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Martin Walser

Muttersohn

Roman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Martin Walser

Martin Walser, geboren 1927 in Wasserburg, lebt in Überlingen am Bodensee. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis und 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l’Ordre des Arts et des Lettres» ernannt.

Über dieses Buch

Wovon handelt dieser Roman? Es ist leichter zu sagen, wovon er nicht handelt. Er handelt von 1937 bis 2008, kommt nicht aus ohne Augustin, Seuse, Jakob Böhme und Swedenborg, handelt aber vor allem von Anton Percy Schlugen.

 

Seine Mutter Josefine, Fini genannt, ist Schneiderin; sie lebt, auch als sie mit einem Mann zusammenlebt, allein. Jahrelang schreibt sie Briefe an Ewald Kainz, der auf den Stufen des Neuen Schlosses in Stuttgart eine politische Rede hielt. Die Briefe schickt sie nicht ab; sie liest sie ihrem Sohn vor und vermittelt ihm so, dass zu seiner Zeugung kein Mann nötig gewesen sei.

 

Mit diesem Glauben lebt Percy. Er wird Krankenpfleger im psychiatrischen Landeskrankenhaus Scherblingen, wird gefördert von Professor Augustin Feinlein und eines Tages mit einem Fall betraut, an dem die Ärzteschaft fast verzweifelt. Es geht um einen Suizidpatienten, einen Motorradlehrer, der sich allen Therapieversuchen stumm widersetzt. Dieser Patient heißt: Ewald Kainz.

 

Percy ist inzwischen berühmt, weil er keiner Weltvernunft zuliebe verzichtet auf die von der Mutter in ihn eingegangene Botschaft vom Kind ohne leiblichen Vater. Berühmt auch durch seine prinzipiell unvorbereiteten Reden. Das ist sein Thema: Ich sage nicht, was ich weiß. Ich sage, was ich bin.

 

In «Muttersohn» fügen sich Bekenntnisse und Handlungen zu einem Roman des Lebens: empfindungsreich, ironisch und schwerelos zugleich.

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2011

Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Hamburg nach einem Entwurf von Sascha Anderson

(Foto: © Karin Rocholl)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-25996-8 (1. Auflage 2013)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-01241-7

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-01241-7

Für alle, die mir geholfen haben.

I Dem Leben zuliebe

1.

Ewald, ich heiße Percy. Das sagte er, als er die Tür hinter sich zugemacht hatte. Ewald hatte auf sein Klopfen nicht geantwortet. Percy sagte, das verstehe er. In der Geschlossenen Abteilung an eine Tür zu klopfen und auf ein Herein zu warten, sei heuchlerisch, da doch der Klopfende den Schlüssel habe, mit dem die Tür aufzuschließen sei.

Ewald lag auf dem gemachten Bett. Er lag auf dem Rücken. Die Augen offen. Die rechte Seite seines Gesichts war rot, vernarbt, die rechte Hand auch. Diese rechte Hand lag auf Ewalds Brust. Sie hielt ein Handy. Das konnte nur heißen, dass er auf etwas wartete, was aus dem Handy kommen musste. Percy sagte: Ich setz’ mich auf den Stuhl an deinem Tisch. Dann schwieg er. Er wartete nicht, er schwieg. Plötzlich richtete sich Ewald auf, schlüpfte in die schwarzen Schuhe, die unter seinem Bett standen, und legte sich wieder hin und schaute zur Decke. Es war klar, er wollte nicht, dass ihn jemand ohne Schuhe sähe. Schwarze Schlüpfschuhe, schwarze Socken, schwarze Hose, schwarzes, langärmliges Hemd. Als Manschettenknöpfe goldgefasste rote Steine. Karneol, dachte Percy. Das Handy hatte Ewald beim In-die-Schuhe-Schlüpfen in der Hand behalten.

So blieben sie. Stumm. Zwei Stunden lang oder drei. Dann stand Percy auf, ging zur Tür, schloss auf und sagte: Ich will nicht, dass du dich wunderst. Ich bin mit allen per du, seit ich hier in der Pflegerschule war. Der Professor hat mich Latein lernen lassen. Da gibt es kein Sie. Seit dem sag ich zu allen du. Es ist dann immer, als spräche ich Latein. So ein Gefühl halt. Bis bald, Ewald.

Als Percy draußen war, drehte er den Schlüssel so leise wie möglich im Schloss.

Zwei Empfindungen waren Percy fremd: Furcht und Ungeduld.

 

An einem solchen Maitag, der das Grün zum Leuchten brachte, waren die Waldwege im Klinik-Areal belebt. Patienten mit ihren Angehörigen, Patienten ohne Angehörige. Einmal wurde Percy sogar mit einem lauten Zuruf begrüßt von einem Pfleger, der eine Gruppe von Patienten zu einem Termin führte. Percy grüßte zurück. Ihm war noch rechtzeitig eingefallen, dass das Alfons war. Einaug Alfons. Der war mit ihm hier auf der Pflegerschule ausgebildet worden. Vielleicht sieht man sich noch, hatte Einaug Alfons gerufen. Das hoff’ ich schwer, hatte Percy zurückgerufen und hatte daran gedacht, dass Alfons inzwischen ein Auge eingebüßt hatte. In einem Kampf mit einem Tobsüchtigen. Der Professor, der ihm das erzählt hatte, hatte gesagt, Alfons habe sich nicht gewehrt. Und dass er sich nicht gewehrt habe, sei inzwischen Alfons’ Wappen. Beide hatten, was sie riefen, mit winkenden Händen begleitet.

Als Percy dann den Brunnenplatz überquerte, der dem Klinik-Areal eine Art Zentrum liefert, wurde er gestoppt. Ein junger Mann, der auf dem niederen Brunnenrand gesessen hatte, sprang auf, trat Percy in den Weg, gab aber dann den Weg, den er gerade noch gesperrt hatte, mit großer Gebärde wieder frei und sagte: Bitte! An Friedlein Vogel ist bis jetzt noch jeder vorbeigekommen, also wird der Baron Schlugen keine Ausnahme machen wollen.

Etwas, was er gemacht oder bewirkt oder gesagt hatte, zu bedauern, lag Percy nicht. Nur wenn er dem Potpourri begegnete, das mit seinem oder mit seinen Namen veranstaltet wurde, spürte er, dass er während seiner mehrjährigen Wanderschaft durch die Pfarrhäuser und Anstalten zwischen Donau und Bodensee manchmal zu mitteilsam gewesen sein musste. Wenn es nicht die Pfarrköchinnen waren, müssen es Ärzte oder Pfleger im PLK gewesen sein, die seinem Ruhm allzu farbige Kränze flochten. Baron Schlugen? Er wusste schon nicht mehr, wem er erzählt hatte, dass seine Mutter hoffe, die Schlugen seien einmal adelig gewesen. Sie betrieb Ahnenforschung.

