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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2009

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ISBN Printausgabe 978-3-499-24688-3 (1. Auflage 2011)

ISBN E-Book 978-3-644-30191-7

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-30191-7

1

Livia Azalina, blond und grünäugig, lehnte sich in die Polster ihres Erste-Klasse-Coupés zurück, legte die Beine auf den gegenüberliegenden Sitz und zündete sich eine Zigarette an. Dann starrte sie durch ihr undeutliches Spiegelbild hindurch in die Dunkelheit hinter den Scheiben und dachte an das heiße Bad, das sie in weniger als einer Stunde nehmen würde. Obwohl sie den größten Teil des Nachmittags schlafend verbracht hatte, fühlte sie sich immer noch erschöpft und um mindestens zehn Jahre gealtert.

Kurz hinter Padua hatte es angefangen zu regnen, und vermutlich würde es immer noch regnen, wenn der Zug in Venedig ankam. Ihr Gondoliere – sie konnte sich inzwischen den Luxus einer eigenen Gondel leisten – hatte die Anweisung, sie am Anleger vor dem Bahnhof zu erwarten. Fünfzehn Minuten später würde sie ihre wohlgeheizte Wohnung betreten. Sie hatte sich fest vorgenommen, ein paar Tage lang niemanden zu sehen, schon gar keinen Mann. Den Termin, den sie übermorgen Abend mit einem pensionierten Hofrat hatte, würde sie absagen.

Normalerweise hätte Livia Azalina es strikt abgelehnt, außerhalb Venedigs zu arbeiten. Seitdem sie aufgrund ihrer hohen Einkünfte beinahe als honorate galt, bestimmte sie ihre Arbeitsbedingungen weitgehend selbst. Ihre Kundschaft, ein fester Stamm, der sich aus gehobenen Kreisen rekrutierte, pflegte sie ausschließlich in ihrem verspiegelten Boudoir in der Rio Terrà Rampani zu empfangen. Aber das Angebot, das man ihr vor einer Woche gemacht hatte, war äußerst attraktiv gewesen und der Mann, der es vermittelt hatte, ein guter Kunde – ein cortegiano, auf dessen Wort sie sich verlassen konnte.

Der Auftrag hatte darin bestanden, zusammen mit einem halben Dutzend anderer Damen, ein paar Herren in einer Villa in der Nähe von Vicenza Gesellschaft zu leisten und sich anschließend mit einem der Cavalieri in ein Schlafgemach zurückzuziehen, wo sie ihm den Rest der Nacht und den Vormittag zur Verfügung stehen sollte. Bei solchen Aufträgen – mit denen die Herren in der Regel erfolgreiche Geschäftsabschlüsse feierten – hatte sie schon seit Jahren abgewinkt. Doch in diesem Fall war das angebotene Honorar sensationell gewesen, und an Ort und Stelle hatten sich die Herren als leidlich angenehm herausgestellt.

Sie war gestern bei einbrechender Dunkelheit in der Villa eingetroffen, nachdem ein gepflegter Landauer sie am Bahnhof von Vicenza abgeholt hatte. Im Salon des Hauses, wo sich die Herren und die anderen Mädchen bald versammelten, gab es Champagner, Kaviar, Austern, die auf einem Buffet arrangiert waren. Ein Besucher, der nichtsahnend zu ihnen gestoßen wäre, hätte die kleine Versammlung für eine seriöse Abendgesellschaft gehalten. Offenbar hatte man sich darauf geeinigt, im Salon das Dekorum zu wahren und erst in den Schlafzimmern zur Sache zu kommen.

Die Nacht und einen Teil des Vormittags hatte sie mit einem übermäßig aktiven Cavaliere verbracht, der Italienisch mit französischem Akzent sprach. Wie jede Frau ihres Gewerbes schätzte Livia Azalina übermäßig aktive Kunden wenig – speziell wenn ein Pauschalpreis vereinbart worden war. Aber sie hatte gelernt, ihre Gefühle zu verbergen. Nachdem sich der Cavaliere gegen Mittag verabschiedet hatte, war sie schließlich erschöpft eingeschlafen.

Gegen Abend wurde sie wieder von einer Kutsche zum Bahnhof von Vicenza gebracht, wo sie den Neun-Uhr-Zug nach Venedig nahm. Das vereinbarte Honorar hatte ihr ein Majordomus in einem Beutel aus Hirschleder überreicht. Sensationelle fünfhundert Gulden in Gold – was dem Halbjahressold eines kaiserlichen Generals entsprach. Sie hatte sofort nachgezählt. Es fehlte keine einzige Münze.

Wohin die anderen Damen verschwunden waren, wusste sie nicht. Zwei von ihnen kannte sie flüchtig – eine rundliche Blondine und eine stupsnasige Brünette, die vor ein paar Jahren noch auf der Straße gearbeitet hatten. So hatte sie ebenfalls angefangen, aber das war inzwischen mehr als zehn Jahre her, und sie zog es vor, sich nicht an diese Periode ihres Lebens zu erinnern.

Livia Azalina zündete sich eine zweite Zigarette an, stand auf und strich ihr Kleid glatt. Dann kniete sie sich auf die grünen Polster, um ihr Gesicht in dem Spiegel zu betrachten, der über den Sitzen angebracht war. Was sie sah, war selbst im funzeligen Schein der beiden Petroleumlampen, die das Coupé erhellten, deprimierend. Kein Zweifel – sie wurde alt. Die scharfen Linien links und rechts des Mundes und die kleinen Fältchen neben den Augenwinkeln waren nicht mehr zu übersehen. In ein paar Jahren würde auch mit reichlich Schminke nicht mehr viel zu machen sein. Im letzten Dezember war sie achtundzwanzig geworden, und es wurde langsam Zeit, sich aus diesem speziellen Geschäft zurückzuziehen. Hin und wieder hatte sie mit dem Gedanken gespielt, Venedig zu verlassen, zurück in das heimatliche Friaul zu gehen und einen ehrbaren Mann zu heiraten – jemanden, der von ihrer Vergangenheit nichts wusste.

Aber sah sie sich wirklich als Gattin eines Schreiners oder Bäckers? Mit quengelnden Bälgern, die an ihrer Schürze hingen, und einem dicklichen Mann mit Mundgeruch und Fußschweiß? Gütiger Himmel – wahrhaftig nicht. Schon der Gedanke daran war grauenhaft. Außerdem bestand immer die Gefahr, dass irgendjemand aufkreuzte, der sie wiedererkannte. Und was dann? Auch das war eine schreckliche Vorstellung.

