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Anja Röhl

Die Frau meines Vaters

Erinnerungen an Ulrike

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Vorbemerkung des Verlags

»Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich«, können wir in Tolstois Anna Karenina lesen.

Dies ist ein Buch über Familie und Gesellschaft, über Kindheit und Erwachsenwerden, es handelt von Angst, Sehnsucht und Zuneigung. Nicht jede Erinnerung wird von anderen geteilt. Je nach Blickwinkel verzweigt sich das Erinnerte in der persönlichen Erzählung. Das liegt in der Natur der Sache. Die Wahrheit mag als zweifelhafter Anspruch angesehen werden, die Sichtweise auf Tatsachen und Geschehnisse mag abweichen, es bleibt aber der Schmerz früher Verletzungen, die einem Menschen auf seinem Lebensweg mitgegeben werden. Es sind keine exklusiven Erfahrungen, sondern geteilte, die von jedem auf eigene Weise erlebt und somit von allen nachempfunden werden können. Und es ist auch eigentümlich für das individuelle Erleben, dass das Glück flüchtiger ist als das Leid. Die angstfreie Lebensfreude bleibt so lange ein sehnsuchtsvolles Bemühen, wie die Familien die Pathologien des Unglücks produzieren, die das gesellschaftliche Leben vergiften.

In diesem Buch geht es um Elementares: um Verlust und Glücksuche, Wahrhaftigkeit und Lüge, das Aussprechen des Schmerzes. Die Autorin unternimmt mit ihrem Erinnern eine Selbstvergewisserung, weder ist sie bestrebt herabzusetzen noch zu verleumden. Es ist nicht zuletzt ein Buch der Zuneigung.

Die Mutter meiner Schwestern sollte der Roman ursprünglich heißen, und obwohl die Verbundenheit der Autorin mit ihren Halbschwestern nicht geleugnet werden kann*, so ist sie im Vorfeld der Veröffentlichung des vorliegenden Buches doch wieder Anlass für das Unglück der Familie Röhl: Unter Berufung auf ihr Persönlichkeitsschutzrecht wurden Anja Röhl und dem Verlag durch eine der Halbschwestern juristische Schritte angedroht, wenn nicht alle Passagen – auch Schilderungen solcher Sachverhalte, die bereits mehrfach öffentlich gemacht wurden, zum großen Teil sogar durch Bettina Röhl – aus dem Manuskript entfernt würden, in denen Anja Röhls Beziehung zu ihren Halbschwestern geschildert wird.

Das Bemühen um einvernehmliche Einigung ging vom Verlag aus, mit dieser Absicht hat der Verlag der Mutter und den Schwestern vorab das Manuskript zukommen lassen. Mit Anja Röhls Mutter wurde so eine Einigung erreicht, für die wir uns an dieser Stelle ausdrücklich bedanken möchten. Und eine solche Einigung schien zunächst auch mit Anjas Halbschwestern auf gutem Wege. Zahlreiche Passagen wurden auf deren Bitte gestrichen, ebenso wurde der Titel geändert – doch unter Umkehr aller Gepflogenheiten bei der Kompromissfindung wurden die Forderungen immer größer, bis zum Ansinnen, in Anja Röhls autobiografischem Buch müssten die Halbschwestern gänzlich unerwähnt bleiben.

Da unsere Bemühungen um einen fairen Ausgleich mit den Halbschwestern scheiterten, sieht sich der Verlag nun, um unfruchtbaren juristischen Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen, gezwungen, diesen Streichungsforderungen nachzukommen, sie aber durch Schwärzungen zu kennzeichnen. Das darf als Zeichen des Protests verstanden werden.

Wir bedauern, dass diesen Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend und an den großen Einfluss, den ein einziger verständnisvoller, zugewandter Mensch hier haben kann, so nun ein Ruch von Skandal anhaften wird und die Aufmerksamkeit nicht auf das kurze Glück der Autorin, sondern wieder einmal auf das Unglück der Familie gelenkt wird. Wir haben versucht, es zu vermeiden, es ist uns nicht gelungen.