Der sich als Friedlein Vogel vorgestellt hatte, war mindestens eins neunzig und so hager, dass er, was er als Kleidung trug, bei weitem nicht ausfüllen konnte. Ein Kinn wie ein Schiffsbug und ein Adamsapfel, der mit der auch nicht gerade unbeträchtlichen Nase konkurrieren konnte.

Feierlich langsam holte er Papiere aus seiner Jackentasche, entfaltete sie und sagte:

Noch vor zwei Wochen hätte ich nicht auf Sie lauern können. In der Geschlossenen, wenn auch nur Stufe zwei. Seit einer Woche wird mir geglaubt, dass ich weder mich noch sonst jemanden umbringen werde. Vorerst. Mein Auftrag bleibt mein Auftrag, aber ich habe dem Pharmakonisten Dr. Bruderhofer klargemacht, dass von mir, solange ich null und nichts bin, keine Tat zu erwarten ist. Politisch ambitionierter Suizidkandidat, das haben sie mir hier als Etikett verpasst. Will ein Signal setzen! Aber was denen erst sehr mühsam klargemacht werden musste: Ein Signal setzen – was für eine eisenbahnerhafte Ausdrucksweise – kann ich nur, wenn ich der berühmte Schriftsteller bin, der zu werden ich zwar jede Fähigkeit habe, aber noch keine Aussicht. Zur geistigen Elite zu zählen, reicht nicht, wenn Sie einen historischen Erleuchtungsblitz beabsichtigen. Intelligenzquotient 147 und im Sprachbereich 180. Inzwischen haben elf Verlage meine Manuskripte abgelehnt. Die Ablehnungsschreiben bewiesen mir durch ihre zum Himmel schreiende Syntax der Inkompetenz, wie gut meine Manuskripte sind. Dass ich keinen literarischen Ehrgeiz habe, sondern eine historische Mission, das geht in diese Feuilletonbirnen nicht hinein. Die amerikanische Führungsclique muss begreifen, dass man heute Frieden nicht per Krieg schafft. Und diese kriegslüsterne Clique wird nicht aufhören, wenn sich nicht ein Schriftsteller vor dem Weißen Haus verbrennt, ein Schriftsteller von säkularem Rang. Seit ich das verlautbarte, werde ich von CIA und MOSSAD verfolgt. Das Bundesinnenministerium, das ich fünfzehnmal um Personenschutz gebeten habe, reagiert nicht. Natürlich nicht. CIA und MOSSAD, das sind Komplizen. Von Krieg zu Krieg haben wir uns daran gewöhnt, dass der Krieg zum einzigen Problemlöser geworden ist. Zuerst schaffen wir Probleme, dann lösen wir sie per Krieg. Natürlich machen wir mal Witze über diesen und jenen US-Präsidenten. Einer immer noch simpler als der andere. Bald müssen wir uns für unsere Hohenzollern nicht mehr genieren. Widerstand ist in der Fernseh-Klamottenkiste verschwunden. Artikel 20,4 Grundgesetz interessiert nur noch Spinner. Wie mich, zum Beispiel. Wenn CIA und MOSSAD mich verschwinden lassen, interessiert das keinen. Wenn ich als epochemachender Autor mich vor dem Weißen Haus verbrenne, bleibt dem US-Koloss die Spucke weg. Ein Weltautor, Nobelpreiskandidat, verbrennt sich vor dem Weißen Haus. Und ich handle, mich verbrennend, so egoistisch wie alle anderen auch. Plato: Der Mensch kann sein Interesse nur dann zu seinem Wohl wahrnehmen, wenn er zugleich die Interessen seiner Mitmenschen bedenkt. Quelle, wo’s steht, wird auf Wunsch nachgereicht. Jetzt, was schreibe ich jetzt, um meine Mission zu erfüllen? Gedichte. Ich les’ Ihnen das allerneueste Gedicht vor, dass Sie wissen, was auf dem Spiel steht. Und las:

Ich bin der göttliche Gedanke,

im Weltdekor die geilste Ranke.

Ohne mich wäre das Ganze

ein Blumentopf ohne Pflanze.

Dann fragte er: Soll ich noch?

Percy sagte: Ich bitte darum.

Der:

Ich habe mich getrennt von dir,

dass dir’s nicht gehe wie mir,

die Einsamkeit ist aus schwarzem Eis,

aber die Westen der Herrn strahlen weiß.

Er faltete das Papier, reichte es Percy und sagte: Wie finden Sie die Idee, dass ich es jetzt mit Gedichten versuche?

Ich beneide dich, sagte Percy.

Wissen Sie, sagte der Hagere, ich bin auf das Gedicht gekommen, als ich erkannt habe, es gibt überhaupt keine schlechten Gedichte. Ein Gedicht sagt immer schon alles. Und das auf kleinem Raum. Das hat mich angezogen. Wer glaubt, es gebe schlechte Gedichte, ist ein Halsabschneider oder Folterknecht oder Stiefellecker. Adieu. Und stoppte noch einmal. Wenn er gelogen habe, könne er nicht mehr gehen, ohne zu befürchten, dass er gleich stürze. Lügen ruiniert bei mir den Gleichgewichtssinn. Also sage ich Ihnen jetzt noch, dass ich gerade gelogen habe. Nicht aus irgendeinem im Moralischen beheimateten Reinheitsdrang gestehe ich das, sondern, weil ich eben, wenn ich gelogen habe, stolpere und stürze. Und das war die Lüge: Dass es überhaupt keine schlechten Gedichte gibt, das habe nicht ich erkannt, sondern Innozenz der Große. Wer denn sonst! Übrigens: Er will meine Gedichte unbedingt in seine Scherblinger Anthologie aufnehmen. Ich will aber erst in eine Anthologie, wenn ich ein Buch habe, ganz allein, für mich. Ein Buch, das ist eine Säule, auf der du stehen kannst, sichtbar der Welt. Adieu. Und ging und blieb noch einmal stehen und sagte: Ich brauche Zeugen. Für meinen letzten Auftritt. Kann ich mit Ihnen rechnen?

Immer, sagte Percy.

Danke, sagte der und ging.

Percy hörte, dass der jetzt summte.

Percy fühlte sich aufgenommen, ohne zu wissen, wo und von wem. Muss man auch nicht wissen, dachte er. Besonders, wenn man sich wohlfühlt. Bei ihm ging Wohlgefühl immer in die Beine. Er warf die Füße voraus, die Fußspitzen fast grotesk nach außen gedreht. Den Kopf richtig hochgereckt. Er erlebte sich als Gehenden so deutlich, dass er wusste, jeder, der ihn so gehen sah, musste denken: Was ist denn mit dem los! Und genau das war ihm recht. Er drückte aus, führte vor, wie wohl es ihm war. Seine Mutter hatte ihm mehr als einmal gesagt, dass er sich trotz seiner Leibesfülle wunderbar bewege. Man sehe ihm an, dass er eins sei mit seinem Körper. Jede seiner Bewegungen sei eine Energiekundgebung. Jede seiner Bewegungen drücke aus, dass er mehr Energie habe als er brauche. Und: dass er Herr seiner Energie sei. Dass seine Energie ihm diene. Und das mache alle seine Bewegungen schön. Du bist ein Engel ohne Flügel, hat sie gesagt. Mehr als einmal. Und immer, dass es klang, als sei das etwas Schönes, ein Engel ohne Flügel. Wenn Mutter Fini an ihm etwas nicht gefiel, konnte sie ihn aufs gröbste herunterputzen; dann demonstrierte sie ihm, wie sehr sie leide, wenn ihr etwas an ihm nicht gefiel. Das machte ihr Lob vertrauenswürdig.

