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Margaret Millar

Liebe Mutter,
es geht mir gut…

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Elizabeth Gilbert

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1955 bei

Random House, Inc., New York,

erschienenen Originalausgabe:

›Beast in View‹

Copyright © 1955 by Margaret Millar

Die deutsche Erstausgabe erschien

1967 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration

von Tomi Ungerer

 

 

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 20226 7 (17. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60469 6

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

 

 

 

[5] 1

Die Stimme war sanft, beinahe lächelnd: »Ist dort Miss Clarvoe?«

»Ja.«

»Wissen Sie, wer spricht?«

»Nein.«

»Eine Freundin.«

»Ich habe unzählige Freundinnen«, log Miss Clarvoe. Im Spiegel über dem Telefontischchen sah sie ihren Mund die Lüge wiederholen, und sie freute sich darüber, während ihr Kopf eifrig bestätigend nickte – diese Lüge ist wahr, ja, es ist eine sehr wahre Lüge. Nur ihre Augen wollten sich nicht überzeugen lassen. Verlegen blinzelten sie und schauten weg.

»Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen«, sagte die Stimme. »Trotzdem habe ich Sie immer irgendwie im Auge behalten. Ich habe nämlich eine Kristallkugel.«

»Ich – Sie haben was

»Eine Kristallkugel, in der man die Zukunft sehen kann. So eine habe ich. Alle meine alten Freunde tauchen von Zeit zu Zeit darin auf. Heute Abend waren Sie drin.«

»Ich.« Helen Clarvoe wandte sich wieder dem Spiegel zu. Er war rund wie eine Kristallkugel, und ihr Gesicht tauchte darin auf; eine alte Freundin, vertraut, doch ungeliebt. Der Mund dünn und verkniffen, als wäre die Haut nur [6] über einen Knochen gespannt. Das braune Haar war kurz geschnitten wie bei einem Mann und ließ die Ohren frei, die einen leicht violetten Schimmer hatten, als wären sie ewig kalt. Wimpern und Brauen waren so farblos, dass die Augen selbst nackt und ängstlich wirkten. Eine alte Freundin in einer Kristallkugel.

Vorsichtig fragte sie: »Bitte, wer ist dort?«

»Evelyn. Erinnern Sie sich nicht? Evelyn Merrick.«

»Ach, ja.«

»Jetzt erinnern Sie sich?«

»Ja.« Es war eine neue Lüge, aber leichter als die erste. Der Name sagte ihr gar nichts. Es war nur ein Klang, ohne jeden Bezug, und sie konnte ihn genauso wenig bestimmen, wie sie vom dritten Stock aus im Verkehrslärm das Geräusch eines Autos vom andern unterscheiden konnte. Sie hörten sich alle gleich an, die Fords, die Austins, die Cadillacs und Evelyn Merrick.

»Sind Sie noch da, Miss Clarvoe?«

»Ja.«

»Ich habe gehört, Ihr alter Herr ist gestorben.«

»Ja.«

»Ich habe auch gehört, dass er Ihnen eine Menge Geld hinterlassen hat.«

»Das ist meine Angelegenheit.«

»Geld ist eine große Verantwortung. Ich wäre vielleicht in der Lage, Ihnen behilflich zu sein.«

»Danke, ich brauche keine Hilfe.«

»Es könnte aber bald der Fall sein.«

»Dann werde ich selber mit dem Problem fertig werden, ohne die Hilfe einer Fremden.«

[7] »Einer Fremden?« In der Wiederholung lag ein scharfer Ton der Empörung. »Sie haben doch eben gesagt, Sie erinnerten sich an mich.«

»Ich habe mich nur bemüht, höflich zu sein.«

»Höflich. Immer Dame, was, Clarvoe? Oder wenigstens so tun. Aber warten Sie nur, bald werden Sie sich mit einem Mal wieder an mich erinnern. Ich werde nämlich bald berühmt sein. Mein Akt wird in jedem Kunstmuseum des Landes zu sehen sein. Jedermann wird die Möglichkeit haben, mich zu bewundern. Macht Sie das nicht neidisch, Clarvoe?«