Als die Eisenbahn langsamer wurde und sich Fusina näherte, der kleinen Station am Rand der nördlichen Lagune, hatte sich der Regen verstärkt. Er prasselte in böigen Stößen auf das Dach des Coupés und lief in bizarren Mustern die Scheiben hinab. Ob jetzt noch jemand in ihr Coupé steigen würde? Nein, das war unwahrscheinlich. Der Zug war schwach besetzt, und in Fusina gab es nicht mehr als eine österreichische Kaserne, ein hässlicher Backsteinkasten, in dem ein Tiroler Pionierkorps logierte. Außerdem, sagte sie sich, trat niemand, der bei Verstand war, bei solchem Wetter freiwillig vor die Tür.

Aber als der Zug in Fusina anhielt, stieg doch noch jemand zu. Es war ein Mann mittleren Alters, der eine Regenpelerine trug und ihr vage bekannt vorkam. Als er sah, dass sich eine Dame in dem Coupé befand, murmelte er ein höfliches Permesso und deutete eine Verbeugung an. Dann setzte er sich auf die gegenüberliegende Bank. Livia Azalina fand es eigenartig, dass er seine Pelerine nicht auszog. Zwei Minuten später stieß die Lokomotive einen schrillen Pfiff aus, und die Waggons setzten sich ruckelnd in Bewegung. Eigentlich hatte sie eine unverbindliche Bemerkung über das schreckliche Wetter erwartet – die meisten Männer fühlten sich in einer solchen Situation bemüßigt, ein paar höfliche Worte zu wechseln. Stattdessen blieb der Mann stumm wie ein Fisch. Dann tat er etwas, das gegen alle Konventionen verstieß. Er beugte sich nach vorne, und Livia Azalina registrierte verärgert, dass er sie unverhohlen betrachtete – mit dem kühlen Blick eines Kunden, der an einem Obststand die angebotenen Früchte prüft. Er musterte ihre Lippen, ihren Hals und ihre Stirn. Dann wanderte sein Blick zu ihrem blonden Haar, verweilte ein paar unhöfliche Sekunden auf der Rundung ihrer Brüste, und schließlich sah sie, wie sich seine Lippen zu einem zynischen Grinsen verzogen. Plötzlich war sie sicher, dass der Mann wusste, in welcher Branche sie ihr Geld verdiente.

Livia Azalina schloss die Augen und nahm sich vor, den Burschen einfach zu ignorieren. Es konnte nicht sehr lange dauern, bis der Zug die nördliche Lagune überquert hatte und sie den Bahnhof erreichten. Nur ein paar Minuten, in denen sie durchaus in der Lage war, sich den Mann vom Leib zu halten. Es war weiß Gott nicht das erste Mal, dass sie auf die Weise behelligt wurde. Und diese Situation hier war eher lächerlich als bedrohlich. Wenn der Bursche sie anfasste – mein Gott, woher kannte sie ihn? –, dann würde sie sich am Bahnhof an einen der Sergenti wenden, die auf dem Bahnsteig patrouillierten. Sie duckte sich instinktiv in die Polsterung ihrer Rückenlehne zurück und versuchte, sich auf das Rattern der eisernen Räder zu konzentrieren. Was nicht funktionierte, denn durch das Geräusch hindurch glaubte sie auf einmal zu hören, wie der Mann aufstand.

Als sie die Augen aufschlug, sah sie, dass der Bursche sich tatsächlich erhoben hatte. Er stand jetzt unmittelbar vor ihr. Sein Kopf schwebte über ihr wie ein bleicher Mond, die beiden Arme hingen aus den Seitenschlitzen der Regenpelerine herab wie zwei gewaltige Pendel. Um seine Lippen spielte immer noch das zynische Grinsen, aber seine Augen waren kalt wie Eis. Auf einmal wusste Livia Azalina, dass etwas nicht stimmte – dass etwas überhaupt nicht stimmte.

Dann schnellte das rechte Pendel nach vorne und schoss auf ihr Gesicht zu. Der Faustschlag traf ihren Mund und schleuderte ihren Kopf gegen die Scheibe. Ein Schneidezahn brach ab und zerschnitt ihre Lippen. Über ihre Unterlippe ergoss sich Blut. Das Kinn war rot verschmiert, so wie bei einem Kind, das Erdbeeren gegessen hatte. Sie sackte zusammen, halb bewusstlos, und es nützte ihr herzlich wenig, dass sie sich jetzt plötzlich daran erinnerte, wann und wo sie den Mann gesehen hatte.

Livia Azalina versuchte zu schreien, aber es war zu spät. Die linke Hand des Mannes hatte sich, schnell wie der Kopf einer zuschnappenden Schildkröte, um ihre Kehle geschlossen – eine Zange aus Stahl, die immer stärker zudrückte und ihr die Luft nahm. Lichtblitze tanzten vor ihren Augen. Das Einzige, was sie jetzt noch hörte, war der Schlag ihres Herzens, der wie ein Schmiedehammer in ihrem Brustkorb hämmerte. Dann fühlte sie, wie ihr Gesicht heiß und rot wurde, es anschwoll, so als hätte man es mit kochendem Wasser übergossen. Mein Gott, ich muss furchtbar aussehen, dachte sie: ein kindischer und überflüssiger Gedanke. Der letzte, den ihr Kopf hervorbrachte.

In den wenigen Sekunden, in denen ihr Gehirn noch intakt war, registrierte Livia Azalina, wie der Mann sie auf die Polsterbank warf und ihr das Kleid aufriss. Dann blitzte eine Klinge in seiner Hand auf, aber bevor das Messer schneiden konnte, versank sie in eine gnädige Dunkelheit.

2

Eigentlich hätte es genau umgekehrt sein müssen, dachte Monsieur Grenouille. Dem Klischee zufolge hätte der Italiener in seiner abgewetzten Jacke den gutgekleideten Österreicher mit einem Messer bedrohen sollen. Doch es war der gutgekleidete und offenbar alkoholisierte Österreicher, der den Italiener in die Ecke des Wachraums der Questura getrieben hatte. Jetzt zerfetzte er die Luft vor ihm mit der Klinge, wobei er unablässig schrie: «Ich mach dich kalt! Ich mach dich kalt!»

Neben den beiden Männern stand ein uniformierter Sergente. Der machte allerdings keine Anstalten einzugreifen, sondern beschränkte sich darauf, die Hände zu ringen und mit flehender Stimme Prego, Signori! Prego, Signori! zu rufen. Worauf der messerschwingende Österreicher dem Sergente, ohne ihn anzusehen, antwortete: «Ich mach ihn kalt! Ich mach ihn kalt.» Es war wie ein Duett in einer Oper von Verdi.

Ein knappes Dutzend Personen verschiedenen Standes, die alle irgendein Anliegen in die Questura geführt hatte, waren freudig näher getreten, um nichts von dem aufregenden Schauspiel zu versäumen, das sich ihnen so unerwartet bot. Ein Mann mit einer grünen Schürze entkorkte in aller Ruhe eine Weinflasche. Ein anderer Mann verspeiste geröstete Kastanien aus einer Tüte und bot sie höflich seinem Nachbarn an. Monsieur Grenouille, der die Questura wegen eines gestohlenen Passes aufgesucht hatte, spürte, wie das Publikum darauf brannte, Blut fließen zu sehen. Dann hätten sie anschließend etwas zu erzählen.

