1843 – Die berühmte Opernsängerin Pauline Viardot reist nach Russland, wo die Eisenbahnstrecken gerade ausgebaut werden und europäische Ideen auf der Tagesordnung stehen. An ihrer Seite der Kunstkritiker Louis Viardot, ihr Ehemann. Während Pauline in St. Petersburg auftritt, kann ein Schriftsteller im Publikum seinen Applaus kaum im Zaum halten. Iwan Turgenew wird von nun an der ständige Begleiter der Viardots sein: Es entfaltet sich eine lebenslange Dreiecksbeziehung, die unvergleichlich den Geist des Liberalismus verkörpert, wie er sich zwischen Tradition und Moderne auszubreiten beginnt.

 

 

 

 

Orlando Figes

 

DIE EUROPÄER

 

Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur

 

Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter

 

 

Hanser Berlin

 

 

Für meine Schwester Kate

 

 

Wenn sich die Künste aller Länder mit ihren jeweiligen Vorzügen an den wechselseitigen Austausch gewöhnt haben, wird der Charakter der Kunst überall auf unabsehbare Weise bereichert werden, ohne dass sich das Genie verändert, das jeder Nation eigen ist. So wird sich eine europäische Schule anstelle der nationalen Sekten herausbilden, welche die große Künstlerfamilie immer noch trennen; und dann eine universelle Schule, die mit der Welt vertraut und der nichts Menschliches fremd sein wird.

Théophile Thoré, Des tendances de l’art au XIXe siècle (1855)

 

 

Das Geld hat den Schriftsteller emanzipiert, das Geld hat die modene Literatur geschaffen.

Émile Zola, Das Geld in der Literatur (1880)

 

 

»Sie sind doch eine Art Ausländer«, sagte Gertrude.

»Eine Art – ja, das stimmt wohl. Aber wer könnte sagen, welche Art Ausländer genau? Wir sind noch nicht dazu gekommen, diese Frage zu klären. Solche Menschen gibt es nämlich. Die ihr Land, ihre Religion, ihren Beruf nicht zu benennen wissen.«

Henry James, Die Europäer (1878)

 

 

Inhalt

 

Prolog

 

1 Europa 1843

2 Eine Revolution auf der Bühne

3 Die Künste im Zeitalter der technischen Vervielfältigung

4 Europäer in Bewegung

5 Europa beim Spiel

6 Das Land ohne Musik

7 Kultur ohne Grenzen

8 Der Tod und der Kanon

 

Epilog

 

Anhang

Dank

Register

 

 

 

 

 

Prolog

 

Die erste Dampflokomotive ließ den Bahnhof Saint-Lazare auf ihrer Pionierfahrt nach Brüssel an einem sonnigen Samstagmorgen, dem 13. Juni 1846, um 7.30 Uhr hinter sich. Zwei weitere Lokomotiven folgten ihr, während die Menge jubelte und die Kapelle zu ihrer Verabschiedung spielte. Jeder der drei Züge bestand aus 20 offenen Waggons, die mit der französischen und der belgischen Trikolore geschmückt waren. Baron James de Rothschild hatte 1500 Passagiere eingeladen, um die Eröffnung der Strecke von Paris nach Brüssel zu feiern, deren Bau sein Unternehmen, die Compagnie des chemins de fer du Nord, kurz zuvor mit der Abzweigung von der französischen Hauptstadt nach Lille beendet hatte.

Es war nicht die erste internationale Eisenbahnlinie. Drei Jahre zuvor, 1843, hatten die Belgier eine Verbindung von Antwerpen nach Köln in der preußischen Rheinprovinz eingeweiht. Doch die Strecke von Paris nach Brüssel war von besonderer Bedeutung, da sie eine Höchstgeschwindigkeitsroute zwischen Frankreich und den Niederlanden, Großbritannien (über Ostende oder Dünkirchen) und den deutschsprachigen Ländern herstellte. Die französische Presse verkündete, die neue Eisenbahn markiere den Beginn der Einigung Europas unter der kulturellen Vorherrschaft Frankreichs. »Ausländer einzuladen, damit sie unsere Künste, unsere Institutionen und alles, was unsere Größe ausmacht, zu Gesicht bekommen, ist die verlässlichste Methode, die gute Meinung über unser Land in Europa zu festigen«, argumentierte die Kommission, die den Bau der Strecke nach Lille genehmigt hatte.1

