cover

Evelyn Waugh

Mit wehenden
Fahnen

Roman

Aus dem Englischen von
Matthias Fienbork

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1942

bei Chapman & Hall, London,

erschienenen Originalausgabe: ›Put Out More Flags‹

Copyright © 1942, Evelyn Waugh

All rights reserved

Der Roman erschien im Diogenes Verlag

erstmals 1987 als Diogenes Taschenbuch unter

dem Titel Mit Glanz und Gloria

Die Übersetzung wurde für die vorliegende

Ausgabe durchgesehen

Umschlagfoto (Ausschnitt):

Copyright © Fox Photos/Getty Images

 

 

Hinweis des Autors

Die im 3. Kapitel beschriebene militärische

Operation ist reine Phantasie.

Weder dort noch an irgendeiner anderen Stelle

des Buches wird, direkt oder indirekt,

eine bestehende Einheit Seiner Majestät

Streitkräfte dargestellt.

Sämtliche Figuren sind frei erfunden.

E. W.

 

 

Für Randolph Churchill

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24308 6 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60444 3

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Vorwort des Autors  [7]

MIT WEHENDEN FAHNEN

IHERBST  [13]
IIWINTER  [105]
IIIFRÜHLING  [195]
EPILOGSOMMER  [301]

[7] Vorwort des Autors

Dies ist das einzige Buch, das ich ausschließlich zu meinem Vergnügen geschrieben habe. Das macht es nicht besser, aber ich kann es mit freundlichem Blick betrachten, wenn ich an die unbeschwerte Zeit seiner Entstehung zurückdenke. Es war der Sommer 1941. In zwei Jahren Militärdienst hatte ich keine einzige Zeile geschrieben. Nach dem Fall von Kreta wurden die Sonderkommandos im Nahen Osten aufgelöst, Offiziere und Mannschaften kehrten zu ihren Regimentern zurück. Ich befand mich auf einem komfortablen Dampfer, der mit einer Fracht italienischer Kriegsgefangener nach England unterwegs war. Aus Sorge vor feindlichen Angriffen nahm man damals den langen Weg um das Kap. Ich kehrte zurück zu meiner Frau und den Kindern. Ich hatte Komfort und Muße und unbedeutende Pflichten, eine geräumige Kabine mit einem Tisch und einen Stapel Armeebriefpapier. Ich schrieb den ganzen Tag, und einen Monat später war das Buch fertig.

Die Figuren, die mich zehn Jahre zuvor beschäftigt hatten, wurden wieder lebendig. Ich war neugierig, wie es ihnen in der Zwischenzeit ergangen war, folgte ihnen ohne festen Plan, ohne zu wissen, wo ich sie auf der nächsten Seite antreffen würde.

Ich möchte noch anmerken, dass ich keine persönliche [8] Kenntnis vom Informationsministerium besaß, meine Karikatur beruhte allein auf Klatschgeschichten. In den ersten Kriegswochen, bevor ich meinen Militärdienst antrat, machten mir »Evakuierte« allerdings schwer zu schaffen.

E. W.

Combe Florey 1966

[9] Mit wehenden Fahnen

[11] »Wer sich bei einer Abschiedsfeier betrinkt,

sollte ein Lied anstimmen, um zu neuer Kraft

zu finden… Ein trunkener Soldat aber

sollte sich mit wehenden Fahnen

noch mehr Getränke bringen lassen,

um seine militärische

Größe zu steigern.«

Chinesischer Philosoph
nach Lin Yutang,
The Importance of Living

 

 

»Eine kleine Ungerechtigkeit des Herzens

lässt sich mit Wein überwinden, eine

große Ungerechtigkeit der Welt nur

durch das Schwert.«

Epigramme des Chang Ch'ao
nach Lin Yutang,
The Importance of Living

[13] I

Herbst

[15] I

In der Woche vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – Tage rastlosen Spekulierens, die nur mit Ironie als die letzten Tage des Friedens bezeichnet werden können – und an jenem Sonntagmorgen, als alle Zweifel schließlich beseitigt und alle unzutreffenden Vorstellungen korrigiert worden waren, dachten drei reiche Frauen zuallererst an Basil Seal. Es waren seine Schwester, seine Mutter und seine Geliebte.

Barbara Sothill befand sich in Malfrey. In den letzten Jahren hatte sie an ihren Bruder so selten gedacht, wie die Umstände es eben erlaubten, doch als sie an diesem historischen Septembermorgen ins Dorf ging, war er ihre größte Sorge.

Sie und Freddy hatten soeben die Rede des Premierministers im Radio gehört. »Es ist das Böse, das wir bekämpfen«, hatte er gesagt, und als Barbara vor das Haus trat, in dem sie den größten Teil ihrer achtjährigen Ehe verbracht hatte, fühlte sie sich persönlich herausgefordert und bedroht, als werde der milde Herbsthimmel schon jetzt von kreisenden Feindflugzeugen verfinstert, die ihre Schatten auf die sonnenüberfluteten Wiesen warfen.

Die Schönheit von Malfrey hatte etwas Frauliches und Sinnliches. Andere großartige Häuser bewahrten sich etwas Jungfräulich-Bescheidenes oder Männlich-Trutziges, [16] Malfrey hingegen hatte kein Geheimnis vor dem Herrn. Es war vor über zweihundert Jahren gebaut worden, in einer glorreichen, prunkvollen Zeit, und lag ausgestreckt da, in gelassener Pracht, wunderbar, wehrlos und provozierend, eine Kleopatra unter den Häusern; jenseits der See, sagte sich Barbara, war ein kleinlicher und neidischer Geist, ein armselig asketischer Geist, ein Wesen aus dem Tannenwald, im Begriff, die Zerstörung ihres Heims zu planen. Malfreys wegen liebte sie ihren prosaischen und ein wenig albernen Mann; Malfreys wegen hatte sie sich auch von Basil zurückgezogen und mit ihm den Teil ihrer selbst aufgegeben, den sie, in jener Atrophie, die für alle fruchtbaren Ehen typisch ist, hatte verkümmern und absterben lassen.

