cover

Margaret Millar

Die Feindin

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Elizabeth Gilbert

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1964 bei

Random House, Inc., New York,

und Victor Gollancz Ltd., London,

erschienenen Originalausgabe: ›The Fiend‹

Copyright © 1964 by Margaret Millar

Die deutsche Erstausgabe erschien

1965 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration

von Tomi Ungerer

 

 

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 20276 2 (14. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60468 9

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

 

 

 

[5] 1

Es war Ende August, und die Kinder wurden langsam ihrer Sommerfreiheit überdrüssig. Sie hatten zu viele Stunden damit zugebracht, ihren eigenen Launen nachzugeben. Arme und Beine waren zerkratzt, zerschunden und voller Blasen vom Giftsumach. Das Meerwasser hatte ihre Haare zu Stroh gebleicht, und die Sonne hatte grausame rote Sonnenbrandflecken auf ihren Backenknochen und Nasen zurückgelassen. Alle Bäume waren erklettert, alle Pfade ausgekundschaftet, alle Klippen durchforscht und allen Wellen war getrotzt worden. Und als könnten sie die Rückkehr zur alten Ordnung gar nicht mehr erwarten, begannen sie sich langsam auf dem Schulspielplatz herumzudrücken.

Dasselbe tat der Mann in dem alten grünen Zweisitzer. Jeden Tag um die Mittagszeit brachte Charlie Gowen seine belegten Brote und einen Pappbehälter Milch mit und parkte seinen Wagen gegenüber vom Schulspielplatz, der durch einen Drahtzaun und einige kümmerliche Geranien von den Schaukeln und Klettergerüsten getrennt war. Hier saß er, aß und trank und beobachtete.

Er wusste, dass er nicht dort sein sollte. Es war gefährlich, in der Nähe eines solchen Ortes gesehen zu werden.

»– wo Kinder zirkulieren. Verstehen Sie, was das heißt, Gowen?«

[6] »Ich glaube schon, Sir.«

»Wissen Sie, was zirkulieren bedeutet?«

»Ich glaube, nicht so ganz.«

»Stellen Sie sich bloß nicht dumm, Gowen. Sie waren doch zwei Jahre auf dem College.«

»Ich war damals krank. Und wenn man krank ist, behält man die Dinge nicht gut.«

»Dann werd ich's Ihnen deutlich sagen. Sie haben sich von allen Orten fernzuhalten, die von Kindern aufgesucht werden – Parks, gewisse Strecken am Strand, Samstagnachmittagsvorstellungen im Kino, Schulspielplätze –«

Das waren natürlich unmögliche Bedingungen. Schließlich konnte er doch nicht jedes Mal, wenn er ein Kind sah, kehrtmachen und in entgegengesetzter Richtung davonlaufen. Sie waren ja überall, wo man hinschaute, und zu allen Zeiten. Einmal war er sogar um Mitternacht, als er allein spazieren ging, einem Jungen und einem Mädchen begegnet, die kaum zwölf waren. Schimpfend hatte er sie aufgefordert, nach Hause zu gehen, sonst riefe er die Polizei. Sie waren in der Dunkelheit untergetaucht, und er hatte sie nie wieder gesehen, obwohl er danach acht Tage lang jede Nacht denselben Weg gegangen war. Sein Gewissen hatte ihn geplagt. Er liebte Kinder, und statt dem Jungen und dem Mädchen zu drohen, hätte er sie lieber fragen sollen, warum sie so spät noch auf der Straße wären. Dann hätte er sie nach Hause bringen und ihren Eltern eine Strafpredigt halten sollen, besser auf ihre Kinder aufzupassen.

Er starrte auf sein zweites Butterbrot. Das erste hatte die Leere seines Magens nicht füllen können, und auch das zweite würde nicht genügen. Es war gerade, als hätte er nur [7] Wolken und kleine Bissen Zwielicht gegessen, aber so durfte er sich seinem Bruder Benjamin gegenüber nicht ausdrücken, der den Lunch für sie beide zurechtmachte. Er musste sehr vorsichtig sein mit dem, was er zu Benjamin sagte. Der winzigste phantastische Gedanke oder ausgefallene Satz, und schon bekam Bens Gesicht diesen gespannten, starren Ausdruck, der Charlie immer an ihre tote Mutter erinnerte. Und dann begannen die Fragen: Wolken essen, Charlie? Kleine Stückchen Zwielicht? Wo kriegst du bloß solche verrückten Ideen her? Sonst fehlt dir doch nichts, wie? Hast du Louise wieder mal angerufen? Glaubst du nicht, sie würde sich freuen, von dir zu hören? Sag mal, Charlie, bedrückt dich irgendwas? Sicher nicht?…

Diesmal war er schlauer gewesen. Statt von Wolken und Zwielicht zu faseln, hatte er am Morgen einfach gesagt: »Ich brauche mehr zu essen, Ben.«

»Warum?«

»Warum? Na, weil ich Hunger habe. Ich arbeite doch schwer. Ich dachte, vielleicht ein paar Pfannkuchen und ein paar Stücke Apfelkuchen –«

»Nur für dich?«

»Klar, nur für mich, für wen denn sonst? Ach, jetzt begreife ich erst, was du denkst. Das ist ja schon über zwei Jahre her, Ben. Und der kleine Mexikanerjunge war doch halb verhungert. Alles wäre in Ordnung gewesen, wenn sich dieses unverschämte Weib nicht eingemischt hätte. Der Junge hat das Butterbrot gegessen, es hat ihn gesättigt, und er hat sich zur Abwechslung mal wohl gefühlt. Mein Gott, Ben, ist es denn ein Verbrechen, ausgehungerte Kinder zu füttern?«

[8] Ben sagte nichts darauf. Er klappte nur den Deckel der Frühstücksbüchse mit den üblichen zwei Broten und dem Pappbehälter mit Milch zu und wechselte das Thema. »Louise hat gestern Abend angerufen, als du weg warst. Sie kommt heute nach dem Abendbrot her. Ich drück mich und geh in ein Kino und lass euch beide ein Weilchen allein.«

»Was meinst du, Ben? Ist es ein Verbrechen?«

»Louise ist eine feine junge Person. Sie könnte jemandes Glück sein.«

»Wenn ich ein ausgehungertes Kind wäre, und jemand gäbe mir was zu essen –«

»Halt den Mund, Charlie. Du hungerst nicht, du bist zu dick. Und du bist alles andere als ein Kind. Du bist zweiunddreißig Jahre alt.«

Es war nicht der Befehlston, der Charlie zum Schweigen brachte, es war die grausame Anspielung auf sein Alter. Er selber dachte nur selten daran, weil er sich so jung vorkam; kaum älter als das kleine Mädchen, das mit dem Kopf nach unten von der obersten Stange des Klettergerüsts herunterhing.

Sie war ungefähr neun. Nachdem er jetzt seit vierzehn Tagen unparteiisch alle beobachtet hatte, war er zu der Erkenntnis gekommen, dass er sie am besten leiden mochte.

