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Karl Marx

Der kleine Marx

Bestechende Gedanken eines Kritikers

Herausgegeben von Bruno Kern

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INHALT

GEBURTSTAGSGRUSS AN KARL MARX

ZUR RELIGION

LÜGENPRESSE? VONWEGEN!

MARX UND DIE PHILOSOPHEN

DIE VERHÄLTNISSE ZUM TANZEN BRINGEN

MARX UND DIE DEUTSCHEN

DIE GESCHICHTE: TRAGÖDIE UND FARCE

MARX UND DIE »PFAFFEN«

DAS PROLETARIAT

BOURGEOIS UND CITOYEN

EMANZIPATION

DER STAAT

ENTFREMDUNG UND FETISCH

DIE NATUR

ARBEIT

KOMMUNISMUS

HABEN ODER SEIN, PRIVATEIGENTUM

INDIVIDUUM UND GESELLSCHAFT

DER TOD

DER MENSCH – SCHÖPFER SEINER SELBST

DAS GELD

PRIMAT DER PRAXIS

SEIN UND BEWUSSTSEIN

FREIHEIT

PATRIOTISMUS

PARLAMENTARISMUS

DER GOTT MOLOCH

ROBINSON UND DIE WIRTSCHAFTSWEISEN

DER MEHRWERT

KAPITALISTISCHER WACHSTUMSWAHN

VERELENDUNG

KAPITALISMUS UND GEWALT

DIE FINANZMÄRKTE

GEBURTSTAGSGRUSS AN KARL MARX

Herrn Dr. jur. Karl Marx

Friedhof Highgate

Sektion B

Grab 116

LONDON

Lieber Karli,

zu deinem 100. Geburtstag wünsche ich dir alles Liebe und Gute. Leider muss ich dir mitteilen, dass die nach dir benannte politische Theorie, der sogenannte »Marxismus«, inzwischen längst widerlegt ist. Namhafte Kommentatoren namhafter österreichischer Zeitungen haben dich allein im letzten Monat siebzehnmal widerlegt. Das »profil« dreimal, die »Neue Kronenzeitung« fünfmal und die »Presse« gar neunmal.

Zu Recht, denn du hast dich auf der ganzen Linie geirrt. Allein deine Theorie von der zunehmenden Verelendung der Arbeiterklasse ist völlig falsch. In Wirklichkeit geht es den Arbeitern immer besser, sie arbeiten immer weniger, viele von ihnen arbeiten überhaupt nicht mehr, zum Beispiel die Stahlarbeiter in Detroit. Oder deine Vorstellung von der Unversöhnbarkeit der Arbeiterklasse mit der Ausbeuterklasse: ein einziger Irrtum. Die sitzen längst alle in einem Boot und kommen sich, wie das bei Bootspartien so üblich ist, immer näher und näher.

Take it easy, Karli!

Dein Peter Turrini*

Der österreichische Schriftsteller Peter Turrini hat hier offensichtlich recht schlampig recherchiert: Marx war erstens kein »Dr. jur.«, sondern wurde nach seinem Studienwechsel in Jena mit einer brillanten Arbeit über Demokrit und Epikur aus dem Fach Philosophie promoviert! Und was doch ein wenig peinlich ist: Turrini hat mit dieser kleinen Polemik Marx im Jahr 1983 (!) zum hundertsten Geburtstag gratuliert, also ganz offensichtlich den Geburtstag mit dem Todestag von Karl Marx verwechselt! Das ändert jedoch nichts daran, dass sein sarkastischer Text in der Sache treffsicher und entlarvend ist – auch wenn er angesichts der Ereignisse, die seither die Welt völlig verändert haben, wiederum recht nostalgisch anmutet. Die meisten der sich unter anderem auf Marx berufenden sozialistischen Staaten haben sich inzwischen historisch gründlich blamiert, und auf der anderen Seite ist spätestens mit der weltweiten Finanzkrise ab dem Jahr 2007 klar geworden, auf welch tönernen Füßen das System steht, dessen Protagonisten Anfang der Neunziger noch die Sektkorken knallen ließen. Die Vermutung, dass beide Systeme im Grunde einander viel ähnlicher sind, als sie wahrhaben wollten, und dass deshalb der Zusammenbruch des einen lediglich die Vorwegnahme des Zusammenbruchs des anderen war, hat beunruhigend gute Gründe auf ihrer Seite. Genug Gründe jedenfalls, sich ernsthaft zurückzubesinnen auf den humanistischen Philosophen, der den Mechanismen der kapitalistischen Ökonomie am gründlichsten nachgespürt hat.