Tatsächlich fühlte sich Percy inzwischen in seinem Körper so wohl, dass er vielleicht auch ohne den andauernden hymnischen Zuspruch der Mutter ausgekommen wäre. Oder war, dass er sich in seinem Körper so wohlfühlte, die Wirkung des unaufhörlichen mütterlichen Zuspruchs? Im Augenblick fühlte er sich wohl, weil ihm dieser Kontakt zu Friedlein Vogel gelungen war. Und er wusste, Friedlein Vogel würde heute und vielleicht auch noch morgen Percy preisen. Das war das Wichtigste. Überall, wo er erschien, wollte er rühmenswert sein. Er hatte das Gefühl, alle rühmenden Sätze, irgendwo von irgendwem gesprochen, schwebten in die Höhe und sammelten sich droben in einem himmlischen Gewölbe und blieben dort als ein jederzeit abrufbares Echo. Ach, er war jetzt glücklich. Und wenn er glücklich war, dachte er an die Mutter. Ich bin geleitet, sagte die Mutter immer. Percy sagte dann: Ich auch. Am frühen Abend eines 24. Dezembers wird er zwischen Brauchlingen und Merklingen bei Schneetreiben von einem Auto angefahren, in den Straßengraben geschleudert, das Auto fährt weiter, er liegt, kann sich nicht mehr rühren, aber seinen Lederhut kann er noch mit seinem Stock in die Straße hinaushalten, also sieht der Pfarrer Studer, der von einer Kindergartenbescherung in Brauchlingen heimfahren will nach Merklingen, Stock und Hut in seinem Scheinwerferlicht. Percy wird gerettet. Von einem Pfarrer Studer. Seit dem kennt er den. Fräulein Hedwig, die Pfarrköchin, erzählt Percy, als er im Frühjahr kommt, um zu danken, der Pfarrherr habe über Percy sogar gepredigt. Eine ganze Predigt habe davon gehandelt, wie der Pfarrherr am Einnachten noch unterwegs war von Brauchlingen heimwärts, dann auf einmal einen Stock mit einem Hut im Scheinwerferlicht hat. Schräg in die Höhe, aus einem Straßengraben heraus, steht da ein Stock mit einem Hut dran. Und bremst, geht hin und findet einen Verletzten, der aber noch den Stock mit dem Lederhut in die Straße hinaushalten kann. Der Verunglückte ist bei Bewusstsein, der Pfarrherr ruft den Notdienst her und bleibt da, bis das Krankenauto kommt. Bevor er geht, will der Verunglückte noch wissen, wer ihn gerettet hat. Der Pfarrer sagt’s ihm. Und der Verunglückte sagt: Ich gratulier’! Das kommt dem Pfarrherr komisch vor. Er fragt, wie er das verstehen soll. Weihnachtsabend, sagt der Verunglückte, sagt es mühsam, weil ihm jetzt doch alles wehtut, ich gratulier’ Ihnen dazu, dass Sie mich gerettet haben. Aha, sagt der Pfarrherr. Und der Verunglückte: Überlegen Sie sich’s, dann kommen Sie drauf. Und wird in das Krankenauto geschoben. Der Pfarrherr hat sich’s überlegt und hat dann an Dreikönig darüber predigen können, dass er dankbar sei, weil er am Weihnachtsabend habe ein Leben retten dürfen.

Als die Pfarrköchin das Percy erzählte, sagte der: Und was für eins! Meins! Und beide lachten.

Fräulein Hedwig gegenüber sprach er es zum ersten Mal aus, dass er keinen Vater hatte. Sie meinte natürlich, er sei ein Halbwaise oder der Vater habe sich davongemacht. Er aber, ohne in einen rechthaberischen Ton zu verfallen: Nein. Meine Mutter hat es mir gesagt, dass sie mich geboren habe, ohne dass vorher ein Mann nötig gewesen sei. Dass Fräulein Hedwig dann kein bisschen staunte! Sondern seine beiden Hände nahm und sagte, ihr sei Percy gleich so vorgekommen, als sei er nicht wie alle anderen. Pfarrer Studer kam, als Schwester Hedwig es ihm weitergesagt hatte, geradezu fröhlich auf Percy zu und sagte: Auf so einen haben wir gewartet. Und lachte. Percy wusste nicht, was er sagen sollte, also nickte er. Auf jeden Fall, sagte der Pfarrer, sei es ein wunderbarer Einfall, und er hoffe bloß, Percy werde sich nicht drausbringen lassen.

 

Jedes Mal, wenn Percy aus dem Klinik-Wald ins Freie trat, blieb er stehen, atmete ein, was er sah. Das Kloster. Die Nordseite, die Rückseite des Baus, der auf der Vorderseite, nach Süden, mit zwei Seitenflügeln vorsprang und in dieses offene U die Stiftskirche hineinragen ließ. Das Kloster hatte es vom hohen Mittelalter bis zu seiner Aufhebung auf einen Umschwung von zwölf Hektar gebracht. Zuletzt hatte das Psychiatrische Landeskrankenhaus diese zwölf Hektar mit allem Drauf und Dran geerbt. Mindestens zwei Hektar davon gehören immer noch dem Wald. Die Klinik-Neubauten sind so im Wald verteilt, dass man nie mehr als einen Bau sieht. Nur die Klosterbauten stehen draußen, im Freien sozusagen.

Percy fühlte, wie richtig es war, dass sich diese Bauten frei präsentierten, und wie richtig es war, dass sich die Klinik-Neubauten im Wald vor einander verbargen. Er überließ sich jedes Mal diesem mit Staunen gemischten Wohlgefühl, wenn er erlebte, dass dieser Bau mit Hunderten von Fenstern kein bisschen zu groß und er, der Betrachter, kein bisschen zu klein wurde. Die Fenster waren gefasst, weiß gefasst, von Stuckreliefs, also waren sie in Bewegung, lieferten der gewaltigen Fläche Bewegungslinien. Und der Mittelteil des mächtigen Baus sprang vor, auch auf der Rückseite. Und sprang nicht nur vor, sondern hob sich auch ab in der Dachlinie. Und der Aufschwung war nicht nur eine höher hinaufreichende Dachschräge, der Aufschwung gelang zuerst nur zur Hälfte. Ruhte in einer Linie und setzte dann noch einmal an, verjüngte sich noch einmal, um ganz in die Höhe zu kommen. An diesen zwei Aufschwüngen musste sich Percy jedes Mal mitatmend sattsehen, bevor er auf das Gebäude zu- und um es herumging, zum Portal. Dieser zweifache Aufschwung, das war das Dach des Bibliotheksaals. Der Saal plus Galerie brauchte diesen zweifachen Aufschwung. Die links und rechts unerhoben weiterlaufende Dachlinie endete draußen, da, wo die Seitenflügel nach vorn entsprangen, noch einmal in Erhöhungen. Eckpavillons, hatte der Professor diese Aufschwünge genannt. Sie demonstrierten, dass sie der Symmetriebetonung dienten.