Edition Nautilus, Hamburg im Februar 2013

* »Anja nahm sich in geradezu rührender Weise ihrer kleinen, sieben Jahre jüngeren Halbgeschwister an, nahm uns bei Spaziergängen an die Hand und hat meiner Mutter oft damit eine Freude gemacht, daß sie mit uns Zwillingen fröhlich spielte und scherzte. In Anja waren wir als Kinder ganz verliebt. Sie war im Umgang mit kleinen Kindern ein Naturtalent.« So schrieb es Bettina Röhl selbst in ihrem Buch (So macht Kommunismus Spaß! Ulrike Meinhof, Klaus Rainer Röhl und die Akte Konkret, Hamburg 2006, S. 441).

Vorbemerkung der Autorin

Der folgende Text beschreibt eine Kindheit zehn Jahre nach Kriegsende – aus der Perspektive des Kindes. Diese Geschichte ist bei weitem kein Einzelfall. Viele Kinder wuchsen in den fünfziger und sechziger Jahren so auf, die Strukturen in den Kindergärten und Heimen waren noch geprägt von den Erziehungsmethoden der Nazis. Trennungskinder hatten es besonders schwer, da alleinerziehende, voll arbeitende Frauen oft keine Möglichkeit hatten, ausreichend Zeit mit ihren Kindern zu verbringen und außerdem auch noch sozial geächtet waren. Autoritäre Erziehungseinrichtungen und ungenügende elterliche Beschäftigung mit den Kindern waren und sind Zeitphänomene.

Ich habe Ulrike Meinhof als neue Frau meines Vaters und als Mutter meiner Halbschwestern kennengelernt. Die Darstellung dieser Begegnung ist subjektiv. Sie soll subjektiv sein. Um dem Leser diese Subjektivität zugänglich und verständlich zu machen, sind den Erinnerungen an Ulrike Meinhof andere Kindheits- und Jugenderinnerungen zur Seite gestellt. Nur in diesem Rahmen lässt sich die Bedeutung, die Ulrikes Handeln und ihre Briefe für das Kind, das Mädchen, für mich hatten, nachvollziehen.

Das Buch ist allen Scheidungs-, Trennungs- und Heimkindern gewidmet.

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Meiner Mutter und mir tut es heute sehr leid, dass wir uns einst so viel Kummer bereitet haben und eine so konfliktreiche Zeit durchleben mussten. In den vergangenen Jahren haben wir aber wieder einen Weg zueinander gefunden.

In diesem Buch stehen die negativen, sehr subjektiven Erinnerungen an meine Mutter im Vordergrund. Daher möchte ich betonen, dass es auch viele positive gemeinsame Erlebnisse gegeben hat.

»Haut heißt Haut, weil man darauf haut.«

Der Vater zum Kind, 1960

»Absurd … da ist nichts dran … Wir hatten eine schöne Zeit. Natürlich schlief Anja in meinem Bett. Aber da war nichts. Das einzige Problem war Schlittenfahren, da war ein kleiner Hügel und den wollte sie nicht runter. Sie war so ein Angsthase. Ich konnte damit nicht umgehen. Ich haute ihr eine runter. Sie war damals etwa fünf Jahre alt. … Ich hatte viele Frauen. Mit Ulrike führte ich eine hocherotische Beziehung. Schon von daher gab es keinen Anlass.«

Klaus Rainer Röhl am 6.5.2010, im Stern

Es ist Sonntag, der 9. Mai 1976 um 5.10 Uhr, als die junge Frau die Haustür hinter sich zuzieht und sich auf den Weg zur Arbeit macht. Hätte sie an diesem Tag nicht Frühdienst, würde man sie um diese Zeit kaum auf den Straßen von Berlin-Neukölln zwischen wankenden Alkoholikern und unausgeschlafenen Hundebesitzern beobachten können. Wie gewöhnlich nimmt sie die U-Bahn, die sie in den Süden des Stadtteils bringt, vorbei an den grauen Arbeitervierteln, den Fassaden, an denen der Putz abblättert, hin zu Gärten mit zwitschernden Vögeln, violettem Flieder und weißen Obstblüten, hinter denen kleine Reihenhäuschen aneinander kleben. Wie gewöhnlich betritt sie das Neuköllner Krankenhaus durch das vom übermüdeten Pförtner bewachte Tor, fährt mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock zu ihrem Arbeitsplatz und macht sich sogleich daran, die Patienten zu waschen und zu betten, Verbände auszuwechseln und Spuckgläser auszuleeren. Als sie Herrn K. das Frühstück bringt, erzählt er ihr wie jeden Tag mit Handzeichen so viele verschiedene Dinge, dass sie im Nachhinein nicht mehr sagen kann, ob der alte Herr nicht doch von seiner Stimme Gebrauch gemacht hat. Ihre Schicht an diesem Tag ist schon fast vorüber, und während sie auf dem Flur hastig zu Mittag isst, kommt ihr eine andere Schülerin entgegen. Sie hält so viele Gläser in den Armen, dass die junge Frau sich verpflichtet fühlt, ihr Mittagessen auf einem Tisch abzustellen und ihr einige abzunehmen. Gemeinsam betreten sie den Spülraum.

