Edith Beleites

Die Hebammen von London

Historischer Jugendroman

1. Kapitel

«Lilly, gut, dass du kommst.» Katherine Mansfield trat schnell aus dem Haus, als Lilly von ihren Wochenbettbesuchen zurückkehrte. Genau wie Lilly trug sie ein schmuckloses blaues Kleid mit grau-blauer Schürze, wie es die Hebammen von Derbyshire bei der Arbeit anzulegen pflegten. «Du musst mich zu Emily Lonegan begleiten. Ihre Nachbarin war gerade hier und sagt, die Geburt hat begonnen. Stehen Kutschen bereit?» Die Hebamme blickte zum Fuße des Hügels, auf dem die meisten Häuser von Wickham standen. Dort unten warteten die Kutscher oft auf Kundschaft.

«Ich habe keine gesehen», sagte Lilly und fragte: «Soll ich denn nicht erst meine Sachen holen? Ich habe meinen Koffer heute nicht für eine Geburt gepackt.»

«Nicht nötig», sagte Mrs Mansfield und zeigte auf ihren eigenen Koffer. «Alles, was wir brauchen, habe ich dabei.» Dann fiel sie in einen gemäßigten Laufschritt. «Komm, wir müssen uns beeilen.»

Sofort setzte Lilly sich wieder in Bewegung, um mit ihrer Lehrmeisterin Schritt zu halten. «Sagten Sie nicht erst vorgestern, Mrs Lonegan sei noch nicht so weit? Außerdem hat sich das Kind doch auch noch gar nicht gedreht.»

«Deswegen sollst du ja mitkommen. Ich fürchte, man hat nicht nur nach mir geschickt, sondern auch nach Doktor Harlan.»

«Aber wozu, um alles in der Welt, sollte man das tun? Besonders, wenn es noch gar nicht so weit ist?»

«Genau deswegen», erwiderte Mrs Mansfield grimmig. «Emilys Nachbarin hat mir dieses Pamphlet hier in die Hände gedrückt. Es soll gestern in den Siedlungen der Minenarbeiter verteilt worden sein.» Im Laufen kramte sie in der Tasche ihres Kleiderrocks, zog ein zerknittertes Stück Papier hervor und reichte es Lilly. «Lies selbst!»

Lilly konnte kaum glauben, was dort stand: Doktor Harlan pries sich als Geburtshelfer an, der wegen seines gründlichen Studiums der Anatomie und seiner ärztlichen Befugnis, allerlei Instrumente zu führen, eine viel effektivere Geburtshilfe leisten könne als Hebammen mit ihren veralteten Methoden. Keine Frau habe es im Jahr 1760 mehr nötig, sich und ihrer Familie Erschwernisse zu bereiten, als lebe man noch im finstersten Mittelalter.

«Das ist ja ungeheuerlich», sagte Lilly erregt. «Mittelalter! Als seien unsere Lehrbücher vor Jahrhunderten geschrieben worden! Ich könnte wetten, dass Doktor Harlan nicht die Hälfte der Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen kennt, die darin beschrieben sind. Er hatte doch bisher gar nichts mit der Geburtshilfe zu tun. Ich verstehe das nicht.» Erregt und ratlos sah sie Mrs Mansfield an. «Was hat er vor? Was soll das alles heißen?»

«Das soll heißen, dass jetzt auch hier die neumodischen Folterwerkzeuge eingesetzt werden, mit denen Ärzte in London schon seit Jahren Angst und Schrecken verbreiten.»

«Sie meinen die entsetzlichen Dinge, über die Elizabeth Hill in ihrer Petition der ungeborenen Babys geschrieben hat?», fragte Lilly. Sie kannte die Streitschrift der furchtlosen Londoner Hebamme, hatte bis jetzt aber nicht recht glauben können, dass derlei wirklich praktiziert wurde – und hier im entlegenen Derbyshire schon gar nicht.

«Genau.» Mrs Mansfield schnaubte regelrecht, und Lilly konnte nicht ausmachen, ob aus Verachtung oder weil sie viel zu schnell lief. «Und dieser Doktor Smollet, gegen den Mrs Hill sich in erster Linie wendet, zieht immer mehr Ärzte und Medizinstudenten als männliche Geburtshelfer heran, nicht nur aus London, sondern aus allen Landesteilen. Nun scheint auch unser Doktor Harlan entsprechende Unterweisungen erhalten zu haben. Dass er mir nichts davon gesagt hat, spricht Bände. Er macht uns unsere Profession streitig, Lilly! Und die armen Frauen und Kinder der Minenarbeiter macht er zu …» Mit der freien Hand fuhr sie erregt durch die Luft und rang um Worte. «… zu Schlachtvieh!»

Lilly fuhr ein kalter Schauder über den Rücken, obwohl es ein warmer Sommerabend war, und sie sah, dass ihre sonst so furchtlose und gelassene Lehrerin vor Wut bebte.

«Wenn du mich fragst …» Mrs Mansfield ging immer schneller und sprach ganz atemlos. «Wenn du mich fragst, kommt mir das mittelalterlicher vor als alles, was wir Hebammen seit langem praktizieren. Und das nur, weil die Ärzte im Aufwind der neuen Wissenschaften und Erfindungen jetzt plötzlich anfangen, ein Gebiet für sich zu erobern, das ihnen völlig fremd ist und das sie jahrhundertelang ignoriert haben. Nun stehen sie dumm da mit ihren Instrumenten und ohne unsere Erfahrung. Statt uns beizubringen, was es mit ihren Instrumenten auf sich hat, und uns zu fragen, was wir wissen …» Mrs Mansfield blieb kurzatmig stehen und blickte sich um.