»Ich glaube, Sie sind – Sie sind verrückt.«

»Verrückt? O nein. Nicht ich! Sie sind verrückt, Clarvoe. Sie sind ja diejenige, die sich nicht erinnern kann. Und ich weiß auch, warum Sie sich nicht erinnern können. Weil Sie eifersüchtig auf mich sind. Sie waren immer eifersüchtig auf mich. So eifersüchtig, dass Sie mich einfach aus Ihrem Gedächtnis ausradiert haben.«

»Das stimmt nicht«, entgegnete Miss Clarvoe schrill. »Ich kenne Sie ja gar nicht. Ich habe noch nie von Ihnen gehört. Sie müssen sich irren.«

»Ich irre mich nie. Was Sie brauchen, Clarvoe, ist eine Kristallkugel, damit Sie sich an Ihre alten Freunde erinnern können. Vielleicht sollte ich Ihnen meine leihen. Dann könnten Sie sich auch selber darin sehen. Würde Sie das nicht freuen? Oder hätten Sie Angst? Sie waren immer ein jämmerlicher Feigling, und meine Glaskugel würde Ihnen wahrscheinlich einen Todesschreck einjagen. Ich habe sie gerade hier vor mir. Soll ich Ihnen sagen, was ich sehe?«

»Nein – hören Sie auf mit diesem…«

[8] »Ich sehe Sie, Clarvoe.«

»Nein…«

»Ihr Gesicht ist direkt vor mir, ganz klar und deutlich. Aber irgendetwas stimmt darin nicht. Ah, jetzt sehe ich es. Sie haben einen Unfall gehabt. Sie sind verletzt. Ihre Stirn ist aufgerissen, Ihr Mund blutet – Blut, Blut, überall Blut…«

Miss Clarvoes Arm schnellte nach vorn und fegte das Telefon vom Tischchen. Es lag auf der Seite am Boden und summte.

Miss Clarvoe setzte sich, starr vor Schreck. In der Glaskugel des Spiegels war ihr Gesicht unverändert, unverletzt; die Stirn war glatt, der Mund fest geschlossen und abweisend, die Haut weiß wie Papier, als wäre sie bereits ausgeblutet. Miss Clarvoe hatte längst kein Blut mehr. Sie war jahrelang stillschweigend innerlich verblutet.

Als die Starrheit des Schocks sich langsam löste, beugte sie sich hinunter, hob das Telefon auf und stellte es wieder auf das Tischchen.

Sie hörte die Haustelefonistin sagen: »Nummer, bitte. Hier ist die Zentrale. Die Nummer bitte. Wollten Sie eine Nummer haben, bitte

Am liebsten hätte sie gesagt, verbinden Sie mich mit der Polizei, so wie die Leute in einem Theaterstück, ganz lässig, als hätte sie die Gewohnheit, die Polizei mindestens zwei- oder dreimal in der Woche anzurufen. Miss Clarvoe hatte noch nie im Leben die Polizei angerufen. Sie hatte sogar noch nie in ihrem dreißigjährigen Leben jemals mit einem Polizisten auch nur gesprochen. Nicht dass sie Angst vor ihnen gehabt hätte. Es lag einfach daran, dass sie nichts mit ihnen zu tun hatte. Sie beging keine Verbrechen, sie hatte [9] nichts mit Verbrechern zu tun, und sie war auch nicht das Opfer irgendwelcher Verbrechen.

»Ihre Nummer bitte?«

»Sind – sind Sie es, June?«

»Ja, gewiss, Miss Clarvoe. Mein Gott, als Sie nicht antworteten, dachte ich schon, Sie wären ohnmächtig oder sonst was.«

»Ich werde nie ohnmächtig.« Wieder eine Lüge. Es wurde schon zur Gewohnheit, zu einer Lieblingsbeschäftigung wie Perlenaufziehen. Eine Halskette von Lügen. »Wie spät ist es, June?«

»Ungefähr neun Uhr dreißig.«

»Haben Sie viel zu tun?«

»Ich bin praktisch allein am Schaltbrett. Dora hat die Grippe. Und ich selbst versuche auch gerade eine zu kurieren.«

Miss Clarvoe schloss aus dem Ton von Selbstmitleid in ihrer Stimme und dem leichten Genuschel ihrer Worte, dass June die Grippe auf eine Art kurierte, die weder von der Direktion noch von Miss Clarvoe selbst gebilligt wurde. »Werden Sie bald abgelöst?«, fragte sie.

