Andreas Müller
Die Schule
schwänzt
das Lernen.
Und niemand sitzt nach.
www.fair-kopieren.ch
Andreas Müller
Die Schule schwänzt das Lernen.
Und niemand sitzt nach.
ISBN Print: 978-3-03905-513-5
ISBN E-Book: 978-3-03905-965-2
Grafische Gestaltung, Zeichnungen & Layout:
Roland Noirjean, Beatenberg, www.noirjean.ch
E-Book Produktion: Rombach Druck- und Verlagshaus, Freiburg
1. Auflage 2013
Alle Rechte vorbehalten
© 2013 hep verlag ag, Bern
www.hep-verlag.com
Inhaltsverzeichnis
1 Der falsche Dschungel
1.1
Die
Entdeckung
des
Wassers
1.2
Zurück
das
ist
die
Blickrichtung
1.3
Vertrautes
Unglück
1.4 Nebenthemen
Beispiel 1: Lektionen erteilen
Beispiel 2: Für wen sind eigentlich Ferien?
Beispiel 3: Mit dem Fächerkanon auf Spatzen schießen
Beispiel 4: Der metaphorische Löwenzahn
Beispiel 5: Absurdes Sortieren
Beispiel 6: Die Schule als Rüttelsieb
Beispiel 7: Schein-Welt
Beispiel 8: Vorschriften schalten den Verstand aus
Beispiel 9: Oh du eilige Einfalt
Beispiel 10: SuS
Seitenblick 1: Digitale Kreidezeit
1.5
Falscher
Dschungel
2 Es geht ums Lernen
2.4
Bock
auf
Leistung
2.5 Ameisenhaufen
2.6
Neurowissenschaftliche
Binsenweisheiten
2.7
Lernen
braucht
einen
Eigenwert
2.8
Autagogik
die
Wissenschaft
vom
selbstkompetenten
Lernen
3 Es geht um Menschen
3.1
Schule
ein
Beziehungsgestrüpp
3.1.1
Wer
mischt
mit?
Und
wie?
Und
weshalb
so?
3.1.2
Eine
Frage
der
Passung
3.1.3
Erwartungen,
Wünsche
und
Interessen
3.1.4
Der
Sinn
liegt
nicht
im
Ende
Seitenblick 3: Schonen schadet
3.1.5
Menschen
müssen
sich
mögen
3.1.6
Leistung
und
Erfolg
in
dieser
Reihenfolge
3.1.7
Das
Ende
der
Weichspüler
2.1
Von
Zecken
und
Menschen
2.2
Also
lautet
der
Beschluss,
dass
der
Mensch
was
lernen
muss
2.3
Lernen
ist
ein
Verb
Seitenblick 2: Erinnerungen für die Zukunft
9
10
11
12
14
14
15
15
18
19
21
23
25
27
28
30
32
35
36
38
44
48
50
52
54
56
58
63
66
67
72
73
75
76
79
85
86
INHALTSVERZEICHNIS
3.1.8
Etwas
wollen
heißt:
es
wollen
3.1.9
Identifikation
stiften
3.1.10
Ein
paar
alte
Tugenden
können
nicht
schaden
3.2
Gesellschaftliche
Megatrends
3.2.1
Diversität:
Matthäus-Prinzip
3.2.2
Virtualität:
Welt
aus
der
Steckdose
3.2.3
Relativität:
Informationsflut
schafft
Wissenswüsten
3.2.4
Disponibilität:
Supermarkt
des
Lebens
3.2.5
Instabilität:
Amorphes
Wildwasser
3.2.6
Singularität:
Trophäenjagd
3.2.7
Personalität:
Renaissance
der
Tugenden
3.3
Von
Fachleuten
umzingelt
3.3.1
Eltern:
Von
der
Statuspanik
in
die
Berechtigungshysterie
3.3.2
Bildungspolitiker:
Wer
mit
der
Herde
geht,
kann
nur
den
Ärschen
folgen
3.3.3
Gewerkschafter
und
Verbandsfunktionäre:
Klassenkampf
fürs
Klassenzimmer
3.3.4
Erziehungswissenschaftler:
Von
der
Praxis
der
Theorie
Seitenblick 4: Erfahrungs-Autismus
3.4
Schulleiter:
Vorangehen,
indem
man
dahintersteht
3.4.1
Lernende
Organisation
3.4.2
Willigkeit
x
Fähigkeit
x
Möglichkeit
3.4.3
Verbindlichkeitskultur:
Teil
der
Lösung
3.4.4 Schlüsselspieler
3.4.5 Gruppenkohäsion
3.4.6
Kreativer
Umgang
mit
Rahmenbedingungen
3.5. Aus Kindern und Jugendlichen werden Schüler
3.5.1
User
oder
Loser?
