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Robert Lynn

TOCHTERHERZ

Krimi image Nautilus

KALIBER .64

Edition Nautilus

1.

Kirsten Valera war ganz allein / von Tim Degen
Vor zwei Wochen sprang sie in den Tod. Sie hatte getrunken, viel getrunken, als sie vom Balkon ihrer Wohnung im vierten Stock der vornehmen Isestraße in Eppendorf stürzte. Drogen waren nicht im Spiel, kein Gift, keine Gewalt. Das erfahren wir aus dem Autopsiebericht, den die Kripo gestern freigab. Sie selbst hat ihrem Leben ein Ende gesetzt. Die Ermittlungen sind eingestellt, die Akte geschlossen. Was bleibt, ist unsere Trauer um eine große Künstlerin und wunderbare Frau. Und die Frage: Warum war Kirsten Valera so allein?

Als Sängerin wäre sie die deutsche Christina Aguilera gewesen, als Tennisspielerin die deutsche Anna Kournikowa. Auf dem Bildschirm war sie Heilige, Hure und alles dazwischen, aber immer und zuerst Kirsten Valera. Sie hatte, was eine Schauspielerin unverwechselbar macht: ein Geheimnis. In jeder ihrer Rollen schimmerte es durch, alle wollten es ergründen, aber sie behielt es für sich. Das machte sie begehrenswert. Selbst in erotischen Szenen, selbst im Blick von Millionen Augen, blieb sie allein.

Allein war sie auch in ihrer letzten Nacht. Keiner half ihr, keiner hielt sie zurück. Schönheit, Ausstrahlung und Künstlertum bewahrten sie nicht vor der Einsamkeit, in der ihre Verzweiflung entstand und reifte. Sie sprang aus ihrem und unserem Leben. Vielleicht wäre es dazu nicht gekommen, wenn sie im Voraus gespürt hätte, wie sehr wir heute um sie trauern.

Tim Degens Kolumne hatte zwei Pointen, eine vor, eine nach dem Text. Die erste war sein Foto: rosa Krawatte, gegeltes Haar, randlose Brille, Mund zum halben Lächeln verzogen. Ein Jungdynamiker mit Ambitionen und einem Herz für Hartz-IV-Bezieher, vorausgesetzt, sie glaubten, was er schrieb. Von Trauer keine Spur. Die zweite Pointe in einem Kasten darunter: Sechs Fernsehfilme mit Kirsten Valera auf DVD, per Telefon, Fax oder Internet zu bestellen, im Express-Shop für nur 25 Euro.

Ragna blickte von ihrem Frühstücksei auf. »Sonst grinst du nie, wenn du das Schmierblatt liest.«

Ich reichte ihr die Zeitung. Sie las und nickte.

»Degen zieht mal wieder eine Schleimspur. Der Typ ist unerträglich. Aber die Valera hatte tatsächlich was.«

»Hatte sie eindeutig.«

»He, widersprich mir gefälligst, wenn ich was Nettes über eine andere Frau sage.«

»Ich habe mein Leben der Wahrheit geweiht, und wahr ist, dass sie schön und sehr sexy war.«

»Oh Mann, so was darfst du denken, aber sag es nicht. Lüg mich an, erfinde eine andere Wahrheit.«

»Welche?«

Ragna machte schmale Augen. Sie dachte ernsthaft nach, wie immer in heraufziehenden Krisen.

»Meinetwegen schön, zur Not sexy, aber gestört. Unsicher, voller Selbstzweifel, abhängig von irgendeinem synthetischen Mist. Masochistin, Sadistin, Autistin. Konnte keinen Kaffee kochen, ohne vor Angst zu zittern. Schizophren, psychotisch. Mehr?«

»Danke, das reicht.«

»Und natürlich ist sie in Wahrheit ermordet worden. Von einem Kerl, der sie haben wollte, und als er sie nicht gekriegt hat, sollte sie auch kein anderer haben.«

»Na sicher, logisch. Das klassische Motiv für jeden Krimischreiber, dem sonst nichts einfällt. Dummerweise sagt der Autopsiebericht was anderes. Es war nämlich kein Mord. Insofern ist deine wunderbare Idee leider Bullshit.«

»Klar, darum geht’s. Erfinde lieber Bullshit, als mir von der Valera vorzuschwärmen, du Klotzkopf.«

Ich nahm den Express wieder zur Hand, las die Kolumne noch einmal und musterte Degens Haifischlächeln. Sein Teint war zu gebräunt, seine Augen zu blau, die Krawatte zu rosa. Außer seiner täglichen Society-Kolumne schrieb er über Politik und Kultur. Er war mein Lieblingslügner beim Express.

»Gute Idee«, sagte ich.

»Was?«

»Bullshit erfinden. Degen kann es, ich auch.«

2.