Eine Kutsche, dachte Lilly, sie braucht eine Kutsche. Aber auch sie konnte keine entdecken. Sie waren schon im Tal angelangt und liefen durch ein grünes Stück Niemandsland zwischen den sauberen Häusern der kleinen Stadt und den schmutzigen Elendsquartieren der Minenarbeiter.

«Aber nein …», nahm Mrs Mansfield ihren Faden wieder auf und raffte ihre Röcke, weil der geebnete Weg nun endete und unwegsames Gelände begann. «Lieber verbreiten sie Tod und Elend. Mit Zangen sollen Babys unter unaussprechlichen Qualen aus dem Mutterleib gezogen werden, egal, wie weit die Wehen gediehen sind, und egal, ob Mütter oder Babys es überleben. Ganz zu schweigen von den Mordwerkzeugen, mit denen man Babys die Schädel zertrümmert, um sie als handlich zerkleinerte Päckchen durch angeblich engstehende Beckenknochen zu zerren.»

Lilly musste schlucken. Was für eine grausame Vorstellung! Konnte es wirklich wahr sein, dass sich Frauen in die Hände solcher Barbaren begaben? Ja, überlegte sie dann. Es gab wohl Gründe. Denn angesichts der ärmlichen Verhältnisse hier in der Gegend drängten die Minenarbeiter ihre Frauen oft, die Kinder so bald wie möglich zu gebären, damit sie endlich wieder mit zupacken und das aus den Minen geholte Blei oder Erz waschen und zu Markte tragen konnten. Zudem fielen die Frauen in den schweren Wochen gen Ende einer Schwangerschaft nicht nur für diese Arbeiten aus, sondern konnten auch ihren Haushalt nicht wie gewohnt bewältigen, das Kochen, Waschen und Putzen, und die oft zahlreichen Kinder, die sie bereits hatten, konnten sie in diesen Wochen auch nicht recht versorgen. Darauf waren die Männer jedoch angewiesen, wenn sie nach zwölf Stunden harter Arbeit unter Tage heimkamen. Deswegen kam es gerade in armen Familien oft vor, dass eine Geburt vor der Zeit herbeigesehnt und zuweilen auch mit allerlei Derbheiten herbeigeführt wurde. Nicht selten wurden die Frauen geschlagen, einen Hügel hinabgewälzt, zum Rennen oder Holzhacken gezwungen, um die hinderliche Schwangerschaft mit einer brachial einsetzenden Geburt zu beenden. Lilly wusste sehr gut, dass die Leute es ungern taten und ihre Frauen und die ungeborenen Babys nicht quälen wollten, sondern aus schierer Not handelten.

«Dass die armen Leute auf Versprechungen hereinfallen, die Schwangerschafts- und Geburtsverkürzungen in Aussicht stellen, kann ich ja verstehen», sagte sie und konnte sich lebhaft vorstellen, wie bereitwillig ein bedenkenloser Instrumenteneinsatz in dieser Gegend angenommen würde. «Aber wie können Ärzte so brutal vorgehen? Sie müssen doch wissen, was sie anrichten!»

Wickham lag längst hinter ihnen, und ein gutes Stück Wegs lag noch vor ihnen. Sie liefen durch das Flusstal des Derwent. Lilly hielt immer noch nach einer Kutsche für Mrs Mansfield Ausschau, und sie mussten schnell eine finden, denn Lilly wusste, dass kein Kutscher für sie anhalten würde, je näher sie den Ausläufern der Minenarbeitersiedlung kamen, schon gar nicht zu dieser Abendstunde. Hier wohnten nur die Ärmsten der Armen, ihre Hütten waren winzig und bestanden zum Teil aus nichts weiter als aufgehäufelten Erdhügeln. Zum Kern der Siedlung hin wurden die Behausungen zwar größer und bestanden aus Holz oder Steinen, aber im Vergleich zu den Häusern von Wickham waren auch sie äußerst dürftig. Zahlungsfähige Fahrgäste wohnten hier jedenfalls nicht. Hinter der Minenarbeitersiedlung lagen Farmland, Gutshöfe und das Anwesen der gräflichen Familie Fenton, von dem Lilly als Tochter des gräflichen Stallmeisters Edward Lindsay stammte. Lilly hoffte, dass eine leere Kutsche von dort nach Wickham zurückkehrte und dass der Kutscher sie als Hebammen erkennen und aufnehmen würde, wie schon manches Mal zuvor. Doch heute hoffte Lilly vergebens.

«Was schert es die Ärzte, was sie anrichten?» Offenbar war Mrs Mansfield so aufgewühlt, dass sie gar nicht daran dachte, ihre Wut zu zähmen. «Hauptsache, sie können ihr Renommee und ihr Einkommen steigern, indem sie uns aus der Geburtshilfe drängen, uns diffamieren und sich selbst als Leuchten der angewandten Wissenschaften hinstellen. Und eine in Medizinersprache verklausulierte Erklärung für eine Totgeburt oder eine geschädigte Gebärmutter lässt sich immer finden, sodass man den Schlaubergern nicht mal beikommen kann. Jedenfalls schreibt Elizabeth Hill das, und sie muss es ja wissen.»