3.5.2 Schweinehund-Phasen
3.5.3
Social
Brain
3.6
Eine
Schule
ist
nur
so
gut
wie
der
einzelne
Lehrer
3.6.1
Wenig
Schmeichelhaftes
3.6.2
Schicksale
des
Scheiterns
3.6.3
Die
drei
Mal
zwei
A
des
Lehrerberufs
4 Es geht um Kompetenzen
4.1.2
Kompetenzen
ein
Modell
4.1
Lernen
muss
man
können
wollen
4.1.1
Zu
etwas
fähig
sein
4.2
Fachkompetenz:
Ahead
to
basics
4.2.1 Armierungswissen
4.2.2
Das
Pareto-Prinzip
des
Schulwissens
4.3
Lernkompetenz:
Gewusst
wie
88
91
92
94
95
98
104
107
111
112
117
121
122
123
125
126
128
131
132
135
136
138
140
141
143
145
146
151
153
155
156
157
163
164
164
165
169
171
171
174
4.3.1
Nachhaltiger
Ertrag
statt
bulimischer
Aufwand
4.3.2
Eine
Handvoll
Lernen
denn
Lernen
ist
mehr
Handwerk
als
Mundwerk
4.4
Selbstkompetenz:
Auf
die
Dauer
nützt
nur
Power
4.4.1
Sirenengesänge
des
Alltags
4.4.2
Selbstdisziplin
macht
den
Unterschied
4.4.3
Exekutive
Funktionen
Schlüssel
zum
Lernerfolg
4.4.4
Selbstkompetenz
trennt
die
Spreu
vom
Weizen
Seitenblick 5: Fünftes Gebot
4.5
„Es
geht
nicht“
geht
nicht
4.5.1 Das Potenzial liegt unten
5 Und was braucht es dazu?
5.2.1
Individuelle
Verbindlichkeiten
5.2.2
Aktives
Engagement
5.2.3
Hohe
Anforderungen
5.2.4
Wirkungsvolle
Kooperation
5.2.5
Formative
Rückmeldungen
5.2.6
Relevanter
Lebensbezug
5.2.7
Motivierende
Beziehungen
Seitenblick 6: Energie für die Beziehung
5.3
Lernrelevante
Faktoren
5.3.1
Orientierung
/
Referenzwerte
5.3.2
Auseinandersetzung
/
Verstehen
/
Nachhaltigkeit
5.3.3
Arrangements
/
Lernorganisation
5.3.4
Evaluation
/
Bezugsnormen
5.3.5 Lernort
5.3.6 Interaktion
5.4 Rahmenfaktoren
5.4.1 Menschenbild
5.4.2 Rollenverständnis
5.4.3 Lernverständnis
5.4.4 Funktionsverständnis
6 Genuss des Nutzens
6.2
Gebrauchsorientierte
Bildung
6.1 Fehlinvestitionen
Quellenverzeichnis
5.1
Sag
mir,
wo
du
bist.
Und
ich
sag
dir,
wie
du
wirst
5.2
Effektive
Lernumgebungen
175
176
183
184
184
186
188
196
198
199
201
202
204
205
206
206
207
207
208
209
210
212
212
215
219
224
227
228
231
231
233
239
241
245
246
249
253
D
1
gemacht. Innerhalb und außerhalb der Schule. Aber:
Dabei geht es vorwiegend um Nebensächlichkeiten.
Und vor allem: um Formales. Um Strukturen wird
diskutiert, über Klassen und Klassengrößen, über
Stundenzahlen, über Schulformen, über Schulab-
schlüsse und Berechtigungen, über Vorschriften und
Zuständigkeiten. Doch eigentlich geht es um ganz
andere Fragen.