Gegen ein wenig Blut hatte auch Monsieur Grenouille nichts einzuwenden. Das würde seiner Venedigreise einen Einschlag ins Abenteuerliche geben. Insofern war es ganz in seinem Sinn, dass die Auseinandersetzung zwischen den beiden Streithähnen jetzt an Dramatik zunahm – so als wüssten die beiden, was sie ihrem Publikum schuldig waren. Der schmierige Italiener hatte den Rücken an die Wand gepresst. Seine Hände kreisten in der Luft, offenbar in der Hoffnung, das Handgelenk des verrückten Österreichers zu packen, bevor die Klinge auf ihn herabsauste. Was sie jetzt auch tat, doch sie verfehlte die Brust des Italieners und blieb stattdessen an der rechten Hand des Mannes hängen.

Der Italiener schrie auf und riss die blutige Hand zurück, so als hätte er sie versehentlich über ein offenes Feuer gehalten. Na, bitte. Da war es endlich – das Blut, auf das die Zuschauer gehofft hatten. Nur ein paar Tropfen, denn die Klinge hatte die Hand des Italieners lediglich gestreift. Aber immerhin.

Beifälliges Gemurmel war zu vernehmen.

Der Mund des Italieners stand jetzt weit auf. Sein Gesicht war aschfahl. Monsieur Grenouille, der ebenfalls interessiert näher getreten war, konnte sehen, wie dem Mann der Schweiß in Strömen von der Stirn lief.

Der Sergente unternahm immer noch nichts.

Plötzlich packte der Österreicher den Italiener an der Schulter und riss ihn mit ganzer Kraft herum, sodass der Mann um seine eigene Achse wirbelte. Dann schlang er von hinten den linken Arm um seinen Hals. In der rechten Hand hielt er das Messer. Offenbar war er wild entschlossen, dem dicken Italiener die Klinge in die Brust zu rammen. Der hatte die Augen geschlossen und holte in kurzen, keuchenden Atemzügen Luft. Dazu bewegten sich seine Lippen. Obwohl nichts zu verstehen war, wusste Monsieur Grenouille, was er murmelte: Ora pro nobis peccatoribus nunc et in hora mortis nostrae. Wie auf Kommando wurde es still. Religiöse Ergriffenheit breitete sich unter den Zuschauern aus. Aus den Augenwinkeln sah Monsieur Grenouille, wie der Mann mit den gerösteten Kastanien sich bekreuzigte. Der Mann mit der Weinflasche nahm seinen Hut ab.

In diesem Moment gab der Sergente einen Schuss in die Decke ab. Die Kugel riss ein faustgroßes Loch in den Putz und brachte die von der Decke herabhängenden Petroleumlampen zum Zittern. Gips rieselte aus dem Loch und schwebte wie feiner Pulverschnee auf den Fußboden. Das Publikum starrte erst auf das Loch in der Decke, dann auf den Sergente, der seinerseits erschrocken auf die Waffe in seiner Hand starrte. Dann hob er den Kopf, blickte zur Seite, und Monsieur Grenouille sah, wie sich Erleichterung auf seinem Gesicht ausbreitete. Worauf der Monsieur ebenfalls den Kopf drehte und den Mann bemerkte, der zusammen mit einem uniformierten Ispettore den Wachraum betreten hatte.

Der Mann war mittelgroß und hatte dunkelblondes, ins Graue spielendes Haar. Er trug einen abgewetzten Gehrock, dazu ein weißes Kavalierstuch, das ihm einen Einschlag ins Künstlerische gab. Auf seiner Nase saß ein goldgeränderter Kneifer. Monsieur Grenouille schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Der Mann stand ruhig an der Tür. Das, was er im Wachraum sah, schien ihn nicht zu beeindrucken. Lediglich seine linke Augenbraue zog sich ein wenig nach oben, als er das Loch in der Decke sah.

Inzwischen hatte es der Italiener geschafft, sich der Umklammerung des Österreichers zu entziehen, war diesem aber noch lange nicht entkommen. Wieder drängte er sich kreidebleich in die Ecke, und wieder zerschnitt der Österreicher die Luft vor seiner Nase und schrie: «Ich mach dich kalt.»

Der Sergente stand immer noch untätig daneben. Nur dass seine Augen jetzt zwischen dem Mann an der Tür und den beiden Streithähnen hin und her wanderten. Offenbar erwartete er von dem Mann, dass er das Problem löste. Das schien auch das Publikum zu erwarten, denn alle Augen waren zur Tür gerichtet. Bei dem Mann handelte es sich, vermutete Monsieur Grenouille, um den zuständigen Commissario. Natürlich fragten sich alle, was er jetzt unternahm.

Doch der Commissario unternahm gar nichts. Er stand einfach nur da und ließ den Blick nachdenklich durch den Raum schweifen. Das Gebrüll des Österreichers ignorierte er. Nachdem fast eine Minute verstrichen war und das Publikum bereits anfing, sich zu langweilen, setzte er sich in Bewegung und ging mit langsamen Schritten auf die Streithähne zu. Ein knapper Wink mit der Hand hatte den uniformierten Ispettore an seiner Seite angewiesen, zurückzubleiben.

Monsieur Grenouille sah, wie der Commissario auf dem Weg zu den beiden Männern vor einem Tisch, an dem ein anderer Sergente saß, stehenblieb. Er beugte sich vor und ergriff den Kaffeebecher auf dem Tisch. Hob ihn an seine Nase, roch daran und nickte befriedigt. Der Kaffee dampfte. Er war heiß und schien gerade erst aufgebrüht worden zu sein. Mit dem dampfenden Becher in der Hand ging der Commissario langsam weiter. Dicht vor den Männern blieb er stehen.

Eigentlich hatten alle erwartet, dass er jetzt etwas sagte. Aber er stand nur da und guckte. Was den Österreicher offenbar dazu veranlasste, sein Gebrüll einzustellen, das Messer sinken zu lassen und den Commissario mit weit aufgerissenen Augen anzuglotzen. Der nickte dem Österreicher zu und führte dann ohne Eile den Kaffeebecher zum Mund. Nein – nicht ganz zum Mund. Denn jetzt geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte.

Die Bewegung war kurz und knapp, nicht mehr als ein kräftiges Schlenkern des Handgelenks. Der Becher des Commissarios schnellte nach oben, und heißer Kaffee schoss auf das Gesicht des Österreichers. Der ließ das Messer mit einem lauten Schrei fallen und fuhr sich mit beiden Händen über die Augen. Was dem Commissario die Gelegenheit gab, ihm einen wohlgezielten Tritt in den Schritt zu verpassen. Ein weiterer Tritt gegen seine Hüfte brachte den Burschen zu Fall. Ein letzter Tritt landete, als der Mann bereits am Boden lag, auf seiner Nase, aus der sich sofort ein Sturzbach roten Blutes ergoss.

