schwarzen Pullover aus dem Schmutzwäschekorb: Wieder hatte ihre Mutter keine Wäsche gewaschen!

Einen zweiten schwarzen Pullover wünschte sie sich schon lange und ihr Vater hatte ihr auch einen versprochen, aber der verreiste nun wieder einmal. Wie lange, hatte Kunigunde nicht gesagt und Adriana kannte das bereits: diese Reisen Isfahans, die nicht zu pla-nen und vorherzusehen waren. Adriana hatte diese schon öfter beklagt: „Tja, er ist eben ein großer und gefragter Mann“, hatte Kunigunde gemeint, mit einem leicht spöttischen Unterton, „der weltweit seine Aufträge hat –so viele Aufträge, dass er ihnen gar nicht nachkommen kann!“ (Isfahan war der Leiter der Organisation JUSTICE, die Fälle von Mobbing auf höchsten Ebenen aufspürte und Anlaufstelle für von Mobbing Betroffene war.)

„Aber er hat auch einen wichtigen Auftrag als mein Papa!“, hatte Adriana trotzig gesagt. „Ja, ja“, hatte Kunigunde beschwichtigt, „er hat dich ja eh sehr lieb, das weißt du ja!“

Montagmorgen. Adriana wollte einfach nicht in die Schule. Fühlte sich unendlich müde und traurig. Stopfte ihre Schulsachen in die Tasche und beschloss, das Mathematikheft mit der fehlenden Hausübung zu „vergessen“. Dann ging sie auf den Dachboden, um den alten Vogelkäfig zu holen. Bislang hatte es nicht den Anschein, als würden sich Balduin und Braxas in die Federn kriegen: Sie ignorierten sich: Balduin saß in seinem Käfig und hatte die Augen geschlossen, Braxas spazierte in Adrianas Zimmer umher und ließ dann und wann sein Krächzen hören. Er benahm sich, als wäre er in Adrianas Zimmer längst zuhause, als wolle er Balduin signalisieren: Ich bin nun der Herr in diesem Zimmer, kann hier tun und lassen, was ich will! Erstaunlicherweise begab er sich aber sofort freiwillig in den Käfig, den Adriana geholt hatte, krächzte noch ein paar Mal laut, während er ihn betrat und machte es dann sofort Balduin gleich: setzte sich auf die Stange und schloss die Augen. „Brav!“, lobte Adriana ihn. Eigentlich fand sie es cool, nun zwei Raben zu besitzen! „Vielleicht könnt ihr beiden mir ja helfen!“, sagte sie, während sie noch etwas Futter und Wasser in die Käfige stellte. Balduin und Braxas öffneten kurz die Augen und schienen ihre Köpfe ganz leicht zu bewegen - als nickten sie. Adriana verließ die Wohnung und beeilte sich, zur U-Bahn zu kommen.

Ob ER wieder da war? An fast jedem Schultag sah Adriana seit einiger Zeit einen Schüler der 6. Klasse ihrer Schule bei der U-Bahnstation: Er musste in der Nähe wohnen! Meist stand er beim Zeitungskiosk und er sah einfach hinreißend aus: dunkle Haare, dunkle Augen, groß und irgendwie verwegen und gleichzeitig verträumt: einfach zum Verlieben! Das Schönste für Adriana war, ihn zu sehen, am Morgen oder in der Schule: in der Garderobe, in der Pausenhalle, auf dem Gang. Das Schönste und gleichzeitig das Furchtbarste: denn Adriana träumte davon, dass er sie anredete. Er kam dann ganz locker auf sie zu: „Hey, ich kenn dich! Wir gehen in dieselbe Schule. Wie heißt du?“ oder so...Das malte sie sich oft und oft aus. In der Realität wagte sie nicht einmal, in seine Richtung zu schauen, sobald sie aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte, dass er da war. Sie stellte sich dann meist mit dem Rücken gegen ihn gewendet: herzklopfend und wartend, dass er kommen werde, sie anzusprechen; mit all ihren Sinnen ihn wahrnehmend, ohne ihn zu sehen.

Nun gut: an diesem Morgen blieb ihr jedenfalls auch das Herzklopfen erspart, denn ER war nicht da. (War er krank? War schon früher als sonst gefahren? Hatte er verschlafen?)

Die U-Bahn fuhr ein. Adriana stieg ein. Wusste plötzlich: Heute gehe ich nicht in die Schule!