Es erinnert an die Geschichte des Mannes, der unter
einer Straßenlampe offensichtlich nach etwas sucht.
Jemand geht hin und fragt: „Kann ich Ihnen helfen?
Haben Sie etwas verloren?“ „Ja“, sagt der Mann,
ie Schule liefert Stoff für zahllose Diskussionen.
Und davon wird denn auch rege Gebrauch
Der falsche Dschungel
„mein Schlüsselbund ist weg.“ „Und den haben Sie
“ „Aber warum um Gottes Willen suchen Sie
hier verloren?“ „Nein“, antwortet der Mann, „dort
hinten.
denn hier?“ „Hier hat es Licht, da sieht man mehr.“
Ähnlich ist es in und mit der Schule. Erörtert werden
nicht jene Fragen, die quasi im Dunkeln liegen.
Diskutiert werden die Dinge, auf die der Lichtstrahl
gerichtet ist. Aber das sind eben nicht die, auf die es
ankommt. Allerdings findet man auch immer etwas:
teure Lösungen für nicht existierende Probleme.
9
1.1
Die
Entdeckung
des
Wassers
Die Aufgabe ist alt: Verbinden Sie die neun
Punkte mit vier Linien – ohne den Stift abzu-
setzen.
Wie ging jetzt das auch schon wieder? Da war
doch etwas …
IX
Und wie war das auch noch mit dieser Aufga-
be? Machen Sie aus römisch Neun mit einer
Linie (ohne abzusetzen), ohne etwas zu ver-
schieben, eine Sechs.
Auch diese Aufgabe ist nicht neu: Legen Sie
eine Münze so um, dass anschließend auf jeder
Achse vier Münzen liegen.
Solche Knobelaufgaben können heraus-
fordernd wirken, den Ehrgeiz anstacheln.
Sie können aber auch gehörig auf den Keks
gehen, so dass man entnervt den Bettel hin-
schmeißt. Denn meistens muss man ein paar
geistige Verrenkungen machen und um drei
Ecken denken, damit man zu einer Lösung
kommt. Apropos Lösung: Seite 252.
Und in der Tat, den Aufgaben wohnt eine
Gemeinsamkeit inne: Sie lassen sich nur
knacken, wenn man den gewohnten (ver-
meintlich gesteckten) Rahmen verlässt, wenn
man sich außerhalb des „Systems“ und der
gewohnten Denkmuster begibt.
Er wisse nicht, wer das Wasser entdeckt habe,
hat Marshall McLuhan einst erklärt, aber es
sei sicher kein Fisch gewesen. Denn Fische ha-
ben – zumal wenn es um Wasser geht – eine
beschränkte Sicht der Dinge.
Und auch Menschen sind von Natur aus be-
schränkt. Manche mehr, manche weniger. In
die Kategorie „mehr“ gehören in der Regel
jene, die einerseits Teil eines Systems und and-
rerseits nicht fähig oder willens sind, dieses
System gelegentlich auch aus anderen Pers-
pektiven zu betrachten. Denn jedes System
hat die Tendenz, sich selbst immer wieder zu
reproduzieren. Aber: „Das haben wir immer
so gemacht“ heißt erstens nicht, dass das, was
gemacht wird, auch gut und richtig ist, und
ist zweitens kein Grund, es weiterhin so zu
tun. Das gilt auch für das Schulsystem – ohne
jeden Abstrich.
„Wir sind Schüler von heute, die
durch Lehrer von gestern in einem
System von vorgestern auf die Pro-
bleme von übermorgen vorbereitet
werden sollen.“
Die öffentliche Rache eines sprayenden
Schulversagers? Oder eine treffliche Analyse
des heutigen Bildungssystems?
10
1 DER FALSCHE DSCHUNGEL
1.2
Zurück
das
ist
die
Blickrichtung
Die Schule kann auf eine lange Tradition
zurückblicken. Und das tut sie auch. Zurück
– das ist die Blickrichtung. Die tragenden
Säulen der heutigen Schule stammen denn
auch aus einer völlig anderen Zeit. Und einer
völlig anderen Welt. Es war die Zeit, in der
in England zum letzten Mal ein Mensch öf-
fentlich gevierteilt wurde. Es war die Welt, in
der mehr als zwei Drittel der erwerbstätigen
Bevölkerung ihren Lebensunterhalt in der
Landwirtschaft verdienten. Es war die Zeit, in
der Napoleon auf St. Helena dahinschied, die
erste Fotografie entstand und sich die Post-
kutschen über den Gotthard mühten. Und
es war die Welt, in der die Fabrikarbeit für
Kinder unter zwölf Jahren verboten wurde.