Aber unser Doktor Harlan ist doch nicht so, dachte Lilly, und vor einer halben Stunde hätte sie den Arzt noch gegen jegliche üble Nachrede verteidigt. Doch nachdem sie seine Werbeschrift gelesen hatte, sagte sie lieber nichts. Mussten sie Doktor Harlan von nun an wirklich fürchten? Wollte er Mrs Mansfield tatsächlich die Kompetenz absprechen und ihr das Feld streitig machen? Lilly konnte es einfach nicht glauben. Und sie selbst, wo blieb sie bei alledem? Immerhin war es Doktor Harlan, der dem Herrn der Grafschaft, Lord Fenton, am Ende ihres dritten Lehrjahrs nach eingehender Prüfung die Empfehlung aussprechen musste, ihr eine Hebammenlizenz zu erteilen. Was, wenn nun eine offene Konkurrenz zwischen weiblichen und männlichen Geburtshelfern ausbrach? Würde es dann in diesem Teil Derbyshires überhaupt noch Hebammen geben? Würde Lady Fenton das zulassen? Sie war eine große Verfechterin der Hebammenkunst und hatte Lilly überhaupt erst auf den Gedanken gebracht, Hebamme zu werden.

«Die Nachbarin von Emily Lonegan», sagte Lilly. «Wollte sie außer Ihnen auch Doktor Harlan holen? Hat sie das gesagt?»

«Nein», erwiderte Mrs Mansfield und blieb vor einer langgezogenen Zeile winziger Reihenhäuser stehen. «Warte eine Minute. Es hat keinen Sinn, völlig außer Atem bei Emily anzukommen.» Langsam wude sie ruhiger. Dann fuhr sie fort: «Sie hat nur gesagt, dass sie schnell weiter muss. Ich weiß nicht, wohin. Wir können nur hoffen, dass weder sie noch sonst wer aus der Siedlung den Doktor hinzurufen.»

Beklommen blickte Lilly sich um, aber außer dem üblichen Kommen und Gehen der nur dürftig gekleideten und genährten Menschen war nichts zu sehen. «Und was, wenn er doch kommt?», fragte sie leise.

«Ach, Lilly, Kind …» Mrs Mansfield wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Ich weiß es, ehrlich gesagt, selbst nicht. Aber da ich dir die Härten unserer Profession im dritten Lehrjahr ohnehin nicht ersparen kann, dachte ich, du sollst selbst miterleben, was sich hier tut. Im Übrigen brauche ich unter Umständen deine Hilfe.»

So unbehaglich Lilly auch zumute war, hörte sie doch mit Stolz, dass ihre Lehrerin sie brauchte. Die Frage war nur, ob sie etwas ausrichten konnte. Was sollte sie tun, wenn Doktor Harlan tatsächlich auftauchte? Und was, wenn Emily Lonegans Mann herumteufeln sollte und ruppig würde, weil die Geburt nicht in Gang kam? Die Abenddämmerung setzte schon ein, da würde Mr Lonegan gewiss bald heimkommen. Tapfer hob sie den Kopf, wischte sich eine rote Locke aus der Stirn, lächelte und sagte gelassener, als sie sich fühlte: «Wir werden ja sehen, was uns erwartet. Zu zweit schaffen wir das.»

 

Als sie das schmale Haus der Lonegans erreichten, merkte Lilly gleich, dass hier eine Atmosphäre herrschte, die einer Geburt nicht zuträglich war. Auf ihr Klopfen reagierte niemand, aber die klapprige Holztür war nur angelehnt, und als sie mit Mrs Mansfield durch den engen Hausflur ging, drang vielstimmiger Lärm aus dem hinteren der beiden kleinen Räume, und es stank fürchterlich. Es war nicht ungewöhnlich, dass eine oder zwei Nachbarinnen oder Verwandte bei einer Gebärenden waren und ihr beistanden, aber hier waren fünf oder sechs Frauen versammelt. Lilly konnte nicht genau sehen, wie viele es waren, denn beißende Rauchschwaden von einem glimmenden Torffeuer im Kamin zogen durch das Zimmer, in dem alle bei der Schwangeren versammelt waren. Die Frauen gebärdeten sich wie toll, und keine saß auf den drei oder vier einfachen Holzstühlen, die samt einem kleinen Tisch an die Wände gerückt worden waren. Stattdessen standen sie lose im Raum verteilt, sangen und klatschten und drehten die Schwangere im Takt immerzu um sich selbst. Eine Flasche mit selbstgebranntem Schnaps machte die Runde und wurde der Schwangeren häufiger gereicht als allen anderen.

Mrs Mansfield schrie etwas, um auf sich aufmerksam zu machen und den Frauen Einhalt zu gebieten. Lilly bezweifelte nicht, dass sie sich durchsetzen würde, wartete aber nicht ab, sondern eilte sofort durch die Hintertür ins Freie. Durchs Fenster hatte sie Bettlaken auf einer Wäscheleine im Hof hängen gesehen, und eine Regentonne oder eine andere Wasserquelle würde sich schon finden lassen. Sie griff nach dem nächstbesten Laken und tauchte es in einen Wassereimer, der an einem zerbrochenen Gartenzaun stand. Dann eilte sie zurück und erstickte das Torffeuer. Es qualmte zunächst noch mehr, und dichter gelber Rauch ließ alle husten. Lilly wedelte ihn zur offenen Hintertür hinaus, und Mrs Mansfield öffnete das Fenster. Langsam legte sich der Rauch, aber immer noch konnte Lilly alles nur schemenhaft erkennen, weil ihr die Augen tränten.

Mrs Mansfield stellte die Schnapsflasche auf den Schrank und hockte sich vor Emily Lonegan, die sich matt und mit herabhängenden Armen auf einen Stuhl fallen ließ. Sie war eine schmale, blasse Person, aber nun kam sie Lilly noch zarter und zerbrechlicher vor.