Jedes Mal, wenn Percy diesen Bau beim Anschauen förmlich einatmete, gestand er sich, dass es die Symmetrie war, die er genoss. Er war ein zur Symmetrie verurteilter Mensch. Asymmetrisches schmerzte ihn. Und er war gegen Schmerz. Er gönnte nichts und niemandem die Herrschaft über sich. Es sei denn, er unterwerfe sich freiwillig einer Herrschaft. Aber da er sich keinem Schmerz freiwillig unterwerfen konnte, war er gegen Schmerz. Es gab auch kein zweites Bauwerk in der Welt, das er so einatmete wie dieses. Im Bibliothekssaal hatte er zum ersten Mal in seinem Leben gesprochen. Öffentlich sozusagen.

Der Professor hatte am Samstag, es war ein Samstag im Mai, gesagt: Manchmal redest du wie ein Wasserfall. Man möchte sich drunterstellen. Sprich doch morgen zu den Patienten und ihren Angehörigen. Nach der Andacht.

Es ist Mai, hatte der Professor noch gesagt, der Marienmonat.

Percy hatte gelacht. Mehr grimassiert als wirklich gelacht. Mach’ ich, hatte er gesagt. Er hatte doch selber immer wieder dieses Zu-viel-Gefühl. Er wusste nicht von was, nur dass es zu viel war. Zu viel für ihn selbst. Aber vorbereiten tu ich mich nicht, hatte er gesagt. Das fänd’ ich gemein, vorbereitet zu reden zu unvorbereiteten Menschen.

Sonntagnachmittag also. Zuerst hatte er sich auf der Orgel in Stimmung gebracht. Noch waren Stühle leer. Es kamen aber immer noch Leute. Dann waren alle Stühle besetzt. Es standen schon Leute. In der ersten Reihe saß der Professor. Professor Dr. Dr. Augustin Feinlein. Percy wusste, dass ihm keiner so zuhören konnte wie der Professor. Er spielte, was seine Hände wollten. Nichts Bombastisches. Er würde, was er spielte, Diminutiv nennen. Wenn er den Mut hätte, müsste er es Ewig nennen. Professor Dr. Dr. Augustin Feinlein war aufgestanden und hatte gesagt, dass er sich freue, Percy Anton Schlugen heute hier zuhören zu können.

Als der Professor ihn mit beiden Vornamen vorstellte, war ihm eingefallen, wie ihn Luzia Meyer-Horch, als er bei ihr den Schlüssel für die Orgel abholte, wie sie, des Professors Sekretärin, ihn begrüßt hatte: Immer wenn Sie zur Tür hereinkommen, Percy, merk’ ich, dass Sie aussehen, wie wenn Sie Anton hießen. Und lachte. Ihr berühmtes Lachen, mit dem sie immer verhinderte, dass jemand mitlachte. Aber dass er ihr Lachen bewundere, sagte Percy jedes Mal.

Als Percy dann die Menschen vor sich sah, sagte er: Liebe Leute. Dem Leben zuliebe.

Dann sprach er nicht gleich weiter. Das wurde überhaupt das Wichtigste bei seinem Sprechen. Die Pausen. Die Sätze waren gerahmt von Pausen. Und die Pausen waren keine Verlegenheit.

Seine Mutter heiße Josefine, weil sie am 19. März geboren worden sei. Ihr Vater habe Josef geheißen, ohne dass er am 19. März geboren worden sei. Die Schlugen seien eine komische Familie gewesen. Die Mutter der Mutter rabiat unfromm, der Vater der Mutter kreuzbrav, erzfromm, andauernd auf Wallfahrt oder doch dabei, die nächste Wallfahrt zu planen.

Immer nur der Vater Josef und die Tochter Josefine. Nach Heiligenbronn im Schwarzwald, auf den Welschenberg an der Donau, nach Birnau am Bodensee oder auf den Bussen, den heiligen Berg Oberschwabens. Marienverehrung halt.

Seine Mutter sei immer mitgetippelt, habe natürlich alle Rosenkränze mitgebetet, aber sie habe immer gespürt, dass sie eine Zuschauerin sei. Ihr Vater sei für sie ein Altarbild geworden. Aber sie hat ihm nie sagen können, dass sie bei diesen Wallfahrtsprozeduren innen drin nicht ergriffen worden sei.

Dann ist der Vater gestorben, und er ist gestorben, als nur sie im Zimmer war, und sein letzter Satz war: Du bist geleitet. Fini, du schaffst es.

Von da an merkte sie, dass in ihr alles lebte, was sie mit ihm erlebt hatte. Jetzt war sie keine Zuschauerin mehr. Jetzt war sie die Ergriffene. Und hat nicht aufgehört, die Ergriffene zu sein. Und das hat Percy durch sie erlebt, was das ist: ergriffen sein. Ich leb’ dem Leben zuliebe, hat sie gesagt. Mehr als einmal.

Wieder eine unangestrengte Pause.

Sein Lieblingspfarrer, Pfarrer Chrysostomus Studer, habe einmal in einer Predigt gesagt, im Neuen Testament komme das Wort Reich Gottes 122-mal vor. Es sei fast immer Jesus selber, der das sage: das Reich Gottes. Und dass er selber das Reich Gottes sei. Aber in einer anderen Predigt habe Pfarrer Studer gesagt, jeder trage das Reich Gottes in sich. Er, Percy, gebe zu, dass das ein schöner Ausdruck sei: Reich Gottes. Das hat was. Aber man weiß nicht, was es hat. Auf ihn wirke es wie Musik oder wie eine Droge. Er könne aber zu anderen nicht über Musik oder Drogen sprechen.

Dann hat er gesagt, ihm wäre es unangenehm, wenn er jetzt etwas gesagt hätte, was der Erklärung bedürfe. Er erlebe, wenn er den Mund aufmache, dass er über sich selbst spreche. Ich kann nicht sagen, was ich weiß. Nur, was ich bin.

Jetzt die tolle Hoffnung, er sei anderen am nächsten, wenn er über sich selbst spreche. Jeder sei sich selbst so nah. Da könnten doch alle, die über sich selbst sprechen, einander nah sein. Dann hat er hörbar aufgeatmet, hat die Zuhörer um Entschuldigung gebeten, weil er keine Beweise hat für das, was er da sagt. Aber genau das liegt ihm nicht, etwas zu beweisen. Wenn etwas bewiesen ist, ist es für ihn erledigt. Das Unbeweisbare, das zieht ihn an.