Die junge Frau wäscht gerade ein Glas aus, als die andere ihr beiläufig mitteilt: »Hast du schon gehört, Ulrike Meinhof hat sich in ihrer Zelle erhängt.«

Die junge Frau wendet ihr den Kopf zu, sieht hinter ihr die Sonne gleißend hell durch das Fenster scheinen, vor dem sich die schwarze Silhouette abhebt, und fragt mit tonloser Stimme: »Was?«

»Das kam den ganzen Morgen in den Nachrichten.«

Das eben ausgespülte Glas fällt klirrend zu Boden. Die junge Frau sinkt gleichfalls zu Boden. Aus ihrem Mund dringt ein Schrei. Leute laufen zusammen. Der anderen Schülerin ist die Szene unangenehm. Die junge Frau reagiert nicht mehr, sie hört auch nicht auf zu schreien. Es ist nur ein einziges Wort, was laut auf den Flur hinaus hallt: Nein!

Eine Schwester kommt, eine Spritze in der Hand, die sie der jungen Frau in den Arm sticht.

Einige Zeit später erwacht sie. Noch immer benommen von der Spritze, bemerkt sie die völlige Ruhe, die sie umgibt. Als sie die Augen öffnet, blickt sie in die unangenehm funkelnden Augen der Oberschwester, die sie mit schneidend strenger Stimme etwas fragt, auf das sie keine Antwort bekommen wird: »Was ist denn mit Ihnen los, Schwester Anja?«

Die Worte hallen im Kopf der jungen Frau wider.

DAS KIND

»Anjaaa, lass das! Hör auf, hab ich gesagt!«

Das Kind zuckt zusammen, was hat es falsch gemacht? Es wollte nichts Böses tun, wollte nur etwas ausprobieren. Das Kind ist drei Jahre alt, ein heller Tag. »Das ist unsere neue Wohnung«, sagt die Mutter. In Hamburg-Barmbek stehen sie in der neuen, sonnendurchfluteten Küche. Es riecht nach Farbe. Das Kind ist zu einem weißen Becken gelaufen, ein schönes, großes, weißes Becken. Dort hat es einen Stuhl genommen, war unbemerkt hinaufgeklettert und hatte probiert, den silbernen Aufkleber vom Beckenrand abzuziehen. Dann kam das Zischen der Mutter, drohend. Sofort hat es abgelassen von dem Aufkleber, ist hinuntergestiegen. Das Kind muss aufpassen, auf der Hut sein. Die Stimme der Mutter ist mal scharf und bedrohlich, mal traurig und wütend, manchmal in Eile, unkonzentriert, manchmal freundlich. Das Kind würde sie gern immer freundlich haben.

»Das macht man nicht!«, sagt die Mutter.

Das Kind läuft auf sie zu: »Wieder vertragen?«

»Na klar«, sagt die Mutter.

Das Kind umarmt die Mutter: Anja wieder lieb.

Nachts kommt das Kind verschlafen aus dem Zimmer. Der Vater ist durch die Wand zu hören gewesen, er schimpft. Es ist laut. Das Kind macht vorsichtig die Tür auf. Die Mutter sitzt auf dem Sofa und weint, das Kind läuft zur Mutter, stellt sich vor sie und breitet die Arme aus. Es ruft mit heller, noch etwas verschlafener Stimme: »Papi eisch!« Der Vater tritt zurück. Du bist eisch! Das kennt das Kind von der Oma. Eisch bedeutet, dass man etwas falsch gemacht hat, dass man böse war, unartig, nicht gemacht hat, was die Erwachsenen wollten. Die Erwachsenen sagen es mit erhobenem Zeigefinger, es bedeutet zugleich auch: Schschhh! So ein Wort ist eisch, es kann Ruhe herstellen, es kann Angst machen. Es ist gelungen, das Kind ist stolz. Die Mutter ist gerettet.