In dieser Zeit hat Caspar Melchior Hirzel die
wichtigsten Merkmale der Volksschule des
19. Jahrhunderts beschrieben (Bild rechts):
Wer die Aufzählung liest, stutzt vielleicht ein
winziges Momentchen bei „Jahresbesoldung“.
Aber sonst? 19. Jahrhundert? Nein, die Liste
beschreibt doch mehr oder weniger die Merk-
male der heutigen Schule. Zwar hat sich in-
nerhalb dieser Strukturelemente das eine oder
das andere geändert. Aber eben: innerhalb.
Die Grundstrukturen sind mehr oder weniger
die gleichen geblieben. Noch immer werden
die Lernenden fein säuberlich nach Alter sor-
tiert. Immer noch grenzt der Stundenplan die
Fächer streng voneinander ab. Immer noch
sind es die Lehrpersonen, die das Wissen
repräsentieren – und es in einheitliche Häpp-
chen gliedern. Immer noch werden Lehrer
vorrangig im Blick auf ihr Fach ausgebildet.
Immer noch ist die Stundenzahl die Bemes-
sungsgrundlage für alles und jedes – sogar für
die Lohnberechnung der Lehrer. Und immer
noch sollen Prüfungen und Zensuren Aus-
kunft über das Lernen und die Leistungen der
Schüler geben.
Mit anderen Worten: Die Schule will die
Lernenden auf das Leben im späten 21. Jahr-
hundert vorbereiten – mit den strukturellen
Denkmustern aus einer Zeit, in der Friedrich
Wilhelm III. König von Preußen und Alexan-
der I. Zar von Russland war, der erste Mensch
die Zugspitze bestiegen hat und – eben – als
in England vor den Augen der Öffentlichkeit
zum letzten Mal ein Mensch gevierteilt wur-
de.
11
1.3
Vertrautes
Unglück
»Das Gehirn ist ein Organismus
zur Abwehr unwillkommener
“ (Ruep 2011)
Neuerfahrungen.
(Peter Sloterdijk)
«
Oder anders: „Schulen funktionieren nur“,
meint Wilfried Schley, „weil sie strukturkon-
servativ sind. [...] Bereits kleinere Verände-
rungen an der Stundentafel im Rahmen der
Schulprogrammentwicklung bringen Unruhe
und Unsicherheit mit. Ängste werden wach
und mobilisieren Abwehrkräfte. Das vertrau-
te Elend ist häufig näher als das unvertraute
Glück“ (Schley 2001). Ähnliches hat William
Shakespeare schon Hamlet in den Mund ge-
legt: „Dass wir die Übel, die wir haben, lieber
ertragen als zu Unbekanntem fliehn.
Ein Grund für die zwanghafte Besessenheit,
12
Man muss nicht zweihundert Jahre gelebt
haben, um zu erkennen: die Welt hat sich
verändert. Radikal. Und in einem Affentem-
po. Doch während „draußen“ kaum ein Stein
mehr auf dem anderen bleibt, zeigt sich die
Schule trotz aller Verfallssymptome beeindru-
ckend innovationsresistent.
Bei Lichte besehen kann das eigentlich nicht
überraschen: „Ein Schulsystem ist per se
einerseits durch seine zwangsläufig rückwärts-
gewandte Programmatik (Reproduktion der
Kulturgüter), andererseits durch seine insti-
tutionelle Struktur in der Tendenz kein Ort
besonders ausgeprägter Innovationskraft oder
gar beseelt von auffallendem Pioniergeist. Je-
doch müssen wir Kinder und Jugendliche auf
eine Welt vorbereiten, von der wir nicht wis-
sen, bestenfalls erahnen können, dass andere
Kompetenzen in einer ungewissen Zukunft
gebraucht werden als diejenigen, die für die
Vergangenheit oder Gegenwart erforderlich
waren und sind.
ein gestriges Paradigma immer wieder aufzu-
polieren: Die Schule hat keine Veränderungs-
tradition. Sie hat keine Übung darin, mit
Wandel umzugehen. Und der Umstand, dass
es nicht (mehr) um kleine Veränderungen
geht, macht die Sache auch nicht einfacher.