Lilly rieb sich die Augen, aber nicht vor Verwunderung. Was sich hier abspielte, kannte sie zur Genüge. Immer noch glaubten viele, dass übergroße Hitze, Lärm, Hektik und Alkohol einen Geburtsbeginn begünstigten. Es war die weibliche Variante der körperlichen Gewalt, mit der Männer den gleichen Effekt zu erzielen suchten. Zum wiederholten Mal hörte Lilly, wie ihre Lehrmeisterin den Frauen erklärte, dass sie der Schwangeren damit einen Bärendienst erwiesen.

«Die meisten von euch haben doch selbst Kinder, da müsstet ihr eigentlich wissen, dass eine Geburt Schwerstarbeit ist», sagte sie erbost. «Und ihr wisst sehr wohl, dass man dazu betrunken und überhitzt kaum in der Lage ist.»

Aufgebracht versuchten die Frauen sich zu rechtfertigen und redeten alle durcheinander. Nach und nach ergab ihr Gestammel etwas, das Lilly überraschte, und offenbar hatte auch Mrs Mansfield nicht damit gerechnet: Aus Angst, Doktor Harlan könnte kommen und schreckliche Dinge mit Emily anstellen, hatten sie beschlossen, die Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen und zu beschleunigen.

Etwas besänftigt sagte Mrs Mansfield: «Aber was ihr hier anrichtet, ist auch nicht viel besser.»

Die Frauen protestierten, und mitten in das vielstimmige Geschrei hinein bäumte sich Emily Lonegan stöhnend auf und verzog vor Schmerzen das Gesicht. Mrs Mansfield brachte die Frauen mit einer herrischen Geste zum Schweigen, und Lilly eilte an ihre Seite.

«Die Teemischung, Lilly!», sagte Mrs Mansfield.

Lilly holte das braune Glas aus Mrs Mansfields Koffer, das eine wehenberuhigende Mischung aus Baldrian, Hopfen, Johanniskraut, Majoran, Melisse und Thymian enthielt. Dann wandte sie sich an die Frauen. «Führt mich in die Küche und zeigt mir, wo alles ist.»

Die Frauen überschlugen sich regelrecht vor Hilfsbereitschaft und hinderten sich gegenseitig daran, durch den schmalen Durchgang neben dem Kamin in die Küche zu gelangen. Jede wollte die Erste sein, und Lilly spürte, wie froh sie waren, von der tadelnden Hebamme wegzukommen und etwas Nützliches tun zu können. In der winzigen Küche bereute sie jedoch fast, um Hilfe gebeten zu haben, denn es war so eng, dass sie sich zu sechst kaum noch bewegen konnten. Ein Herd und ein offenes Regal mit Töpfen, Geschirr und einigen dürftigen Kochutensilien stellten die komplette Einrichtung dar. Jemand hatte schon Wasser in einem großen verbeulten Topf aufgesetzt, und es begann bereits zu sieden. Lilly bat um einen Krug und eine Schöpfkelle, drängte sich zu einem dicken Holzbrett vor, das neben dem Herd an der Wand befestigt war und als Arbeitsplatte diente. Die Frauen rückten zusammen, um Lilly Platz zum Hantieren zu verschaffen, und schauten Lilly so ehrfürchtig zu, als braue sie ein Zauberelixier.

Als der Tee fertig war, sagte Lilly zu ihnen: «Nun lasst uns in Ruhe unsere Arbeit machen. Zunächst einmal werden wir versuchen, Emilys Wehen zum Stillstand zu bringen und eine verfrühte Geburt zu verhindern. Emily ist nämlich noch nicht so weit, und eine vorzeitige Geburt kann eine schreckliche Qual und womöglich das Todesurteil für Mutter und Kind sein.»

Die Frauen blickten betreten auf den Küchenfußboden und murmelten etwas Entschuldigendes.

«Im Übrigen war eure Furcht nicht unbegründet», sagte Lilly in versöhnlicherem Ton. «Wenn ihr euch nützlich machen wollt, seid wachsam und haltet Ausschau nach Doktor Harlan. Und wenn er kommt oder sich bei Emily etwas tut, schickt schnell nach uns. Aber lasst die Finger von Emily!»

Die Frauen nickten und beeilten sich, das Haus zu verlassen.

Als Lilly in die verräucherte Stube zurückkehrte, hörte sie die Schwangere leise sagen, nein, sie habe vorher noch keine Wehen gehabt und auch nicht nach den anderen Frauen geschickt, die seien gekommen, weil sie den «Brief», wie sie sagte, von Doktor Harlan gelesen oder davon gehört hätten. Ihr selbst habe dieser Brief auch schreckliche Angst eingejagt, und deswegen habe sie nichts dagegen gehabt, sich auf «traditionelle Weise» helfen zu lassen.

«Dein Kind hat sich immer noch nicht gedreht», sagte Mrs Mansfield. «Du spielst mit seinem und deinem Leben, wenn du eine Geburt in diesem Zustand erzwingst.»

Emily nickte unglücklich.

Lilly gab ihr einen Becher von dem wehenberuhigenden Tee und stellte den Krug mit dem Rest auf den Kaminsims. «Davon trinkst du stündlich einen Becher, bis sich dein Bauch nicht mehr hart und kugelig anfühlt», sagte sie.

«Das tut er jetzt schon nicht mehr», sagte Emily und blickte dankbar zu Lilly auf. Aber sie hatte noch nicht ganz zu Ende gesprochen, als sich ihr Gesicht verzerrte. Sie begann zu würgen und hielt sich die Hände vor den Mund. Dann stand sie auf, eilte ans Fenster und musste sich übergeben. Mit einer Hand stützte sie sich am Fensterrahmen ab, aber ihr ganzer Körper zuckte vor Krämpfen, die gar nicht wieder aufhören wollten.