Strand und Wasser. Das Kind liebt den Strand, mag aber nicht ins Wasser. Es hat Angst vor den Wellen. Die Erwachsenen lachen, es ist doch flach, sagen sie. Das Kind aber schweigt, starrt aufs Wasser. Das Kind geht nicht tiefer rein als bis zu den Füßen. Die anderen Kinder lachen auch, ein richtiger Angsthase, sagen sie.

Einer lacht nicht mit, er heißt Heiner, er nimmt das Kind an die Hand und geht mit ihm am Strand spazieren. Er zeigt ihm am Boden die Wattwürmer. Das Kind liebt es, mit ihm spazieren zu gehen und auf seinem Schoß zu sitzen. Er ist schon vierzehn Jahre alt. Das Kind erst drei. Sie machen ein Foto davon, es klebt im Fotoalbum. Das Kind spielt gern im Sand. Während die Erwachsenen hinten im Strandkorb sitzen, backt das Kind Kuchen, als sei es eine Mutter und backe für ihre Puppenkinder. Dann dreht sich das Kind um, der Strandkorb ist leer. Wo sind sie? Das Kind läuft zum Wasser, dort sind viele Leute. Es läuft und läuft, an vielen Strandkörben vorbei, am Wasser entlang. Es hat Angst, es weint.

Ein Mann fragt: »Warum weinst du?«

»Meine Eltern sind weg.« Das Kind sagt zum ersten Mal das Wort Eltern.

Der Mann nimmt es an die Hand, das Kind wird ruhiger. Plötzlich weit hinten sieht es die Mutter mit dem Vater in einem Strandcafé sitzen. Beide lachen. Als sie nah dran sind, schüttelt die Mutter den Kopf: »Na, wir haben dir doch Bescheid gesagt!«

Einmal kommen sie an einem Friedhof vorbei, da sagt die Mutter: »Hier ist der Ohlsdorfer Friedhof, wo Friedhelm begraben liegt.«

Das Kind bleibt stehen: »Gehen wir da rein?«

Die Mutter will nicht, sie zieht das Kind mit sich. »Nein, das ist schon so lange her.«

»Wo liegt er?«, fragt das Kind.

Das Kind muss an seine Oma Erna und deren Friedhof denken. Da liegen alle, die wir lieb haben, sagt Oma Erna immer, und das Kind geht oft mit. Auf dem Friedhof riecht es gut, nach Blättern und Blumen und frischer Erde. Das Kind möchte seinen Bruder auch einmal besuchen. Es will auf seinem Grab harken und Blümchen pflanzen.

Als das Kind weiterfragt, zeigt die Mutter ein Foto. Ein Foto von einem Baby, das den Kopf hochhält und traurig aussieht. »Das ist er«, sagt die Mutter. »Er wurde ein Jahr vor dir geboren.«

Er sieht aus wie ich, denkt das Kind. Das Foto legt die Mutter lose ins Album.

»Er war krank«, sagt sie, »er wäre behindert geworden, da war es besser so. Er hatte falsches Blut. Bei dir wäre das auch passiert, weil sich Papis und mein Blut nicht vertragen. Bei dir ist das dann ausgetauscht worden.«

Das Kind wünscht sich, der Bruder hätte leben dürfen. Es hätte ihn gern kennengelernt. Das Kind liebt den Bruder. Sterben ist etwas Schlimmes.

»Warst du nicht traurig, als er starb?«, fragt das Kind die Mutter.

»Da hab ich mich ja schon auf dich gefreut«, sagt die Mutter und wendet den Kopf ab.

Das Kind bekommt Angst, es denkt, vielleicht ist er gestorben, weil sie sich auf mich gefreut hat. Vielleicht ist der Bruder gar nicht tot, und sie haben ihn im Krankenhaus nur verwechselt.

»Du hattest einen guten Appetit, das war dein Glück«, sagt sie noch. »Du warst stark, von Anfang an. Du hast sofort getrunken, im Brutkasten, da war ich beruhigt.«

Auch Oma Erna sagt immer, das Kind hat einen guten Appetit, weil es fünfzehn Kartoffelpuffer schafft. Das Kind hört oft von der Mutter: Du bist stark. Die Mutter fügt noch hinzu: Ich war immer eher schwach. Krank kann doch jeder mal werden, denkt das Kind, da muss man doch nicht gleich sterben.