Rhetorisch ein bisschen am System herumzu-
doktern, das reicht ganz einfach nicht mehr.
Es braucht einen radikalen Wandel, eine Art
Entwicklungssprung. Der Blick zurück för-
dert dazu jede Menge an Geschichten zutage.
Ein paar Beispiele gefällig?
Beispiel 1: Gotthardpost
Obwohl den Römern der Gotthard als Pass
unter dem Namen Adula Mons bekannt
war, nutzten sie ihn kaum. Grund: Eine
Voraussetzung für einen Waren- und Perso-
nenverkehr über den Gotthard war es, die
Schöllenenschlucht zu erschließen. Erst um
1230 wurde die erste hölzerne Brücke über
die Reuß, die Teufelsbrücke, gebaut und 1595
durch eine steinerne ersetzt. Dann, in der
Folge entwickelte sich der Gotthardsaumweg
im ausgehenden Mittelalter zu einem der
bedeutendsten Alpenübergänge. Ab Ende
des 18. Jahrhunderts wurde die mittlerweile
ausgebaute Straße auch von den Kutschen der
Gotthardpost genutzt. Der stetig steigende
Verkehr machte es nötig, den Gotthardsaum-
weg mit seinem mittelalterlichen Standard zu
einer veritablen Passstraße auszubauen. Und
so geschah es.
Dennoch wird heute niemand mehr mit der
Postkutsche den beschwerlichen Weg über die
holprige Passstraße auf sich nehmen wollen.
Muss er auch nicht. Die Eisenbahn und das
Auto haben die Kutsche verdrängt, der Tun-
nel (und bald auch der Basistunnel) führen
durch den Berg und nicht darüber. Deshalb
1 DER FALSCHE DSCHUNGEL
käme wohl niemand bei lichtem Verstand
auf die Idee, sich mit der Frage zu beschäfti-
gen, die Postkutschen blau zu streichen oder
Leuchtstreifen am Treppchen anzubringen.
Denn es geht überhaupt nicht mehr um Kut-
schen. Es geht um neue Verkehrskonzepte.
Denn die Welt der Menschen, die von Nord
nach Süd reisen, hat sich grundlegend verän-
dert. Und entsprechend mussten und müssen
zu den Verkehrsfragen am Gotthard ganz
andere Fragen gestellt und ganz neue Antwor-
ten gefunden werden.
Beispiel 2: Belichtungszeit
1816 gelang es Joseph Nicéphore Nièpce
mithilfe einer Camera obscura ein Bild
festzuhalten und auf Chlorsilberpapier zu
bannen. Problem nur – er konnte es nicht
fixieren. Aber schon 1826 präsentierte er das
erste Foto der Welt: ein Blick aus seinem Ar-
beitszimmer. Die Belichtungszeit betrug acht
Stunden.
Zwanzig Jahre später wurde es dann möglich,
Negative herzustellen und daraus Positive
zu entwickeln. Das heißt: Fotos konnten
vervielfältigt werden. Damit war der Sieges-
zug der Fotografie praktisch eingeleitet: Das
aufstrebende Bürgertum und die Möglichkeit
der massenhaften Vervielfältigung ebneten
dafür den Weg. Ende des 19. Jahrhunderts
machte die Fotografie große Schritte in ihrer
Entwicklung. Der Zelluloidfilm wurde er-
funden (1887) und bessere Linsen machten
noch bessere Fotos mit kürzerer Belichtungs-
zeit möglich. Bereits 1907 entwickelten
die Gebrüder Lumière den ersten Farbfilm.
Schließlich landete diese Entwicklung bei der
Digitalfotografie. Bereits 1981 gab es einen
ersten Versuch. 1990 fiel dann der eigentliche
Startschuss in die digitale Ära.