Er ist dann so weit gegangen, den Leuten zu sagen, er habe einer Pfarrköchin namens Hedwig, Pfarrköchin in Merklingen, einmal gesagt, dass seine Mutter ihm gesagt habe, zu seiner Zeugung sei kein Mann nötig gewesen. Und Fräulein Hedwig habe nicht gelacht. Auf jeden Fall ihn nicht ausgelacht. Und der Pfarrer Studer habe, als er das von Fräulein Hedwig erfahren hatte, zu ihm gesagt: Auf so einen haben wir gewartet. Mehr wolle er, sagte Percy, hier heute nicht sagen. Aber ein anderes Mal mehr. Das hoffe er. Von sich.

Und sagte doch noch: Glaubwürdig sein wäre das Höchste für ihn. Glaubhaft sein zu wollen, käme ihm anmaßend vor. Wenn er euch glaubwürdig wäre, wäre er nie mehr allein. Oder, um es mit Goldrand zu sagen: nie mehr einsam.

Womit ich zugegeben habe, dass ich abhängig bin.

Und musste noch sagen: Einer, der sich unabhängig wähnte, wäre mir fürchterlich. Einer, der abhängig ist, kann einem leidtun. Ich mir aber nicht. Ich bin nicht abhängig von dem und jenem, sondern absolut. Ich bin absolut abhängig. Absolut unselbständig. Ich bin ein Echo und weiß nicht, von was. Noch nicht. Ich habe im Lauf meines Lebens immer mehr Gleichartigkeiten mit anderen erfahren. Und je mehr ich davon erfuhr, desto mehr hoffte ich, auf Einzigartigkeit verzichten zu können. Als ich sah, wie ähnlich ich anderen war, fühlte ich meine Mängel, wenn nicht entschuldigt, so doch aufgehoben in einer allgemeineren Mangelhaftigkeit. Manchmal kriegte ich deswegen sogar etwas Stolzes. Nichts übermäßig Stolzes. Etwas Bescheiden-Stolzes. Ich sah mich dann mit meinen Mängeln im Morgenrot stehen, sah meine Mängel angeleuchtet von einer mehr Licht als Wärme spendenden Morgensonne und war einverstanden mit der Deutlichkeit, in der meine Mängel jetzt erschienen, und ich sagte: Also. Und rannte davon. Der wollte ich auch nicht sein. Ich habe mich nie mit mir eins fühlen können. Jeder konnte mich aus mir vertreiben. Aber meine Mutter hat das nicht zugelassen. Sie hat mich in mir befestigt. Du bist ein Engel ohne Flügel, hat sie gesagt. Mehr als einmal. Und so, dass ich’s glauben konnte. Ich habe immer mehr geglaubt als bezweifelt.

Und das auch noch: Was ich euch sage, ist gering. Nur dass ich es sage, zählt. Vielleicht.

Dann, ganz leise:

Nun habt ihr gut geschlafen

und wünscht euch fort von hier

zu Kräutern und zu Schafen,

und zwei mal zwei bleibt vier.

Einziehen, schließen, falten,

eben leben, keine Steigerung,

den Fall nicht nähren,

nur Schnüre entwirren

und sorgsam enden.

 

Und an die Orgel, und eingeleitet.

Die Leute haben mitgesungen. Heftig. Er hat den Saal so verlassen, dass er niemandem begegnen musste. Er hätte sich geniert. Das weiß er heute noch.

Als Percy jetzt die im Bogenschwung nach oben in den ersten Stock führende Treppe hinaufging, schwebte er wieder. Wenn er diese Treppe hinauf- oder hinabging, schwebte er. Er war oft genug mit dem Professor diese Zeit lassenden Stufen hinauf- oder hinabgegangen. Der hatte das gesagt, dass einen diese Treppe schweben lasse. Diese Treppe sage alles, sagte der Professor. Man schwebe doch aufwärts genau so wie abwärts. Keinesfalls dominiere das Gefühl, man gehe aufwärts oder gehe abwärts. Das hörte Percy gern, das übertrug sich auf ihn. Seit dem schwebte er, der Engel ohne Flügel, aufwärts und schwebte abwärts und spürte es förmlich, dass die den Treppenschwung begleitenden, die gemalten Äbte, die Reichsprälaten, ihn mit Sympathie betrachteten. Dann an der Gangwand, von der Fensterfront mit Licht bedient, ein Abt-Bild nach dem anderen. Alle mit Hermelin und Gold und Edelsteinen und jeder mit eigenem Wappen. Bei einem blieb er immer stehen: Eusebius Feinlein. Natürlich hatte auch er sich wie alle seine Abtskollegen ein Wappen malen lassen. Drei goldene Ringe im roten Feld. Seine Mitra war die schönste. Gold- und Silberfäden hatten alle, aber er hatte dazu noch farbige Muster erfundener Blumen. Er hatte sich mit weißen Handschuhen malen lassen und trug über diesen Handschuhen am Mittelfinger seiner rechten Hand einen Ring. Aber er war der Einzige, der mitten auf dem Rücken seiner weißen Handschuhhand die Gemme der Stigmatisation trug. Draufgenäht, hatte der Professor gesagt, als er sah, dass Percy gar nicht mehr wegschauen konnte von dem roten Mal.

Als Percy mit dem Professor vor dem Vorfahr stehen geblieben war, hatte der Professor gesagt: Wenn ich damals auf die Welt gekommen wäre, hätte ich auch Abt werden wollen in Weißenau oder Schussenried oder Obermarchtal oder Rot oder Zwiefalten oder Wieblingen oder eben, wie mein Vorfahr Eusebius, in Scherblingen. Zumindest Chorherr wäre ich geworden. Als Scherblingen 1803 aufgehoben wurde, habe der Konvent neununddreißig Chorherren gehabt. Darunter begabte Tagebuchschreiber. Er habe vor, sobald er seine Landeskrankenhauszeit hinter sich habe, in den Papieren von damals zu verschwinden.

Als vor zwölf Jahren die Klosterbauten endgültig verlassen wurden, hatte der Professor sein Sekretariat in den dafür bestimmten Neubau verlegen müssen. Aber er hatte keinen Stuhl und keine Lampe und keine Schublade mit hinübergenommen. Zu Percy: Drüben arbeite ich, hier leb’ ich, beinah hätte ich gesagt: bete ich. Das verstanden nicht alle.

Percy hätte jedes Mal viel länger stehen bleiben können. Dieser Gang. Ein Kunstwerk aus Licht und Stein. Links die Türen, rechts die Fenster. Die dicken Mauern machten aus jedem Fenster eine Nische. Eine Lichtnische. Die Decke spiegelte sich mit allem Stuck im glänzenden Boden. Die letzte Tür war die zur Prälatur. Jetzt: Prof. Dr. Dr. Augustin Feinlein. Wenn Percy dieses Schild vor Augen hatte, dachte er an Innozenz, der sagte, auch Namen bedürften der Aktualisierung. Der Professor Feinlein müsse längst Feinstlein heißen.