Lilly eilte ihr nach. Die junge Frau stieß einen entsetzlichen Schrei aus, sackte zusammen und wäre lang hingeschlagen, hätte Lilly sie nicht gehalten. Dann rang sie keuchend nach Luft.

«Herrgott, nun geht es doch los», sagte Mrs Mansfield, kam herbei und stützte die Schwangere von der anderen Seite. «Es sollte mich nicht wundern, wenn es eine dieser Wehen war, bei denen sich die Gebärmutter auf einen Schlag öffnet. Wir müssen sie schnell nach oben bringen und aufs Bett legen.»

Emily Lonegan ließ sich wie willenlos führen, was allerdings gar nicht so einfach war, denn die Treppe war so schmal, dass nicht einmal zwei von ihnen nebeneinanderpassten. So ging Mrs Mansfield vor, Emily Lonegan hielt sich an ihr fest, und von hinten umfasste Lilly die Lenden der Schwangeren.

Kaum waren sie oben angekommen, schrie die junge Frau wieder, und Lilly musste alle Kraft aufbringen, um zu verhindern, dass sie hinunterstürzte. Zusammen mit Mrs Mansfield hielt und stützte sie die Gebärende, die stöhnend zwischen ihnen zusammensackte.

«Das waren jetzt kaum zwei Minuten seit der letzten Wehe», sagte Lilly leise.

Mrs Mansfield nickte.

Emily Lonegan setzte sich auf die oberste Treppenstufe, um sich von der Wehe zu erholen, konnte aber keine Position finden, bei der sie keine Schmerzen hatte.

«Es sind ja nur noch ein paar Schritte», sagte Mrs Mansfield ermutigend, sah Lilly auffordernd an, und zusammen halfen sie der jungen Frau auf und brachten sie in die Schlafkammer.

Sie ging zum Hof hinaus, und als Lilly sah, dass das Fenster offen stand, war sie im ersten Moment froh. Doch als sie die Kammer betrat, merkte sie, dass der Rauch heraufgezogen war, sodass es auch hier nach dem Torffeuer stank.

Als sie die Schwangere betteten und Lilly widerwillig die schmutzigen Laken berührte, dachte sie reumütig an das Laken, das sie soeben ruiniert hatte, und nahm sich vor, bei ihrem nächsten Besuch eins von ihren eigenen mitzubringen. Laken, die bei einer Geburt beschmutzt wurden, konnte man auskochen und weiterbenutzen, und Risse und kleinere Löcher konnte man stopfen. Doch die Brandlöcher in dem Laken, mit dem sie das Feuer erstickt hatte, waren zu groß, und die Lonegans würden nach der Geburt und in den nächsten Tagen und Wochen einen größeren Bedarf an Bettwäsche haben als je zuvor.

«Ihr lasst doch nicht zu, dass Doktor Harlan mit seinen Instrumenten kommt, nicht wahr?» Die Schwangere sah die Hebammen mit flehendem Blick an, als sie einigermaßen bequem lag. «Wenn die Gebärmutter schon offen ist, ist es wohl auch nicht nötig, oder?»

«Gewiss nicht», sagte Mrs Mansfield.

Erleichtert atmete die junge Frau durch und ließ sich tiefer ins Kissen sinken. Doch dann weiteten sich ihre Augen, sie riss den Mund auf und wollte schreien, aber ihr blieb die Luft weg. Dafür erzitterte ihr Leib stärker als zuvor. Sie wollte sich aufbäumen, hatte aber nicht genügend Kraft dafür. Dann machte sie ein Geräusch, das so tief und kräftig klang, dass es an das Gebrüll eines Bären erinnerte.

Lilly kannte dieses Geräusch. Sie hatte es noch nicht oft gehört, aber es war unvergesslich und unverwechselbar. Ohne es zu wollen, erzeugten Gebärende bisweilen diesen Ton, wenn ihr Kind sehr plötzlich und mit einem Mal sehr weit durch den Geburtskanal nach unten rutschte.

«Aber sie kann doch noch nicht …», sagte Lilly erschrocken.

«Sie kann, und sie hat», sagte Mrs Mansfield, kniete sich ans Fußende des Bettes und schlug Emilys Röcke hoch.

Lilly stellte sich weiter oben ans Bett und legte der Gebärenden beruhigend die Hände an die Schultern. «Jetzt tief und ruhig atmen und Kraft sammeln», sagte sie. «Damit Sie bei der nächsten Wehe mit drücken können. Dann wird Ihr Kind schnell kommen, Sie werden sehen.»

In der nächsten Wehe hörte Lilly Mrs Mansfield tonlos sagen: «Das Hinterteil. Ich wusste es.»

«Sind Ihre Hände warm genug?», fragte Lilly. Sie wusste, dass eine Steißgeburt umso problematischer wurde, wenn das Kind durch eine Berührung mit kalten Händen einen Schreck bekam und dann unwillkürlich die Arme hochriss.

«Ja, von der Rennerei», sagte Mrs Mansfield und reichte Lilly ein Hörrohr aus ihrem Koffer.

Lilly legte es an Emily Lonegans Bauch und horchte auf die Herztöne des Babys. «Eher zu schnell», sagte sie leise über die Schulter.

«Kein Wunder, bei der Anstrengung», erwiderte Mrs Mansfield.

«Aber besser als andersherum», sagte Lilly.

Schon im nächsten Moment krampfte sich Emily in einer neuen Wehe zusammen, und Lilly konzentrierte sich darauf, der jungen Frau vorzumachen, wie sie den Atem anhalten und mit drücken sollte.