Bis zum Dorf, die Lindenallee entlang, war es eine halbe Meile. Barbara ging zu Fuß, weil Freddy, gerade als sie in den Wagen steigen wollte, sie mit den Worten aufgehalten hatte: »Für Vergnügungsfahrten haben wir kein Benzin mehr übrig.«

Freddy trug Uniform, fühlte sich in der zehn Jahre alten Hose höchst unbehaglich. Am Tag zuvor hatte er sich beim Stab der Yeomanry* [* Freiwillige Kavallerietruppe (A. d. Ü.)] gemeldet und war für zwei Tage wieder nach Hause gefahren, um seine Sachen zusammenzusuchen, die in den zwei Jahren, seit er das letzte Mal an einer Reserveübung teilgenommen hatte, für Scharaden und Picknicks zweckentfremdet worden waren und nun im ganzen Haus an den unmöglichsten Stellen herumlagen. Besonders seine Pistole hatte ihm Kopfzerbrechen bereitet. Mit den Worten »Ist ja alles ganz lustig, aber deswegen kann ich vors [17] Kriegsgericht kommen« hatte er den ganzen Haushalt auf die Suche geschickt, bis das Kindermädchen sie schließlich hinter der Spielzeugkommode fand. Barbara war jetzt auf der Suche nach seinem Fernglas, das sie, wie sie sich vage zu erinnern meinte, dem Führer der Pfadfindergruppe geliehen hatte.

Die Lindenallee von Malfrey führte direkt bis ins Dorf. Die kunstvoll gearbeiteten Flügel des schmiedeeisernen Parktors ruhten auf roh behauenen Sockeln, und das Doppelhaus der Parkwächter nahm die ganze Breite des Dorfplatzes ein. Genau gegenüber stand die Kirche, rechts und links daneben befanden sich zwei Wirtshäuser, das Pfarrhaus, der Kaufmannsladen und eine Reihe von grauen Cottages; und über dem Rasengeviert in der Mitte erhoben sich drei mächtige Kastanien. Das Dorf war eine Sehenswürdigkeit, zu Recht, aber ungern berühmt, seit kurzem von allzu vielen Wanderern heimgesucht, dank Freddys Einfluss aber verschont von Ausflüglerbussen. Ein Omnibus hielt hier, dreimal täglich an Werktagen, jedoch viermal an Dienstagen, wenn im Nachbarort Markt war, und in diesem Jahr hatte Freddy unter den Kastanien eine Eichenbank für die Fahrgäste aufstellen lassen.

In diesem Moment wurde Barbara von einem ungewohnten Anblick aus ihren Gedanken gerissen. Sechs schwermütige Frauen saßen da und starrten unverwandt auf die verschlossenen Türen des ›Sothill Arms‹. Barbara war verwirrt, aber dann erinnerte sie sich. Das waren Frauen aus Birmingham. Am Freitagabend waren, nach einer Tagesreise mit Bahn und Bus, fünfzig Familien in Malfrey eingetroffen, durstig, verschwitzt, desorientiert und gereizt. Barbara hatte die fünf [18] traurigsten Familien zu sich genommen und den Rest im Dorf und bei den Bauern der Umgebung einquartiert.

Pünktlich am nächsten Tag hatte die Haushälterin, die noch von der alten Mrs Sothill eingestellt worden war, gekündigt. »Ich weiß nicht, wie wir ohne Sie zurechtkommen sollen«, sagte Barbara.

»Es sind die Beine, Madam. Ich bin nicht mehr kräftig genug. Bislang habe ich es gerade so geschafft, aber jetzt, mit den vielen Kindern überall…«

»In Kriegszeiten kann man doch nicht verlangen, dass einem alles leicht von der Hand geht. Wir müssen Opfer bringen. Das hier ist unser Beitrag zur Vaterlandsverteidigung.«

Aber die Frau blieb hartnäckig. »Meine Schwester ist in Bristol verheiratet«, sagte sie. »Ihr Mann war in der Reserve. Jetzt, wo er eingezogen ist, braucht sie womöglich meine Hilfe.«

Eine Stunde später waren die anderen drei Dienstmädchen mit schiefen Gesichtern erschienen.

»Edith und Olive und ich, wir haben's uns überlegt. Wir wollen Flugzeuge machen. Bei Brakemore werden Mädchen eingestellt, heißt es.«

»Es wird für euch aber eine furchtbar schwere Arbeit sein.«

»Ooch, es ist nicht die Arbeit, Madam. Es sind die Birminghamer Frauen. Wie es in ihren Zimmern aussieht.«

»Es ist ja alles noch sehr fremd für sie am Anfang. Wir müssen ihnen nach Kräften helfen. Wenn sie sich erst einmal eingerichtet und an unsere Art gewöhnt haben…« Doch schon während sie es aussprach, merkte sie, dass es aussichtslos war.

[19] »Bei Brakemore sollen Arbeiterinnen gesucht werden«, sagten die Dienstmädchen.

Mrs Elphinstone, die Köchin, war loyal. »Für die Mädchen kann ich nicht garantieren«, sagte sie. »Die halten einen Krieg offenbar für eine Mordsgaudi.«

Es waren ja schließlich die Küchenhilfen und nicht Mrs Elphinstone, die mit den zusätzlichen Essern fertig werden mussten, dachte Barbara…

Benson war ehrlich. Die Frauen aus Birmingham machten ihm keine Sorgen. Aber James würde in ein paar Wochen zur Armee gehen. Es wird ein schwieriger Winter werden, dachte Barbara.

Die Frauen, die auf dem Dorfplatz beieinanderhockten, waren nicht Barbaras Gäste, doch auf ihren Gesichtern erkannte sie den gleichen Ausdruck von Enttäuschung und Trotz. Eher aus Pflichtbewusstsein denn aus Umsicht trat sie auf sie zu und fragte, ob sie gut untergebracht seien. Sie hatte sie als Gruppe angeredet, und alle waren viel zu verlegen, um zu antworten. Sie sahen dumpf an ihr vorbei, in die Richtung des geschlossenen Dorfkrugs. Oje, dachte Barbara, wahrscheinlich fragen sie sich, was mich das angeht.

»Ich wohne da oben«, sagte sie und zeigte auf das Tor. »Ich habe mich um eure Einquartierung gekümmert.«

»Wirklich?«, rief eine der Mütter. »Dann können Sie uns ja vielleicht sagen, wie lange wir hier noch bleiben müssen.«

»Genau«, sagte eine andere.