Sie fuhr zwei Stationen weiter als sonst, stieg dann aus und ging...irgendwohin…

Bisher hatte sie erst einmal die Schule geschwänzt: vor einigen Monaten, gemeinsam mit ihrer - damaligen! - Freundin Beatrix.

„Traust du dich?“, hatte Beatrix sie am Vortag am Telefon gefragt, „Wir treffen uns um 8 bei der Station Stadtpark!“ – „Warum sollte ich mich nicht trauen?“, hatte sie geantwortet.

Das Dumme: dass es an jenem Tag in Strömen regnete, ausgerechnet, denn all die Tage davor war herrliches Herbstwetter – Altweibersommer – gewesen und die Luft im Klassenzimmer unerträglich stickig.

Schule schwänzen bei strömendem Regen ist nicht recht gemütlich. Die beiden hatten auch keine Schirme dabeigehabt und waren da-rum zuerst einmal zu Beatrix nach Hause gefahren, um Regenjacken und Schirme zu holen, dann aber gleich in der Wohnung geblieben. „Bist du sicher, dass deine Mama nicht plötzlich dasteht? Vielleicht weil sie ihren Schirm vergessen hat?“, hatte Adriana gefragt. „Die ist gestern Abend nach London geflogen: ist eher unwahrscheinlich!“ – Beatrix’ Antwort, „Hast du etwa Schiss?“...

An diesem Montag wollte Adriana aber gar nicht an jenen Tag denken, vor allem nicht an Beatrix! Aus und vorbei! Beatrix war nicht mehr Adrianas Freundin. War verlogen und gemein: „Die glaubt, sie ist etwas Besseres!“: So hatte sie über Adriana vor allen anderen geredet! Seit Adriana Beatrix erzählt hatte, sie sei eine Hexe, wurde sie von dieser nur verspottet und gehänselt: „Das musst du mir erst mal beweisen!“, hatte Beatrix gesagt. „Ich glaub dir das gar nicht! Und wenn’s wahr ist: Warum, bitte, bist du in der Schule heuer so schlecht?!“ – „Ich werd’s dir schon noch beweisen!“, hatte Adriana geantwortet. „Gut Ding braucht Weile!“ – „Bla bla! Entweder Hexe oder nicht! Was soll denn da eine Weile brauchen?“, war Beatrix’ Antwort gewesen. Immer wieder waren die beiden auf dieses Thema gekommen. Adriana hatte Beatrix sogar gestanden, dass sie selbst manchmal an ihren Fähigkeiten zweifle. „Lass dir doch von deinen Eltern keinen Bären aufbinden!“, hatte Beatrix gesagt, „Die beiden sollen Magier sein? Und, hast du’s schon erlebt?“ – „Allerdings!“ – Adriana. „Aber das erzähl ich dir ein andermal!“ Irgendwie hatte sie gespürt, dass sie mit Beatrix besser nicht über all das redete, was, seit sie sich erinnern konnte, in ihrem Leben schon so oft passiert war. Vielleicht hatte Beatrix danach gespürt, dass Adriana nicht mehr so offen und unbefangen war wie früher. Jedenfalls hatte sie dann wirklich Adriana vor den anderen lächerlich gemacht.

Und seit diesem Tag hatte Adriana Beatrix aus ihrem Leben verbannt. Oder hätte das gern getan, was aber nicht so einfach war, da die beiden ja immer noch in dieselbe Klasse gingen.

Beatrix hatte sie zwar um Verzeihung gebeten: „Entschuldige, dass ich so gemein war! Es tut mir wirklich leid! Kannst du mir vergeben?“ und: „Gehen wir miteinander ins Kino? Ich lade dich ein!“ und die beiden waren tatsächlich im Kino gewesen. Aber das Zusammensein war nicht mehr dasselbe gewesen: Sie hatten nicht mehr, wie früher, offen und locker miteinander über alles reden können. Weitere Versöhnungsversuche seitens Beatrix hatte Adriana dann abgeblockt. Sie war Beatrix solange aus dem Weg gegangen, bis diese nicht mehr versucht hatte, mit ihr in Kontakt zu treten.

An diesem Morgen nun war Adriana alleine unterwegs, und das war viel weniger lustig als zu zweit!