Meine Nachfrage in der Polizeidirektion West ergab, dass Kanter als Kriminalrat im Alsterdorfer Präsidium gelandet war. Seine Sekretärin stellte mich erst durch, als ich laut wurde.

»Harret Wolf«, sagte er. »Kaum zu glauben.«

»Hallo, Jan. Hast du Zeit für mich?«

»Wann, wo und wie lange?«

»Ich sitze im Auto auf dem Parkplatz. Neben mir steht dein Saab.«

»Halbe Stunde. Wenn’s länger dauert, musst du mich morgen zum Essen einladen.«

Er war dünner geworden, aber nicht kleiner, und als ich zu ihm aufblickte, wünschte ich mir wieder, so auszusehen wie er. Seine Sekretärin brachte Kaffee. Wenigstens um die beneidete ich ihn nicht. Ich erklärte ihm mein Anliegen. Er rauchte noch immer Gauloises. Wie gewöhnlich funktionierte sein Feuerzeug nicht. Ich reichte ihm meins.

»Warum interessiert dich das, Harret?«

»Weil ich Zeit und Lust dazu habe. Weil ich einen Seller schreiben will und gerade auf Krawall getrimmt bin. Weil Kirsten Valera von Herrn Degen durch eine Schleimpfütze geschleift wird. Das missfällt mir.«

»Da sind wir schon zwei«, sagte Jan. »Obwohl ich es bedenklich finde, dass ein Erbschleicher wie du so ein Projekt aus reinem Vergnügen angehen kann.«

»Erbschleicher?«

»Vergiss es. Dir ist klar, dass du etwas höchst Illegales von mir verlangst?«

»Hat dich das je gestört?«

Am nächsten Abend aßen wir bei Scherrer an der Elbchaussee. Die Rechnung belief sich auf vierhundertsechzig Euro, dafür nahm ich einen Stapel Computerausdrucke mit nach Hause und studierte sie noch in der Nacht. Halb vier torkelte Ragna mit Nachtcremespuren auf der Nase aus dem Schlafzimmer und forderte mich ultimativ auf, ins Bett zu kommen. Ich sagte, dass sie ihre Leidenschaft bezähmen oder es sich selbst besorgen müsse. Um sechs war ich durch mit dem Material.

3.

Furchtbare Fotos der Toten, die ich schnell weglegte; der Aufprall hatte Kirsten Valera vernichtet. Es gab weitere: eine halb offene verglaste Schiebetür von ihrem Schlafzimmer zum Balkon, die markierte Stelle, wo sie vermutlich über das Stahlrohrgitter gestiegen war. Aufnahmen der Tagesdecke auf dem Bett mit Knautschfalten, Cognacflasche auf dem Nachttisch, daneben ein Päckchen Kondome, Papiertaschentücher, ein Band mit schwarzweißen Aktfotos von Männern, die Bibel. Weitwinkelaufnahmen aller Räume der Wohnung.

Erster Ermittlungsbericht nach zwei Tagen: Kirsten Valera war bis ein Uhr morgens im Indochine gewesen. Eingeladen hatte ihre Produktionsfirma zur Feier eines neuen Vierteilers über Auswanderer in Neusee-land, in dem sie eine Hauptrolle spielte. Die Gästeliste umfasste sechzig Medienleute. Valera trank, flirtete und tanzte auf dem Tisch. Ihre Freundin Ina Seidler gab an, dass sie zwischendurch verschwand. Ina fand sie rauchend auf der Terrasse mit Blick auf die Elbe, in sich gekehrt, ohne Mantel. Sie weinte und stieß Ina zurück, die sie trösten wollte. Zehn Minuten später stürzte sie sich wieder ins Getümmel und war strahlender Mittelpunkt der Feier. Kurz vor eins änderte sich ihre Stimmung von einer Sekunde zur anderen. Einen Kellner, der ihr einen falschen Drink brachte, machte sie so schneidend fertig, dass er sich krümmte. Sie riss das Glas von seinem Tablett, stürzte den Inhalt hinunter und scheuchte ihn zum Telefon. Er sollte ein Taxi bestellen. Alle bestürmten sie zu bleiben, aber sie blickte durch die Gesichter hindurch, als seien sie Glas, ließ ihren Mantel bringen und verbat sich jede Begleitung.

Der Taxifahrer bestätigte die Tour von der Großen Elbstraße nach Eppendorf. Er bat um ein Autogramm und bekam es auf seinen Quittungsblock. Kirsten Valera stellte ihm Fragen über seine Familie, deren Foto am Armaturenbrett klebte. Nette Frau, sagte er, überhaupt nicht eingebildet. Ein Uhr zweiundzwanzig hielt er vor ihrem Haus. Sie zahlte und ging hinein, eine Stunde später war sie tot.