»Ich glaube«, sagte Barbara, »dass sich niemand darüber den Kopf zerbrochen hat. Man wollte euch vor allem da herausbekommen.«

[20] »Dazu haben sie kein Recht«, rief die erste Mutter. »Man kann uns hier doch nicht mit Gewalt festhalten.«

»Aber ihr wollt doch bestimmt nicht, dass ihr mit euren Kindern ausgebombt werdet, oder?«

»Wo wir nicht willkommen sind, da wollen wir auch nicht bleiben.«

»Genau«, meinte die Jasagerin.

»Aber natürlich seid ihr willkommen.«

»Ungefähr so wie Bauchschmerzen.«

»Genau.«

Ein paar Minuten lang diskutierte Barbara mit den Flüchtlingen, bis sie spürte, dass sie nichts anderes erreicht hatte, als den ganzen Hass, der gerechterweise Hitler hätte gelten sollen, auf sich selbst zu ziehen. Dann ging sie weiter ihres Wegs zum Pfadfinderführer, wo sie, ehe sie das Fernglas an sich nehmen konnte, die Geschichte der Birminghamer Lehrerin anhören musste, die bei ihm einquartiert war und sich weigerte, beim Abwasch zu helfen.

Als sie auf dem Heimweg den Dorfplatz überquerte, sahen die Mütter nicht zu ihr hin.

»Hoffentlich vergnügen sich die Kinder ein bisschen«, sagte sie, entschlossen, sich in ihrem eigenen Dorf nicht schneiden zu lassen.

»Sie sind drüben in der Schule. Die Lehrerin spielt mit ihnen.«

»Der Park ist ja immer offen, wenn ihr wollt, könnt ihr reingehen.«

»Dort, wo wir herkommen, gibt es auch einen Park. Sonntags hat eine Kapelle gespielt.«

»Also, eine Kapelle kann ich leider nicht bieten. Aber man [21] sagt, dass es ganz schön ist, besonders unten am Weiher. Nehmt die Kinder mit, wenn ihr Lust habt.«

Als Barbara gegangen war, sagte die älteste Mutter: »Wer sie wohl ist? Eine Art Aufseherin vermutlich, so herablassend, wie sie tut. Und wie sie uns in den Park eingeladen hat. Als gehörte er ihr persönlich.«

Bald wurden die Türen der beiden Wirtshäuser geöffnet, und die schockierten Dörfler sahen von überall eine Prozession von Müttern zusammenströmen und sich auf die Schankräume zubewegen.

Den Vorsatz hatte er beim Lunch gefasst. Freddy ging sofort nach dem Essen hoch und zog sich Zivilkleidung an. »Werde mir von meinem Mädchen was Bequemes herauslegen lassen«, hatte er so beiläufig gesagt, wie er gewöhnlich Witze riss. Es war diese Art von Humor, die Barbara in den acht glücklichen Jahren mit ihm zu schätzen gelernt hatte.

Freddy war groß, männlich, hatte früh gelichtetes Haar und wirkte auf den ersten Blick fröhlich, doch im Grunde war er ein Misanthrop, der über jenen verschlagenen, raffinierten Selbsterhaltungstrieb verfügte, der unter Reichen als Weisheit gilt. Seine Trägheit ging mit so viel grundsätzlicher Übellaunigkeit einher, dass seine Umgebung ihn mit Respekt behandelte. Er vermochte die meisten Menschen zu täuschen, nicht jedoch seine Frau und deren Familie.

Er hatte nicht nur einen besonderen Gesichtsausdruck, wenn er Witze machte, sondern auch dann, wenn es um seinen Schwager Basil ging. Dann sollte vornehme Missbilligung aus seiner Miene sprechen, gemildert durch seinen [22] Respekt vor Barbaras Loyalität, doch tatsächlich verriet sie Verdrießlichkeit und Schuldbewusstsein.

Die Geschwister Seal hatten aus irgendeinem unerfindlichen Grund alle anderen Menschen stets mit Geringschätzung behandelt. Auch Tony konnte Freddy nicht leiden. Er fand ihn oberflächlich und weich, war aber bereit, ihm gewisse Qualitäten zuzugestehen. Niemand bezweifelte, dass ihm eine glänzende Karriere im diplomatischen Dienst bevorstand. Irgendwann einmal würden alle ungeheuer stolz auf Tony sein. Basil aber war seit frühester Kindheit nur Anlass von Peinlichkeiten und Vorwürfen gewesen. Freddy hätte, wenn es nach ihm gegangen wäre, ein schwarzes Schaf in der Familie Seal durchaus hingenommen, jemand, der ›nie erwähnt‹ würde, dem er hin und wieder eine großzügig helfende Hand reichte, ohne dass davon irgendjemand (außer Barbara) erfahren würde, jemand, von dessen Qualitäten er vielleicht sogar überzeugter wäre als der Rest der Welt. Solch ein Verwandter hätte Freddys Selbstwertgefühl in erheblichem Maße stärken können. Doch nachdem er die Seals näher kennengelernt hatte, stellte er fest, dass Basil keineswegs nie erwähnt wurde, sondern, im Gegenteil, ständig Gesprächsthema war. Genüsslich wurde seine jeweils letzte Ungeheuerlichkeit erörtert, hoffte man auf irgendeinen großen Erfolg für ihn in der nahen Zukunft und begegnete der Kritik, die alle anderen an ihm übten, mit Verachtung. Basil selber betrachtete Freddy erbarmungslos, mit genau demselben Blick, den er in der Zeit seines Werbens und in den ersten Ehejahren an Barbara bemerkt hatte.

Zwischen Basil und Barbara gab es eine beunruhigende Ähnlichkeit. Auf eine sanftere und fatalere Weise war auch [23] sie unbändig, und der Charme, der ihn bei ihr gefangen nahm, blitzte in grober und habgieriger Form auch bei Basil auf. Die Mutterrolle und die ruhige Pracht von Malfrey hatten Barbara verändert. Jetzt passierte es nur noch sehr selten, dass das kleine wilde Tier hervorlugte. Aber es war dort, im Innern versteckt, und von Zeit zu Zeit spürte er ein Paar funkelnde Augen auf sich ruhen, die ihn vom Tunnelende her wie einen Feind beobachteten.