Der erste Zug hatte die offiziellen Würdenträger an Bord: die Ducs de Nemours und de Montpensier, zwei Söhne des französischen Königs, begleitet von französischen und belgischen Ministern, Polizeichefs und verschiedenen Berühmtheiten, unter anderen den Schriftstellern Alexandre Dumas, Victor Hugo und Théophile Gautier sowie dem Maler Jean Auguste Dominique Ingres. Diese Vorhut, die mit der unerhörten Geschwindigkeit von 30 Kilometern pro Stunde aus Paris abfuhr, erreichte Lille in der brütenden Hitze des Nachmittags. Die Reisenden, deren zerzaustes Haar und elegante Kleidung nach der Fahrt unter freiem Himmel staubbedeckt waren, stiegen an einem provisorischen Bahnhof außerhalb der Festungswälle aus. Dort wurden sie von den führenden Politikern der Stadt, dem Erzbischof von Cambrai und einer berittenen Ehrengarde mit französischen und belgischen Flaggen begrüßt. Nachdem eine Militärkapelle die Nationalhymnen gespielt hatte, schritt die Prozession der Honoratioren durch die geschmückten Straßen, auf denen sich so große Menschenmengen versammelt hatten, dass die Nationalgarde kaum die Ordnung aufrechterhalten konnte. Diebe waren überall, sobald die Getränke knapp wurden, kam es zu chaotischen Szenen, und die Alarmglocken läuteten, als ein Feuer im Justizpalast ausbrach.2

Die Festlichkeiten begannen mit einem prächtigen Bankett, das Rothschild für 2000 Gäste in einem riesigen Festzelt auf der Stätte des künftigen Bahnhofs abhielt, der damals innerhalb der mittelalterlichen Mauern errichtet wurde. Sechzig Köche und 400 Kellner servierten pochierten Lach in Béchamelsauce, außerdem York-Schinken mit Früchten, Wachteln au gratin, Rebhühner à la régence sowie Sahnebohnen, verschiedene Desserts und französische Weine. Die Trinksprüche begannen: »Auf die Einheit von Frankreich und Belgien!«, »Auf den internationalen Frieden!«, und Rothschild hielt eine tief empfundene Rede darüber, dass die Eisenbahn die Nationen Europas einander näherbrächte.3

Bei Anbruch des Abends fand ein Monsterkonzert auf der Esplanade statt, wo Berlioz die Erstaufführung seiner Grande symphonie funèbre et triomphale durch 400 Musiker aus den örtlichen Garnisonen dirigierte. Die Organisatoren hatten auf zwölf Kanonen bestanden, die während der letzten Klänge der Apotheose abgefeuert werden sollten. Dazu kam es jedoch nicht, da man die Zünder verloren hatte. Immerhin wurden zwei Kanonen mit einer Zigarre gezündet, deren Lunten aber in der Luft verpufften, was manche Zuschauer glauben ließ, das sei geplant gewesen.4

Berlioz war beauftragt worden eine Kantate, »Le chant des chemins de fer«, zu einem Text des Schriftstellers Jules Janin zu komponieren, um damit die Ideale der Stunde – internationaler Friede und völkerübergreifende Bruderschaft – zu feiern. Die Aufführung der Kantate für einen Solotenor, Orchester und mehrere Chöre folgte dem Konzert auf der Esplanade während eines Banketts im Hôtel de Ville. »Die Kantate wurde mit ungewöhnlichem Schwung und frischen Stimmen gesungen«, berichtete Berlioz seiner Schwester Nanci. »Aber als ich im Nachbarzimmer ein Gespräch mit den Ducs de Nemours und Montpensier führte, die mich zu sich gebeten hatten, stahl jemand meinen Hut und die Notenblätter der Kantate.«5 Die Partitur wurde wiedergefunden, der Hut jedoch nicht.

Um 2 Uhr morgens setzte der Konvoi der Feiernden seine Reise nach Brüssel fort. In Kortrijk, dem ersten belgischen Ort, erschien die gesamte Bevölkerung am Bahnhof, um die außerplanmäßigen Züge aus Frankreich willkommen zu heißen. In Gent hielt man eine Militärparade und eine Kanonade ab. Auf dem letzten Streckenabschnitt, von Mechelen an, fuhren die beiden ersten Züge nebeneinander und trafen gleichzeitig, unter dem Jubel der versammelten Menschen, am Bahnhof von Brüssel ein. Die französischen Prinzen wurden auf dem Bahnsteig vom belgischen König Leopold und seiner französischen Frau Louise von Orléans, der älteren Schwester der Prinzen, empfangen. Nach einem Festessen im Grand Palace veranstaltete die Belgische Eisenbahn einen Ball im neu eröffneten Gare du Nord. Der Bahnhof wurde in einen Ballsaal umgewandelt, indem man einen Holzfußboden über den Gleisen verlegte, Kronleuchter an das Glasdach hängte und Wagenladungen von Tulpen aus Holland importierte. »Nie haben wir einen so großartigen Ball wie diesen erlebt«, behauptete der Korrespondent von Le National.6

Früh am nächsten Morgen kehrten die Besucher aus Frankreich nach Paris zurück. Die 330 Kilometer lange Reise dauerte lediglich zwölf Stunden – ein Viertel der Zeit, die man gewöhnlich mit der Kutsche, dem schnellsten Verkehrsmittel vor der Eisenbahn, benötigte.