Anklopfen musste Percy nicht. Mit diesem Privileg war Percy schon ausgezeichnet worden, als er noch in der Pflegerschule war. Professor Feinlein war von allen, die die Pflegeschüler lehrten, der beliebteste Lehrer. Nach dem ersten Jahr fing er an, Percy auszuzeichnen. Zwei Auszeichnungen überragten alles andere: Der Professor wollte, dass Percy Latein lerne, und er selber wollte Percys Lateinlehrer sein. Und Percy sollte Orgel lernen. Auch da wurde er Percys Lehrer. Die Orgelstunden fanden nicht in der Stiftskirche statt, sondern auf der Orgel im Bibliothekssaal. Und die oberste Sekretärin, Frau Meyer-Horch, hatte den Schlüssel, und sie konnte zu keinem Menschen einen Satz sagen, in dem nicht eine Freundlichkeit vorkam, mit der in diesem Augenblick nicht zu rechnen gewesen war. Also wurde jedes Orgelschlüsselabholen für Percy zur reinen Ermunterung. Die Orgel war eingebaut worden, als aus dem Kloster schon eine Anstalt geworden war, damit Gottesdienste für Patienten beider Konfessionen stattfinden konnten.

Obwohl die Türen aus der Klosterzeit wuchtig und schwer waren, hörte Percy die Musik. Er trat ein und setzte sich gleich auf den gepolsterten Stuhl neben der Tür. Der Professor nickte. Eine Bass-Stimme sang gerade: Esurientes implevit bonis et divites dimisit inanes.

Als das letzte Amen verklungen war, sagte der Professor: Das wurde hier gesungen: Die Bedürftigen überhäuft er mit Gütern, die Reichen kriegen nichts. Sooft er das höre, er fasse es nicht. Jubel, Innigkeit, Höhenschwung, also wenn Gott Ohren hat, muss er hin gewesen sein von dieser höchstmöglichen Musik. So haben sie sich in die Höhe musiziert, dass sie nicht haben hören müssen, wie draußen, rundherum, geschrien wurde. Vor vierhundertzweiundachtzig Jahren haben die Bauern diese Musik gestört. Fecit potentiam in brachio suo, dispersit superbos mente cordis sui. Ich habe einmal mitgezählt: Zwölf Mal nach einander lässt der Komponist singen, dass der Herrgott mit seinem Arm Gewalt ausübt und die Hochmütigen verjagt. Keine Zeile wird öfter gesungen als die. Und hat doch selber zu den Mächtigen gehört, der Komponist Betscher, der auch ein Reichsprälat war, drüben in Rot an der Rot. Könnte es sein, Percy, dass jede Zeit gleich unempfindlich ist, unempfindlich durch Sensibilität, durch Kultur, durch Schönheit gegenüber dem, was sie anrichtet? Auf jeden Fall hat jede Zeit ihre eigene Musik, dass nicht gehört werden muss, wie geschrien wird.

Weißt du, wie die Herrschaft die Erbschaftssteuer definierte? Starb der Bauer, musste das beste Ross geliefert werden, war es die Bäuerin, die starb, war die beste Kuh fällig, vor allem aber, egal ob von Mann oder Frau, der beste Mantel, und der wurde so definiert: Das ist der Mantel, den der Verstorbene oder die Verstorbene beim Kirchgang getragen hat. Komm.

Und ging zur Tür, die in den ehemaligen Kapitelsaal führte. Percy folgte.

Im Kapitelsaal hatten sich in der Klosterzeit die Chorherren versammelt, in der Krankenhauszeit war es der Sitzungssaal für die Ärzte gewesen. Der Kapitelsaal war nicht wie die Prälatur durch einen Gang von der Südwand getrennt. Der Professor ging zu einem Fenster, öffnete es. Percy stand und schaute. Über den Klosterhof hinaus, an der Stiftskirche vorbei, sah man in eine Wiese voller Ziegen. Geißen, rief Percy, so viel Geißen!

Und der Professor: Mehr als hundertfünfzig sind es im Augenblick sicher nicht.

Ich mag Geißengemecker, sagte Percy.

Dr. Bruderhofer hat für mich den Namen Vater aller Geißen in Umlauf gesetzt.

Versteh das nicht falsch, sagte Percy. Das ist eine Auszeichnung. Und wo wohnt die biblische Schar?

Ganz draußen, sagte der Professor. Hinter den Glashäusern. Was du da gleißen siehst, sind Glashäuser. Die ziehen ihre Dächer ein, sobald es den Tomaten, den Kiwis und den Pfirsichen warm genug ist. Das hat ihnen ein Patient beigebracht. Ein Erfinder, dem draußen die Patente gestohlen wurden, sogar, sagt er, vom Patentamt. Die erste automatische Presse, sagt er, ist von ihm. Und so weiter. Du kennst die Schmerzensballade unserer Patienten. Aber ein Erfinder ist er, bloß, draußen hat ihm das nichts genützt. Ich habe ihn zum Technischen Direktor ernannt. Percy, wir sind ein Wirtschaftsfaktor. Und die ganze Gegend macht mit. Statt mit Korbflechten und Scherenschnitten die Zeit totzuschlagen, arbeitet jetzt, wer kann und will, was er arbeiten kann und will. Handwerk, Landwirtschaft, Industrie, und nichts davon im Neubauteil. Alles in den alten Klosterbauten, die hundertfünfzig Jahre lang dem Verfall gewidmet waren. Die alten Stallungen voll brauchbar. Auch die für die Rösser. Meine Rösser. Auch sie warten auf deinen Besuch.

Er habe, sagte Percy, nirgends innigere Pferde gesehen als Augustins Mongolenpferde. Und seit Jahren trau’ er sich nicht zu fragen, warum Augustins Pferde Rösser seien.

Und der Professor: Vergiss nicht, ich bin aus Letzlingen. Wir haben auf dem Hof, bevor der Traktor gekommen ist, vier Rösser gehabt. Aber schon in der Letzlinger Schule war Ross nur in der Einzahl erlaubt. In der Mehrzahl nur noch Rosse oder gleich Pferde. Rösser wurde in jedem Aufsatz als Fehler gezählt. Jetzt hat Hochdeutsch auch südlich der Donau übernommen. Wenn ich sterbe, gibt es nur noch Pferde. Aber meine Mongolen-Rösser sind weder Rosse noch Pferde, Percy. Das sind Rösser. Es sind jetzt schon neun. In der Angestelltensprache würde ich sagen: Ich verbringe jede freie Minute bei ihnen. Inzwischen seien seine Rösser aber auch Lieblinge vieler Patienten. Wie die mit den Rössern umgehen, reiten ohne Sattel, und wie die Rösser zu den Patienten sind, dafür sei das Wort Therapie ein Unwort. Den Patienten so zuwider wie ihm. Heilung, Percy. Ich muss mit dir zum Teich auf der Südseite, du weißt, wo die Seerosen tun, hast du gesagt, als wüssten sie nicht, wie schön sie sind. Dort zeig’ ich dir unser erstes Weizenfeld. Die Patienten säen, ernten, mahlen, backen, dann essen sie ihr eigenes Brot. Das, Percy, ist mein Beitrag zur stationären Psychiatrie. Ich hoffe, du magst unser Brot. Gebacken in der historischen Ofenküche. Allerdings computergesteuert. Inzwischen ein Exportartikel. Wir können gar nicht so viel backen, wie wir verkaufen könnten.