Sie war nicht die Hübscheste und so dünn, dass Charlie ihre Taille mit seinen beiden Händen hätte umspannen können, aber sie hatte eine gewisse Unverschämtheit an sich, die ihn gleichermaßen faszinierte und ängstigte. Wenn sie am Klettergerüst irgendeinen neuen waghalsigen Trick ausprobierte, schien sie das Gesetz der Schwerkraft [9] herauszufordern und schienen die Stangen zu versuchen, sie daran zu hindern. Wenn sie herunterfiel – und sie fiel häufig herunter –, sprang sie so natürlich wie ein Ball vom Boden auf. Binnen fünf Sekunden war sie wieder auf der obersten Stange und tat so, als wäre gar nichts passiert. Und Charlies Herz, das ausgesetzt hatte und dessen Rhythmus vor Erleichterung und Ärger gestört war, fing jedes Mal doppelt so schnell wieder zu schlagen an.

Die andern Kinder nannten sie Jessie, und auch Charlie in seinem Auto mit den geschlossenen Fenstern nannte sie so.

»Vorsicht, Jessie, Vorsicht. Selbstsicherheit ist ja ganz schön, aber du könntest dir die Knochen brechen, Kind; auch wenn es erst neun Jahre alte Knochen sind. Ich sollte deine Eltern warnen, Jessie. Wo wohnst du denn?«

Die Aufsicht, ein Student, der am städtischen College Körpertraining als Hauptfach absolviert hatte, machte den Ansager in einem Korbballspiel der obersten Klasse. Die Sonne brannte durch seinen Bürstenschnitt, er war durstig, und seine Augen brannten von dem Staub, den die scharrenden Füße aufwirbelten, aber er war so gefesselt von dem Spiel, als würde es im Kolosseum von Los Angeles ausgetragen. Sein Name war Scott Roberts, er war zwanzig Jahre alt, und die Kinder hatten einen Riesenrespekt vor ihm, weil er mit einer Hand einen Klimmzug machen konnte und einen schnittigen Sportwagen fuhr.

Er sah die beiden kleinen Mädchen über das Spielfeld laufen und ignorierte sie, so lange es ging; aber nicht lange, denn eins von ihnen weinte.

Er pfiff und unterbrach das Spiel. »O. K., Jungs, es steht [10] bei fünf.« Und zu der Kleinen, die weinte: »Was ist los, Mary Martha?«

»Jessie ist runtergefallen.«

»Man sieht's, man sieht's.« Scott wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Wenn Jessie runtergefallen ist, warum weint sie dann nicht?«

»Fällt mir gar nicht ein«, sagte Jessie hochnäsig. Es tat ihr zwar an allen möglichen Stellen weh, aber außer einer Amputation hätte nichts sie vor den Jungens aus der obersten Klasse zum Weinen gebracht. Sie war in drei von ihnen verschossen, und einer hatte sie sogar angesprochen. »Mary Martha weint über alles, auch bei den traurigen Stellen im Fernsehen und wenn jemand hinfällt.«

»Wie geht's deinen Händen? Besser als vorige Woche?«

»Sie sind O. K.«

»Zeig mal her, Jessie.«

»Hier, vor allen Leuten?«

»Auf der Stelle; hier vor allen Leuten, die so neugierig sind herzuschauen.«

Er brauchte seine Pappenheimer nicht einmal anzusehen, um sich verständlich zu machen. Alle hatten sich augenblicklich weggedreht und beschäftigten sich nun mit andern Dingen: Sie ließen den Ball aufschlagen, befestigten ihre Schnürsenkel, zogen sich die Shorts hoch oder strichen sich das Haar zurück.

Jessie zeigte ihre Hände, und Scott betrachtete sie mit hochgezogenen Brauen. Die Handflächen waren nur noch ein Meer von Blasen in jedem Stadium, einige hatten sich neu gebildet und waren noch voll Wasser, einige waren offen und nässten und andere waren mit Schorf bedeckt.

[11] Scott schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Ich habe dir doch schon vorige Woche gesagt, du sollst deine Mutter bitten, jeden Morgen und jeden Abend Alkohol auf deine Hände zu tun, um die Haut fester zu machen. Das hast du aber nicht getan.«

»Nein.«

»Hast du keine Mutter?«

»Natürlich. Einen Vater hab ich auch, und einen Bruder in der Mittelschule; eine Tante und einen Onkel nebenan – sie sind nicht richtig verwandt mit uns, aber ich nenne sie so, weil sie mir so viele Sachen schenken et cetera – und dann eine Menge Vettern und Cousinen in Kanada und New Jersey.«

»Die Cousinen sind zu weit weg, um dir zu helfen«, sagte Scott. »Aber sicher könnte dir einer von den andern Alkohol auf deine Hände tun.«

»Ich könnte es auch selber machen, wenn ich wollte.«

»Aber du willst nicht.«

»Es brennt so.«

»Ist denn ein bisschen Brennen nicht immer noch besser als eine schwere Blutvergiftung?«

Jessie wusste nicht, was eine Blutvergiftung ist, aber um den großen Jungens zu imponieren, sagte sie, sie habe überhaupt keine Angst davor. Diese Bemerkung reizte Mary Martha, den ganzen medizinischen Ablauf zu schildern, den sie gesehen hatte, als der Arzt selber Blutvergiftung hatte, ohne es zu erkennen, bis er in Krämpfe verfiel.

»Und dann war es zu spät?«, fragte Jessie und versuchte, nicht allzu interessiert zu scheinen. »Ist er gestorben?«

»Nein, er konnte nicht. Er ist jede Woche der Held. Aber [12] er hat furchtbar gelitten. Du hättest sehen sollen, was für Gesichter er geschnitten hat; schlimmer als meine Mutter, wenn sie sich die Augenbrauen zupft.«

Scott unterbrach sie brüsk: »Genug, ihr zwei, haut ab. Es handelt sich nicht um Mutters Augenbrauen oder um Dr. Dingsdas Krämpfe. Es handelt sich um Jessies Hände. Sie sind in einem schauerlichen Zustand, und etwas muss geschehen.«

Jessie wurde rot und verbarg ihre Hände in den Taschen ihrer Shorts. Während sie auf dem Klettergerüst herumgeturnt war, hatte sie den Schmerz kaum gemerkt. Aber jetzt, wo sich die ganze Aufmerksamkeit auf sie konzentrierte, war er fast unerträglich geworden.

Scott sah das. Er berührte sie leicht an der Schulter, und beide setzten sich in Bewegung auf das hintere Eingangstor zu, gefolgt von einer aufgeregten, schwitzenden Mary Martha. Keiner von ihnen achtete auf den grünen Zweisitzer.

»Es ist besser, du gehst jetzt nach Hause«, meinte Scott, »und nimmst ein warmes Bad. Dann nimmst du ein Stück Watte und betupfst deine Hände mit Alkohol. Und lass die Kletterstangen sein, bis die neue Haut gewachsen ist. Sprich lieber mit deiner Mutter, Jessie.«

»Das brauch ich gar nicht. Wenn ich jetzt am Mittag nach Hause gehe und ein Bad nehme, denkt sie sowieso, dass ich am Sterben sein muss.«

»Vielleicht bist du's auch«, sagte Mary Martha, bereitwillig darauf eingehend. »Stell dir das vor, ich an der Seite meiner sterbenden besten Freundin.«

»Ach, schweig.«

[13] »Ich versuche doch nur zu helfen.«

»Diese Art von Hilfe solltest du dir lieber für deinen größten Feind aufsparen«, sagte Scott und drehte sich um, um zu seinem Korbballspiel zurückzukehren.