Bald wurden Landesgrenzen überall von Zügen überquert. Eine neue Ära der europäischen Kultur hatte begonnen. Künstler und ihre Werke konnten sich nun viel leichter über den Kontinent bewegen. Berlioz benutzte die Verbindung von Paris nach Brüssel 1847 auf einer Konzertreise nach Russland. Ddamals gelangte er mit der Eisenbahn nur bis Berlin, doch 20 Jahre später legte er die ganze Strecke von Paris nach St. Petersburg mit dem Zug zurück. Die Eisenbahn wurde zum gängigen Reisemittel für Künstler und ihre Werke: Orchester und Chöre, Opern- und Theaterensembles, Wanderausstellungen, Schriftsteller auf Lesereisen. Das Gewicht vieler Kunstobjekte, das häufig eine enorme Anzahl von Pferden und Kutschen erforderte, ließ sich mit der Dampfkraft mühelos bewältigen. Ein internationaler Markt eröffnete sich für billige Massenreproduktionen von Gemälden, Büchern und Notenblättern. Das moderne Zeitalter der Auslandsreisen sollte beginnen und viel mehr Europäern ermöglichen, ihre Gemeinsamkeiten zu erkennen. Es gestattete ihnen, in diesen Werken ihr eigenes Europäertum zu entdecken, das heißt die Werte und Ideen, die sie mit anderen europäischen Völkern ungeachtet ihrer separaten Nationalitäten teilten.

Wie diese europäische Kultur geschaffen wurde, ist das Thema dieses Buches. Es soll erklären, wie es geschah, dass um 1900 dieselben Bücher überall auf dem Kontinent gelesen, dieselben Gemälde reproduziert, dieselbe Musik daheim gespielt oder in Konzertsälen angehört und dieselben Opern in allen bedeutenden Theatern Europas aufgeführt wurden. Kurz, wie der europäische Kanon, der die Grundlage der heutigen Hochkultur nicht nur auf diesem Kontinent bildet, sondern allerorten auf dem Globus, wo sich Europäer niederließen, im Eisenbahnzeitalter entstand.

Die Europäer erzählt eine internationale Geschichte. Das Buch betrachtet Europa als Ganzes, nicht untergliedert in Nationalstaaten oder geografische Zonen wie in der Mehrheit der europäischen Geschichtswerke, die sich zumeist auf die Rolle der Kultur für die nationalistischen Bewegungen und staatenbildenden Projekte des 19. Jahrhunderts konzentrierten statt auf die Künste als einheitsstiftende Kraft zwischen den Nationen. Mein Ziel ist es, mich Europa als einem Raum des kulturellen Transfers, der Übersetzung und des Austausches über nationale Grenzen hinweg zu nähern, aus dem eine europäische Kultur – eine internationale Synthese künstlerischer Formen, Ideen und Stile – hervorgehen und Europa von der übrigen Welt abheben sollte.7 Wie Kenneth Clark einst bemerkte, haben sich alle großen Fortschritte der Zivilisation – zu denen die glänzenden Leistungen der europäischen Kultur im 19. Jahrhundert unzweifelhaft gehörten – in Zeiten des äußersten Internationalismus vollzogen, in denen Menschen, Ideen und künstlerische Schöpfungen ungehindert zwischen den Nationen zirkulieren konnten.8

In mancherlei Hinsicht liefert das Buch eine Erforschung des Eisenbahnzeitalters als erster Periode der kulturellen Globalisierung, denn genau das repräsentierte die Schaffung eines europäischen Marktes für die Künste im 19. Jahrhundert. Viele widersetzten sich diesem Prozess von Anfang an – am offensichtlichsten Nationalisten, die fürchteten, dass der internationale Fluss des kulturellen Verkehrs die separate Kultur und Originalität ihrer eigenen Nation aushöhlen werde –, doch niemand konnte ihm Einhalt gebieten. Auf eine Weise, die sich der politischen Kontrolle jedes Nationalstaats entzog, waren die großen technischen und wirtschaftlichen Wandlungen des 19. Jahrhunderts (die Revolution der Massenkommunikation und des Verkehrswesens, die Erfindung des lithografischen Drucks und der Fotografie, die Vorherrschaft der freien Marktwirtschaft) die verborgenen Antriebskräfte der Schaffung einer »europäischen Kultur« – eines supranationalen Raumes für den Umlauf von Ideen und Kunstwerken über den gesamten Kontinent hinweg.