«Ich kann nicht mehr», stöhnte die Gebärende. «Noch eine Wehe halte ich nicht aus.»

«Psst», machte Lilly und stöhnte selbst laut und hingebungsvoll. Dabei sah sie Emily Lonegan auffordernd an, bis sie mitmachte und die anstrengende Wehe stöhnend verarbeitete.

«Ein-, zweimal noch», sagte Mrs Mansfield. «Dann haben wir es geschafft.»

Doch dann geschah überraschenderweise eine ganze Zeit lang nichts. Wieder und wieder hörte Lilly die Herztöne des Kindes ab. «Hätte ich doch lieber einen wehenverstärkenden Tee gekocht. Soll ich schnell runtergehen und einen machen?»

«Muss Doktor Harlan sonst doch noch kommen?», fragte die junge Frau mit bebender Stimme.

Mrs Mansfield setzte gerade zu einer Antwort an, als sich Emily Lonegan in der nächsten Wehe zusammenkrampfte.

«Komm, Lilly, schnell», sagte Mrs Mansfield. «Der Griff, du weißt schon.»

«Was … ich?» Lilly drehte sich fassungslos zu ihrer Lehrerin um.

«Wann, wenn nicht jetzt? Nun komm schon!»

Mit einem Satz war Lilly am Fußende des Bettes, griff mit einer Hand unter den Bauch des Kindes, sodass es mit seiner ganzen Körperlänge auf ihrem Unterarm lag. Mit der anderen Hand fuhr sie am Damm entlang, bis sie das Kinn des Kindes fühlte. Noch ein Stückchen weiter, und sie war mit dem Mittelfinger am Mund des Kindes. Sie führte den Finger ein und drückte den Unterkiefer herunter. Dabei spürte sie, wie der nach hinten überstreckte Hals des Kindes ihrem Druck nachgab und sich nach vorn beugte. Lilly konzentrierte sich darauf, den Griff nicht zu lockern, und schon im nächsten Moment hielt sie das Baby in den Armen.

Ein Glücksgefühl, das sie bis dahin nicht gekannt hatte, durchströmte sie, und am liebsten hätte sie den kleinen Jungen nie wieder losgelassen, zumal er sehr klein war und schutzbedürftiger wirkte als die meisten Neugeborenen. Lilly befühlte seine Nägel an Fingern und Zehen und war nicht überrascht, dass sie noch weich waren. Auch seine noch nicht geglättete Haut war ein deutliches Anzeichen dafür, dass der Kleine zu früh geboren worden war. Lilly sah ihn liebevoll an und murmelte: «Du wärst gern noch zwei, drei Wochen im wohlig warmen Bauch geblieben, nicht wahr?» Umso wichtiger war es, das Kind warm zu halten. Lilly sah ein Tuch auf einer Truhe liegen, griff danach und hüllte den Kleinen darin ein.

Als Mrs Mansfield damit fertig war, die letzte gewaltige Wehe mit Emily Lonegan zu veratmen, drehte sie sich zu Lilly um und sah sie fragend und besorgt an.

Lilly wusste den Blick zu deuten und sagte leise: «Früh, aber vital.»

Mrs Mansfield lächelte erleichtert. «Gut gemacht, Liebes! Komm, leg den Kleinen gleich an.»

Während das Neugeborene sofort nach der Brust gierte, blickte die junge Mutter abwechselnd auf ihr Kind und die Hebammen und schien das Geschehen nicht fassen zu können.

Auch Lilly war vollkommen überwältigt. Sie hatte dieses Kind geholt! Eine Steißgeburt, bei der beinahe eingetreten war, was bei Steißgeburten stets die größte Gefahr war: dass sich das Kind am Ende das Genick brach, weil der Kopf stecken blieb. Solche Geburten kamen viel zu oft vor und endeten viel zu oft tragisch, um nicht von Anfang an Gegenstand der Hebammenausbildung zu sein. Doch bislang waren diese Dinge für Lilly reine Theorie gewesen. Und nun hatte sie es wirklich und wahrhaftig getan! Sie hatte einfach im Vertrauen auf das, was sie spürte, und auf das, was sie gelernt hatte, gehandelt. Und das Ergebnis war ein kleiner Mensch, der nun schmatzend im Arm der Mutter lag.

Als der Kleine an der Brust einschlief, sagte Mrs Mansfield: «So, nun können wir den kleinen Draufgänger wohl säubern.» Gerade wollte sie ihn an sich nehmen, als im Treppenhaus Stimmen und Geräusche laut wurden und ein Mann unwirsch rief: «Was geht hier vor? Wo seid ihr überhaupt?»

«Hier oben», rief Lilly fröhlich und lief zur Schlafzimmertür. «Herzlichen Glückwunsch, Mr Lonegan, Sie haben …»

Als sie die Tür geöffnet hatte und die beiden Männer sah, die die Treppe heraufeilten, verstummte sie. Denn noch vor dem schmutzigen, hageren Mann, der der Vater sein musste, hastete ihr Doktor Harlan entgegen, einen voluminösen Koffer vor sich herbugsierend.

«Was wollen Sie denn hier?», entfuhr es ihr ganz entgeistert.

«Tun Sie nicht so dumm», erwiderte der Arzt. «Hier ist doch eine Geburt im Gange! Sonst wären Sie ja wohl nicht hier. Nun gehen Sie beiseite und lassen mich an die Arbeit!»

Er wartete nicht ab, bis Lilly die Tür freigab, sondern schob sie zur Seite und verschaffte sich Einlass.