Mit einem Seitenblick sah er den alten grünen Zweisitzer von der Bordschwelle abschwenken. Was seine Aufmerksamkeit erregte, war der Umstand, dass seine Fenster geschlossen waren, obwohl es ein sehr heißer Tag war. Außerdem waren sie so schmutzig, dass man den Fahrer nicht sehen konnte, so dass der Wagen sich selbsttätig fortzubewegen schien. Eine Minute später bog er in eine Querstraße ein und war verschwunden.

Auch die beiden Mädchen waren nicht mehr zu sehen.

»Wir könnten erst noch zu mir gehen und Zimttoast essen, um Kräfte zu sammeln«, schlug Mary Martha vor.

»Meine Kräfte sind O. K., aber ich hätte nichts gegen Zimttoast. Vielleicht könnten wir ihn uns sogar selber machen.«

»Nein, meine Mutter wird wohl zu Hause sein. Sie ist immer zu Hause.«

»Warum eigentlich?«

»Sie bewacht das Haus.«

Jessie hatte diese Frage schon wiederholt gestellt und immer dieselbe Antwort bekommen. Sie erweckte bei ihr jedes Mal die widersinnige lebhafte Vorstellung von Mary Marthas Mutter, die groß und furchtbar mit einem Gewehr auf dem Schoß auf der Veranda saß. Die wirkliche Mrs. Oakley war klein und zerbrechlich und litt an allen möglichen ausgefallenen Allergien.

»Warum muss sie denn zu Hause bleiben und das Haus [14] bewachen? Sie braucht doch bloß die Türen abzuschließen«, sagte Jessie.

»Verschlossene Türen sind für ihn kein Hindernis.«

»Du meinst, für deinen Vater?«

»Ich meine meinen Exvater.«

»Aber du kannst doch keinen Exvater haben. Ich habe meine Tante Virginia gefragt, und sie hat gesagt, eine Frau kann sich von ihrem Mann scheiden lassen, und dann ist er ihr Exmann. Aber von seinem Vater kann man sich nicht scheiden lassen.«

»Doch, man kann. Meine Mutter und ich haben's bereits getan.«

»Wollte er das von dir?«

»Es war ihm egal.«

»Wenn ich mich von meinem Vater scheiden ließe«, sagte Jessie, »würde ihm das Herz weh tun.«

»Woher weißt du denn das? Hat er dir das schon mal gesagt?«

»Nein. Aber ich hab ihn auch nie gefragt.«

»Dann weißt du's also nicht genau.«

Die Jacarandabäume, nach denen die Straße hieß, standen in voller Blüte, und ihre fallenden Blütenblätter bedeckten Rasen und Bürgersteige und sogar den Fahrdamm mit violettem Konfetti. Einige blieben in Jessies kurzem dunklen Haar und Mary Marthas blondem Pferdeschwanz hängen.

»Du, ich wette, wir sehen aus wie Bräute«, sagte Jessie. »Wir könnten so tun –«

»Nein.« Mary Martha war schon dabei, die Blütenblätter aus ihrem Haar zu streifen, als wären es Läuse. »Ich will das nicht.«

[15] »Du bist doch sonst immer so für Theaterspielen.«

»Ja, aber was Vernünftiges.«

Jessie wusste, dass das nicht stimmte, denn Mary Marthas Lieblingsrolle war Kinderspion für das F.B.I.* [* Federal Bureau of Investigation = Bundeskriminalamt der USA] Aber sie zog es vor, nicht zu widersprechen. Der Lunch, den sie zum Spielplatz mitgenommen hatte, war gegen zehn Uhr bereits verschlungen, und sie war mehr als bereit für Mrs. Oakleys Zimttoast. Die Oakleys wohnten in einem riesigen Rotholzhaus, Jacaranda Road 319, das von immergrünen Eichen und Eukalyptusbäumen umgeben war. Mrs. Oakleys Eltern hatten diese Bäume gepflanzt und das Haus gebaut. Als Jessie das Grundstück zum ersten Mal sah, hatte sie angenommen, dass Mary Marthas Familie schrecklich reich sei. Aber bei späteren Besuchen entdeckte sie dann, dass auf dem Dachboden nichts als Gerümpel war, dass in der Garage für vier Wagen nur Mrs. Oakleys kleiner Volkswagen und Mary Marthas Fahrrad und dass die oberen Zimmer zum Teil leer standen. Nicht mal ein Stuhl war drin.

Kate Oakley hasste den Ort und hatte Angst, dort zu leben. Aber noch mehr fürchtete sie, dass Mr. Oakley, wenn sie es verkaufte, legale Mittel und Wege finden würde, seine Hand auf die Hälfte des Geldes zu legen. Und so war sie dortgeblieben. Tagsüber starrte sie auf die immergrünen Eichen hinaus und wünschte, dass sie eingingen und etwas Licht ins Haus hineinließen, und nachts lag sie wach und horchte auf das Knarren und Quietschen der Eukalyptusäste und hoffte, dass der Wind sie herunterreißen möge.

Mary Martha wusste, was ihre Mutter vom Haus hielt, [16] und konnte es nicht verstehen. Sie selbst hatte nie woanders gelebt und wollte auch nie woanders leben. Wenn Jessie zum Spielen herüberkam, zogen sie auf dem Dachboden die alten Kleider an, spielten in der Riesengarage Theater, durchsuchten den Keller nach verborgenen Schätzen und kletterten, wenn Mrs. Oakley nicht hinschaute, auf die Bäume oder fingen Frösche im Bach und stellten sich vor, die Frösche seien verzauberte Prinzen. Aber keiner der Prinzen hatte je eine Chance, entzaubert zu werden, da Mrs. Oakley immer darauf bestand, dass sie die Frösche in den Bach zurückbrachten: »Diese armen Geschöpfe… Ich schäme mich deiner, Mary Martha; sie so von Heim und Familie wegzureißen. Wie würde dir das gefallen, wenn ein Riese käme und dich packte und wegschleppte?«

Die Haustür des Oakley-Hauses stand offen, aber die Fliegentür war verriegelt, und Mary Martha musste das Glockenspiel in Bewegung setzen. Das Geläute war nur sehr schwach. Mrs. Oakley hatte es leiser stellen lassen, kurz nachdem Mr. Oakley ausgezogen war, weil er manchmal aufzutauchen pflegte, vor der Tür stand, ununterbrochen läutete und ins Haus wollte.

»Wenn sie nicht zu Hause ist, könnten wir hinten auf die Platane klettern und von da über den Balkon in ihr Schlafzimmer und einfach reingehen… Was ist denn mit eurer Klingel los?«

»Gar nichts.«

»Unsre ist richtig laut.«

»Meine Mutter und ich haben laute Geräusche nicht gern.«

Mrs. Oakley erschien. Sie blinzelte in dem hellen Licht, [17] als hätte sie gerade ein Schläfchen gemacht oder im abgedunkelten Zimmer vor dem Fernsehapparat gesessen.

Sie war klein und hübsch und sah in ihrem selbstgemachten blauen Baumwollkleid sehr gepflegt aus. Ihr blondes Haar war leicht gewellt und ging ihr bis zu den Schultern. Sie trug Pantoffeln mit hohen Absätzen. Manchmal, wenn Jessie eine Wut auf ihre Mutter hatte, verglich sie sie zur Strafe mit Mrs. Oakley, denn ihre Mutter lief gern in Tennisschuhen, Bluejeans oder Shorts herum und vergaß oft, sich die Haare zu kämmen, die dunkel und gerade wie die von Jessie waren.