Innerhalb von relativ kurzer Zeit war also alles
anders: Noch vor ein paar Jahren musste man
den Film sorgfältig aus der Kamera nehmen,
ihn zum Entwickeln bringen und dann ge-
spannt mehrere Tage auf die Schnappschüsse
warten. Der Wandel kam durch die Ära der
Sofortbilder. Zuerst konnte man innerhalb
eines Tages, später sogar innerhalb von Stun-
den seine Fotos abholen. Aber das ist Schnee
von gestern. Die digitale Fotografie macht
es heute zu einer Selbstverständlichkeit, mit
allen möglichen Geräten Bilder zu machen,
sie sofort anzuschauen, zu bearbeiten, zu ver-
schicken.
Die Welt des Fotografierens hat sich grundle-
gend verändert. Und entsprechend grundle-
gend verändert haben sich die Angebote und
der Umgang der Menschen mit Bildmaterial.
13
1.4 Nebenthemen
Im Gegensatz zur „richtigen“ Welt hat sich im
Bildungswesen substanziell wenig getan. Zwar
wurde und wird verbal allenorts kräftig und
gebetsmühlenartig zum Aufbruch geblasen.
Aber wenn es dann ans Eingemachte geht, er-
lahmt der Eifer schnell einmal und die Klage-
lieder der Ohnmacht klingen vielstimmig aus
den Schulhausfenstern. Die meisten noch so
großspurig angekündigten Reformen wirken
wie eine Grippe: ein bisschen Hüsteln, er-
höhter Puls und rote Köpfe. Und dann kann
man wieder zur Tagesordnung übergehen.
Eben, wie bei einer Grippe. Doch wenn die
Symptome stärker werden, sich häufen, geht
die Taktik „sich stillhalten und warten, bis es
vorbei ist“ nicht mehr auf. Denn die Welt hat
sich nicht nur am Gotthard und beim Foto-
grafieren verändert. Die Bildungssysteme sind
nämlich von den gleichen Menschen bevöl-
kert, die nicht mehr mit der Postkutsche zu
fahren und nicht mehr acht Stunden auf die
Entwicklung
eines
Schwarz-Weiß-Films
zu
warten gewohnt und bereit sind.
Das heißt: Eigentlich stünden der Schule
ganz fundamentale Veränderungen ins Haus.
Doch die (öffentliche) Diskussion verläuft
vornehmlich an der Oberfläche und es sind
Strukturen oder Formalien, die für Schlagzei-
len und rote Köpfe sorgen. Und: Sie entfalten
eine Eigendynamik. Denn alle Themen haben
eine Lobby im Hintergrund, Menschen, die
aus unterschiedlichsten Gründen daran in-
teressiert sind, dass bestimmte Themen und
Strukturen immer wieder hartnäckig und zur
besten Sendezeit auf den Bildschirmen des
kollektiven Bewusstseins erscheinen.
Beispiel 1: Lektionen erteilen
Ein Blick in die Medien macht schnell deut-
lich, was die schulischen Schwerpunktthemen
sind. Immer wieder beliebt sind Strukturdis-
kussionen. Beispiel: Schulstunden (die ja nur
so heißen und eigentlich gar keine Stunden
sind). Angenommen, es wird zur Diskussion
gestellt, die wöchentliche Unterrichtsver-
pflichtung für das pädagogische Personal um
eine Stunde zu erhöhen. Da geht die Post ab.
An Demonstrationen und Versammlungen
14
1 DER FALSCHE DSCHUNGEL
(während der Schulzeit natürlich) wird nicht
weniger als der Zusammenbruch des Bil-
dungssystems und als Folge davon der Unter-
gang des Abendlandes beschworen. Und wie
bei römisch Neun: kein Blick über die hohen
Zäune des Systems. Niemand stellt die Frage,
ob denn Bildung überhaupt in Lektionen
verabreicht werden muss. Ob Schulstunden
wirklich der Rhythmus sind, der das Lernen
im Innersten zusammenhält?
„Schule wird von Monopolisten organisiert.
Stellen Sie sich vor, auch Supermärkte würden
seit über 100 Jahren von einem Monopolisten
gestaltet. Nur zwischen acht und neun Uhr
kann der Konsument Milchprodukte kaufen,
zwischen neun und zehn Uhr frische Früchte,
zwischen zehn und elf Uhr Trockenfrüchte.