Allerdings: Nichts wird Marx weniger gerecht, als ihn unkritisch zu rezipieren, ihn bis zur Ermüdung zu repetieren und sich damit genau jene denkerische Mühe für heute zu ersparen, die er für das 19. Jahrhundert geleistet hat. Die oftmals erschreckend primitive Dämonisierung von Karl Marx scheint zum Teil wenigstens auch die Reaktion auf eine orthodoxe Marx-Scholastik zu sein, die den, auf den sie sich beruft, ebenso verrät, wie sie das Niveau der Gegenwartsherausforderungen unterbietet. Um uns einen der größten Humanisten theoretisch wie praktisch neu zu erschließen, ist es zunächst erforderlich, ihn von den Schlacken des 19. Jahrhunderts zu befreien.*

Der Kontext, in dem Marx gewirkt hat, ist gekennzeichnet von der entstehenden Industriegesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts und der revolutionären Bewegung von 1848/49, die die reaktionären Regime Europas erschütterte. Marx sah sehr klar das revolutionierende Potenzial des industriellen Fortschritts, er war fasziniert von den atemberaubenden technologischen Entwicklungen, die nicht mehr in das Korsett der bürgerlichen Gesellschaft passten. (Wohlgemerkt: Es ging dabei damals im Wesentlichen um die Dampfmaschine, noch nicht einmal um die Elektrifizierung, die noch in den Kinderschuhen steckte!) Unter den Bedingungen der privaten Aneignung der Produktionsmittel und bornierter Einzelinteressen schlägt das emanzipatorische Potenzial der neuen Produktionsweisen in Verelendung und Ausbeutung von Natur und Mensch um. Im Gegensatz zu Marx aber ist uns heute die Ambivalenz des Industrialisierungsprozesses selbst, unabhängig von der Organisation der Gesellschaft, bewusst. Die ungeheuren Destruktivkräfte, die die technische Entwicklung entfesselte, veranlassten Gesellschaftstheoretiker wie Ulrich Beck dazu, unsere Gesellschaft insgesamt als Risikogesellschaft zu charakterisieren.* Vor allem aber wird uns heute schmerzlich bewusst, dass – im Gegensatz zur allgemeinen Auffassung im 19. Jahrhundert – dieser Prozess des technologischen Fortschritts und der Produktivkraftentwicklung nicht einfach linear nach vorne verlängert werden kann, dass er nicht vereinbar ist mit der Endlichkeit unserer natürlichen Ressourcen und der Knappheit unserer Energiequellen, dass er letztlich auf einer Illusion beruhte, die nur dadurch aufrechterhalten werden konnte, dass sie die »unterentwickelten« Regionen der Welt ebenso ausblendete wie die Lebensbedingungen künftiger Generationen. Die Weigerung, dies zur Kenntnis zu nehmen, schlägt sich heute vor allem in infantilen Technikfantasien nieder, die – jedem simplen Hausverstand und jeder empirischen wie logischen Evidenz zum Trotz – davon ausgehen, wir könnten die Energieeffizienz um ein Vielfaches steigern und mit anderen technischen Mitteln den Verbrauch auf seinem derzeitigen Niveau aus erneuerbaren Quellen bestreiten. Gerade auch politische Formationen, die sich auf Karl Marx berufen, begründen ihren eigenen Realitätsverlust mit Theorieversatzstücken aus seinem Werk: mit der fortschreitenden Dialektik von Produktivkraftentwicklung und gesellschaftlichen Verhältnissen sowie mit der sich historisch damit weiter entwickelten Bedürfnisbasis ad infinitum. Gefördert wird diese Abstraktion von den endlichen, natürlichen Daseinsbedingungen noch durch die Digitalisierung, die leicht in den Hintergrund treten lässt, dass hinter den beeindruckenden Möglichkeiten elektronischer Datenverarbeitung letztlich materiegebundene Voraussetzungen stehen und dass man sich von Datensätzen nicht ernähren kann, während der fruchtbare Boden weltweit erodiert …