Barbara selber gab sich in Bezug auf Basil keinerlei Illusionen hin. Nach Jahren der Enttäuschungen und Vertrauensbrüche war sie, jedenfalls der rationale Teil ihrer selbst, zu der Überzeugung gelangt, dass er nichts taugte. Im Kinderzimmer hatten sie zusammen Piraten gespielt, doch das war vorbei. Sollte Basil allein Piraten spielen. Ihrem Glauben an ihn schwor sie ab, doch wie ein Kult noch Jahrhunderte überdauert, nachdem seine Mythen entlarvt und seine Glaubensquellen vergiftet worden sind, so steckte tief in ihr noch immer jene frühe Anhänglichkeit, die als ein kleiner Rest von Aberglauben kaum mehr zu spüren war, weshalb sie sich an diesem Morgen, als die Welt um sie herum ins Wanken geriet, wieder Basil zuwandte. Wie wenn ein Erdbeben eine moderne Stadt heimsucht und die Bürgersteige sich auftun und die Kanalisationsrohre sich verbiegen und die großen Bauwerke erzittern und zusammenstürzen und Männer in Melone und Konfektionsanzug, die aus kultivierten und zivilisierten Familien kommen, plötzlich zur Magie der Urzeit zurückkehren und die Finger kreuzen, um der Betonlawine Einhalt zu gebieten.

Dreimal während des Mittagessens hatte Barbara von Basil gesprochen, und nun, da sie und Freddy Arm in Arm [24] auf der Terrasse spazieren gingen, erklärte sie plötzlich: »Ich glaube, er hat all die Jahre nur darauf gewartet.«

»Wer hat worauf gewartet?«

»Basil, auf den Krieg.«

»Ah… Na, irgendwie gilt das ja wohl für uns alle… Mit dem Garten wird es schwierig werden. Ich nehme an, dass wir für ein paar Männer Zurückstellung beantragen könnten, weil sie in der Landwirtschaft tätig sind, aber das wäre wohl nicht ganz korrekt.«

Es war Freddys letzter Tag in Malfrey, und er wollte ihn sich mit Gesprächen über Basil nicht verderben. Zwar war die Yeomanry nicht einmal zehn Meilen entfernt stationiert. Auch würde sie nicht so bald in Marsch gesetzt. Sie war erst kürzlich mechanisiert worden, das heißt, man hatte ihnen die Pferde weggenommen; wenige von ihnen hatten jemals einen Panzer gesehen. Also würde er in den kommenden Monaten pendeln; er wollte auf Fasanenjagd gehen. Wenn dies auch kein endgültiger Abschied war, so fand er doch, dass er von Barbara mehr Gefühl verlangen durfte, als sie zeigte.

»Freddy, sei nicht dämlich.« Sie trat ihm heftig gegen das Schienbein, denn sie hatte schon früh in ihrer Ehe festgestellt, dass Freddy es gern hatte, wenn sie privat fluchte und ihn knuffte. »Du weißt ganz genau, was ich meine. Basil braucht einen Krieg. Für den Frieden ist er nicht geeignet.«

»Das stimmt. Es ist schon ein Wunder, dass er nicht im Gefängnis sitzt. Wenn er in eine andere Klasse hineingeboren worden wäre, dann säße er ein.«

Barbara kicherte plötzlich.

»Weißt du noch, wie er Mutters Smaragdarmband entwendet und nach Azania mitgenommen hat? So weit wäre es [25] nie gekommen, wenn wir hier einen eigenen Krieg gehabt hätten, bei dem er hätte mitkämpfen können. Er hat schon immer bei irgendwelchen Kämpfen mitgemacht.«

»In La Paz in einer Schnapsbude wohnen und zusehen, wie sich die Generäle gegenseitig abknallen, bezeichnest du das…«

»Und Spanien.«

»Journalist und Waffenschmuggler.«

»Er ist schon immer ein verhinderter Soldat gewesen.«

»Also, viel dafür getan hat er nicht. Während er sich herumtrieb, haben wir anderen uns im Territorialheer und in der Yeomanry ausbilden lassen.«

»Tolle Ausbildung hast du gehabt, Darling.«

»Wenn es mehr von uns gegeben hätte und weniger vom Typ Basil, dann wäre es nie zum Krieg gekommen. Man kann Ribbentrop nicht verdenken, dass er uns für dekadent hielt, als er Leute wie Basil herumspazieren sah. Ich glaube kaum, dass sie bei der Armee Verwendung für ihn haben. Er ist sechsunddreißig. Vielleicht bekommt er irgendeinen Job bei der Zensurbehörde. Er scheint ja viele Sprachen zu beherrschen.«

»Warte nur«, sagte Barbara, »Basil wird man mit Orden überhäufen, während deine komische alte Yeomanry noch immer in einem denkmalgeschützten Schloss herumhockt und auf einen Panzer wartet.«

Auf dem See schwammen Enten, über die sie Freddy reden ließ. Sie führte ihn seinen Lieblingspfaden entlang. Es gab einen romantischen Pavillon, in dem Freddy, aus alter Gewohnheit, oft auf amouröse Gedanken kam, so auch diesmal. Und die ganze Zeit dachte sie an Basil. Sie sah ihn als [26] Figur in einem der Kriegsbücher, die sie gelesen hatte. Sie sah ihn als den Leutnant Siegfried Sassoon, der frühmorgens in einem morastigen Schützengraben steht, den Blick auf seine Armbanduhr gerichtet, und auf die Stunde null wartet. Oder als Compton Mackenzie, inmitten von Olivenbäumen und Marmorfiguren, Spinne im Netz einer levantinischen Verschwörung, die eine Monarchie zu Fall bringen sollte. Sie sah ihn als T. E. Lawrence und als Rupert Brooke.