Selbstverständlich gäbe es eine umfassende
wissenschaftliche Literatur zur Rechtferti-
gung dieser heiligen Organisation und die
Menschen hätten schon seit Generationen ihr
Leben auf dieses absurde Regelsystem einge-
stellt.“ (Feldmann 2011)
Beispiel 2:
Für wen sind eigentlich Ferien?
Schulferien dienen der Erholung der Lernen-
den und helfen, den Stress abzufedern. Klar!
Und sie folgen in ihrer Staffelung einer Art
pädagogischem Biorhythmus. Auch klar.
Quatsch! Alles Quatsch! Die Sache ist viel
profaner. Und sie hat mit Schule und Lernen
nicht im Entferntesten etwas zu tun. Schul-
ferien sind zur gleichen Zeit eingeführt wor-
den wie die Grundstrukturen des heutigen
Schulwesens. Und man erinnert sich: Damals
haben zwei Drittel der erwerbstätigen Bevöl-
kerung in der Landwirtschaft ihr Auskommen
gefunden. Und hier liegt der Grund für die
Schulferien: Damit die Kinder im Sommer
und im Herbst bei der Ernte helfen konnten.
Die anderen Ferien (an Weihnachten und
Ostern) waren eine Referenz an die Kirche.
Wenn also die Ferien der Ernte dienten,
weshalb haben wir sie denn heute noch? Mit
dem Ergebnis, dass viele Eltern nicht wissen,
was sie während so vieler Wochen mit den
Kindern machen sollen. Denn noch immer
sind die Schulen so organisiert, als wären alle
Mütter den ganzen Tag zu Hause und würden
die Kinder zum Ernteeinbringen benötigt.
Die Zahl der Mütter (oder Väter), die tags-
über zu Hause auf die Kinder warten, hat aber
ebenso drastisch abgenommen wie die Zahl
der Jugendlichen, die in den Ferien Kartoffeln
auflesen.
Beispiel 3: Mit dem Fächerkanon
auf Spatzen schießen
Inhaltlich bilden die Schulfächer das Struk-
turgerüst des gesamten schulischen Bildungs-
wesens. Und dieses Denken in Fächern ist
beileibe keine Errungenschaft der heutigen
Zeit. Im Gegenteil: Die Septem artes li-
berales (Grammatik, Rhetorik, Dialektik,
Arithmetik, Geometrie, Musik, Astrono-
mie) bildeten bereits im Mittelalter eine Art
Fächerkanon. Gegen Ende des Mittelalters
wurde der Rahmen erweitert. Mit dem Ein-
fluss der Reformation wurden nicht nur die
15
Lateinschulen gefördert, auch die deutsche
Sprache in Form von Lesen und Schreiben
sollte den Menschen nahegebracht werden.
Dann im Zeitalter des Barocks begann eine
stärkere Hinwendung zu naturwissenschaft-
lichen Gegenständen und zur realen Welt.
Wesentliche Bereiche des heutigen Fächer-
kanons waren schon auf den Stundenplänen
der Schüler im Barock zu finden: Latein und
Griechisch, Französisch, Naturwissenschaften
(„Realien“), Musik, Deutsch und Mathema-
tik. (Spahn-
Skrotzki 2010)
Schulfächer standen gleichsam immer auch in
einem gesellschaftlichen Kontext und dahin-
ter standen die Interessen von Teilen dieser
Gesellschaft – der Kirche, des Militärs, der
adligen Obrigkeit. Damit stellt sich die Frage:
Welche Interessen stecken heutzutage hinter
dem Fächerkanon?
Bei „Religion“ kann man sich leicht vorstel-
len, dass nicht der Bundesverband der Atheis-
ten das Kreuz hochhält. Aber bei den anderen
Fächern gestaltet sich die Spurensuche nach
den Interessen schwieriger. Sie stecken heute
vornehmlich im System selber. Die Bildungs-
bürokratie ist ebenso wie die Lehrerausbil-
dung aufs engste verzahnt mit dem Denken
in Fächern. Fächer infrage stellen heißt
gleichsam, das System infrage stellen. Und das
grenzt dann schon ein bisschen an Gottesläs-
terung.