Sie ging durch den Stadtpark: kühle Frühlingsluft, frisches Grün, blühende Bäume und leuchtend gelbe Märzenbecher. Das alles nahm sie nur am Rande wahr, denn sie hing trüben Gedanken nach: Wenn es so weiterging, in der Schule, würde sie in Mathematik ein „Nicht genügend“ bekommen, im Jahreszeugnis! Wenn es ganz dumm herging, ebenfalls eines in Physik. Das hieße: den ganzen Sommer lernen, es im Herbst vielleicht auch nicht schaffen, bei den Wiederholungsprüfungen, die Klasse wiederholen! Dabei hatte Adriana ganz andere Pläne im Sommer: Sie wollte beim Casting für SINGSTAR mitmachen – ihr größter Traum!

„Du singst wirklich gut, Adriana!“, hatte ihr schon öfter ihre Musiklehrerin bestätigt, „Du hast Talent! Mach was draus!“ Adriana konnte etliche Lieder perfekt nachsingen: hatte dann genau denselben Schmelz in der Stimme wie diese oder jene Sängerin; fühlte sich ganz ein in die Phrasierung, in das Timbre. „Aber du singst ja nur nach!“, hatte ihre Mutter kritisiert. „Sicher, das kannst du ganz gut. Aber überhaupt: bei so einer Show wie SINGSTAR auftreten ist keine gute Idee!“ – „Und warum nicht?“, hatte Adriana trotzig gefragt. „Willst du es mir etwa verbieten?“ – „Ich glaub halt, dass...Nein, Adriana, ich verbiete es dir nicht! Aber zuerst musst du dieses Schuljahr positiv abschließen!“ (Immer muss sie gegen alles sein, was mir wirklich wichtig ist! , hatte Adriana gedacht. Am besten erzähle ich ihr gar nicht mehr von meinen Plänen!)

„Hey, Adriana, was machst du denn da?“ Adriana wurde aus ihren Gedanken gerissen. Na das fehlte ihr noch: Ihre Physiklehrerin stand vor ihr! „O, ich bin auf dem Weg zu meinem Zahnarzt, das heißt…“ (Scheiße, wo ist denn da in der Nähe ein Zahnarzt?). Adriana stockte und wurde rot. Glücklicherweise war die Physiklehrerin eine etwas verträumte Person – nein, das war falsch, verträumt war nicht das richtige Wort: Sie lebte einfach voll und ganz in ihrem und für ihr Fach und bemerkte somit Adrianas Verlegenheit nicht. „O du Arme! Na dann viel Glück!“ - „Ich hatte nämlich die ganze Nacht furchtbare Zahnschmerzen. Eigentlich schon das ganze Wochenende über!“, fügte Adriana, die die Fassung wiedergewonnen hatte, noch schnell hinzu und hielt sich ostentativ die Backe.

Eigentlich gut, dass ich sie getroffen habe! , dachte Adriana, während sie der davoneilenden Leherin nachschaute. Die Begegnung mit der Physiklehrerin hatte ihr gezeigt, dass ihr erstes nun zu lösendes Problem (und ein Stressfaktor!) die Frage war, wie sie zu einer Entschuldigung für ihr Fernbleiben kommen würde: Zahnschmerzen, sie hatte fürchterliche Zahnschmerzen! Das musste sie nun nur mehr ihrer Mutter...obwohl...nein, eigentlich musste sie das nicht, denn ihre Mutter war nicht zu belügen. „Mama, ich habe heute geschwänzt und brauch eine Entschuldigung!“ würde sie sagen.

Adriana setzte sich auf eine Bank und dachte nach: Was, wenn ihre Mutter ihr keine schreiben würde? Sie konnte so hart sein...Am besten rief sie sie sofort an...obwohl, nein...sie würde ihr bestimmt befehlen, unverzüglich in die Schule zu fahren. Sie würde sie nach 12 Uhr Mittag anrufen. Kurz vor 13 Uhr. Adriana sah auf die Uhr: 8 Uhr 20...8 Uhr 20! Montagmorgen! Physik!!! schoss es Adriana durch den Kopf: Das gibt’s doch nicht, kann doch nicht sein!

Sie begegnet der Physiklehrerin, während diese in ihrer Klasse unterrichtet!

Oder unterrichten sollte. Unglaublich! Das musste sie später unbedingt herausfinden: ob die Physikstunde stattgefunden hatte, ganz normal. In ihr Handy tippte sie, unter „Aufgaben“: Physik, Montag? ein, um nicht darauf zu vergessen, ihre MitschülerInnen diesbezüglich zu befragen.