Worauf der Italiener erleichtert auf die Knie sank und das Publikum, das die polizeilichen Maßnahmen des Commissarios mit beifälligem Gemurmel begleitet hatte, laut applaudierte.

Den Tritt auf die Nase fand Monsieur Grenouille ziemlich brutal. Andererseits rundete er – künstlerisch betrachtet – das Geschehen ab, setzte gewissermaßen einen effektvollen Schlussakkord. Und die Italiener hatten bekanntlich einen ausgeprägten Sinn für theatralische Effekte.

Der Commissario drehte sich langsam um. Er zupfte sein Kavalierstuch zurecht, und einen Moment lang hätte Monsieur Grenouille schwören können, dass er sich verbeugen würde, aber er beschränkte sich auf ein flüchtiges Lächeln.

«Ich will einen Bericht, Bossi», sagte er zu dem uniformierten Ispettore, der sich mit verwundertem Gesichtsausdruck genähert hatte. «In einer halben Stunde in meinem Büro.» Der Commissario warf einen angewiderten Blick auf den Fußboden, bevor er sich zum Gehen wandte. «Und dann soll jemand das Blut aufwischen.»

3

Alvise Tron, Commissario von San Marco, schob den Teller mit den Schlagsahneresten und den Kuchenkrümeln zur Mitte seines Schreibtischs und leckte die Kuchengabel sorgfältig ab. Dann trank er einen Schluck Kaffee, lehnte sich auf seinem knarrenden Sessel zurück – und staunte über sich selbst. Hatte er diesen Mann in der Wachstube tatsächlich mit drei kraftvollen Fußtritten unschädlich gemacht? Er? Dessen eigentliche Waffe das geschliffene, wie ein Florett oder eine Kuchengabel geführte Wort war? Hatte er die Gewalt über sich verloren? War die wilde Bestie, die angeblich in jedem Mann lauert, unkontrolliert ausgebrochen?

Tron beugte sich wieder nach vorne und leckte seinen Zeigefinger nass, um die auf dem Teller verbliebenen Kuchenkrümel in seinen Mund zu befördern. Dann trank er abermals einen Schluck Kaffee und kam zu dem Schluss, dass er genau das getan hatte, was er sich vorgenommen hatte. Nämlich seine Kritiker, speziell den Stadtkommandanten Toggenburg, der eine «kraftvolle Amtsführung» bei ihm vermisste, eines Besseren zu belehren. Er verbringe zu viel Zeit in den Cafés an der Piazza, sagte man ihm nach. Dort esse er jeden Vormittag Torte, anstatt sich in der Questura um die venezianische Kriminalität zu kümmern. So ein Unsinn! Schließlich gehörte es zu seinen Pflichten, sich über die Stimmung im Volke zu informieren. Und wo war die Stimme des Volkes besser zu vernehmen als in den Cafés an der Piazza?

Jedenfalls konnte er heute mit sich zufrieden sein. Er hatte den Verrückten, über dessen Mordabsicht kein Zweifel bestand, kraftvoll aus dem Verkehr gezogen. Außerdem, überlegte er weiter, gab der Umstand, dass sein Stiefel auf der Nase eines Österreichers gelandet war, dem Vorgang eine patriotische Note. Ein italienischer Absatz auf der Nase eines Österreichers! Und wie die österreichische Nase danach geblutet hatte! Keine Frage, dass die Leute auch deswegen applaudiert hatten. Zwar hegte Tron keinerlei patriotische Gefühle und galt unter den Anhängern der italienischen Einheit als unsicherer Kantonist. Aber vielleicht war es klug, sagte er sich, gelegentlich an die Zeit danach zu denken. Schließlich konnten die Österreicher das Veneto nicht auf ewig besetzt halten. Und ein Commissario, der allzu eng mit den Besatzungsmächten verbandelt war, hatte schlechte Karten, wenn das Veneto Teil des italienischen Königreichs werden würde. Man könnte auf den Gedanken kommen, jemand anderen als Commissario von San Marco zu installieren. Vielleicht Ispettor Bossi? Den dynamischen Adepten moderner Polizeitechnik? Der nie ein Hehl daraus gemacht hatte, dass er den Abzug der Österreicher kaum erwarten konnte?

Tron drehte den Kopf, und sein Blick fiel auf die Lithografie des Kaisers, die vorschriftsgemäß an der Wand jeder habsburgischen Amtsstube hing. Mit der beginnenden Stirnglatze und dem dumpfen Gesichtsausdruck bot Franz Joseph keinen besonders majestätischen Anblick. Das Bild hing schief, und das Glas hatte einen Sprung. Aber irgendwie, dachte Tron, hatte er sich daran gewöhnt.

 

Fünf Minuten später betrat Ispettor Bossi sein Büro. Er salutierte und nahm auf dem Bugholzstuhl vor dem Schreibtisch Platz. Wie immer wirkte der Ispettore, als wäre er gerade dem Bad entstiegen und hätte sorgfältig Toilette gemacht. Seine schwarzen Stiefel glänzten, auf seiner blauen Uniform war kein Stäubchen zu erkennen, und die Sterne auf seinen Schulterklappen funkelten. In der Hand hielt er seinen Notizblock.

«Wir haben sie vorsichtshalber in verschiedene Zellen verfrachtet», sagte Bossi. Er hatte sich so hingesetzt, dass seine penibel gebügelte Uniform keine unnötigen Falten warf. «Der Österreicher war zahm wie ein Lämmchen.»

«Und seine Nase?»

«Ist rot und angeschwollen, aber nicht gebrochen. Er hat es abgelehnt, einen Arzt zu sehen.»

Tron schob seinen Kuchenteller an den Rand des Schreibtischs. «Was ist denn eigentlich passiert?»

«Die beiden hatten einen Streit auf der Piazza, der in Tätlichkeiten ausgeartet ist», sagte Bossi. «Daraufhin sind sie von zwei Sergenti verhaftet und auf die Questura gebracht worden.»

«Und worum ging es bei diesem Streit?»

«Signor Grassi hatte sich eine Trikolore ins Knopfloch gesteckt. Direkt vor dem Café Quadri.»

Tron musste lachen. Das Quadri wurde traditionellerweise von kaiserlichen Offizieren frequentiert. Sich vor dem Café eine Schleife mit den italienischen Farben anzustecken war eine klare Provokation.

«Der Österreicher, der offenbar gerade aus dem Quadri kam», fuhr Bossi fort, «hat Grassi aufgefordert, die Schleife zu entfernen.»

«Und Grassi hat sich geweigert?»