Und Innozenz?, sagte Percy.

Der residiert jetzt, sagte der Professor, an höchster Stelle. Über dem Alten Tor, im Dreiecksgiebel. Extra ausgebaut für ihn. Von Freiwilligen. Da droben hat er zehnmal so viel Platz wie in der historischen Ofenküche. Er hat allerdings verlangt, dass sein hohes Quartier weiterhin Ofenküche heißen müsse. Seine Scherblinger Anthologie soll einmal den Titel Ofenküche haben. Er hält diesen Namen für attraktiv. Du musst ihn besuchen, er ist ganz hell zur Zeit. Schon länger hell als je zuvor. Dr. Bruderhofer und ich streiten wie immer, wer sich darauf etwas einbilden darf, er mit seiner ausgetüftelten Medikation oder ich mit meinen Versuchen, den Leidenden dadurch zu helfen, dass ich sie etwas tun lasse, was sie gern tun. Das habe ich von den Jesuiten gelernt: Sie sollen sein, wie sie sind, oder …

Er lud Percy ein, fortzufahren, der tat’s: Aut sint, ut sunt, aut non sint.

Percy, sagte der Professor, in dir geht nichts verloren.

Und Percy: Sie sollen sein, wie sie sind, oder sie sollen nicht sein.

Der Professor: Wenn ich hier Abt wäre, würde ich dich küssen. Wir haben Glück, Percy. Dr. Bruderhofer kann uns nicht dreinpfuschen. Er segelt zur Zeit an der türkischen Küste auf und ab.

Verheiratet mit Eva Maria von Wigolfing. Der Professor hörte auf, schwieg, wie es zwischen ihnen üblich war.

Dann sagte er: Sei froh, dass er jetzt an der türkischen Küste herumsegelt, sonst müsstest du ihm über jeden deiner Besuche bei Ewald berichten. Forensisch. Du verstehst. Er tut, als sei er, nur er, der Staatsanwaltschaft gegenüber verantwortlich. Ein Besuch bei Frau Dr. Breit ist übrigens fällig. Möglichst bald. Sie war dabei, als du gesprochen hast vor zwei Jahren, saß neben mir und war sehr bewegt von deiner Rede. Sie hat mir nur ein Wort zugeflüstert: Zauberhaft. Mehr traute sie sich nicht zu sagen. Andrea Breit … verzeih, dass ich das auch noch sage, sie liebt mich vielleicht. Vielleicht nur, weil sie, Dr. Bruderhofer direkt unterstellt, von ihm so viel gegen mich anhören muss, dass sich in ihr ein Gefühl gebildet hat für mich. Sie macht immer wieder Andeutungen, auf die ich nicht reagiere. Es könnte ein von Dr. Bruderhofer ausgeworfener Köder sein. Wenn sie abends allein drüben in Scherblingen in ihrer Wohnung sitzt, muss sie, nach allem, was der Tag gebracht hat, mehr an Dr. Bruderhofer denken als an mich. Dr. Bruderhofer ist eins neunundachtzig. Vielleicht eins neunzig. Ich eins vierundsiebzig. Ich lass dich durch Luzia bei ihr anmelden. Ewald Kainz benimmt sich bei ihr genau so wie bei mir. Aber die Mittel nimmt er. Sagt sie. Ich bin schon froh, dass Innozenz die Mittel nicht mehr nimmt. Dass Innozenz das mir gestehen konnte, halte ich für einen Erfolg. Für einen Heilungserfolg.

Sag ruhig, für deinen Heilungserfolg, sagte Percy.

Und er sei so kleinlich, sagte der Professor, so niederträchtig, dass er sich über diesen Erfolg erst freuen könne, wenn er ihn Dr. Bruderhofer habe hinreiben können.

Percy sagte: Das zeichnet dich aus.

Sei nicht so gnädig, sagte der Professor. Aber das habe ich dir nur sagen können angesichts dieses Panoramas: die Ziegen, die Glashäuser, die Ställe, die Rösser … Percy, ich glaube, ich werde mein Leben zwischen meinen Rössern beenden. Als ich die ersten zwei in der Mongolei holte, haben mir die Bauern dort erzählt, dass sie abends nach der Arbeit die Rösser freilassen, die rennen in die Steppe hinaus, rennen zwanzig oder dreißig Kilometer, fressen, saufen, schlafen, und am Morgen sind sie wieder da: zur Arbeit.

Sie gingen zurück ins Abtszimmer, der Professor setzte sich auf die gepolsterte Bank und sagte: Sede dextris meis.

Tibi gratias, Augustine, sagte Percy.

Der Professor: Dass der Pfarrer Studer hinter dir hertelefoniert, weißt du. Du seist abgehauen, als er zu einem Hausabendmahl fortmusste. Er sei nicht gekränkt. Er rufe deine Lieblingsadressen nur an, um zu hören, wo er das Gepäck hinschicken solle. Er sei froh zu wissen, dass du in Scherblingen bist. Das, sagte der Professor, habe ich als Kompliment genommen. Du bist eben ein Star.

Aber an welchem Himmel, sagte Percy.

An unserem, sagte der Professor.

Wenn Merklingen nochmal anruft, sag, sie sollen die zwei Taschen auf die Kirchbühne schaffen. Dass du mich wieder im Alten Hospiz untergebracht hast, zeigt dich auf der Höhe, Augustin. In allen Anstalten, in die ich komme, Zwiefalten hat auch noch telefoniert, ich habe gesagt, ich weiß nicht, wie lange ich in Scherblingen brauche, überall bringen sie mich bei den Pflegern unter. Wenn schon kliniknah, dann bei den Patienten.

Und Percy: Ist das ein Unterschied, ob sie Stimmen hört oder so tut, als höre sie welche?

Und Percy: Als ich das letzte Mal in Scherblingen war, habe ich dich gebeten, nie mehr zu sagen, dass ich recht habe.

Percy: Aber jetzt sind sie wieder da.

Percy: Immer wenn ich den Schlafsack mit einem Leidenden probiere, komme ich mir nachher wie neugeboren vor.

Percy: Das wäre das Höchste. Aber du brauchst ihn natürlich nicht.

Schweigen.

Und Percy: Ich habe wissen wollen, wie er heißt.

Percy: Was sonst hätte ich denn sagen können, wenn du sagst: Ewald Kainz.