Adriana fröstelte ein wenig, auf der Bank: ein kühler Frühlingsmorgen. Außerdem war sie hungrig: Sie hatte ja noch nicht gefrühstückt. Irgendwie war das ein besonders chaotischer Morgen gewesen: Begonnen hatte er mit ihrem Zauberversuch und Braxas’ Erscheinen…

Adriana war stolz, das erste Mal in ihrem Leben tatsächlich und unleugbar gezaubert zu habe! Mal sehen, ob ich mich mit Braxas gut verstehe, dachte sie.

Ich könnte natürlich auch versuchen, ihn in einen anderen Vogel – zum Beispiel in eine weiße Taube - zu verwandeln! Ich mag ja Tauben so gern. Oder vielleicht in einen Papagei?

Aber die könnten mir in Mathematik wohl auch nicht helfen – somit ist meine Zauberei eigentlich sinnlos. Zurzeit jedenfalls. Adriana beschloss, nicht mehr in den alten Büchern zu lesen.

Vom vielen Grübeln hatte Adriana nun schon Magenschmerzen bekommen – oder vom Hunger.

Wo ist die nächste Bäckerei? , überlegte sie, nahm die Geldtasche aus dem Rucksack und sah nach, ob sie überhaupt Geld dabei hatte: Ein paar Euro hatte sie.

Gerade wollte sie zur Bäckerei in der Wollzeile, eine Topfengolatsche kaufen, da ließ sie ein Gespräch zweier älterer Frauen, die auf der Bank neben ihrer Platz genommen hatten, die Ohren spitzen: „Und dann ist Adriana in den LERNKREIS gegangen, und das hat ihr wirklich geholfen, einmal in der Woche Nachhilfe, und sie hat die Prüfung geschafft!“, sagte die eine. „Gott sei Dank!“ die andere, „Denn eine Klasse wiederholen, das wäre schlimm gewesen! Sie ist ja ein intelligentes, begabtes Mädchen! Wo ist eigentlich dieser LERNKREIS?“ – „Ganz in der Nähe, gegenüber vom Hotel „Klima“.“ Adriana meinte zu träumen: Die redeten über sie, und in der Vergangenheit! Das gibt’s nicht! , dachte sie. Ist wohl ein Zufall. Reden sicher von einer anderen Adriana! LERNKREIS, LERNKREIS, überlegte Adriana. Das musste so ein Nachhilfeinstitut sein...Genau: in der Pausenhalle der Schule hing ein Plakat vom LERNKREIS, fiel ihr ein. Nachhilfe könnte sie natürlich tatsächlich gebrauchen. Ob sie...

Jetzt aber zuerst einmal ein Frühstück! Adriana stand auf, um in Richtung Bäckerei zu gehen, da rief eine der Frauen sie beim Namen: „Hallo, Adriana, schön dich zu sehen! Wie erwachsen du geworden bist! Und so hübsch: ganz der Papa! Richte ihm einen schönen Gruß von mir aus!“ Na, jetzt ist’s mir aber wirklich zu bunt, dachte Adriana, jetzt redet mich die auch noch an! Ich kenne die überhaupt nicht! „Mach ich!“, sagte Adriana, die sich nicht auf ein Gespräch einlassen wollte und: „Auf Wiedersehen!“

Hunger, ich brauch jetzt endlich ein Frühstück! , dachte sie. „Ciao! Einen schönen Tag noch!“, rief ihr die Frau nach. Kennt den Papa…was weiß ich, wer das ist…

Die Topfengolatsche schmeckte so gut wie sonst nie. Adriana aß sie ganz langsam, während sie durch die Stadt spazierte.

In der folgenden Nacht träumte Adriana, sie habe Braxas in eine Taube verwandelt, und er sei ganz zutraulich und lasse sich gerne von ihr anfassen und streicheln.

Sie träumte auch von jenem Burschen aus der 6.Klasse, der ihr so gut gefiel: Er kam auf sie zu und sagte: „Hallo, du heißt Adriana, stimmt’s? Und du bist eine Hexe, kannst Raben herbeizaubern und verwandeln. Das finde ich voll cool. Kannst du mir das beibringen?“

Dann träumte sie noch von ihrem Vater und dessen kleinem Sohn, Jakob, ihrem Halbbruder:

„Kannst du morgen Abend auf Jakob und Michael aufpassen?“, fragte ihr Vater. „Roxane und ich gehen aus. Du kriegst auch was, fürs Babysitten!“

Beim Aufwachen wusste Adriana nicht, ob sie nun tatsächlich zum Babysitten eingeteilt war.