Bossi nickte. «Worauf der Österreicher versucht hat, die Schleife abzureißen. Nachdem er ihm vorher einen Faustschlag versetzt hatte.»

«Ist dieser Grassi bereits auffällig geworden?»

«Nicht bei uns in der Questura. Ob er eine Akte auf der Kommandantura hat, kann ich nicht sagen.» Der Ispettore warf einen Blick auf seine Notizen. «Grassi betreibt eine Fleischerei am Campo San Giobbe: Sergente Caruso kennt den Mann. Seine Frau kauft bei ihm.»

«Und der Österreicher? Ist er zu Besuch in Venedig?»

Bossi schwieg einen Moment. «Daraus könnte sich vielleicht ein Problem ergeben», sagte er schließlich. «Der Bursche behauptet, ein Oberst der kaiserlichen Armee zu sein.»

Tron hob überrascht den Kopf. «Er behauptet, was zu sein?»

«Ein Oberst der kaiserlichen Armee», wiederholte Bossi.

«Der keine Uniform trägt? Konnte er sich ausweisen?»

«Er hat verlangt, dass wir jemanden zur Kommandantura schicken», sagte Bossi.

«Haben Sie das getan?»

«Bossi schüttelte den Kopf. «Ich wollte erst mit Ihnen sprechen.»

«Halten Sie es für möglich, dass ein kaiserlicher Offizier sich so aufführt?»

«Der Mann war ziemlich betrunken.» Bossi sah Tron besorgt an. «Meinen Sie, wir sollten die Militärpolizei einschalten, Commissario?»

«Das können wir immer noch. Wir lassen ihn erst mal schmoren.»

«Wie lange?»

«Eine Nacht sollte er mindestens in Arrest bleiben. Der Bursche hat im Wachraum der Questura einen Mordversuch unternommen. Solange er keine Uniform trägt, ist er für mich ein Zivilist ohne Papiere.»

«Was machen wir mit Grassi?»

«Sie nehmen ein Protokoll auf, und dann lassen Sie ihn gehen», sagte Tron. «Einfach so?»

«Signor Grassi kann sich ausweisen und hat einen festen Wohnsitz. Wir können ihn jederzeit wieder vorladen. Ich bezweifle, dass er sich gleich auf Turiner Gebiet absetzen wird. Wer schreibt den Bericht?»

«Sergente Caruso. Er hat den Schuss in die Decke abgegeben.»

«Dann soll er auf jeden Fall erwähnen, dass der Österreicher betrunken war, wirres Zeug geredet hat und nicht vernommen werden konnte.» Tron entdeckte noch ein paar Kuchenkrümel auf seinem Teller und brachte es fertig, sich rechtzeitig zu bremsen und sie nicht mit dem angeleckten Finger zum Mund zu führen. «Hat uns der Mann einen Namen genannt?»

Bossi nickte. «Er hat behauptet, sein Name wäre Stumm von Bordwehr.»

Tron verdrehte die Augen. «Oberst Stumm von Bordwehr? Das ist lächerlich. Caruso soll das in seinen Bericht aufnehmen. Niemand heißt Stumm von Bordwehr.» Bossi erhob sich. Er strich seine Uniformjacke glatt und schnippte ein imaginäres Staubkörnchen vom Ärmel. Tron dachte, dass er sich jetzt zum Gehen wenden würde, aber offenbar hatte der Ispettore noch etwas auf dem Herzen. «Commissario?»

«Ja?»

Bossi räusperte sich. Dann sprach er in dem leicht gedämpften Tonfall, den er bei Dingen anschlug, die nicht unmittelbar mit dem Dienst zu tun hatten.

«Ich wusste gar nicht, dass Sie so …» Der Ispettore hielt inne und sah Tron an. In seiner Miene mischten sich Erstaunen und Bewunderung. Ihm schien kein passendes Wort einzufallen.

Tron lehnte sich zurück und hob amüsiert die Augenbrauen. «So was

«So energisch sein können, Commissario», sagte Bossi schließlich.

Tron musste lachen. «Meinen Sie den Tritt zwischen die Beine?»

Bossi grinste. «Der Tritt auf die Nase war auch nicht schlecht.»

«Ich wollte kein Risiko eingehen.» Tron setzte ein dienstliches Gesicht auf. «Immerhin hat der Mann versucht, ein Tötungsdelikt zu begehen.»

«Es waren alle sehr beeindruckt», sagte Bossi. «Die Geschichte macht gerade die Runde in der Questura.» Sein Grinsen wurde noch breiter. «Dass der Bursche ein Österreicher war, hat den Kollegen besonders gut gefallen.» Er warf einen Blick auf die Lithografie des Kaisers und stieß einen Seufzer aus. «Und was machen wir, wenn er tatsächlich ein kaiserlicher Oberst ist?»

Tron streckte seinen Zeigefinger energisch nach einem Rest süßer Schlagsahne auf dem Teller aus. «Darüber denken wir nach, wenn es so weit ist.»

4

Alessandro, der livrierte weißhaarige Diener, dessen Vater bereits in den Diensten der Trons gestanden hatte, setzte den Teller mit der dampfenden Suppe behutsam vor der Contessa Tron ab und trat einen Schritt zurück. Die Contessa, Trons Mutter, dankte ihm mit einem leichten Nicken des Kopfes. Dann ergriff sie den Löffel, tunkte ihn in die Suppe und warf einen misstrauischen Blick über den Tisch.

Tron wusste, was von ihm erwartet wurde. Er tunkte seinen Löffel ebenfalls in die Suppe, kostete von der graubraunen, säuerlich riechenden Flüssigkeit und sagte lächelnd, indem er jede Silbe einzeln betonte: «Aus-ge-zeich-net.»

Worauf die Contessa einen befriedigten Gesichtsausdruck aufsetzte. «Man schmeckt es also nicht. Alessandro hatte behauptet, dass aufgewärmte Fischsuppen nicht mehr genießbar sind.»

Na, bitte – guten Appetit. Tron atmete tief durch und beugte sich heroisch über seinen Teller.

Die saure Fischsuppe passte jedenfalls zu den steinharten runden Brötchen, den rosette, die jedoch standesgemäß auf einer silbernen, mit Elfenbeingriffen versehenen Servierplatte arrangiert waren. Auch das grünlich schimmernde Hühnerfleisch, das den Hauptgang des Abendessens bildete, hatte Alessandro in einer silbernen Terrine serviert, auf der das Wappen der Trons prangte. Überhaupt vermittelte die Ausstattung des Speisezimmers – wegen der Gobelins an einer der Wände sala degli arrazzi genannt – noch ein wenig von dem Glanz, in dem sich das Haus Tron einst gesonnt hatte. Vor den beiden, aufgrund der Kälte geschlossenen Fenstern zum Canal Grande hingen mit Goldfäden durchwirkte Brokatvorhänge, an der gegenüberliegenden Wand stand ein Konsoltisch, dessen riesige Marmorplatte auf vergoldeten Delphinen ruhte. Darüber hingen, beinahe die ganze Wand einnehmend, Porträts von bedeutenden Persönlichkeiten, die das Haus Tron hervorgebracht hatte: ein Doge, drei Admiräle und zwei Prokuratoren von San Marco. Aber das alles war lange her, und verräterische helle Rechtecke auf der Tapete zeugten davon, dass die Trons gezwungen waren, sich von einigen der Porträts zu trennen.