Freddy, besänftigt, kam auf die Jagd zu sprechen. »Zu den ersten Jagden werde ich niemand vom Regiment dazubitten«, sagte er. »Aber ich wüsste nicht, warum wir nicht ein paar Mann um Weihnachten herum zur Schnepfenjagd einladen sollten.«

[27] 2

Lady Seal befand sich in ihrem Haus in London. Sie hatte zum Schutz vor Luftangriffen weniger Vorkehrungen getroffen als die meisten ihrer Freunde. Ihr kostbarster Besitz, ein kleiner Carpaccio, war nach Malfrey in sichere Verwahrung gegeben worden. Die Miniaturen und die Emailarbeiten aus Limoges lagen in der Bank. Das Sèvres-Porzellan war in Kisten verpackt und im Keller verstaut. Ansonsten hatte sich in ihrem Salon nichts verändert. Die schweren alten Vorhänge mussten nicht mit hässlichen schwarzen Papierstreifen versehen werden, damit kein Licht nach draußen drang.

Die Fenster zum Balkon standen offen. Lady Seal saß in einem eleganten Rosenholzstuhl und blickte hinunter auf den Platz. Sie hatte gerade die Rede des Premierministers gehört. Ihr Butler näherte sich vom anderen Ende des Zimmers.

»Soll ich das Radio entfernen, Mylady?«

»Ja bitte. Er hat sehr gut gesprochen, wirklich sehr gut.«

»Es ist alles so bedauerlich, Mylady.«

»Sehr bedauerlich für die Deutschen, Anderson.«

Das stimmt wirklich, dachte Lady Seal. Neville Chamberlain hatte eine erstaunlich gute Rede gehalten. Sie hatte ihn nie besonders leiden können, weder ihn noch seinen Bruder – [28] wenn überhaupt, dann hatte sie den Bruder vorgezogen, aber beide waren unerfreuliche, langweilige Figuren. An diesem Morgen aber hatte er sehr lobenswerte Worte gesprochen, als wäre er sich seiner Verantwortung doch noch bewusst geworden. Sie würde ihn mal zum Lunch einladen. Aber vielleicht hatte er ja viel zu tun. Im Krieg hatten die unwahrscheinlichsten Leute immer viel zu tun, erinnerte sie sich.

Ihre Gedanken gingen zurück zu dem anderen Krieg, der bis dahin bloß »Der Krieg« gewesen war. Niemand, der ihr nahestand, hatte daran teilgenommen. Christopher war zu alt und Tony noch zu jung gewesen. Ihr Bruder Edward hatte als Brigadekommandeur angefangen – auf der Militärakademie hielt man große Stücke auf ihn –, aber unerklärlicherweise war aus seiner Karriere nicht viel geworden. 1918 war er immer noch Brigadekommandeur in Daressalam. Doch der Krieg war eine traurige Zeit gewesen; viele Freunde in Trauer und Christopher wütend über die Verbündeten. Es war für sie alle sehr bitter gewesen, sich mit Lloyd George abfinden zu müssen, aber Christopher hatte mit den anderen das patriotische Opfer gebracht. Wahrscheinlich wusste nur sie, wie viel es ihm ausmachte. Am schlimmsten war die Zeit nach dem Waffenstillstand gewesen, als Adelstitel wie frisches Brot verkauft wurden und ein von den Bedingungen her völlig unmöglicher Friedensvertrag abgeschlossen wurde. Christopher hatte immer gesagt, dass sie auf lange Sicht dafür würden büßen müssen.

Das hässliche, damals noch ungewohnte Heulen der Alarmsirenen erhob sich über London.

»Das war das Warnsignal, Mylady.«

»Ja, Anderson, ich habe es gehört.«

[29] »Werden Sie sich nach unten begeben?«

»Nein, jedenfalls nicht gleich. Schaffen Sie das Personal nach unten, und sehen Sie zu, dass es sich ruhig verhält.«

»Werden Sie Ihre Gasmaske benötigen, Mylady?«

»Ich denke nicht. Sir Josephs Informationen zufolge ist die Gefahr eines Gasangriffs doch sehr gering. Ich glaube sowieso, dass es nur eine Übung ist. Lassen Sie sie auf dem Tisch liegen.«

»Wünschen Sie noch etwas, Mylady?«

»Nein, das ist alles. Sorgen Sie dafür, dass die Dienstmädchen nicht nervös werden.«

Lady Seal trat auf den Balkon und blickte zum klaren Himmel empor. Sie werden ihr blaues Wunder erleben, wenn Sie uns angreifen, dachte sie. Höchste Zeit, dass diesem Mann da eine Lektion erteilt wird. Seit Jahren macht er nichts als Ärger. Gedankenverloren kehrte sie zu ihrem Stuhl zurück. Ich jedenfalls habe mich über diesen vulgären Ribbentrop nie aufgeregt. Ich würde ihn nie einladen, auch wenn Emma Granchester, diese dumme Gans, uns alle bekniet hat, freundlich zu ihm zu sein. Hoffentlich kommt sie sich heute Morgen lächerlich vor.

Lady Seal erwartete den Beginn des Luftangriffs mit Contenance. Sie hatte Anderson gesagt, dass es wahrscheinlich nur eine Übung war. Nichts anderes sagte man dem Personal. Sonst würden sie noch in Panik geraten, die Mädchen wohlgemerkt, nicht Anderson. Im Grunde war Lady Seal jedoch klar, dass der Angriff stattfinden würde. Den seit jeher großspurig auftretenden Deutschen, die immer so effizient taten, würde es ähnlich sehen. Was Lady Seal im Geschichtsunterricht gelernt hatte, waren schlichte [30] Erzählungen von der Verteidigung des Rechts vor der Übermacht des Bösen gewesen, und die Namen der Stätten, an denen ihr Vaterland ehrenvoll gekämpft hatte, klangen in ihren Ohren wie eine Hymne – Crécy, Agincourt, Cádiz, Blenheim, Gibraltar, Inkerman, Ypern. England hatte gegen die verschiedensten Feinde gekämpft, mit den verschiedensten Verbündeten, oft unter undurchsichtigen Vorwänden, doch immer rechtens, tapfer und am Ende siegreich. In Paris etwa hatte Lady Seal oft Stolz darüber empfunden, dass ihr Volk nie die Gewohnheit angenommen hatte, Straßen nach militärischen Erfolgen zu benennen. Das mochte bei den kurzlebigen und rein technischen Triumphen der Franzosen durchaus angebracht sein, doch zuzulassen, dass diese großartigen Beweise einer gottgegebenen Rechtschaffenheit – und nichts anderes waren die Siege Englands – von Modeateliers und Fußpflegerinnen als Postanschrift benutzt würden, das wäre eine Charakterlosigkeit, zu der sich nicht einmal die Radikalen hergegeben hätten. Deutlich vor ihren Augen sah sie die Stahlstiche in ihrem Klassenzimmer – wie Gemälde bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung: Sydney vor Zutphen, Wolfe vor Quebec, Nelson vor Trafalgar (nur Wellington vor Waterloo fehlte, weil Blücher ihn mit typisch preußischer Unverfrorenheit verdrängt hatte, um sich in dem Ruhm zu sonnen, der dem anderen zukam). Dieser beachtlichen Kollektion (Lady Seal fühlte sich auch an jene reichen und ehrwürdigen Männer erinnert, die sich gegen die Franzosen vor Cowes Castle versammelt hatten und nun mit den dazugehörigen Erklärungen in Wandelgängen und Billardzimmern hingen) wurde an jenem Morgen eine neue und nicht sehr überzeugende Figur hinzugefügt – Basil Seal.