«Wollen Sie den Kleinen baden, Doktor Harlan?», hörte Lilly Mrs Mansfield süffisant fragen. «Ich glaube, in der Küche gibt es noch heißes Wasser. Holen Sie es ruhig herauf. Handtücher und Laken haben wir hier oben.»

Doktor Harlan blieb wie angewurzelt stehen und rang um Worte. Schließlich sagte er: «Was, um alles in der Welt, haben Sie angestellt? Es kann kaum zwei Stunden her sein, dass diese Geburt begann.»

Noch ehe Mrs Mansfield oder Lilly antworten konnten, stürzte sich der Arzt auf Mrs Mansfields Hebammenkoffer und durchwühlte ihn. Als er nicht fand, was er suchte, ging er zum Bett und warf die blutigen Laken hin und her, ohne dabei auf die junge Mutter Rücksicht zu nehmen. Aber auch hier wurde er nicht fündig. Abrupt drehte er sich wieder zu Mrs Mansfield um. «Keine Instrumente?», sagte er ungläubig. «Was hat sich hier abgespielt?»

«Eine ganze Menge, wenn Sie’s genau wissen wollen», sagte die Hebamme ruhig. «Um Ihnen das zu schildern – und das, was dabei leicht hätte fatal sein können, sollten wir uns in Ruhe zusammensetzen. Das hier sind wohl weder der rechte Ort noch die rechte Zeit dafür.» Dann sah sie Mr Lonegan an und streckte ihm das Kind entgegen. «Wollen Sie Ihren Sohn gar nicht sehen?»

Der Vater warf einen Blick auf den Säugling, erschauderte und sagte: «Erst, wenn er sauber ist!»

Lilly setzte sich in Bewegung. «Ich gehe schon», sagte sie.

«Warum lassen Sie das Wasser hochbringen? Waschen Sie das Kind doch unten!», sagte Doktor Harlan.

«Ach», hörte Lilly Mrs Mansfield sagen, als sie schon auf der Treppe war. «Ich glaube, die Mutter hätte es gern bei sich.»

Was für eine wunderbare Lehrerin, dachte Lilly, und gleichzeitig ärgerte sie sich über das distanzierte Verhalten des Vaters und Doktor Harlans Einmischung. Von Bemerkungen wie «Ich glaube, die Mutter hätte es gern bei sich» hatte sie während ihrer Ausbildung mindestens genauso viel gelernt wie von gezielten Unterweisungen. Das war ihr aber erst bewusst, seit sie sich nicht mehr von der Komplexität ihrer Profession überwältigt fühlte. Sie hatte eine gewisse Sicherheit gewonnen, die ihr erlaubte, die wenig fassbaren Dinge wahrzunehmen, die mit Schwangerschaft und Geburt einhergingen – Gefühle zwischen Mutter und Kind, zwischen Vater und Kind, zwischen den Ehegatten und auch zwischen Frauen und Hebammen. Was diese Dinge betraf, war Mrs Mansfield sehr einfühlsam, und Lilly hatte mehrfach miterlebt, dass den Frauen damit mindestens genauso geholfen war wie mit komplizierten Handgriffen und Arzneien. Dass männliche Geburtshelfer diesen Teil des Geschehens ignorierten, schien ihr ein schwerwiegendes Versäumnis zu sein. Auch Doktor Harlan hatte gerade unter Beweis gestellt, wie wenig er sich um diese Dinge scherte. Er hatte sich nicht einmal danach erkundigt, wie die Geburt verlaufen war. Und selbst wenn er es getan hätte, dachte Lilly, wäre ihm wohl trotzdem nicht klar geworden, dass es nach einer überfallartigen Geburt dringend angezeigt ist, die Mutter mit dem Kind auszusöhnen, eine liebevolle Nähe herzustellen und sie miteinander zur Ruhe kommen zu lassen. Was geschehen wäre, wenn der Arzt eher gekommen wäre, mochte sie sich gar nicht ausmalen. Nach allem, was sie von der männlichen Geburtshilfe wusste, hielt sie es für ausgeschlossen, dass er diesen Griff zum Senken des Kopfes beherrschte oder auch nur kannte. Hätte er seine Zange angesetzt, wäre das Kind höchstwahrscheinlich tot oder zumindest verkrüppelt geboren worden.

Lilly war bereits unten in der Küche und mischte den immer noch viel zu heißen Rest des Teewassers mit kaltem Wasser. Mitten in der Bewegung hielt sie inne und fragte sich, was sie da eigentlich gerade tat: Sie schickte sich an, Wasser zu schleppen. Minuten nachdem sie ein Leben gerettet hatte, würde sie Wasser schleppen – und zwar mit der größten Selbstverständlichkeit und nachdem die Männer nicht dazu bereit gewesen waren. Dabei ist beides wichtig, dachte sie. Vielleicht war es das, was Hebammenarbeit ausmachte: Zusammenhänge zu erkennen und alle Kraft in den Dienst des Lebens zu stellen, auch die niederen Arbeiten. Tausende von Hebammen taten das tagtäglich. Sollte es plötzlich etwas sein, das sie verteidigen oder wofür sie sich gar schämen mussten? Sollten sich Hebammen so in die Defensive drängen lassen? Nein! Das hatten sie nicht nötig, und den Schwangeren wäre damit auch nicht gedient! Es genügte nicht, Nachbarinnen um Obacht zu bitten, damit Ärzte den Hebammen nicht zuvorkamen und womöglich Grausiges anrichteten.