Mrs. Oakley küsste Mary Martha auf die Stirn. »Hallo, Häschen.« Dann klopfte sie Jessie auf die Schulter. »Hallo, Jessie. Mein Gott, du wächst aber. Jedes Mal, wenn ich dich sehe, bist du zwei Zentimeter größer, ich schwör's dir.«

So oft Mrs. Oakley das zu ihr sagte, was mindestens einmal die Woche geschah, empfand sie es als großes Kompliment. Ihre eigene Mutter sagte nur: »Großer Gott, muss ich dir schon wieder ein Paar neue Schuhe kaufen?« Und ihr Bruder nannte sie Bohnenstange oder Zahnstocher oder Spinnenbein.

»Ich esse auch viel«, sagte Jessie bescheiden. »Und mein Bruder Mike auch. Mein Vater sagt immer, für uns müsste er eigentlich eine doppelte Steuerermäßigung bekommen.«

Kaum hatte sie diese Bemerkung gemacht, war ihr auch schon klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Mary Martha versetzte ihr mit dem Ellbogen einen Rippenstoß, und Mrs. Oakley drehte sich um und ging weg, wobei ihre spitzen Absätze kleine Abdrücke auf dem gewachsten Linoleum hinterließen.

[18] »Du sollst doch nicht über Väter und Steuern reden«, flüsterte Mary Martha. »Aber es ist O. K., denn jetzt brauchen wir ihr wenigstens nichts von deinen Händen zu sagen. Sie kann kein Blut sehen.«

»Ich blute ja gar nicht.«

»Vielleicht fängt es an.«

Charlie schrieb Namen und Adresse auf die Innenseite eines Päckchens Streichhölzer: Jessie, Jacaranda Road 319. Er wusste noch nicht recht, was er mit dieser Notiz vorhatte. Es schien ihm nur wichtig, sie zu haben, wie Geld auf der Bank. Vielleicht bekam er Jessies Familiennamen noch heraus, dann könnte er ihren Eltern einen Brief schreiben und sie warnen. Sehr geehrte Mr. und Mrs. X., ich habe noch nie einen anonymen Brief geschrieben, aber ich kann nicht dabeistehen und zusehen, wie Ihre Tochter sich mit ihren zarten Knochen solchen Gefahren aussetzt. Kinder müssen gehegt und vor den schrecklichen Gefahren des Lebens beschützt werden. Sie müssen gutes nahrhaftes Essen bekommen, damit ihre Knochen gut gepolstert sind und nicht brechen, wenn sie mit der harten, grausamen Erde in Berührung kommen. Im Namen Gottes flehe ich Sie an, hüten Sie Ihr kleines Mädchen…

2

Viele Jahre hatte das Oakley-Haus einsam, ein paar Kilometer westlich der kleinen Stadt San Felice, von Zitronen- und Walnusshainen umgeben, dagestanden. Die meisten [19] der Haine waren jetzt verschwunden und hatten Siedlungen mit hochtrabenden Namen und niedrigen Anzahlungsraten Platz gemacht. In eins dieser Reihenhäuser, einige Blocks von den Oakleys entfernt, war Jessie mit ihrer Familie vor einem Jahr eingezogen. Die Brants hatten vorher eine Wohnung in San Francisco gehabt, und alle waren von der Freiheit begeistert, ein eigenes Haus und ein Stück Land zu besitzen. Aber wie alle Freiheiten hatte auch diese ihren Preis. David Brant war gezwungen gewesen, seine Bekanntschaft mit Draht, Zange, Schraubenschlüssel und Sicherungsdosen zu erneuern, von den Kindern wurde verlangt, dass sie im Haushalt halfen, und Ellen Brant übernahm den Garten. Sie kaufte sich ein Buch über Landschaftsgärtnerei und ein anderes über Blumen und Sträucher in Südkalifornien und ging daran, den Nachbarn eine kleine Lektion in Gartenpflege zu erteilen.

Ellen Brant hatte zwar keine Erfahrung, war aber dafür hartnäckig. Einige der Stauden waren sechs- oder siebenmal verpflanzt worden und von zu viel Pflege und Gießen schon halb tot. Der rankende Rebstock, der zu dem Zweck gepflanzt worden war, den Schornstein des Kamins zu verdecken, weigerte sich zu ranken. Die Blätter des Jasmins wurden gelb und fielen, wegen Überfluss an Feuchtigkeit, ab, und Ellen, in der Meinung, ihr Welken sei auf das Gegenteil zurückzuführen, stellte den Sprinkler an. Die Rechnungen der Großgärtnerei und des Wasserwerks waren hoch, aber wenn Dave Brant sich deswegen beschwerte, machte sie ihm klar, dass sie den Wert des Grundstücks erhöhe. In Wirklichkeit lag ihr gar nicht so viel an Grundstückswerten, sie genoss es einfach, draußen zu sein, sich [20] die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen und den Wind zu spüren, der so geheimnisvoll nach dem Meer roch.

Sie war gerade damit beschäftigt, verblühte Rosen von den Büschen abzuschneiden, als Jessie um eins nach Hause kam.

Ellen richtete sich auf, blinzelte in der Sonne und wischte sich den Schmutz von ihren Baumwollshorts und den nackten Knien. Sie war schlank und sonnenverbrannt wie Jessie, und ihre Augen hatten denselben ungewöhnlichen graugrünen Farbton.

»Was machst du denn so früh schon zu Hause?«, fragte sie, während sie mit der Gartenschere eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn strich. »Übrigens hast du dein Zimmer nicht aufgeräumt, bevor du weggegangen bist. Du kennst die Abmachungen; du hast sie ja selber mit schreiben helfen.«

Jessie fand, das sei eine gute Gelegenheit, das Thema so dramatisch wie möglich zu wechseln. »Mary Martha sagt, ich sterbe vielleicht.«

»Tatsächlich? Na, dann würdest du doch sicher nicht gern in einem unaufgeräumten Zimmer tot aufgefunden werden, also marsch, nach oben. Na, mach schon, Schatz.«

»Du glaubst mir nicht mal.«

»Nein.«

»Ich bin überzeugt, wenn Mary Martha nach Hause käme und ihrer Mutter sagen würde, sie müsse vielleicht sterben, gäb's eine schreckliche Aufregung. Ich wette, da kämen Krankenwagen und Ärzte und Krankenschwestern, und die Leute würden schreien –«

»Wenn du dich dadurch besser fühlst, schrei ich sofort.«

[21] »Nein! Am Ende hört es jemand, meine ich.«

»Das ist doch wohl der Zweck der Übung, denke ich?«, sagte Ellen lächelnd. »Na also, wo brennt's denn, mein Kind – was ist los?«

Jessie zeigte ihre Hände. Eine leichte Zimtschicht hatte ihr Aussehen nicht verbessert. Aber Ellen Brant zeigte weder Überraschung noch Bestürzung. Sie hatte dasselbe Dutzende von Malen oder öfter bei Jessies Bruder Mike erlebt.