»In ungefähr einer halben Stunde.«

»Würden Sie – das heißt, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie zu mir heraufkommen könnten, bevor Sie nach Hause gehen.«

»Was ist denn? Ist irgendetwas nicht in Ordnung, Miss Clarvoe?«

»Ja.«

»Ach Herrgott noch mal, ich hab doch nicht etwa was…«

»Also, ich erwarte Sie dann kurz nach zehn, June.«

[10] »Gut, ich komme, aber ich weiß noch immer nicht, was ich…«

Miss Clarvoe legte den Hörer auf. Sie wusste, wie man mit June und ihresgleichen umzugehen hatte. Man hängte ein. Man unterbrach die Verbindung. Was Miss Clarvoe sich nicht klarmachte, war, dass sie in ihrem Leben bereits zu viele Verbindungen unterbrochen hatte. Sie hatte zu oft, zu schnell und schon bei zu vielen Menschen eingehängt. Jetzt, mit dreißig, war sie allein. Das Telefon klingelte nicht mehr, und wenn jemand an ihre Tür klopfte, war es nur der Kellner, der ihr das Essen brachte, oder die Frau aus dem Schönheitssalon, um ihr die Haare zu schneiden, oder der Page mit der Morgenzeitung. Es war niemand mehr vorhanden, bei dem man einhängen konnte, außer der Hoteltelefonistin, die früher einmal im Büro ihres Vaters gearbeitet hatte, und einer verrückten Fremden mit einer Glaskugel.

Sie hatte auch bei der Fremden eingehängt, das schon, aber nicht schnell genug. Es war, als hätte ihre Einsamkeit sie gezwungen zuzuhören. Selbst üble Worte waren immer noch besser als gar keine.

Sie durchquerte das Wohnzimmer und öffnete die Flügeltüre, die auf den kleinen Balkon führte. Auf dem Balkon war gerade Platz für einen einzigen Stuhl, und Miss Clarvoe setzte sich und schaute vom dritten Stock auf den Boulevard hinunter. Er wimmelte von Autos und war von Lichtern überflutet. Auf den Bürgersteigen drängten sich die Menschen. Die Nacht war erfüllt von den Geräuschen des Lebens. Sie klangen seltsam für Miss Clarvoes Ohren, wie Laute von einem andern Planeten.

[11] Am Himmel tauchte ein Stern auf, ein erster, bei dem man sich etwas wünschen konnte. Doch Miss Clarvoe wünschte sich nichts. Die drei Stockwerke, welche sie von den Menschen auf der Straße unten trennten, waren so unendlich wie die Entfernung zu diesem Stern hinauf.

June kam später – nach einem kleinen Umweg durch die Bar. Sie kam über die Hintertreppe, die zu Miss Clarvoes Küchentür führte. Auch Miss Clarvoe benutzte manchmal diesen Hinteraufgang. June hatte sie oft hinein- und hinausschlüpfen sehen wie einen dünnen, verängstigten Geist, der die Begegnung mit lebendigen Menschen zu vermeiden sucht.

Die Küchentür war verschlossen. Miss Clarvoe verschloss alles. Es ging das Gerücht um, dass sie in ihrer Suite einen großen Geldbetrag aufbewahrte, weil sie den Banken nicht traute. Aber das war nur das übliche Geschwätz, das gewöhnlich von den Hotelpagen in Umlauf gesetzt wurde, die sich damit vergnügten, die verschiedensten Einbrüche zu planen, wenn sie zu bankrott waren, um auf Pferde zu wetten.

June glaubte nicht an das Gerede. Miss Clarvoe schloss Dinge ein, weil sie zu der Art von Menschen gehörte, die alles einschließen, ob es wertvoll ist oder nicht.

June klopfte an und wartete. Sie schwankte ein wenig, teils weil es ein doppelter Martini gewesen war, und teils weil ein Radio weiter hinten im Korridor einen Walzer spielte, und Walzer hatten die Wirkung, dass sie sich wiegen musste. Ihr magerer kleiner Körper unter dem billigen karierten Mantel schwankte vorwärts und rückwärts.