Das Kind im Badezimmer. Eingesperrt. Draußen tobt der Vater, er sagt schlimme Wörter, über die die Mutter weint, sie schreit auch, weint und schreit abwechselnd. Weinen der Mutter, Brüllen des Vaters. Das Kind sitzt im Badezimmer. Es ist dunkel. Es hockt sich vor den Luftschlitz, man kann einen hellen Streifen Licht sehen. Das Kind will rufen. Dass sie bloß aufhören, denkt das Kind. In den Kacheln des Fußbodens sieht es dunkle Bärte, dann böse Männer, je länger es draufschaut, desto mehr Männer erscheinen. Wenn jetzt mein Bruder da wäre, denkt das Kind.

»Wann kommt Papi?«, fragt das Kind immer wieder.

»Er ist auf Reisen«, antwortet die Mutter.

Ab und zu kommt er wie ein Wirbelwind in ihre Wohnung gefegt, redet laut, spielt Kasperletheater und bringt Geschenke mit. Eine Matroschka, eine Puppenfamilie, die ineinandersteckt. Bücher: Hirsch Heinrich; Die Wolkentrine; Weltall, Erde, Mensch. Bücher aus der DDR, die das Kind sich immer anschaut und die schöner sind als Max und Moritz. Mit der Latte auf die Platte, ruft der Vater, wenn er den Kasper spielt und den Räuber haut. Er spricht ganz hoch, wenn er die Hexe nachmacht. »Nächstes Mal mehr«, sagt der Vater. Er redet, er erzählt, dann geht er. Nie fragt er, nie lässt er Pausen, hat immer zu tun. Er stürmt durch die Wohnung wie ein Sommergewitter. Wenn er kommt, läuft das Kind ihm entgegen, läuft ihm in die Arme, lässt sich von ihm herumschleudern, und das Schönste, oben auf seinen Schultern sitzen, auf die Welt herabschauen. Sie gehen zusammen weg, der Vater kauft Eis.

Manchmal verreisen sie auch zusammen, nach Sylt, dort wohnen sie bei einer Wirtin, die im Rollstuhl sitzt, weil sie als Kind die Steilküste heruntergefallen ist. »Du darfst nie zu nah an die Steilküstenkante gehen«, sagt der Vater, »sonst endest du wie die Frau.« Das Kind stellt sich die Frau vor, als die ein Kind war, sieht sie stolpern, sich überschlagen, die Beine brechen. Nie zu nah ran.

Auf den Vater freut sich das Kind, weil er lustig ist, herumspringt, weil er Ideen hat, gern mitspielt, weil er sich freut, wenn er sie sieht und trifft, »schön siehst du aus, mein Süßerchen«, sagt er und nimmt das Kind auf den Arm, wenn sie sich treffen.

Ja, das Kind hält zu ihm, in guten und in schlechten Zeiten, Hand in Hand, die kleine Hand des Kindes in der des Vaters, wandern sie zusammen am Strand entlang, er erzählt von Frauen, er kann nicht aufhören zu erzählen.

Nur abends und wenn die Stimme des Vaters durchs Nebenzimmer klingt, laut und explodierend, wenn er mit der Mutter streitet, dann hält sich das Kind die Ohren zu. Warum muss er nur so schreien, er schimpft, tobt, brüllt.

In ihrem Zimmer, auf einem Stuhl, der Vater sagt feierlich: »Komm mal her«, zieht das Kind auf seinen Schoß, hält es umklammert, drückt es, weint, redet anders, das Kind rührt sich nicht. Es schaut zur Tür, ob jemand kommt. Der Vater krümmt sich, klagt, dass es ihm schlecht geht, schimpft auf die Mutter. Dabei drückt er das Kind. Du bist mein Ein und Alles, er weint und vergräbt den Kopf an seinem Hals, dass es kitzelt. Das Kind will lieber vom Schoß weg, es windet sich. Das Kind hat Angst, was hat der Vater? Da ist die Tür, denkt das Kind, ich muss mal. Der Vater stößt das Kind plötzlich brüsk hinunter. Schnell, schnell, geh! Es rennt auf die Toilette. Nachher schaut es ins Toilettenbecken. Nie hat es das angesehen, es sieht aus wie eine Wurst, dunkel, gekrümmt. Das Kind ekelt sich davor.