Darum sagte sie nur: »Ich glaube, ich habe die verklettertsten Kinder der Welt. Wo hast du dir denn das wieder geholt?«

»Auf dem Klettergerüst.«

»So so, dann geh jetzt rein, füll eine Schüssel mit warmem Wasser und steck deine Hände hinein. In einer Minute komm ich zu dir. Ich will nur in meinem Notizbuch nachsehen, wann du die letzte Tetanusspritze bekommen hast.«

»Die war am vierten Juli, als ich in East Beach auf den Stechrochen getreten bin.«

»Ich hoffe zu Gott, du wirst nicht noch zu einem Unfallfanatiker.«

»Was heißt denn das?«

»An dem Nachmittag waren mindestens tausend Menschen am Strand. Ausgerechnet du musstest auf einen Stechrochen treten.«

Obwohl Jessie genau wusste, dass das nicht als Kompliment gemeint war, konnte sie nicht umhin, es als ein solches aufzufassen. Die Einzige unter tausend Menschen zu sein, die auf einen Stechrochen getreten war, schien ihr doch [22] etwas ganz Besonderes. So was konnte Leuten wie Mary Martha bestimmt nie passieren.

Eine halbe Stunde später lag sie eingekuschelt auf dem Sofa im Wohnzimmer bei einem Fernsehprogramm und trank Schokoladenmilch. An den Händen hatte sie ein Paar weiße Handschuhe ihrer Mutter, und sie kam sich hochelegant vor, wenn sie es mit dem Passen der Größe nicht zu genau nahm. Die Glasschiebetür stand halb offen, und sie konnte ihre Mutter draußen auf dem Rasen mit Virginia Arlington sprechen sehen, die nebenan wohnte. Jessie hatte Mrs. Arlington sehr gern und nannte sie Tante Virginia, aber sie hoffte, dass die beiden Frauen draußen blieben und den Fernsehfilm nicht abstellten.

Virginia Arlingtons rundes, rosiges Gesicht und ihre vollen weißen Arme waren feucht von Schweiß. Während sie sprach, fächelte sie sich mit einer Reklamesendung, die sie gerade aus ihrem Briefkasten genommen hatte.

Sogar ihre Stimme klang sommerlich warm. »Ich habe Jessie so früh nach Hause kommen sehen, und ich war beunruhigt. Ist was passiert?«

»Eigentlich nicht. Nur ihre Hände sind wund vom zu vielen Herumturnen auf den Kletterstangen.«

»Armer Schatz. Sie hat zu viel Energie, sie weiß nie, wann sie aufhören muss. In der Beziehung ist sie wie du, Ellen. Du machst auch manchmal zu viel.«

»Ich werde es überleben.« Ellen ließ sich neben dem Rosenstrauch wieder auf die Knie nieder, in der Hoffnung, Virginia werde den Wink verstehen und verschwinden. Sie mochte Virginia Arlington und schätzte ihre Freundlichkeit und Großzügigkeit. Aber manchmal hätte Ellen lieber [23] ungestört gearbeitet und ohne daran erinnert zu werden, dass sie sich übernehme. Virginia hatte keine Kinder, und Howard, ihr Mann, war viel auf Geschäftsreisen. Sie hatte zweimal in der Woche einen Gärtner und eine Putzfrau, und um eine Büchse, die Garagentür oder die Fenster im Auto aufzumachen, brauchte sie nichts weiter zu tun, als auf einen Knopf zu drücken. Ellen beneidete ihre Nachbarn nicht. Sie wusste genau, dass sie ebenso viel tun würde wie jetzt und Virginia ebenso wenig, wenn die Lage umgekehrt wäre.

Obwohl Virginia die Sonne hasste und gewöhnlich mied, wo sie konnte, blieb sie da. Schon nach fünf Minuten Sonne bekam sie eine rote Nase und einen Nesselausschlag im Nacken. »Du, ich habe eine Idee. Warum fahre ich nicht schnell in die Stadt und kaufe Jessie ein paar Spiele? – Weißt du, etwas, das sie ablenkt und ruhig hält.«

»Ich denke, Howard ist gekommen?«

»Schon, aber er schläft noch. Und bis er aufwacht, könnte ich längst wieder zurück sein.«

»Natürlich weiß ich deine Güte zu schätzen, Virginia«, sagte Ellen, »aber du hast Jessie schon so viel Spielzeug und Bücher und Spiele geschenkt –«

»Das verdirbt sie nicht. Gerade heute Morgen habe ich in einer Zeitschrift gelesen, dass man Kinder nicht dadurch verwöhnt, dass man ihnen Dinge kauft, sondern nur, wenn sie einen Ersatz für etwas anderes darstellen.«

Ellen hatte denselben Artikel gelesen. »Liebe, meinst du.«

»Ja.«

»Jessie bekommt reichlich viel Liebe.«

»Ich weiß. Das meine ich ja damit. Wenn sie geliebt wird, [24] können ihr auch die paar Kleinigkeiten, die ich kaufe, nicht schaden.«

Ellen zögerte. Einige Kleinigkeiten waren eben gar nicht so klein gewesen – ein Fahrrad mit doppelter Übersetzung, ein Cashmere-Sweater, eine Armbanduhr –, aber sie wollte nicht undankbar erscheinen. »Also gut, geh, wenn du meinst. Aber ich bitte dich, gib nicht so viel Geld aus. Sonst kommt Jessie noch auf den Gedanken, sie müsste jedes Mal ein Geschenk bekommen, wenn ihr was passiert. Das Leben ist nicht so.«

Eine Minute lang herrschte ein gespanntes Schweigen zwischen den beiden Frauen, wie es nach einem Streit über eine wichtige Frage eintritt. Es bedrückte Ellen. Sie hatten doch keinen Streit gehabt, nicht mal eine richtige Meinungsverschiedenheit, und der Gegenstand war wirklich zu unwichtig: nur ein Zwei-Dollar-Spiel für Jessie.

»Ich hoffe, ich habe dich nicht beleidigt, El?«, sagte Virginia sanft. »Ich meine, dass du vielleicht denkst, ich wollte damit andeuten, Jessie habe nicht genügend Spielsachen und so.« Virginias hellblaue Augen schauten besorgt, und ihre Nase begann sich bereits zu röten. »Es wäre mir schrecklich, wenn du das dächtest.«

»Aber geh, natürlich nicht.«

»Ganz bestimmt nicht?«

»Sprich nicht weiter darüber, Virginia. Du willst Jessie unbedingt ein Spiel kaufen, also tu's.«

»Wir könnten ja sagen, es sei von dir und Dave.«

»Ich bin nicht dafür, meinen Kindern was vorzumachen. Sie sind schon im allgemeinen Verlauf der Dinge genügend Schwindeleien ausgesetzt.«

[25] Aus einem der Fenster auf der Rückseite des Arlington-Hauses rief eine Männerstimme: »Virgie! Virgie!«

»Howard ist aufgewacht«, sagte Virginia hastig. »Ich gehe schnell rein und mache ihm Frühstück. Vielleicht kann ich dann noch in die Stadt fahren, während er isst. Bestell Jessie, ich käme nachher zu ihr herüber.«

»Gut.«

Virginia überquerte den Rasen und lief ihren eigenen Fahrweg hinunter, der auf beiden Seiten von niedrigen Ligusterhecken und Tuffs von Ringelblumen gesäumt war. Alles im Garten und im Haus war so sauber und ordentlich, dass Virginia das Gefühl hatte, nichts gehöre ihr wirklich. Das Haus gehörte Howard und der Putzfrau, und der Garten dem Gärtner. Virginia war nur ein Gast und musste sich wie ein Gast benehmen, höflich und ohne zu kritisieren.