Tron schlug den Kragen seines Gehrocks hoch und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Ihn fröstelte – kein Wunder bei der eisigen Temperatur, die in der sala degli arrazzi herrschte. Die Fischsuppe dampfte auch nicht, weil sie heiß war, sondern weil der weiße Fayenceofen aus dem vorigen Jahrhundert kaum beheizt wurde. Aus Sparsamkeit bevorzugte die Contessa scaldinos, kleine, tragbare und mit glühender Holzkohle gefüllte Tongefäße. Die qualmten meist, weil Alessandro die strikte Anweisung hatte, preiswerte dalmatinische Holzkohle zu kaufen und nicht die teure aus dem Friaul.

«Julien ist gestern in Venedig angekommen», sagte die Contessa. Sie häufte sich ein wenig von dem grünlichen Hühnerfleisch auf den Teller und ignorierte die Rauchfahne, die neben ihrem Stuhl emporstieg.

Tron hob den Blick von seinem Teller. Für eine Frau in den Siebzigern hatte sich seine Mutter bemerkenswert gut gehalten. Mit ihrer schlanken Figur und ihrem sorgfältig ondulierten Haar sah sie mindestens zehn Jahre jünger aus. «Wer ist gekommen? Ich kenne keinen Julien.»

Die Contessa runzelte die Stirn. «Hat sie dir nichts davon erzählt?»

«Falls du die Principessa meinst – sie hat keinen Julien erwähnt.»

«Das wundert mich.» Die Contessa hatte ihre Fischsuppe ausgelöffelt und häufte sich abermals eine Portion grünlich violett schimmerndes Hühnerfleisch auf ihren Teller. «Worüber redet ihr eigentlich?»

«Offenbar nicht über diesen Julien.»

«Er ist Sonntagabend mit der Bahn aus Verona gekommen», erläuterte die Contessa. «Aber die Principessa hat ihn noch nicht getroffen. Der junge Mann scheint sehr beschäftigt zu sein.»

«Würdest du mir bitte erklären, von wem die Rede ist?»

«Von Julien Sorelli, dem Neffen der Principessa», sagte die Contessa. «Wenn ich es richtig verstanden habe, hatten die beiden eine äußerst lebhafte Korrespondenz.» Sie spießte ein Stückchen Hühnerfleisch auf ihre Gabel. «Merkwürdig, dass sie das dir gegenüber nicht erwähnt hat.»

«Ich wusste gar nicht, dass Maria einen Neffen hat.»

«Er ist der Neffe ihres verstorbenen Mannes, des Fürsten von Montalcino. Dessen Schwester hat in Paris einen Italiener geheiratet.»

«Einen Signor Sorelli.»

«So ist es. Und Julien ist der Sohn der beiden.»

«Und was macht er hier in Venedig?»

Die Contessa sah Tron bedeutungsvoll an. «Julien ist der neue Privatsekretär des Comte de Chambord.»

Tron hob überrascht die Augenbrauen. Der Comte de Chambord, Herzog von Bordeaux und nach der Abdankung seines Großvaters im August 1830 der Erbe des französischen Throns, hatte seinen Anspruch auf die Königskrone nie aufgegeben. Man wusste, dass er vom venezianischen Exil aus um seinen Thron kämpfte – mit der Unterstützung royalistischer Fanatiker, die sich in einer geheimen Gesellschaft, der Ligue Fédérale, organisiert hatten.

«Arbeitet dieser Julien für die Ligue Fédérale

«Die Ligue ist eine Geheimgesellschaft, Alvise. Niemand, der für die Liga arbeitet, redet darüber.»

Tron hielt es für besser, das Thema zu wechseln. «Ich nehme an, der Comte de Chambord steht wieder auf deiner Liste.»

Die Contessa nickte. «Er hat bereits zugesagt. Was ich als Ehre betrachte, denn er macht sich gesellschaftlich rar. Maskenbälle zu besuchen ist nicht sein Stil.»

«Dein Maskenball ist etwas ganz Besonderes.»

Die Contessa lächelte. «Die Gästeliste kann sich jedenfalls sehen lassen», sagte sie. Und dann ohne Pause weiter: «Der Ball wäre eine gute Gelegenheit, eure Hochzeit anzukündigen.»

Tron hätte beinahe den Löffel in die Fischsuppe fallen lassen. «Wie bitte? Was anzukündigen?»

«Eure Hochzeit, Alvise. Diese Dauerverlobung ist kein Zustand.»

«Stammt die Idee von dir oder von der Principessa?»

«Sie liegt auf der Hand. Es ist nie auszuschließen, dass irgendjemand in ihr Leben tritt, der …»

«Der was?»

Die Contessa überlegte einen Moment. «Jemand, der sie beeindruckt. Jemand von Familie. Der seinerseits von der Principessa beeindruckt ist.»

«Es gibt keinen Mann, der von der Principessa nicht beeindruckt ist.»

«Was dich eines Tages in Schwierigkeiten bringen könnte. Wann siehst du die Principessa?»

«Morgen Abend», sagte Tron.

«Dann solltest du über das, was ich dir eben mitgeteilt habe, nachdenken.»

Tron kam plötzlich ein Verdacht. «Hat dieser Julien Sorelli etwas mit deinem Vorschlag zu tun?»

Der zerstreute Blick, den die Contessa über den Tisch warf, war täuschend echt. «Nun, jetzt wo du es sagst …» Die Contessa setzte eine nachdenkliche Miene auf. «Ich finde es jedenfalls merkwürdig, dass die Principessa diesen jungen Mann nie erwähnt hat.» Ihr Mund verzog sich zu einem winzigen Lächeln, das schnell wieder erstarb. «Man könnte fast auf den Gedanken kommen, sie hätte einen Grund, nicht darüber zu reden.»

Tron hatte es aufgegeben, so zu tun, als würde er essen. «Wahrscheinlich», sagte er, «hielt sie es für unwichtig. Ebenso unwichtig wie den Umstand, dass dieser Bursche jetzt in Venedig ist. Ich frage mich, warum du so darauf herumreitest.»

Die Antwort der Contessa kam sofort. «Weil ich ein ungutes Gefühl habe.» Sie wandte sich wieder dem Hühnerfleisch zu, spießte ein weiteres Stück davon auf, kaute und schluckte es hinunter. Dabei machte sie ein Gesicht, als würde sie Asche essen.