Das Kind hat vor vielen Dingen Angst, ein richtiger Angsthase, sagt der Vater. Der Vater erzählt, er habe früher auch Angst gehabt, die hätte er aber überwunden, den inneren Schweinehund überwinden, sagt er. Vor Wasser hat er Angst gehabt, da hätte ihn sein Vater ins Tiefe hinabgeworfen, er sollte schwimmen lernen. Aber er hat es so doch nie gelernt, gibt er zu.

»Weißt du«, sagt der Vater, »mein Vater hat mich, als ich nach Hause kam, immer gleich wieder rausgeworfen: Wehr dich gegen die anderen, hat er gesagt, du bist ein Muttersöhnchen! Dann hat er mir noch einen Tritt gegeben.« Das Kind stellt sich den Vater als Kind vor und den Opa, wie er ihm einen Tritt gibt. Das war eine harte Schule, sagt der Vater. Das Kind findet, dass das gar keine richtige Schule war.

Morgens geht das Kind immer in den Kindergarten. Die Mutter bringt es hin, sie gehen zusammen. Der Kindergarten hat einen steinernen Hahn im Vorgarten, auf den das Kind gern klettert. Das Haus hat hellblaue Balkone, aber sie dürfen sie nie betreten. Die Kinder können von den Toilettenfenstern aus die Hochbahn beobachten. Silberbahn, Silberbahn, rufen sie. Hinter den Fenstern warten die Kinder auf ihre Mütter. Die Mütter kommen mit der Silberbahn, wenn sie die Kinder abholen.

Aber das Kind wird nicht von der Mutter abgeholt, denn die arbeitet länger als die anderen Mütter. Das Kind wird von Hanna abgeholt, einem Kindermädchen. Einmal soll der Vater kommen, da wartet das Kind viele Stunden. Ein anderes Mal auch. Das ist peinlich, weil alle anderen Kinder schon abgeholt sind. Da ist es besser, wenn wenigstens Hanna kommt. Die holt das Kind ab und macht zu Hause noch das Abendbrot. Hanna ist eine junge Frau mit Pferdeschwanz, das Kind darf manchmal ihre Haare kämmen. Später kommt die Mutter, dann bringt sie das Kind ins Bett. Sie wäscht es, hilft beim Zähneputzen und deckt das Bett auf. Das mag das Kind sehr. Es liegt dann im Bett und faltet die Hände zum Beten, die Mutter hält ihre Hände darüber, das ist der schönste Moment, wenn die Mutter mit ihren Händen die Hände des Kindes umfasst und eine Geschichte erzählt. Die Geschichten der Mutter handeln von einem kleinen Hund. Er erlebt viele Abenteuer. Als du klein warst, wie war es da? Und die Mutter erzählt, wie sie und ihr kleiner Freund Friedhelm sich heimlich von Fenster zu Fenster etwas zugerufen haben, und wie sie später mit dem Boot in den Sonnenuntergang gepaddelt ist …

»Und wie weiter? Erzähl, erzähl!«

Die Mutter sagt: »Wir müssen mal rausgehen.« Und dann geht das Kind mit ihr raus. Die Mutter ist zu Hause oft nicht richtig fröhlich, eher traurig. Draußen lacht sie immer gern mit Männern, die sie ansprechen. Die Mutter freut sich, wenn Männer sich für sie interessieren. Die Mutter erzählt dem Kind keine Geheimnisse, sie hat aber Geheimnisse, oft redet sie leise am Telefon, und wenn das Kind ins Zimmer kommt, stockt sie oder wechselt ins Englische. Oft ist sie erschöpft, denn sie muss in ihrer Firma lange arbeiten, bis abends, dann muss sie noch einkaufen, dann schnell nach Hause, weil sie zu dem Kind muss.

Der Vater verspricht dem Kind immer viel, gleich nächste Woche will er wiederkommen, doch er hält seine Versprechungen nicht. Das Kind nimmt sich vor, wenn es groß ist, wird es nur versprechen, was es auch halten kann. Aber der Vater hat so viel zu tun mit seiner Zeitung. Er muss herumreisen und dies und das erledigen. Er kommt sicher bald wieder, tröstet die Mutter. Die Oma sagt: Dein Vater könnte auch mal wieder kommen. Die Tanten sagen: Dein Vater kommt wohl gar nicht mehr.