[31] Der letzte Krieg hatte sie wenig gekostet. Eigentlich nichts, außer erheblichen Investitionen im Ausland und dem Ruf ihres Bruders Edward als Stratege. Nun konnte sie ihrem Vaterland einen Sohn offerieren. Tony hatte schlechte Augen und eine Karriere. Freddy war nicht von ihrem Blut und war nicht aus heroischem Holz geschnitzt, aber Basil, ihr launischer und verdorbener und zutiefst enttäuschender Basil, dessen unerklärlicher Geschmack an ordinärer Gesellschaft ihn in den letzten zehn Jahren so oft in Schwierigkeiten gebracht hatte, Basil, dessen Jugendsünden so ganz anders waren als die seines Onkels Edward, Basil, der ihr Smaragdarmband gestohlen und allen Verdacht auf die arme Mrs Lyne gelenkt hatte, Basil, der jetzt dem Vaterland dienen konnte – reihte sich endlich in die Ahnenreihe ein. Sie würde Jo bitten müssen, ihm eine Offiziersstelle in einem anständigen Regiment zu verschaffen.

Schließlich, sie saß noch immer gedankenverloren da, ertönte die Entwarnung.

Sir Joseph Mainwaring wollte sich an diesem Tag mit Lady Seal zum Lunch treffen. Es war eine Verabredung, die schon zu Beginn der vorangegangenen Woche getroffen worden war, noch ehe sie wissen konnten, dass der Tag, den sie ausersehen hatten, in die Geschichtsbücher eingehen würde. Er war pünktlich wie stets in den langen Jahren ihrer Freundschaft.

Sir Joseph war kein Kirchgänger, es sei denn, er war in einem dieser sehr raren, sehr erlauchten Häuser zu Gast, wo man den Gottesdienst besuchte. An diesem Sonntagmorgen aber wäre es nicht abwegig gewesen, seine Verfassung als [32] eine Art Ergriffenheit zu beschreiben, die einem religiösen Schauder recht nahe kam. Es wäre übertrieben gewesen, ihn als geläutert zu bezeichnen, und doch hatten die Morgenstunden etwas vage Läuterndes gehabt, und er hatte etwas ungewohnt Exaltiertes, als hätte er sich über eine Schachtel Alka-Seltzer hergemacht. Er fühlte sich zehn Jahre jünger.

Lady Seal brachte diesem alten Tolpatsch im Gegensatz zu seinen übrigen vielen Freunden eine tiefe persönliche Zuneigung entgegen und ein Vertrauen, das eigentlich nicht gerechtfertigt war.

»Wir sind ganz unter uns«, sagte sie zur Begrüßung. »Die Granchesters wollten eigentlich auch kommen, aber er musste zum König.«

»Es könnte nichts Schöneres geben. Tja, wir alle werden jetzt wieder viel zu tun haben. Ich weiß noch nicht genau, was ich machen werde. Morgen früh bin ich in Downing Street, danach werde ich eine klarere Vorstellung haben. Vermutlich eine Art Beraterfunktion für das Kriegskabinett. Es tut gut, wieder im Mittelpunkt des Geschehens zu sein, man fühlt sich zehn Jahre jünger. Spannende Zeiten, Cynthia, spannende Zeiten.«

»Darüber wollte ich auch mit Emma Granchester sprechen. Wir müssen bestimmt viele Komitees gründen. Im letzten Krieg waren es die belgischen Flüchtlinge. Diesmal werden es vermutlich die Polen sein. Wirklich schade, dass es nicht Leute sind, deren Sprache man versteht.«

»Nein, diesmal keine Belgier. Es wird in mancherlei Hinsicht ein anderer Krieg sein. Ein zermürbender Wirtschaftskrieg, glaube ich. Luftschutzmaßnahmen und dergleichen waren natürlich notwendig. Die Radikalen haben das ja nur [33] nachgemacht. Aber man kann wohl davon ausgehen, dass es keine Luftangriffe geben wird, jedenfalls nicht in London. Vielleicht in den Häfen. Gestern habe ich aber im ›Beefsteak‹ ein hochinteressantes Gespräch mit Eddie Beste-Bingham geführt. Wir haben eine kolossal nützliche Erfindung namens* RDF.[* Radio Detection Finder = Radar (A. d. Ü.)] Damit werden wir sie fernhalten können.«

»Lieber Jo, du weißt immer von so vielversprechenden Dingen. Was ist RDF denn?«

»Ich bin nicht ganz sicher. Es ist streng geheim.«

»Die arme Barbara hat Evakuierte in Malfrey.«

»Wie entsetzlich. Das hübsche, verträumte Malfrey. Stell dir bloß vor: Lesen und Schreiben lernen im eleganten Grinling-Gibbons-Zimmer. Was für eine abwegige Idee, Cynthia. Du weißt, ich bin der Letzte, der sich zu vorschnellen Prophezeiungen hinreißen lässt, aber eines können wir wohl als gesichert annehmen. Es wird keine Luftangriffe auf London geben. Die Deutschen werden die Maginot-Linie nie überwinden. Die Franzosen werden die Stellung dort halten, nötigenfalls in alle Ewigkeit, und die deutschen Flugplätze liegen viel zu weit ab, als dass die Luftwaffe uns angreifen könnte. Falls doch, werden wir sie mit RDF von unserem Himmel verjagen.«

»Jo«, sagte Lady Seal, als sie beim Kaffee saßen. »Ich möchte mit dir über Basil sprechen.«

Wie oft hatte Sir Joseph in den vergangenen zwanzig Jahren diesen gewichtigen Satz gehört, der in den verschiedensten Stimmungen und Tonlagen ausgesprochen wurde, aber unweigerlich, wenn nicht zur Erlahmung ihres Austauschs, [34] so doch zu einer deutlichen Abkühlung führte. Nur in diesen Momenten mütterlicher Sorge war Cynthia Seal nicht mehr ganz das perfekte Gegenüber, nur in diesen Momenten gab sie nicht, sondern verlangte sozusagen eine kleine Luxussteuer auf das Füllhorn ihrer Freundschaft.