5

«Nicht schlecht», sagte Signor Zulani und rülpste.

Ein wenig Fett tropfte von seinem Schnurrbart herab, lief über seine wulstige Unterlippe und vermischte sich, weiter herabtropfend, mit den Krümeln der Bratkartoffeln, die sich in seinem Bart verfangen hatten. So genau war dies allerdings nicht zu erkennen, denn anstelle der teuren Petroleumlampen gab es im Hause Zulani lediglich billige Rüböllampen. Eine davon hing an der niedrigen Decke, die andere stand auf dem Küchentisch, und beide warfen einen trüben Lichtschein auf den Herrn des Hauses, die abgedeckte Pfanne und die dampfende fegato alla veneziana auf dem Tisch.

«Nicht schlecht», wiederholte Signor Zulani, indem er eine weitere Gabel zum Mund führte und anerkennend grunzte.

Bella Zulani, die Gattin von Signor Zulani, deren Äußeres immer schon in krassem Kontrast zu ihrem Vornamen gestanden hatte, nickte zufrieden. Sie hatte sich, eine Magenverstimmung vortäuschend, darauf beschränkt, eine Scheibe Brot zum Abendessen zu verspeisen und hin und wieder einen Schluck Wasser zu trinken. Nicht dass sie – als Reaktion auf dieses spezielle Mahl – einen plötzlichen Zusammenbruch ihres Gatten erwartete, aber man konnte nie wissen.

Signora Zulani hatte die Haut der Leber sorgfältig abgezogen, das Fleisch geschnetzelt und in einer Pfanne mit Olivenöl scharf angebraten. Dann hatte sie die Leber aus der Pfanne genommen und feingeschnittene Zwiebeln, Rosmarin und Thymian braun geröstet. Schließlich hatte sie die Leber wieder dazugegeben, alles vermischt und sorgfältig mit Pfeffer und Salz abgeschmeckt. Als Beilage gab es einen Berg Bratkartoffeln.

Das Resultat war eine Portion, die eine fünfköpfige Familie satt gemacht hätte – also genau die richtige Menge für Signor Zulani, der tagsüber als Schmied im Arsenal arbeitete und immer schon einen gesunden Appetit gehabt hatte.

Signor Zulani wischte sich den Mund ab, wobei er den Ärmel seines Hemdes benutzte. Dann trank er einen Schluck Wein und rülpste abermals. «Woher?»

Das war so seine Art, Fragen an seine Frau zu richten. Früher, dachte sie resigniert, hätte er sich höflich danach erkundigt, bei wem sie die Leber gekauft hatte, und wäre sich auch nicht zu schade gewesen, mit ihr ein paar Worte über das Rezept zu wechseln. Früher – das war, bevor sie ein wenig zugenommen hatte – von hundertzwanzig auf zweihundert –, das meiste, seit Giovanni, ihr einziges Kind, aus dem Haus gegangen war. Jedenfalls wusste sie, was gemeint war, und konnte seine Frage beantworten.

«Die Leber stammt von Grassi», sagte sie schnell und merkte, dass sie rot wurde.

Signor Grassi war ein melancholischer Junggeselle, der eine Macelleria am Campo San Giobbe betrieb. Sie kaufte das sonntägliche Fleisch, das sie sich selten genug leisten konnten, entweder dort oder in einer Macelleria direkt neben dem Bahnhof – wo sie zusammen mit einem halben Dutzend anderer Signoras für die Reinigung der Coupés zuständig war, die nachts aus Verona ankamen.

Signor Zulani gönnte sich noch einen kräftigen Schluck Wein und atmete aus, wobei eine Wolke über den Tisch waberte, die so roch wie ein weichgekochtes Ei, das eine Woche in einem Schlammloch gelegen hatte. Er sah sie misstrauisch an. «Teuer?»

Signora Zulani schüttelte den Kopf. «Einen halben Lire», sagte sie.

Der Gatte blickte mürrisch. «Billig ist das nicht.»

Was definitiv nicht stimmte, denn die Leber war ziemlich groß gewesen und – soweit sie es beurteilen konnte – von durchaus zufriedenstellender Qualität, wenn auch von etwas fragwürdiger Herkunft. Tatsächlich hatte sie keinen einzigen Centesimo dafür bezahlt, und das war auch der Grund, aus dem ihr bereits der Anblick des Gerichts auf den Magen geschlagen war.

Signora Zulani hatte die Leber gestern Nacht im Rahmen ihrer Reinigungstätigkeit in einem der Coupés des Nachtzugs aus Verona gefunden. Jawohl, gefunden. Das Organ lag auf einem Giornale di Verona, das wiederum auf dem plüschigen Polster eines Erste-Klasse-Coupés gelegen hatte – nicht ganz der Artikel, den eine schlechtbezahlte Reinigungskraft mit Vergnügen nach Hause trägt, keine vergessene Geldbörse, kein teures Taschentuch, auch kein herabgefallenes Schmuckstück. Aber etwas Essbares, eine offensichtlich frische Leber, vielleicht bei einer renommierten Macelleria in Verona erstanden, die dem Reisenden dann wohl lästig geworden war und die er nicht aus dem Fenster entsorgt hatte, sondern aus einem sozialen Impuls heraus für die Reinigungskräfte zurückgelassen hatte. In der zutreffenden Erwartung, dass man das Organ einpacken und – guten Appetit – zum baldigen Verzehr mitnehmen würde.

Was sie dann auch tat, nachdem sie das Abteil gründlich gereinigt hatte. Das war nicht ganz so flott wie üblich gegangen, denn offenbar war mit dem Hantieren der Leber einiges Blut geflossen, sodass sie das Wasser im Eimer dreimal austauschen und kräftig scheuern und schrubben musste, bis das Coupé wieder proper aussah. Nein – dass sie die Leber ganz umsonst bekommen hatte, konnte man eigentlich nicht sagen, und ein hübscher Ring wäre ihr zweifellos lieber gewesen.

Aber war es wirklich so gewesen? Stammte diese Leber tatsächlich aus einer Veroneser Macelleria? Sie war sich an diesem Punkt nicht ganz sicher, obwohl es eigentlich keine andere Möglichkeit gab. Andererseits hatte etwas Böses in der Luft des Coupés gehangen. Signora Zulani hatte beim Schrubben des Bodens mehrmals das absurde Gefühl gehabt, als würde etwas ausgesprochen Ekelhaftes ihre Schultern und ihren Hals berühren. Sie hatte sich jedes Mal erschrocken umgedreht, aber da war nichts außer dem Putzeimer und der Leinentasche mit der Leber.

Signora Zulani senkte die Lider, denn es gab kaum etwas Ekelhafteres als den Anblick ihres mampfenden Gatten. Dann beschloss sie, die ganze Angelegenheit gründlich zu vergessen.