Später hört das Kind die Mutter am Telefon mit dem Vater schimpfen: »Wann besuchst du deine Tochter mal wieder? Warum besuchst du sie nicht mehr?«

Das Kind möchte so gern, dass die Eltern sich wieder vertragen. Aber wenn der Vater es nach Hause bringt, will es allein hochgehen, will nicht, dass er mitkommt. Oft macht er es doch, und immer gibt es dann Streit, und dann hört das Kind seine Stimme wieder so schrecklich laut und unheimlich durch die Wand.

Später führen sie einen Papitag ein, es ist der Mittwoch. Das Kind wartet immer voller Vorfreude auf ihn, oft kommt er zu spät. Viele Stunden wartet das Kind auf ihn, viele Tage, immer wieder. So lange, bis es sich fast nicht mehr freuen kann. Dann ist er plötzlich doch da, springt herbei, umarmt das Kind, ruft: »Komm, wir machen was Schönes.« Spiel, Lachen, Batschen, hinter anderen Autos herjagen, Mädchen angucken.

»Wir müssen unser Leben jetzt genießen, später ist keine Zeit mehr«, sagt der Vater.

Überall, wo sie langfahren, sucht ihr Vater nach schönen Frauen. Er sagt, er könne sie alle haben. Dazu breitet er die Arme aus und freut sich. Der Vater erzählt dem Kind, wie man eine Frau küsst oder wie man sie erobert. Wenn er aus dem Autofenster Mädchen hinterherpfeift, schämt sich das Kind. Der Vater erklärt, welche Frauen er schön und welche er hässlich findet. Wenn er eine schöne Frau sieht, hält er gleich das Auto an und hupt, so dass die sich umdreht. »Wie fandest du die?«, fragt er. »Wichtig sind die Beine, sie müssen schlank und wohlgeformt sein, die Knie nicht breiter als die Waden und nicht so dick wie bei deiner Mutter. Und die Haut, sie muss weich sein, jung, zart, noch nicht so verschrumpelt.«

Das Kind mag nicht, wenn der Vater schlecht über die Mutter redet. Das kommt nicht mehr aus dem Kopf.

Der Vater erklärt dem Kind auch, wie Lippen aussehen müssen, breit, immer ein klein wenig geöffnet; wie schmollend. Er behauptet, dass die Lippen erst durch Küssen schön würden. Eine Frau muss gut geküsst werden, man muss es gut machen, viele machen es nicht gut, doch wenn man es gut macht, langsam, vorsichtig, dann würden die Lippen der Frau aufblühen, sie würden rot, voll und schön und sinnlich. Das Kind weiß nicht, was sinnlich heißt. Danach schaut sich das Kind im Spiegel an. Die schmalen Lippen können sich doch nicht später noch verändern, wie soll das denn gehen?

Frauen mit dunklen Haaren mag ihr Vater besonders, sie sind nicht so kalt wie die Blonden. Ihr Vater sagt auch, er müsse immer braun sein. Im Sommer geht er jede freie Minute in die Sonne, im Winter nimmt er Höhensonne, sonst sähe er scheiße aus. Wir Blonden, sagt der Vater verschwörerisch, müssen immer was für unseren Teint tun. Das Wort Teint kennt das Kind schon von der Mutter. Sie habe einen zu blassen Teint, deshalb müsse sie sich schminken, sagt sie immer und malt sich die Augenbrauen dunkel. Der Vater nennt die dunklen Frauen, die er liebt, rassig.

Wenn der Vater böse ist, redet er von Nutten, das ist ein Wort, das dem Kind Angst macht. Wenn der Vater gute Laune hat, dann schwärmt er, lacht, singt und tanzt, er tobt, er läuft, er kann wie ein Kind sein. Aber wenn er wütend ist, und er wird schnell wütend, dann redet er schlecht über alle.

Die Worte des Vaters klingen dem Kind immer wieder in den Ohren. »Es ist wie ein Sport«, erklärt der Vater, »eine Frau ins Bett zu bekommen ist das Größte, danach muss man sehen, wie man sie wieder loswird. Es geht ums Erobern, das Erobern macht am meisten Spaß.« Da im Bett macht man dann etwas, das nennt der Vater dingsen, seine Stimme klingt geheimnisvoll. Sie ziehen sich aus und gehen unter eine gemeinsame Decke. Dem Kind tun die Frauen leid, die der Vater schnell wieder loswerden will.