Im Gegensatz und im Widerspruch zu Karl Marx haben wir deshalb heute seine Grundannahme infrage zu stellen, dass sich eine solidarische Gesellschaft – und solidarisch heißt natürlich immer auch nachhaltig, wenn ich die kommenden Generationen aus dieser Solidarität nicht ausschließen will – nur auf dem Boden einer bestimmten Entwicklung des technischen Produktionsapparats verwirklichen ließe. Vielmehr müssen wir darauf beharren, dass sich ein solidarisches Gesellschaftsverhältnis unabhängig von einem bestimmten Niveau der Produktivkraftentwicklung herstellen lässt, ja dass sogar viel für die Annahme spricht, dass ein hohes Niveau der Produktivkraftentwicklung ein solidarisches, transparentes und partizipatives Gesellschaftsverhältnis eher erschwert, dass Technik selbst intransparente Herrschaft hervorbringt und Zwänge herstellt, die jedem Bestreben nach menschlicher Emanzipation widerstreiten. Über Marx hinaus sind deshalb die Stimmen von Analytikern zu hören, denen es darum ging, ein menschliches Maß der Technikentwicklung zu bestimmen (Ivan Illich, Jacques Ellul, E. F. Schumacher, Otto Ullrich …) Wenn wir uns heute um die Einsicht nicht mehr herumdrücken wollen, dass angesichts der immer spürbarer werdenden Grenzen des Wachstums nicht nur die kapitalistische Organisationsweise unserer Wirtschaft, sondern ebenso der Industrialismus zur Disposition steht, dann ist Karl Marx nur bedingt hilfreich, dann gilt es, gerade mit derselben intellektuellen Redlichkeit und Radikalität, die ihn selbst auszeichnete, über ihn hinauszudenken.

Ähnliches gilt wohl auch hinsichtlich der Frage nach dem Subjekt (oder den Subjekten) gesellschaftlicher Transformation. Marx wandte sich zu seiner Zeit gegen jegliche »voluntaristische« Auffassung von Gesellschaftsveränderung. Er wusste zu gut, dass Ideen, um praktisch zu werden, eine materielle Basis brauchen, dass kein Aufklärerpathos, das predigend durch die Lande zieht, andere Verhältnisse herstellt, sondern dass jeder taugliche Versuch der Umwälzung anzuknüpfen habe an den Tendenzen der Wirklichkeit selbst. Marx identifizierte das Industrieproletariat als das Subjekt der Transformation, nicht aufgrund von dessen besonderer »subjektiver« Eignung, sondern aufgrund seiner objektiven Situation. In der Klasse der Industrieproletarier manifestiert sich die Grundwidersprüchlichkeit des Kapitalismus selbst, sie ist jene Klasse, die sich aufgrund ihrer objektiven Lage nur selbst befreien kann, wenn sie gleichzeitig die Gesellschaft insgesamt befreit … Jeder Versuch gesellschaftlicher Umwälzung hat deshalb nicht an irgendeinem »good will«, sondern an materiellen Interessen anzuknüpfen.

Auch diese Marx’sche Grundüberzeugung muss heute in mehrfacher Hinsicht mit Fragezeichen versehen werden. Historisch haben wir seit Marx Revolutionen erlebt, die diesen Bedingungen keineswegs entsprachen. Erwähnt seien nur die Oktoberrevolution von 1917, aus der die Sowjetunion hervorging, die kubanische Revolution oder auch die zapatistische Aufstandsbewegung in Mexiko ab 1994.