6

Der Kaffee, schwarz wie die Sünde und erstaunlich gut, wurde in der Locanda Zanetto nicht in Tassen, sondern in angeschlagenen Bechern serviert, wie sie auf Priesterseminaren oder in Kadettenanstalten benutzt wurden. Allerdings schien er der Einzige zu sein, der hier Kaffee trank. Die meisten Gäste hatten Wein- oder Biergläser in der Hand, einige der stark geschminkten Damen tranken aus langstieligen Champagnerflöten. Vermutlich, dachte er, handelte es sich um billigen Prosecco, den man in Champagnerflaschen gefüllt hatte, und wahrscheinlich hatten die Herren für eine Flasche dieses fragwürdigen Gesöffs ein Vermögen ausgeben müssen.

Er hatte bereits den sechsten Kaffee getrunken und spürte, wie er langsam in Stimmung kam. Wie sein Tatendurst erwachte. Der Genuss von Bier oder Wein ließ ihn jedes Mal dumpf im Kopf werden, deshalb mied er – bis auf ein gelegentliches Glas Champagner – den Alkohol seit Jahren. Kaffee hingegen inspirierte ihn. Manchmal hatte er das Gefühl, dass sein Verstand nach jeder Tasse klarer und schärfer wurde. So scharf, dachte er, wie das Rasiermesser, das in der Tasche seines Gehrocks steckte.

Er wandte sich vom Tresen ab und sah sich um. Die Locanda Zanetto, angeblich das größte Tanzlokal in Cannaregio, war gut besucht, wenn auch nicht gerade überfüllt. Das Lokal bestand aus einem riesigen, L-förmigen Raum, an dessen einer Seite ein Salonorchester spielte. Gegenüber befand sich ein langer Tresen, an dem man kalte Speisen und Getränke bekam. Den größten Teil des Raumes nahm die Tanzfläche ein. An den Wänden standen Tische ohne Tischdecken, bei den Stühlen handelte es sich um billige Bugholzstühle. Billig sahen auch die Gäste an den Tischen aus – kleine Angestellte und Fremde aus den eher preiswerten Hotels, auf der Suche nach einem schnellen Abenteuer. Sie tranken Bier oder Wein, verspeisten gefüllte Oliven, die in kleinen Schälchen auf dem Tisch standen, und taxierten dabei die Damen, die allein oder in kleinen Pulks durch die Locanda streiften.

Die wenigsten Gäste hatten sich die Mühe gemacht, ein Kostüm aufzutreiben. Sie trugen Gehröcke, an die sie scherzhafte Anstecker aus buntem Papier geheftet hatten, einige Herren hatten sich Karnevalshütchen aufgesetzt. Er selbst trug einen Dreispitz aus stoffüberzogener Pappe, den er für fünfzig Centesimi am Eingang gekauft hatte, dazu eine Halbmaske, eine schwarze bautta, die seine Augen und einen Teil der Stirn verdeckte. Mund und Kinn blieben frei, aber da beides weder markant noch auffällig war, war es unwahrscheinlich, dass sich irgendjemand an ihn erinnern würde. Geschweige denn in der Lage war, eine brauchbare Beschreibung von ihm abzugeben.

Selbstverständlich war der Ballo in Maschera, der hier laut Plakat neben dem Eingang stattfand, keine elegante Settecento-Veranstaltung, sondern ein durchsichtiger Vorwand, kurzfristige Bekanntschaften zu knüpfen. Es war zu vermuten, dass sich in unmittelbarer Nähe der Locanda Zanetto billige Stundenhotels befanden.

Als die Musik einsetzte und sich die Tanzfläche füllte, stellte er die leere Kaffeetasse auf den Tresen und nahm seinen Rundgang wieder auf. Inzwischen schwitzte er unter seiner Halbmaske, und ein Blick in den Spiegel hatte ihn darüber belehrt, dass er mit seinem Dreispitz ausgesprochen lächerlich aussah. Aber er würde nicht den Fehler machen, ihn abzunehmen und seine Maske zu lüften – sei es auch nur für einen Augenblick. Er schob sich weiter durch die Menge und ignorierte die atembeklemmende Glocke aus Zigarettenrauch, Bierdunst und billigem Parfum, die über der Locanda hing.

Es war jetzt kurz nach Mitternacht. Noch hatte er keine Frau gefunden, deren Figur und Gesichtsausdruck ihn ansprachen. In der letzten Tanzpause hatte ihm eine mollige Brünette zugezwinkert, die mit einem Glas Wein in der Hand vor dem kleinen Podium stand, auf dem das Salonorchester spielte. Ihr Dekolleté war äußerst bemerkenswert, aber er hatte den Kopf gedreht und war weitergegangen. Er machte sich nichts aus molligen Brünetten. Er wusste genau, was er wollte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Frau auftauchte, auf die er wartete.

Dass er gestern Nacht gezwungen gewesen war zu improvisieren, war bedauerlich, aber es hatte sich nicht vermeiden lassen. Im Nachhinein konnte er allerdings mit sich zufrieden sein. Er hatte in der Hitze des Gefechts die Übersicht behalten. Den Schnitt durch die Bauchdecke, obwohl lange nicht mehr vorgenommen, hatte er fast routinemäßig ausgeführt. Dann hatte er ihr mit ein paar weiteren virtuosen Schnitten das Leben entnommen und die Frau noch rechtzeitig vor der Ankunft des Zuges in Venedig entsorgt. Ob sie die Leiche bereits gefunden hatten? Ihre unvollständige Leiche? Angeschwemmt an den Gestaden der Fondamenta Nuove? Hier ganz in der Nähe? Jedenfalls war es auszuschließen, dass man ihn mit dem Verschwinden der Frau in Verbindung brachte. Falls man überhaupt darauf kam, dass die Signorina die Eisenbahn benutzt hatte.

Ein wenig problematisch war das Blut im Abteil gewesen. Als das Fest vorbei war, hatte er in einer regelrechten Pfütze gestanden. Es gab sogar ein paar Spritzer auf den Spiegeln über den Sitzen, und auch die Polster sahen saumäßig aus. Ob der Schaffner angesichts der Schweinerei die Polizei gerufen und all die Scherereien in Kauf genommen hatte, die damit verbunden waren? Unwahrscheinlich. Vermutlich hatte er sich darauf beschränkt, eine gründliche Reinigung anzuordnen und die Angelegenheit dann auf sich beruhen zu lassen. Und damit stellte sich die spannende Frage, wie die Reinigungskräfte auf das organische Objekt auf den Polstern reagiert hatten. Hatten sie es entsorgt? Oder vielleicht gar verspeist? Zubereitet alla veneziana? Mit ein wenig Reis und dem obligatorischen Salbeiblatt? Die Leute, dachte er, die für die Reinigung der Coupés zuständig waren, waren arm. Sie würden zugreifen, wenn sie auf ein schmackhaftes Stück Fleisch stießen.