Wenn Sir Joseph danach gewesen wäre, hätte er eine graphische Darstellung der Häufigkeit und Intensität dieser Gespräche zeichnen können. Es war, vom Kinderzimmer über die Schule bis zur Universität, eine stetig ansteigende Kurve gewesen, wobei er jede neue Phase von Basils frühreifer Entwicklung mit Beifall hatte begrüßen müssen. In jenem ersten Jahr hatte er Basil als offenbar außergewöhnlich brillanten und gutaussehenden jungen Mann kennengelernt, der nur ja nicht unter schlechten Einfluss geraten durfte. Dann, gegen Ende von Basils zweitem Studienjahr am Balliol College, war eine Serie von kleinen seismischen Störungen zu verzeichnen gewesen, und Cynthia Seal war abwechselnd sprachlos vor Verblüffung und beredt fassungslos. Dann die erste Katastrophe, und bald darauf der Tod Christophers. Von nun an hatte die Kurve unstete Auf- und Abwärtsbewegungen beschrieben, je nachdem, zu welcher Schlechtigkeit sich Basil verstieg, doch im Laufe der Jahre war das durchschnittliche Niveau erfreulich gesunken. Mindestens sechs Monate hatte er den Namen des Jungen schon nicht mehr gehört.

»Ah«, sagte er, »Basil, mhh?«, während er versuchte, dem Gesichtsausdruck seiner Tischgefährtin einen Hinweis zu entnehmen, ob er objektiv oder verständnisvoll sein oder sie beglückwünschen sollte.

»Du hast mir in den vergangenen Jahren so oft geholfen.«

[35] »Ich hab's versucht«, sagte Sir Joseph und erinnerte sich kurz an die zahlreichen erfolglosen Bemühungen zugunsten von Basil. »Der Junge hat viele Qualitäten.«

»Seit heute Morgen geht es mir viel besser, wenn ich an ihn denke, Jo. In letzter Zeit bezweifelte ich manchmal, ob wir für Basil jemals etwas Passendes finden würden. Er ist schon so oft an der falschen Stelle gelandet. Aber dieser Krieg enthebt uns unserer Verantwortung. Im Krieg ist Platz für jeden, für jeden Mann. Basil ist seine Persönlichkeit im Weg gestanden. Das hast du oft genug gesagt, Jo. Im Krieg kommt es auf Persönlichkeit nicht mehr an. Es gibt nur noch Männer, stimmt's?«

»Ja«, sagte Sir Joseph unschlüssig. »Ja. Basil hatte ja schon immer eine sehr ausgeprägte Persönlichkeit. Er dürfte jetzt fünfunddreißig oder sechsunddreißig sein. Das ist ziemlich alt für jemand, der als Soldat anfangen will.«

»Unsinn, Jo. Im letzten Krieg haben sich Männer von fünfundvierzig und fünfzig zur Armee gemeldet und sind so tapfer gestorben wie alle anderen auch. Ich möchte, dass du mit den Oberstleutnants der Infanterieregimenter sprichst, um herauszufinden, wo Basil am besten hinpassen würde…«

Im Laufe der Zeit hatte Cynthia Seal eine Menge enormer Forderungen in Basils Namen gestellt. Diese nun, die sie mit so viel arroganter Selbstverständlichkeit vorbrachte, empfand Sir Joseph als die ärgerlichste. Doch er war ein alter und treuer Freund und überdies ein vielbeschäftigter Mann, der aus langjährigen Erfahrungen im Dienste der Öffentlichkeit sehr wohl wusste, wie man Pflichten umging. »Natürlich, meine liebe Cynthia, aber versprechen kann ich nichts…«

[36] 3

Angela Lyne kehrte per Bahn aus Südfrankreich zurück. Normalerweise fuhr sie um diese Zeit nach Venedig, doch in diesem Jahr, wo allenthalben über nichts anderes gesprochen wurde als die internationale Politik, war sie bis zum letzten Moment und noch darüber hinaus in Cannes geblieben. Die Franzosen und Italiener, die sie getroffen hatte, meinten, es würde keinen Krieg geben. Dies sagten sie vor dem deutsch-sowjetischen Pakt mit Nachdruck, danach mit doppeltem Nachdruck. Die Engländer sagten, es würde Krieg geben, aber nicht sofort. Nur die Amerikaner wussten, was kommen würde und wann. Nun reiste sie in ungewohnter Unbehaglichkeit durch eine Nation, die sich mit den verdrießlichen Parolen il faut en finir und nous gagnerons, parce que nous sommes les plus forts zum Handeln anschickte.

Es war eine ermüdende Fahrt. Der Zug hatte bereits acht Stunden Verspätung. Der Speisewagen war über Nacht in Avignon verschwunden. Angela musste sich mit ihrem Mädchen ein Zweibettabteil teilen und froh sein, dass sie überhaupt untergekommen war. Mehrere ihrer Bekannten waren geblieben, da sie warten wollten, bis sich die Lage entspannte. Platzreservierungen konnte niemand garantieren, die Franzosen schienen alle Höflichkeit für die Dauer der Kämpfe eingemottet zu haben.

[37] Angela hatte auf dem Tischchen vor sich ein Glas Vichy. Sie nippte daran, während sie auf die vorbeiziehende Landschaft hinaussah, in der sich auf jeder Meile ein Zeichen für die Veränderungen im Lande fand. Hunger und die miserable Nacht entrückten sie ein wenig der Realität, und ihr sonst meist rasches und geordnetes Denken erlahmte wie der Zug, der bald schaukelnd dahineilte, bald zu kriechen schien, als tastete er sich von Punkt zu Punkt unsicher voran.