Der Vater schläft schlecht, er braucht viele Tabletten, um einzuschlafen, eine ganze Packung liegt immer auf seinem Nachttisch, wenn sie zusammen verreisen, neben Ohropax und einer dunklen Binde für die Augen.

Wenn der Vater wütend ist, weil ihm was schiefgegangen ist oder weil man was Falsches gesagt hat, ihn gestört hat, ihn morgens zu früh geweckt hat, zu langsam gelaufen ist, dann kann er gemein sein, dann muss man still sein, nichts sagen. Kurz darauf hat er wieder gute Laune, dann ist das vergessen, dann ist er nett und lustig, als wäre nichts gewesen.

Manchmal tobt der Vater auch bei Tisch herum und brüllt von Tischsitten, während ihm selbst das Essen aufs Hemd kleckert. Man muss gerade sitzen und wird drohend angeschaut, wie man die Löffel hält und die Kartoffeln zerdrückt. Das Kind traut sich dann weder zu reden noch zu lachen, es fühlt sich klein.

Eine geschiedene Frau besucht man nicht, sagt die Mutter. Deshalb muss sie rausgehen, wenn sie jemanden treffen will. Zu Hause lebt nur das Kind. Das Leben mit einem Kind ist anstrengend, deshalb sucht die Mutter wieder nach einem Mann. Eine Frau braucht einen Mann, sagt sie, nur dann nimmt man sie ernst. Im Urlaub, wenn da Männer sind, freut sich die Mutter, doch hat sie immer Sorge, ob sie auch hübsch genug aussieht, sie zupft sich die Haare zurecht, schaut sich im Glas an, schminkt sich im Handspiegel. Oft fragt sie das Kind, ob sie hübsch genug aussähe. Na klar, sagt das Kind, weil es die Mutter hübsch findet.

Manchmal macht der Vater einen Ausflug mit dem Kind. Wenn sie gemeinsam Auto fahren, freut sich das Kind, und der Vater freut sich auch, und dabei haut er es gern so ein bisschen zur Begrüßung, er nennt das batschen. Es sind kleine Schläge auf die Wangen und die Oberschenkel. Er mag das gern, aber das Kind nicht, weil er es immer doller macht. »Das kann doch gar nicht weh tun«, behauptet der Vater. Tut es aber. Dabei sagt er, dass sie so eine schöne Haut habe, sie solle immer auf ihre Haut achten. »Haut heißt Haut, weil man darauf haut«, sagt er und lacht. Nur die Haut von Babys sei richtig weich, die sei das Sinnlichste, was er kenne. Nur bis zum 13. Lebensjahr sei die Haut wirklich schön.

»Hat deine Mutter einen Freund?«, fragt der Vater plötzlich. »Ich weiß nicht«, sagt das Kind. Die Mutter geht oft abends weg, da hat sie vielleicht einen Freund. Das Kind mag nicht, dass der Vater das fragt. »Deine Mutter hat einen neuen Freund, ich weiß es«, sagt der Vater. »Deine Mutter ist eine Schlampe, sie taut nie den Kühlschrank ab und sie geht mit jedem ins Bett.« Das Kind versucht wegzuhören, wenn der Vater schlecht über die Mutter redet. Es ist, als sei die Mutter da und höre heimlich zu, ob das Kind sie auch verteidigt. Aber das Kind sagt nichts, sondern wartet nur, bis der Vater das Thema wechselt. Zu Hause sagt das Kind zur Mutter, sie solle den Kühlschrank mal wieder abtauen. Das kommt einfach aus dem Mund. Ja, denkt das Kind, sie hat wohl einen Freund. Aber ich soll ihn nicht kennenlernen. Sie hat vor mir Heimlichkeiten. Das Kind fühlt sich ausgeschlossen, denn die Mutter will mit dem Freund in Ruhe gelassen werden. Die Mutter hat vielleicht Angst, dass der Freund sonst wieder geht.

Die Mutter erklärt dem Kind, dass sie alles anders machen wolle, als sie selbst es erlebt hatte. Ihre Eltern seien streng gewesen, sie hätten ihr viel verboten. Einmal habe man sie zu zweit festhalten müssen, so hätte sie geschrien und gezappelt, als man ihr Spinat einfütterte. Das alles wollte sie mit ihrem Kind anders machen.