Den Kern des Buches bildet die neue Art von Beziehung zwischen den Künsten und dem Kapitalismus, die sich im 19. Jahrhundert entfaltete. Es enthält genauso viel über die Ökonomik der Künste (Produktionstechniken, Betriebsführung, Marketing, Werbung, soziale Netzwerke, das Problem der Bekämpfung der Piraterie) wie über die Kunstwerke selbst. Mein Augenmerk liegt auf Kunstformen, die durch ihre Reproduktion für den Markt – die wirtschaftliche Basis von Literatur, Musik und Malerei – am stärksten in das kapitalistische System eingebunden waren oder die als Wirtschaftsunternehmen funktionieren konnten, nachdem sie staatliche Subventionen verloren hatten, wie beispielsweise die Oper. Letzten Endes war es der Markt, der den europäischen Kanon bestimmte, indem er vorgab, welche Werke überleben und welche verloren gehen und in Vergessenheit geraten würden.

Drei Personen stehen im Mittelpunkt dieses Buches: der Schriftsteller Iwan Turgenew (1818–1883), die Sängerin und Komponistin Pauline Viardot (1821–1910), zu der Turgenew eine lange und intime Beziehung unterhielt, sowie ihr Ehemann Louis Viardot (1800–1883), ein heute vergessener, doch zu seiner Zeit bedeutender Kunstkritiker, Gelehrter, Verleger, Theaterdirektor, republikanischer Aktivist, Journalist und Literaturübersetzer ins Französische aus dem Russischen und Spanischen. Letztlich stand Viardot für all das, was dem Künstler gemeinhin abgeht, worauf er jedoch angewiesen ist. Ihre Biografien sind in die Erzählung eingeflochten, die ihnen durch Europa folgt. Alle drei lebten zu unterschiedlichen Zeiten in Frankreich, Spanien, Russland, Deutschland und Großbritannien und reisten ausgiebig durch die übrigen Länder. Das Buch betrachtet die Verbindung zu den ihnen bekannten Menschen – nahezu alle, die auf der europäischen kulturellen Bühne eine wichtige Rolle spielten – und erforscht dabei jene Fragen, die sich auf sie als Kunstschaffende und Förderer der Künste auswirkten.

Auf ihre eigene Art waren Turgenew und die Viardots Vertreter der Künste, die sich dem Markt und seinen Herausforderungen anpassten. Pauline war in eine Familie von umherziehenden Sängern hineingeboren worden; sie besaß unternehmerischen Geist und handelte als Frau überaus unabhängig für diese patriarchalische Zeit. Louis war in den frühen Jahren ihrer Ehe Paulines Manager. Als Direktor des Théâtre Italien, eines der großen Opernhäuser Europas, hatte er rasch gelernt, sich in der freien Wirtschaft zurechtzufinden, doch sein Geschäftssinn wurde stets durch sein akademisches Temperament gemäßigt. Was Turgenew betraf, so gehörte er der russischen Aristokratie an, von deren Söhnen man erwartete, dass sie in den öffentlichen Dienst eintraten und von ihren Landgütern lebten. Am Beginn seiner Laufbahn als Schriftsteller hatte er kein Verständnis für geschäftliche Angelegenheiten.

Durch ihre weitläufigen Verbindungen waren Turgenew und die Viardots wichtige kulturelle Vermittler, die Schriftsteller, Musiker und andere Künstler in großen Teilen Europas förderten und ihnen halfen, internationale Märkte für ihre Arbeit zu erschließen. Die Besucher ihrer Salons in Paris, Baden-Baden und London verkörperten ein Who’s Who der europäischen Künste, der High Society und Politik.

Diese internationale Kultur verschwand bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Turgenew und die Viardots waren Kosmopoliten, Mitglieder einer europäischen Kulturelite, die sich überall auf dem Boden des Kontinents zu Hause fühlten, solange ihre demokratischen Prinzipien nicht in Mitleidenschaft gezogen wurden, und die dabei nichts von ihrem Nationalbewusstsein einbüßten. Sie fanden ihr Heim in der europäischen Zivilisation. Burkes berühmter Ausspruch, dass kein Europäer in irgendeinem Teil Europas ganz und gar im Exil lebe, hätte für sie erfunden sein können.9