[12] Miss Clarvoes Stimme drang durch die Musik wie ein Messer durch Butter. »Wer ist da?«

June stemmte ihre Hände gegen die Türpfosten, um sich gerade zu halten. »Ich bin's – June.«

Die Sicherheitskette wurde zurückgeschoben und die Tür aufgeschlossen. »Sie kommen spät.«

»Ich musste erst noch eine Sache erledigen.«

»Ja, das sehe ich.« Miss Clarvoe wusste, welche Sache das war, die Küche roch bereits danach. »Kommen Sie ins Zimmer.«

»Ich kann nur eine Minute bleiben. Meine Tante wird…«

»Warum haben Sie denn die Hintertreppe benutzt?«

»Ach Gott, ich wusste nicht genau, was Sie von mir wollten, und da dachte ich mir, falls ich etwas falsch gemacht haben sollte, wollte ich nicht, dass die andern mich hier raufkommen sehen und neugierig werden.«

»Sie haben gar nichts falsch gemacht, June. Ich wollte Ihnen nur ein paar Fragen stellen.« Miss Clarvoe lächelte freundlich. Sie wusste, wie man mit June und Leuten wie ihr umging. Man lächelte. Selbst wenn man vor Angst und Unsicherheit halb verrückt war, lächelte man. »Haben Sie mein Apartment schon einmal gesehen, June?«

»Nein.«

»Noch nie?«

»Wie hätte ich es denn sehen können? Sie haben mich bisher noch nie heraufgebeten, und ich habe doch meinen Posten hier erst angetreten, als Sie schon hier wohnten.«

»Vielleicht wollen Sie sich gern ein bisschen umschauen?«

»Nein. Nein, danke, Miss Clarvoe. Ich bin nämlich ziemlich in Eile.«

[13] »Dann etwas zu trinken? Vielleicht möchten Sie etwas trinken?« Man lächelte, man überredete, man bot etwas zu trinken an. Man tat alles Mögliche, nur um nicht allein zu sein und darauf zu warten, dass das Telefon wieder klingelte. »Ich habe einen guten Sherry da. Den habe ich aufgehoben, für – ja, für den Fall, dass Besuch kommt.«

»Ein Schlückchen Sherry kann mir kaum schaden, denke ich«, meinte June scheinheilig. »Noch zumal ich eine Grippe bekomme.«

Miss Clarvoe ging durch den Vorraum voran ins Wohnzimmer. June folgte ihr und sah sich jetzt, da Miss Clarvoe ihr den Rücken kehrte, neugierig um. Doch es gab wenig zu sehen. Alle Türen im Vorraum waren geschlossen, und es war unmöglich herauszufinden, was sich dahinter befand: ein Wandschrank, ein Schlafzimmer oder ein Badezimmer.

Hinter der letzten Tür jedoch lag das Wohnzimmer. Hier verbrachte Miss Clarvoe ihre Tage und Nächte. Entweder saß sie in einem Lehnstuhl am Fenster und las, oder sie lag auf der Couch, oder sie schrieb am Nussbaumschreibtisch Briefe: Liebe Mutter, es geht mir gut… herrliches Wetter… Weihnachten steht vor der Tür… Alles Gute für Douglas… Lieber Mr. Blackshear, hinsichtlich jener hundert Aktien von Atlas…

Ihre Mutter lebte neuneinhalb Kilometer westwärts, in Beverly Hills, und Mr. Blackshears Büro war nicht weiter entfernt als ein Dutzend Straßenblocks den Boulevard hinunter, aber Miss Clarvoe hatte schon lange keinen von beiden mehr gesehen.

Sie schenkte den Sherry aus der Karaffe auf dem niedrigen Couchtisch ein. »Wohl bekomm's, June.«

[14] »Ach, vielen Dank, Miss Clarvoe.«

»Wollen Sie sich nicht setzen?«

»Ja, gern.«

June setzte sich in den Lehnstuhl am Fenster. Miss Clarvoe beobachtete sie und dachte, wie sehr sie doch mit ihren schnellen, hüpfenden Bewegungen, ihren glänzenden Augen und ihren kleinen, knochigen Händen einem Vogel glich. Ein Spatz, trotz ihrem blonden Haar und dem buntkarierten Mantel, ein betrunkener Spatz, der sich von Sherry statt von Brotkrumen nährte.