Nur der Hund, ein großer goldbrauner Jagdhund, Chap genannt, gehörte Virginia. Sie hatte einen kleinen Hund haben wollen, den man auf den Schoß nehmen und knuddeln konnte, und als Howard dann Chap von einer seiner Reisen mit nach Hause brachte, fühlte sie sich betrogen. Chap war damals schon voll ausgewachsen und wog neunzig Pfund. Und als sie das erste Mal mit ihm allein blieb, hatte sie Angst vor ihm. Sein Bellen war laut und wild. Wenn sie ihn fütterte, nahm er fast die ganze Hand mit; und wenn sie mit ihm an der Leine spazieren ging, zog er sie so um den Block herum, wie ein Pferd einen räderlosen Karren hinter sich herzieht. Mit der Zeit war sie dahintergekommen, dass das wilde Gebell nur Bluff war und dass er bei seinem vorherigen Besitzer zu wenig zu fressen bekommen und nie gelernt hatte, Befehlen zu gehorchen.

[26] Von Anfang an hatte sich der Hund an Virginia angeschlossen, als hätte er gewusst, dass sie Gesellschaft und Schutz brauchte. Howard gegenüber war er gleichgültig. Die Putzfrau hasste er, und den Gärtner hielt er durch ein gelegentliches Knurren in Schach. Nachts schlief er im Haus und hielt die Landstreicher nicht nur von Virginia, sondern auch von ihren unmittelbaren Nachbarn fern.

Howard war aufgestanden und hatte den Hund herausgelassen. Chap kam den Weg entlanggesprungen, und sein Schwanz wedelte im Kreis.

Virginia beugte sich hinunter und presste ihre Wange gegen seinen riesigen goldenen Kopf. »Du dummer Junge, wozu die wilde Begrüßung? Ich bin doch nur ein paar Minuten weg gewesen.«

Das hörte Howard durch das offene Küchenfenster und sagte: »Wer's glaubt. Wahrscheinlich bist du wieder den ganzen Morgen drüben bei den Brants gewesen und hast mit Ellen geschwatzt.«

Sie wusste, dass er es vor allem, wenn auch nicht ganz, als Witz gemeint hatte. Ohne zu antworten, ging sie durch die Hintertür, den Lieferanteneingang, in die Küche. Der Hund folgte ihr und machte noch immer so ein Theater, als sei sie und nicht Howard vierzehn Tage weg gewesen.

Howard hatte Kaffee gemacht und röstete gerade auf dem Grill in der Mitte des Herdes etwas Speck. Wenn er zu Hause war, machte er sich gern in der Küche zu schaffen, weil es eine so angenehme Abwechslung war, statt im Restaurant zu sitzen, wo einem ein Essen serviert wurde, das einem nicht schmeckte. Er war ein schwieriger Esser für einen so großen Mann.

[27] Einen Kopf größer als Virginia, musste er sich tief hinunterbeugen, um sie auf den Mund zu küssen. »Du bist doch eine Augenweide, Virgie.«

»Wirklich?«, sagte Virginia. »Der Speck brennt an.«

»Soll er doch. Hast du mich vermisst?«

»Ja.«

»Weiter nichts? Nur ›Ja‹?«

»Ich hab dich sehr vermisst, Howard.«

Geschickt wendete er den Speck mit einem Spatel, alle vier Scheiben auf einmal. »Willst du noch immer, dass ich meinen Posten aufgebe, Virgie?«

»Ich habe schon seit über einem Jahr nicht mehr davon gesprochen.«

»Ich weiß. Es nimmt mich nur wunder, womit du deine Zeit verbringst, wenn ich weg bin.«

»Frag mich doch, wenn du es wissen willst.«

»Ich frage dich ja.«

»Also gut.« Virginia setzte sich an den Küchentisch und faltete ihre hübschen weißen Hände im Schoß. »Jeden Tag fange ich mit einem Champagnerfrühstück an. Danach lunche ich mit meinen Freundinnen, mit viel Alkohol natürlich. Dann spielen wir den ganzen Nachmittag Bridge, mit hohen Einsätzen, und enden mit einer Cocktailparty. Dann esse ich in einem Nachtclub zu Abend und saufe in fröhlicher Gesellschaft bis zum Morgengrauen.«

»Hört sich anstrengend an«, sagte Howard lächelnd. »Wie machst du's dann, dass du so schön bleibst?«

»Howard –«

»Steck doch bitte mal zwei Scheiben Brot in den Toaster, ja?«

[28] »Howard, hast du mich im Ernst gefragt, wie ich meine Zeit verbringe?«

»Nein.«

»Vielleicht möchtest du, dass ich ein Tagebuch führe. Das wäre eine hochinteressante Lektüre. Saftige Berichte, wie ich Kleider zur Reinigung trage, mir ein Buch aus der Leihbibliothek geholt und Lebensmittel gekauft habe –«

»Hör auf damit, Virgie, sei so gut. Es ging mir nur gerade so durch den Kopf, und ich habe es ausgesprochen, was ich vielleicht lieber nicht hätte tun sollen. Es tut mir leid. Denk nicht mehr dran.«

»Ich will's versuchen.«

Er nahm seinen Teller mit Speck zum Tisch und setzte sich ihr gegenüber. »Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt, als ich heute früh reinkam. Chap hat furchtbar angegeben. Er hätte mich fast überzeugt, dass ich im falschen Haus bin. Jetzt müsste er mich doch nun wirklich schon kennen, sollte man meinen.«

»Er ist ein guter Wachhund«, sagte sie und fügte dann im Stillen dazu: ›Ich sollte dich mittlerweile auch schon kennen, Howard, aber ich kenne dich nicht.‹ – »Wie war denn deine Reise?«

»Heiß – 38 Grad in Bakersfield, 35 in Los Angeles.«

»Hier war's auch heiß.«

»Ich habe eine Idee. Wie wär's, wem wir heute Nachmittag ans Meer führen? Wir aalen uns im Sand, machen einen Spaziergang und gehn schwimmen –«

»Das hört sich sehr verlockend an, Howard. Aber ich fürchte, ich kann nicht. Du weißt, wie schnell ich einen Sonnenbrand kriege.«

[29] »Du könntest einen großen Strohhut aufsetzen, und wir nehmen den Gartenschirm vom Terrassentisch mit.«

»Nein.«

Er sah sie forschend mit erstaunten Augen über den Tisch hinweg an. »Das war aber ein ziemlich entschiedenes Nein, Virginia. Bist du mir noch böse?«

»Natürlich nicht. Es ist nur so – also, der Gartenschirm ist nicht mehr gut. Er war zerrissen, und da hab ich ihn weggeschmissen.«

»Aber er war doch neu. Wieso ist er denn zerrissen?«

»Der Wind. Das wollte ich dir gerade erzählen. Dienstagabend hatten wir einen Sturm hier, einen Santa Ana von der Wüste her. Ich war in der Stadt, als er anfing, und bis ich nach Hause kam, war der Schirm schon in Fetzen.«

»Warum hast du ihn nicht zum Reparieren in eines der Fachgeschäfte gebracht?«

»Die Stäbe waren auch ganz verbogen. Du hättest ihn bloß sehen sollen, Howard. Er hat ausgesehen wie nach einem Wirbelsturm.«

»Bei einem Santa Ana wird gewöhnlich die Bougainvillea neben der Garage runtergeweht. Mir ist aber nichts dergleichen an ihr aufgefallen.«