Im Spätkapitalismus ist die Klasse der lohnabhängig Beschäftigten einerseits vielfach ausdifferenziert und kaum noch vergleichbar mit dem Industrieproletariat des 19. Jahrhunderts, in wesentlichen Bestandteilen aber so ins System integriert, dass sie nur noch zum stabilisierenden Faktor taugt. Das konkrete Agieren bundesdeutscher Einzelgewerkschaften macht dies heute überdeutlich: Welcher revolutionäre Impuls etwa könnte von einer Dienstleistungsgewerkschaft ausgehen, die sich für die Weiterführung des Braunkohletagebaus wider alle ökologische Vernunft einsetzt und selbst die banalsten politischen Eingriffe wie etwa eine Besteuerung von Flugtickets mit grimmigen Drohgebärden beantwortet? Welcher revolutionäre Impuls geht von Betriebsräten der IG Metall aus, die den Wirtschaftsminister bedrängen, die Rüstungsexporte nicht einzuschränken? Welcher revolutionäre Impuls ist von Gewerkschaftern der Chemiebranche zu erwarten, die die totale Unterwerfung der Demokratie unter Profitinteressen mittels internationaler Handelsabkommen begrüßen? Welcher Impuls geht von der organisierten Arbeiterschaft eines Landes aus, das zu den Krisengewinnlern zählt und ihre Solidarität mit südeuropäischen Kollegen doch recht verhalten ausfallen lässt? … Global gesehen manifestieren sich die Widersprüche des kapitalistischen Wirtschaftssystems in den verarmten Bevölkerungsmehrheiten des Trikont, die kaum die Voraussetzungen haben, ihre objektive Lage in wirksames gesellschaftsveränderndes Tun umzumünzen – es sei denn, man betrachtet die Masse an nach Europa Flüchtenden als ein solches Druckpotenzial – und in der unwiederbringlichen Zerstörung der Lebensgrundlagen für die noch nicht Geborenen.

Aber es ist natürlich noch viel grundsätzlicher zu fragen, welcher Beitrag zur Gesellschaftsveränderung von Industriegewerkschaften erwartet werden kann, wenn der Industrialismus selbst zur Disposition steht, wenn es nicht mehr nur um die Arbeitszeitgestaltung in der Automobilbranche, sondern um die Notwendigkeit ihres Rückbaus geht … Bei Marx verband sich die Aussicht auf ein anderes Gesellschaftsverhältnis mit der Teilhabe der bislang Ausgeschlossenen an den Segnungen des Fortschritts der Produktivkraftentwicklung. Was aber, wenn wir heute zur Einsicht gekommen sind, dass es, um die Lebensgrundlagen für alle zu sichern, nicht um Wachstum, sondern um Schrumpfung des Bruttoinlandsprodukts und der materiellen Basis unserer Wirtschaft insgesamt geht? Kann man angesichts dieser Situation überhaupt noch im soziologischen Sinne an Interessen anknüpfen? Ist hier nicht heute gegen Marx darauf zu beharren, dass der Sozialismus wesentlich ein ethisches Projekt ist und von den Menschen getragen wird, die bereit sind, gegen ihre unmittelbaren materiellen Interessen zu handeln? Hängt unsere Überlebensfähigkeit heute nicht vielmehr davon ab, wie weit es uns gelingt, unsere moralischen, unsere Sinnressourcen, zu erschließen? Der wohl bedeutendste deutsche Philosoph der Gegenwart, Jürgen Habermas, hat immerhin ausgehend von diesem Befund zu einer neuen Einschätzung religiöser Stimmen in der Öffentlichkeit gefunden, wiewohl er sich selbst als »religiös unmusikalisch« bezeichnet. Vielleicht wäre von daher nicht zuletzt Marxens Religionskritik neu zu bedenken.