Und während sie June betrachtete, kam ihr zum ersten Mal der Gedanke, wie Evelyn Merrick wohl aussähe.

Vorsichtig begann sie: »Vor ungefähr einer Stunde, ungefähr um neun Uhr dreißig, hatte ich einen Telefonanruf, June. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir irgendwelche näheren Angaben über diesen Anruf machen könnten.«

»Sie meinen, woher der Anruf kam?«

»Ja.«

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, Miss Clarvoe, es sei denn, es war ein Ferngespräch. Heute Abend habe ich drei, vier Ferngespräche entgegengenommen, aber keines davon war für Sie.«

»Aber Sie erinnern sich doch, dass Sie mir ein Gespräch hierher durchgegeben haben, nicht wahr?«

»Das weiß ich nicht mehr, ich kann es nicht sagen.«

»Denken Sie mal ganz fest nach.«

»Ja, sicher, Miss Clarvoe, ich denke ja ganz fest nach, wirklich ganz fest.« Das Mädchen zog die Augenbrauen zusammen, um den entsprechenden Eindruck zu erwecken. »Es ist nur so, wissen Sie. Wenn jemand anruft und nach [15] Miss Clarvoe fragt, dann kann ich mich ganz deutlich erinnern. Aber wenn jemand Zimmer 425 verlangt, ja, wie soll ich das sagen, ja, dann ist das eben anders, verstehen Sie?«

»Dann hat also die Person, die angerufen hat, die Nummer meines Apparates gewusst.«

»Das nehme ich an.«

»Warum nehmen Sie das an, June?«

Das Mädchen rutschte auf der Stuhlkante herum, und ihre Augen gingen ununterbrochen zwischen der Tür und Miss Clarvoe hin und her. »Ich weiß nicht.«

»Sie haben gesagt, Sie nähmen es an, June.«

»Ich meinte doch nur, ich – ich kann mich nicht erinnern, einen Anruf für 425 durchgegeben zu haben.«

»Wollen Sie mich etwa zur Lügnerin stempeln, June?«

»Um Gottes willen, nein, Miss Clarvoe, nichts liegt mir ferner, Miss Clarvoe. Nur…«

»Nur was?«

»Ich kann mich nur nicht erinnern, sonst nichts.«

Das waren die abschließenden Worte des Verhörs. Kein ›Danke schön‹, kein ›Adieu‹, kein ›Auf bald‹. Miss Clarvoe erhob sich, riegelte die Tür auf, und June schoss in den Korridor hinaus. Miss Clarvoe war wieder allein.

Gelächter aus dem Nebenzimmer schallte durch die Wand, und Stimmen schwirrten durch die offene Balkontür herein.

»Also wirklich, George, du bist ein Schlager, ein richtiger Schlager.«

»Hört euch bloß die Kleine an, wie süß die redet.«

»He, zum Donnerwetter, wer hat denn den Flaschenöffner hier weggenommen?«

[16] »Was meinst du wohl, für was dir der liebe Gott die Zähne gegeben hat?«

»Was Gott gegeben hat, hat er wieder genommen.«

»Dolly, wo, zum Teufel, hast du den Öffner gelassen?«

»Das weiß ich nicht mehr.«

Das weiß ich nicht mehr, ist immer die beste Antwort.

Miss Clarvoe setzte sich an den Nussbaumschreibtisch und nahm den goldenen Füllfederhalter zur Hand, den sie von ihrem Vater vor Jahren einmal zum Geburtstag bekommen hatte.

»Liebe Mutter«, schrieb sie, »ich habe schon lange nichts mehr von Dir gehört. Ich hoffe, dass es Dir und Douglas nicht gutgeht.«

Sie starrte auf das Geschriebene. Im Unterbewusstsein merkte sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte, sah ihn aber zunächst nicht. Irgendwie sah es so richtig aus: Ich hoffe, dass es Dir und Douglas nicht gutgeht.