»Salvador hat sie vielleicht wieder hochgebunden.«

Sie wusste, sie konnte ganz sicher sein. Salvador, der nur Spanisch sprach, oder es jedenfalls behauptete, würde kaum etwas ableugnen oder bestätigen. Er würde nur sein Silberzahnlächeln aufsetzen, die Fältchen um seine weisen Augen spielen lassen und einfach weiterarbeiten. ›Sie sprechen, Señor, aber wenn ich Sie nicht höre, sind Sie für mich nicht vorhanden.‹

[30] Es hatte am Dienstagnachmittag gar kein Santa Ana, sondern nur eine frische Brise vom Ozean her geweht. Virginia war auch nicht in der Stadt gewesen. Sie hatte auf der Terrasse gesessen und Jessie und Mary beim Rollschuhlaufen auf dem Bürgersteig zugesehen. Jessie hatte den Einfall gehabt, den Sonnenschirm zu borgen, um ihn als Segel zu benutzen, und es war nur zu gut gegangen. Die beiden Mädchen und der Schirm krachten gegen einen Telegraphenmast an der Ecke, und bei Keksen und Schokoladenmilch-Flip hatte sie zu ihnen gesagt: »Es ist gar nicht nötig, dass ihr euren Eltern was davon erzählt. Du kennst deine Mutter, Jessie. Sie würde nur darauf bestehen, den Schirm zu bezahlen, und das kann sie sich wirklich nicht leisten. Darum soll es lieber unser Geheimnis bleiben, einverstanden?«

Virginia stand auf und goss Howard Kaffee ein. Ihr zitterten die Hände, und es war ihr übel vor Angst, dass Howard den Verdacht haben könnte, sie lüge. »Die ganze Sache tut mir schrecklich leid, Howard.«

»Red keinen Unsinn. Ich werde kaum von dir erwarten, dass du dich für einen Santa Ana entschuldigst. Und was den Schirm angeht, handelt es sich doch nur um einen Gegenstand, und Gegenstände können ersetzt werden.«

»Ich könnte zum Beispiel in die Stadt fahren und einen kaufen, während du die Zeitung liest.«

»Unsinn. Wir lassen uns einen rausschicken.«

»Ich fahre sowieso hinein.«

»Musst du? Wir hatten ja kaum Gelegenheit, miteinander zu sprechen.«

›Wir hatten eine Gelegenheit, Howard‹, dachte sie, ›wir haben sie nur nicht ausgenützt.‹ – »Du liest ja deine Zeitung [31] sowieso. Ich finde es albern, dass ich nur hier rumsitzen soll und zuschauen, wie du Zeitung liest, wenn ich inzwischen etwas Nützliches tun könnte.«

»Wenn du es so formulierst«, sagte Howard und ergriff ihre Hand, »geh nur. Brauchst du Geld? Was willst du denn Nützliches tun?«

»Was besorgen.«

»Ach, wir spielen wohl heut die geheimnisvolle Frau, was?«

»Es ist gar kein Geheimnis dabei«, sagte sie patzig. »Jessie ist krank, und ich will ihr ein kleines Spiel kaufen oder auch zwei, damit sie sich ruhig hält.«

»Aha, ich sehe schon.«

Aber sie hörte an seinem Ton, dass ihm das, was er ›sah‹, wenig gefiel.

»Tut mir leid, dass die Kleine krank ist«, fügte er hinzu. »Was ist los mit ihr?«

»Nach dem, was Ellen sagt, sind Jessies Hände vom zu vielen Herumturnen auf den Kletterstangen ganz wund geworden.«

»Das hört sich gar nicht so katastrophal an.«

»Ich weiß, aber Ellen neigt dazu, solche Dinge zu bagatellisieren. Manchmal habe ich den Eindruck, sie hat nicht genügend Mitgefühl für das Kind.«

»Mitgefühl kann auch übertrieben werden, und die Kinder könnten es dann ausnutzen.«

»Jessie nicht. Sie ist wirklich ein wunderbares Kind. Weißt du, wenn sie und ich allein zusammen sind, hab ich nie den geringsten Ärger mit ihr. Das Problem, sie zu strafen, taucht überhaupt nicht auf.«

[32] »Warum sollte es auch?«, sagte Howard trocken. »Sie tut, was ihr passt.«

Virginia sah empört aus. »Das ist nicht wahr.«

»Also gut, es ist nicht wahr. Ich bilde mir anscheinend nur ein, dass sie hier reingeplatzt kommt, ohne anzuklopfen, sich aus dem Eisschrank nimmt, was sie finden kann, auf dem Klavier herumhämmert, den Hund füttert, bis er kaum noch japsen kann –«

»Wenn du gestattest, hat sie zufällig meine Erlaubnis, sich und den Hund zu füttern und hier reinzukommen, wann sie Lust hat. Ein eigenes Klavier hat sie nicht, darum geb ich ihr Stunden auf unserem, weil ich glaube, sie hat Talent.«

»Hör mal zu, Virginia, ich wollte dir das schon lange sagen, aber ich wollte keinen Ärger heraufbeschwören. Doch jetzt, nachdem er sowieso da ist, kann ich auch gleich meine Meinung sagen. Du hängst dich zu sehr an Jessie.«

»Ich will das nicht von dir hören.«

Sie hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und schüttelte heftig den Kopf. Nach kurzem Zögern packte Howard sie bei den Handgelenken und drückte ihre Hände an ihre Hüften hinunter. »Du wirst mir jetzt zuhören, Virginia.«

»Lass mich los.«

»Nachher. Es ist nur natürlich, dass du das Kind gern hast, da wir ja keine eigenen Kinder haben. Nicht natürlich hingegen ist, dass sie alle anderen Menschen aus deinem Leben verdrängt hat. Du siehst deine Freunde kaum noch, und du scheinst sogar kaum noch Zeit für mich zu haben, wenn ich schon mal zu Hause bin.«

[33] »Warum auch? Wenn du doch bloß auf mir herumhackst.«

»Ich hacke gar nicht auf dir herum. Ich warne dich nur in deinem eigenen Interesse, dass du nicht eines Tages mit blutendem Herzen dastehst. Jessie gehört dir nicht. Du hast kein Recht auf sie. Was machst du, wenn ihr was passiert?«

»Passiert? Was denn?«

»Erstens könnte Dave Brant zum Beispiel seine Stellung verlieren oder plötzlich entlassen werden und gezwungen sein, hier wegzuziehn.«

Virginia starrte ihn kalt an, ihr Gesicht war weiß geworden. »Das würde dir so passen, was?«

»Nein. Zufällig habe ich die Brants sehr gern und bin auch gern mit ihnen zusammen. Aber sie sind nicht mein einziges Interesse im Leben. Ich bin darauf gefasst, auch ohne sie zu leben. Und du?«

»Ich glaube, du bist eifersüchtig«, sagte Virginia zögernd. »Ich glaube gar, du bist eifersüchtig auf ein neunjähriges Mädchen.«

Er ließ ihre Handgelenke fahren, als hätte ihn diese Unterstellung gelähmt. Er stieß einen Seufzer der Verzweiflung aus und begab sich ins Wohnzimmer. Regungslos blieb sie in der Mitte der Küche stehen und horchte auf das Rascheln von Howards Zeitung, auf das quietschende Geräusch des Ledersessels, als er sich setzte, und auf das rebellische Klopfen ihres Herzens.