Ein letztes Mal prüfte sie die Temperatur des Badewassers und packte den Bottich. Ehe sie ihn anhob, atmete sie durch, und als sie ihn die Treppe hinauftrug, dachte sie: Ich will wissen, was die männlichen Geburtshelfer eigentlich treiben, was ihre Ziele sind, wie sie vorgehen und auf welchen Vorstellungen ihr Vorgehen basiert. Ohne zu wissen, was sie wissen und wollen, erstarren wir vor Angst, so wie Emily Lonegan, die ihr Kind vor lauter Schreck zu früh bekommen hat. Lilly schüttelte entschlossen den Kopf. Nein, es hilft alles nichts, sagte sie sich. Ich muss nach London, zu Elizabeth Hill. Sie ist am nächsten an der männlichen Geburtshilfe dran und weiß, was dort vorgeht. Bestimmt kennt sie auch die hilfreichen Möglichkeiten der Ärzte und kann sie mir beibringen.

Zurück in der Schlafkammer, fand Lilly ihre Lehrmeisterin und den Arzt in ein Streitgespräch verwickelt. Entsetzt hörte Lilly Doktor Harlan sagen, er befände das Kind für zu klein, um es der Mutter zu überlassen. Nach seinem Dafürhalten sollte es wenigstens ein paar Tage lang unter eine Wärmehaube an einen Ofen gelegt werden – unter ständiger professioneller Überwachung und der Verabreichung von Kraftnahrung.

«Woher soll diese Frau denn eine so reichhaltige Milch bekommen, dass sie das Kind davon aufpäppeln kann?», sagte er, während die junge Frau abwechselnd verängstigt zu ihm auf- und die Hebamme flehentlich anblickte.

«Wenn Sie nicht wissen, was für ein Wundertrank Muttermilch ist, kann ich Ihnen auch nicht helfen», erwiderte Mrs Mansfield. «Vielleicht vergegenwärtigen Sie sich einmal, dass sie die Menschheit bis heute erhalten hat. Im Übrigen habe ich schon viel schwächere Kinder mit Muttermilch prächtig gedeihen sehen.»

So hört doch alle beide auf, dachte Lilly, während sie den Kleinen wusch. Emily Lonegan wäre nicht die erste Mutter, der die Milch plötzlich versiegte, weil sie aus irgendwelchen Gründen glaubte, ihre Milch könne nicht nahrhaft genug sein. Sie verstand nicht, warum Mrs Mansfield sich hier und jetzt auf diese unerquickliche Auseinandersetzung einließ. Doch was sollte sie tun? Wenn sie nicht dagegenhielte, würde Doktor Harlan das Kind einfach mitnehmen. Trotzdem konnte Lilly das zornige Hin-und-her-Gerede nicht mehr aushalten. Sie trocknete den Kleinen ab, wickelte ihn wieder warm ein und gab ihn der Mutter zurück. Dann setzte sie sich so aufs Bett, dass Doktor Harlan keinen Zugriff auf das Kind hatte, ohne sie beiseitezustoßen.

«Gönnen wir den beiden doch eine Nacht Ruhe», schlug sie dann vor. «Wir wiegen das Kind jetzt und morgen früh noch einmal, und wenn es dann weniger wiegt oder schwächer ist als jetzt, beobachten wir es den Tag über hier, verabreichen Milchbildungstee und so weiter. Am Abend entscheiden wir dann über das weitere Vorgehen.»

«Das ist unverantwortlich», wetterte Doktor Harlan. «Was, wenn das Kind den Morgen nicht erlebt?»

Lilly zuckte zusammen und legte der jungen Mutter beruhigend eine Hand an die Schulter. In welche Ängste stürzt sie der Arzt bloß? Lilly fand sein Verhalten unverantwortlich. Es lagen wirklich Welten zwischen der männlichen und weiblichen Geburtshilfe, wobei die männliche nach dem, was sie hier miterlebte, den Namen Geburtshilfe nicht verdiente. Solange beide so zänkisch aufeinandertrafen wie hier, würde sich nichts bewegen, sondern beide Seiten würden sich umso vehementer in der eigenen Stellung verschanzen. Es war nicht einmal absehbar, wie die Auseinandersetzung um den Verbleib des Kindes enden würde.

«So mäßigen Sie sich doch!», sagte Mrs Mansfield. «Ich finde Lillys Vorschlag sehr vernünftig.»

«Ich auch», meldete sich unerwartet Mr Lonegan zu Wort. «Meine Frau hat unseren Sohn nicht ausgetragen, um ihn gleich wieder wegzugeben. Wenn die Hebammen sagen, dass er bis morgen hierbleiben kann, wollen wir es wagen, nicht wahr, Emily?»

Die junge Mutter sah ihren Mann dankbar an und nickte.

«Das nehmen Sie aber gefälligst auf Ihre eigene Kappe», sagte Doktor Harlan beleidigt und schob gleich noch eine Drohung nach: «Wenn Sie meinen Rat in den Wind schlagen, brauchen Sie auch später nicht zu mir zu kommen, wenn Not am Mann ist.»

«Sprechen Sie von unterlassener Hilfeleistung, Doktor Harlan?», fragte Mrs Mansfield.

Lilly wünschte, ihre Lehrmeisterin würde aufhören, den Streit immer neu anzufachen. Dennoch war es wichtig, den Lonegans die Angst vor der Drohung des Arztes zu nehmen. Immerhin erreichte Mrs Mansfield, dass der Arzt sich zum Gehen wandte.

«Hetzen Sie nicht die Leute gegen mich auf», fuhr Doktor Harlan die Hebamme an, bevor er endgültig verschwand. «Sonst muss ich Ihnen die Lizenz wegen Verleumdung und Verstoßes gegen das Gemeinwohl entziehen lassen.»