Ein Fremder, der an ihrem offenen Abteil vorübergegangen wäre, hätte sich wohl gefragt, woher sie kam und was sie machte, und er hätte sie wohl für eine Amerikanerin gehalten, vielleicht die Einkäuferin eines bedeutenden New Yorker Modegeschäfts, deren momentane Geistesabwesenheit auf die kriegsbedingten Schwierigkeiten beim Heimtransport ihrer ›Kollektion‹ zurückzuführen war. Sie war außerordentlich elegant gekleidet, doch wie eine Frau, die eher etwas aussagen als attraktiv wirken will. Nichts von dem, was sie trug, vermutlich auch nichts in dem schweinsledernen Schmuckkästchen über ihrem Kopf, war von einem Mann oder für einen Mann ausgesucht worden. Ihr Chic hatte eine ganz persönliche Note. Sie gehörte offensichtlich nicht zu denjenigen, die immer rastlos hinter den neuesten Dingen herhetzen, ehe sie, ein paar Wochen später, in billigen Imitationen auf die Märkte der Welt geworfen werden. Ihre Person war Zeugnis und Kritik aufeinanderfolgender Moden, in klarer und charakteristischer Handschrift verzeichnet. Hätte der neugierige Reisende länger hingeblickt – was er, ohne aufdringlich zu wirken, durchaus hätte tun dürfen, so gedankenverloren war Angela –, dann hätte er in dem Moment innegehalten, in dem er ihr Gesicht studiert hätte. Alles an [38] ihr – das Gepäck, das sich über und neben ihr auftürmte, der Sitz ihrer Frisur, ihre Schuhe, ihre Fingernägel, der leichte Parfümhauch, das Mineralwasser und der broschierte Balzac-Band auf dem Tischchen vor ihr –, alle diese Dinge verrieten das, was sie (wäre sie tatsächlich jene Amerikanerin gewesen, die sie zu sein schien) als »Persönlichkeit« bezeichnet hätte. Das Gesicht jedoch war leblos. Es hätte aus Jade sein können, so glatt und kühl und leer war es. Ein Fremder hätte sie stundenlang beobachten können, so wie ein Spion oder Liebhaber oder Reporter vor einem verschlossenen Haus herumlungert, ohne ein Licht zu sehen und ohne hinter den Fensterläden auch nur die leiseste Bewegung zu bemerken, und je schärfer sein Blick, desto verwirrter und verstörter wäre er schließlich weitergegangen, den Korridor entlang. Hätte er die nackte Wahrheit über diese scheinbar so weltläufige, leidenschaftslose, kultivierte Frau erfahren, dann hätte er wohl so schnell nicht mehr versucht, sich ein Bild von einem Mitmenschen zu machen. Denn Angela Lyne kam aus Schottland, war das einzige Kind eines Glasgower Millionärs – eines jovialen, schlitzohrigen Millionärs, der als Junge in einer Straßenbande angefangen hatte –, sie war die Frau eines Hobbyarchitekten, die Mutter eines kräftigen und nicht besonders gutaussehenden Sohnes (von dem man sagte, er sei seinem Großvater aus dem Gesicht geschnitten), und in ihrem Leben hatte sie sich in so tiefe Passionen verstrickt, dass von dieser goldenen Tochter Fortunas unter ihren Freunden nur selten ohne den Zusatz die ›arme‹ Angela Lyne die Rede war.

Nur in einem Punkt hätte der zufällige Beobachter recht gehabt. Angelas Äußeres sollte nicht auf Männer wirken. [39] Zuweilen wird ja die Frage aufgeworfen – und Boulevardblätter veranstalten Meinungsumfragen, um eine endgültige Antwort darauf zu finden –, ob eine Frau, die ganz allein auf einer einsamen Insel ist, darüber nachdenkt, wie sie angezogen ist. Was ihre eigene Person betraf, so hatte Angela auf diese Frage eine verbindliche Antwort gegeben. Sieben Jahre hatte sie auf einer einsamen Insel gelebt. Ihr Äußeres war Hobby und Zeitvertreib geworden, bei dem sie sich selbst genügte und nur sich selbst wahrnahm. Sie beobachtete ihre Bewegungen in den Spiegeln der kultivierten Welt, so wie ein Häftling die Possen einer Ratte beobachtet, mit der er sich die Zelle teilt. (Das liebste Spielzeug ihres Mannes hingegen waren Grotten. Er besaß inzwischen sechs davon, die er in verschiedenen Gegenden Europas gekauft hatte, teils in Neapel, teils in Süddeutschland, und mühsam, Stein auf Stein, nach Hampshire abtransportiert hatte.)

Seit sieben Jahren nämlich – damals war sie fünfundzwanzig und gerade zwei Jahre mit ihrem Dandy-Ästheten verheiratet – war die ›arme‹ Angela Lyne in Basil Seal verliebt. Es war eine dieser Affären, die, als harmloses Abenteuer beginnend und von den Freunden sorglos als amüsanter Skandal akzeptiert, irgendwie von einem Gorgonenblick versteinert und mit einer unerträglichen Dauerhaftigkeit ausgestattet zu sein schienen; als hätten die spöttischen Schicksalsgötter beschlossen, in einer Welt kapriziöser und rasch wechselnder Verbindungen ein Exempel zu statuieren, was Mann und Frau einander sein konnten, ihrer Fähigkeit, miteinander zu verschmelzen, ein Denkmal zu setzen; ein Verpackungsetikett mit der Aufschrift »Achtung! Gefährliche Chemikalien!« – eine Warnung wie die Autowracks, die manchmal [40] an gefährlichen Kurven als abschreckendes Beispiel stehen –, so dass die unbedarftesten Leute mit den Worten zurückwichen: »Also wirklich, irgendwie haben die beiden etwas Abstoßendes an sich.«

Es war eine Beziehung, die ihre Freunde gewöhnlich als ›morbid‹ bezeichneten, womit sie ausdrücken wollten, dass Erotik eine untergeordnete Rolle spielte, denn Basil hatte nur etwas für sehr alberne Mädchen übrig, und es waren ganz andere Dinge, die ihn und Angela verbanden.