[34] 3

Um zwölf Uhr fünfzig kehrte Charlie Gowen in den Betrieb zurück, wo er angestellt war. Er war immer pünktlich; teils von Natur aus, teils, weil es ihm sein Bruder Ben jahrelang eingeschärft hatte. »Gut, du hast deine Fehler, Charlie, und vielleicht kannst du nichts dafür. Aber dann vergiss wenigstens die kleinen Dinge im Leben nicht: Sei immer pünktlich und sauber, kämm dein Haar sorgfältig, rauche und trinke nicht und arbeite fleißig – das sind so kleine Dinge, die zusammenkommen und im Rapport über einen Menschen einen guten Eindruck machen. In seinem Arbeitsrapport, meine ich.«

Charlie wusste, dass er nicht den Arbeitsrapport meinte, aber er ließ es hingehen und hörte auf Bens Rat, weil er ihm vernünftig erschien, und weil es seit dem Tod seiner Mutter sonst niemanden gab, auf den er hätte hören können. Er hatte auch das Gefühl, dass er zu Ben halten müsste, denn Bens Frau hatte sich seinetwegen von ihm scheiden lassen. Sie war auf und davon gegangen und hatte nur einen Zettel mitten auf dem Bett zurückgelassen: »Ich komme nie mehr zurück. Versuche nicht, mich zu finden. Ich habe es satt, verachtet zu werden.«

Charlie arbeitete als Magaziner in einem Engrosgeschäft für Papier- und Bürobedarfsartikel. Er liebte seinen Beruf und fühlte sich in den engen Gängen zwischen den bis zur Decke hinaufreichenden Regalen ganz zu Hause. Diese waren mit einer solchen Vielfalt von Materialien angefüllt, dass sogar der Chef der Firma, Mr. Warner, sich nicht mehr darin auskannte: Notizbücher, Federhalter, Bleistifte, [35] Festdekorationen und -rosetten, Besen, Bürsten, Mopps, Farbbänder, Heftklammern und Briefpapier und Schilder mit der Aufschrift ›Kein Eintritt‹, ›Zu vermieten‹, ›Eintreten ohne anzuklopfen‹, Radiergummis, Bridgeblöcke und Konfetti und Liebespaare aus Plastik für Hochzeitstorten, riesige Rollen roter Billetts, deren Bestimmung noch nicht feststand, Landkarten, Tabellen, Kreide, Tinte und Tausende Ries von Papier.

Der Inhalt des Gebäudes war höchst feuergefährlich, was einer der Gründe war, warum man Charlie angestellt hatte. Er hatte zwar immer Streichhölzer bei sich, um anderen auszuhelfen, aber er selber hatte seit seinem ersten Versuch mit vierzehn Jahren, bei dem Ben ihn erwischte und mörderisch verprügelte, nie mehr geraucht. Mr. Warner, der Inhaber, war so entzückt gewesen, endlich einen wirklichen Nichtraucher zu finden, und nicht jemanden, der erst vor ein paar Wochen oder Monaten das Rauchen aufgegeben hatte, dass er Charlie die Stellung gab, ohne sich allzu sehr nach seiner Vergangenheit zu erkundigen. Er wusste vage, dass Charlie ›Schwierigkeiten‹ gehabt hatte, aber in seiner Arbeit war keinerlei Anzeichen davon zu merken. Er kam früh und blieb länger, er war angenehm und gewissenhaft und immer bereit, einem jeden Gefallen zu tun, ohne selber einen dafür zu verlangen.

In der Straße hinter dem Gebäude traf Charlie einen seiner Mitarbeiter, einen jungen Mann namens Ed Hines, der mit einer unangezündeten Zigarette in der Hand an der Mauer lehnte.

»He, Charlie, hast du 'n Streichholz?«

»Klar.« Charlie warf ihm ein Päckchen Streichhölzer zu. [36] »Wenn's dir nichts ausmacht, möcht ich sie gerne wiederhaben. Innen im Deckel steht nämlich eine Adresse.«

Ed grinste. »Auch 'ne Telefonnummer?«

»Nein, noch nicht.«

»Du alter Draufgänger, du!«

»Nein, nein, du, das ist es wirklich nicht –« Charlie hielt inne. Es ging ihm plötzlich auf, dass Ed die Wahrheit gar nicht verstehen würde, dass es sich um eine Familie handelte, die in der Jacaranda Road 319 wohnte und ihr hübsches kleines Mädchen, Jessie, vernachlässigte.

Ed gab ihm die Streichhölzer zurück. »Danke, Charlie. Du, sag mal, der Alte scheint über irgendwas aufgeregt zu sein. Melde dich mal lieber vorn im Büro bei ihm.«

Warner saß hinter seinem Schreibtisch, ein kleiner Mann, der in den Bergen von Papier, die ihn umgaben, fast unterging. Da waren Orderformulare, Auftragsbestätigungen, Kassenzettel, Rechnungen und Korrespondenzen. Einiges von diesem Wust würde abgelegt werden, ein anderer Teil einfach verschwinden. Warner hatte das Geschäft vor vierzig Jahren gegründet. Es war seitdem gewachsen und gediehen, aber Warner versuchte den Betrieb immer noch so zu führen, als kennte er, wie früher, jeden Kunden persönlich und jede Order aus dem Gedächtnis. Viele Fehler wurden gemacht, und mit jedem Fehler wurde Warner ein wenig älter und eigensinniger. Trotzdem warf das Geschäft fortgesetzt Gewinn ab, weil es das einzige seiner Art in San Felice war.

Charlie stand in der Tür und versuchte seinen Kopf hochzuhalten, wie Ben es ihm ständig predigte. Aber es fiel ihm schwer, und Mr. Warner sah ihn sowieso nicht an. Er [37] hatte den Telefonhörer wie eine Krähe auf seiner linken Schulter. Und die Krähe redete laut und schnell mit der Stimme einer Frau.

Mr. Warner legte seine Hand über die Muschel und sah zu Charlie herüber. »Wissen Sie etwas von irgendwelchen Skeletten?«

»Skeletten?« Das Wort entschlüpfte Charlies Kehle, als sei es durch einen inneren Druck aus der Form geraten. Dann verstummte er vollkommen. Er konnte Mr. Warner nicht mal erzählen, dass er unschuldig sei, dass er nichts getan hätte und auch nichts über irgendwelche Skelette wüsste. Er konnte nur ununterbrochen und immer wieder den Kopf schütteln.

»Was haben Sie denn?«, fragte Mr. Warner gereizt. »Ich meine die lebensgroßen Pappskelette, die wir immer um Allerheiligen rum auf Lager haben. Eine Frau behauptet, sie habe ein Dutzend für den Pathologen-Ball bestellt, der morgen Abend stattfinden soll.« Dann wieder in den Hörer: »Ich kann keinen Bestellschein von Ihnen finden, Miss Johnston, aber ich sehe gleich noch mal nach. Ich verspreche Ihnen, Sie kriegen Ihre Skelette, und wenn ich ein paar meiner Angestellten erschießen muss, ha, ha, ha. Ja, ich rufe Sie zurück.« Er hängte ein und wandte sich Charlie zu. »Und glauben Sie mir, bis auf das ha, ha, ha war es mein völliger Ernst. Und jetzt wollen wir mal suchen.«

Charlie war so schwindlig vor Erleichterung, dass er sich am Türpfosten festhalten musste, um sich aufrecht zu halten. »Ja, Sir. Sofort. Wenn ich nur genau wüsste, was ich suchen soll –«

»Ein Paket von Whipple, Scherzartikel, in Chicago.«

[38] »Das ist heute Morgen eingetroffen, Mr. Warner.«