Percy: Und jetzt bin ich da.

Percy: Ich habe mich gleich dem Schweigen überlassen. Deinem Schweigen. Noch nie habe ich erlebt, wie genau du das empfunden und erfahren und beschrieben hast. Nämlich nicht als eine Methode dem Kranken gegenüber, sondern als das, was du selber brauchst. In diesem Moment. Ich habe durch und durch empfunden, jetzt reden, unmöglich. Jetzt ist nichts anderes geboten als Schweigen. Das habe ich getan. Und Ewald Kainz hat das begriffen. Sage ich. Behaupte ich. Ein bisschen naseweis. Aber das gehört ja auch zu deinem Schweigen, dass einer dem anderen schweigend voraus ist.

Und Percy: Jetzt muss ich dich aber fragen, du hast Ewald Kainz von vorne gesehen, ihm ins Gesicht geschaut, zu mir hat er sich nicht ein einziges Mal hergedreht, also, Ewalds Augen. Augustin, was hat er für Augen?

Percy: Endlich.

Percy: Mutter Fini kann Ewald Kainz nie erwähnen, ohne seiner türkisenen Augen zu gedenken. Sein Türkis-Blick, sagt sie immer.

Und Percy: Ein Beweis mehr, dass er nicht mein Vater ist. Und so morgenrote Haare wie ich hat er auch nicht. Also hab’ ich meine Bürste nicht von ihm.

Und Percy: Suchen liegt mir nicht. Finden schon. Bei dir gelernt.

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Dann, der Professor: Percy, da, hinter dir, auf meinem Schreibtisch, liegen die Papiere, notariell vorbereitet, du müsstest nur noch unterschreiben, wenn du es erträgst, von mir adoptiert zu werden. Ich seh’ dich erblassen. Also Papa will ich nicht genannt werden. Vater auch nicht. Alles bliebe, wie es ist, nur dass ich wüsste, du wärst mein Sohn.

Längstes Schweigen.

Percy, sagte der Professor, ich habe bei dir gelernt, dass etwas weder der Fall noch nicht der Fall sein muss und trotzdem existiert. Jetzt deine Predigt vorletztes Jahr, Percy, es wird immer noch nach dem Text gefragt. Dem Leben zuliebe. Dass es den Text nicht gibt, wird mir vorgeworfen.

Predigt er wieder, wird gefragt.

Das sag ich doch jedem, sagte der Professor. Wer einen Text verlangt, sage ich, der hat halt nichts gehört. Ich sage, dass Percy nur sagt, was der Augenblick ihm eingibt. Was er sagt, gibt es nur in dem Augenblick, in dem er es sagt. Wem es in diesem Augenblick nichts sagt, dem sagt es auch nichts, wenn er es nachher liest. So meine Rede.

Aber, sagte der Professor, jetzt das Geständnis des Heuchlers. So rede ich zu den Leuten, aber ich selber habe alles aufgeschrieben. Aus dem Gedächtnis. Dem Leben zuliebe. Ich habe das aufschreiben müssen. Mein Gedächtnis ist durch den Beruf so trainiert, dass ich eine 30-Minuten-Rede aufschreibe, ohne ein Wort auszulassen oder hinzuzufügen. Wenn du willst, geb ich dir den Text, und du machst damit, was du willst.

Ich zeig’ ihn niemandem, sagte der Professor, glaub’ mir, obwohl drei Patienten, zwei Frauen und ein Mann, unabhängig von einander zu mir gekommen sind, um mir den Text zu geben. Alle drei sagten, es sei ihnen unmöglich gewesen, was sie gehört hatten, nicht aufzuschreiben. Ich habe ihnen gesagt, dass ich, was du gesagt hast, auswendig könne, ich bräuchte nichts Aufgeschriebenes.

Der Professor: Es wäre wieder Mai. Wie vor zwei Jahren. Viele möchten von auswärts kommen. Der Bibliothekssaal wird dafür sorgen, dass es nicht zu viele werden. Percy, ich nötige dich zu nichts. Mit der Fraktion Dr. Bruderhofer muss ich selber fertig werden. Und werde ich selber fertig werden. Frau Dr. Breit sagt, er nenne mich jetzt in der Ärzteversammlung Alter Knabe.

Ja, ja, ja, sagte der Professor, aber in der letzten Ärztetafel, bevor er abreiste in die Ägäis, polemisierte er wieder gegen meine Patientenbeschäftigung. Die Patienten seien vor lauter Geißenmelken, Drehbänkelei und Chorgeblöke schon bald nicht mehr therapietauglich, aber ich, der Chef, wolle Scherblingen ja ohnehin zum Prämonstratenser-Kloster zurückschrauben, statt Lithium dona nobis pacem. Das zeigt, dass ich auf gutem Wege bin, Percy. Das Gelächter der versammelten Ärzte war eher dürftig. Aber dich wieder zu hören, Percy, würde mir guttun. Mir und allen, die aus Scherblingen ein Vorzimmer des Himmels machen wollen. Schluss jetzt damit. Du lässt es mich wissen, ob du sprechen willst.

Als du das letzte Mal da warst, hast du nicht nach meinem Vorhaben gefragt, sagte der Professor.

Der Professor: Soll einer dem anderen sagen, wonach er gefragt werden will?

Also?, sagte der Professor.

Frag mich, sagte der Professor, was die Bücher und Papiere dort auf dem Tischchen sollen?

Der Professor: Mein Buch, entschuldige, mein Büchlein will die Reliquie verteidigen gegen ihre Erklärer. Dir gegenüber habe ich’s angedeutet, dem Innozenz lang dargelegt. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich meine Pflichten hier vernachlässige, wenn ich Auskunft gebe über ein historisches Dilemma.

Der Professor: Er sammelt Material gegen mich. Es gibt schon ein Dossier. Wenn er das beim Regierungspräsidium einreicht …

Und was macht dein Jenseits, fragte Percy.

Werde ich nicht, sagte Percy. Augustin, verzeih, ich will mir ihm gegenüber keinen solchen Vorteil verschaffen. Ich habe ihm, wenn er es zulässt, etwas zu erzählen. Was dann geschieht, müssen wir nicht wissen. Vor allem: Wir müssen es nicht planen.

Percy: Dann ich der deine, dass ich alles, was du von mir hättest, bei dir lernte.

Das war immer die Schlussformel ihrer Liturgie. Der Professor hatte sie Percy erklärt: Tu autem domine, miserere nobis. Jedes Mal, wenn der Professor mit dieser Formel aus dem kirchlichen Stundengebet ihre Unterhaltung beendete, sah Percy im Professor den Abt, dem er dann theatralisch den Ring küsste, den dunkelgrünen goldgefassten Stein. Er küsste ihn nicht wirklich, sondern theatralisch. Und beide lachten. Der Professor natürlich weniger als Percy. Sie imitierten ein Lachen. Aber die Imitation riss sie dann doch beide hin.

Das stimmt, sagte Percy.

 

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