Deshalb harmonieren die Interessen der Er-
ziehungswissenschaftler zuerst und vor allem
mit den Interessen der Lehrer und kaum mit
jenen der Lernenden. So kommt beispiels-
weise Fend zur Erkenntnis: „Eine Schule
‚läuft‘ schließlich, wenn zu festen Zeiten in
definierten Räumen Lehrpersonen Schülern
gegenüberstehen und das fächergegliederte
Inhaltsprogramm in genau geplanten metho-
16
dischen Schritten umsetzen.“ (Fend 2008)
Und Tenorth hält fest, dass Unterricht sich
„vereinigt unter der Erwartung, am gleichen
Ort und zur gleichen Zeit das Gleiche mit
dem möglichst gleichen Ergebnis zu lernen“.
Kein Wunder, dass sich für ihn daraus die
Feststellung ergibt, dass Unterricht schwie-
rig sei, weil „Schüler an ihm beteiligt sind“
(Tenorth 2006). Fast wie beim Fußball: Da
verkompliziert sich auch alles durch die An-
wesenheit der gegnerischen Mannschaft.
Entsprechend definieren sich viele Lehrperso-
nen nicht in erster Linie darüber, Lernenden
zum Erfolg zu verhelfen – sondern zuerst und
vor allem über ihr Fach. Dieser Logik folgend
organisieren sie sich in Fachschaften und in
entsprechenden Verbänden. Und die wieder-
um rangeln um den Glanz des Sozialprestiges
ihrer Fächer, damit ihre Mitglieder etwas
mitglänzen können.
Die Teds-M-Studie (Teacher Education and
Development Study: Learning to Teach
Mathematics) stellte angehende Mathematik-
lehrer (Sekundarstufe I) vor die Aufgabe, ihr
fachliches Wissen unter Beweis zu stellen. Die
nebenstehende Aufgabe (siehe links) ist ein
Beispiel daraus. Der Schweizer Lehrernach-
wuchs erhielt in dieser Studie gute Noten.
Super, könnte man meinen. Doch es offen-
barte sich eine ganz andere Seite: Wenn es um
die Arbeit mit den Lernenden ging, gleichsam
um den Umgang mit Menschen, fehlte es
ihnen an Erfahrung und an Kompetenz.
Mit anderen Worten: Sie können zwar gut
rechnen, aber mit den Schülern haben sie
nicht gerechnet. Vor diesem Hintergrund ist
es nur allzu verständlich, dass der Unterricht
deshalb schwierig ist, weil Schüler an ihm
beteiligt sind. Schließlich haben die Lehrer
schon genug mit ihren Fächern zu tun, da
können sie sich ja nicht auch noch um die
1 DER FALSCHE DSCHUNGEL
Lernenden kümmern.
Zwei Männer treffen sich. Fragt der eine:
„Was machen Sie beruflich?“ „Ich bin Lehrer,
ich unterrichte Mathematik.
habe gemeint, Lehrer unterrichten Schüler.“
Dabei ist es längst klar: Wenn ein Lernender
in der Schule erfolgreich lernt, hat das relativ
wenig mit der Fachkompetenz des Lehrers zu
tun. John Hattie bescheinigt in seinen Meta-
analysen der Fachkompetenz nur gerade eine
Effektstärke1
von .09 zu (Hattie 2009). Im
Klartext: praktisch nichts.
Also müsste eigentlich die Lehrerbildung
ganz andere Akzente setzen. Das sehen auch
die schweizerischen Experten so: „Im Blick
auf die Lehrerbildung herrscht weitgehende
Einigkeit, dass die Grundausbildung nicht
nur Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten
des künftigen Berufs zu vermitteln, sondern
zugleich, für manche Experten wesentlich, die
Persönlichkeit der angehenden Lehrkräfte zu
bilden habe. Für das Bestehen im Beruf seien
Haltungen oder Einstellungen wie ‚innere
Gelassenheit‘, ‚Lernfähigkeit‘ oder ‚Offenheit‘
von zentraler Bedeutung.
“ Aha! Und jetzt?
Nichts! „Niemand hat allerdings aus dieser
Annahme abgeleitet, dass der Vorrang der
Fachorientierung aufzugeben sei.“ (Oelkers/
Oser 2000) Noch einmal: Die Fachorientie-
rung steht nicht zu Diskussion.
Eine Arroganz sondergleichen. Denn im
1
Die
Effektstärke
ist
ein
Maß
für
die
Größe