›Ich wollte doch nur sagen ‘gut'‹, dachte Miss Clarvoe. ›Es war ein Versehen. Ich trage ihr ja nichts nach. Das kommt bloß von diesem Krach nebenan – ich kann mich einfach nicht konzentrieren – diese grässlichen Leute nebenan…‹

»Manchmal benimmst du dich wirklich wie ein Affe, Harry.«

»Schickt doch mal jemanden runter nach Bananen, Kinder. Harry hat Hunger.«

»Na, was ist denn daran so komisch?«

»Aber das war doch nur ein Scherz! Kannst du denn keinen Spaß verstehn?«

Miss Clarvoe schloss und verriegelte die Balkontür. [17] Vielleicht war es mit dem Anruf dasselbe, dachte sie. Nur ein Scherz. Irgendjemand, wahrscheinlich jemand, der hier im Hotel arbeitete, hatte nur versucht, ihr einen Schreck einzujagen, weil sie reich war und weil sie als ein bisschen verrückt galt. Miss Clarvoe war sich im Klaren, dass diese Eigenschaften sie zum natürlichen Opfer für Spaßvögel machten. Mit dieser Tatsache hatte sie sich schon vor Jahren abgefunden, und Getuschel hinter der vorgehaltenen Hand machte ihr schon lange nicht mehr so viel aus wie früher in der Schule.

Es war also klar: Das Mädchen mit der Kristallkugel war nur ein schlechter Scherz. Evelyn Merrick existierte gar nicht. Und doch kam ihr gerade dieser Name nach und nach so bekannt vor, dass sie nicht mehr so sicher war, ob sie ihn nicht schon früher einmal irgendwo gehört hatte.

Sie zog die Vorhänge an den Fenstern zu und ging wieder an ihren Brief zurück.

Ich hoffe, dass es Dir und Douglas nicht gutgeht.

Sie strich das ›nicht‹ durch.

Ich hoffe, dass es Dir und Douglas gutgeht. Ich hoffe gar nicht. Ich hoffe überhaupt nichts. Es ist mir ganz gleichgültig.

Sie riss den Bogen mittendurch und legte ihn sorgfältig in den Papierkorb neben ihrem Schreibtisch. Im Grunde hatte sie ihrer Mutter nicht das Geringste zu sagen. Sie hatte ihr nie etwas zu sagen gehabt und würde ihr auch nie etwas zu sagen haben. Der Gedanke, sie um Rat oder Trost oder Hilfe zu bitten, war absurd. Mrs. Clarvoe hatte nichts dergleichen zu geben, nicht einmal, wenn Helen es gewagt hätte, sie darum zu bitten.

[18] Die Party nebenan hatte das Gesangsstadium erreicht. ›Unten beim alten Mühlbach‹. ›Herbstmond‹. ›Daisy, Daisy‹. Manchmal klang es ganz harmonisch, manchmal ganz daneben.

Eine heiße Welle von Ärger und Erbitterung stieg in Miss Clarvoe auf. Sie hatten kein Recht, zu dieser nächtlichen Stunde solchen Lärm zu machen. Sie würde an die Wand klopfen, um sie zu warnen, und wenn das nichts nützte, würde sie den Direktor anrufen.

Sie wollte aufstehen, aber ihr Absatz blieb an der Querleiste des Stuhles hängen und sie schlug vornüber, wobei ihr Gesicht die scharfe Kante des Schreibtisches streifte. Sie blieb liegen, den metallischen Salzgeschmack von Blut im Mund, und horchte auf den hämmernden Pulsschlag in ihren Schläfen und das panische Klopfen ihres Herzens.

Nach einer Weile stand sie mühsam wieder auf und schleppte sich langsam und steif durch das Zimmer zum Spiegel über dem Telefontischchen. Auf der Stirn hatte sie eine leichte Schramme, und sie blutete aus einem Mundwinkel, wo ein Zahn die Unterlippe aufgerissen hatte.

…Ich habe eine Kristallkugel. Ich sehe Sie jetzt, ganz klar und deutlich. Sie haben einen Unfall gehabt. Ihre Stirn ist aufgerissen, Ihr Mund blutet…

Ein Hilfeschrei formte sich in Miss Clarvoes Kehle. Helft mir doch – irgendjemand! Helft mir, Mutter – Douglas – Mr. Blackshear…

Doch der Schrei wurde nie ausgestoßen. Er blieb in ihrer Kehle stecken, und schon schluckte ihn Miss Clarvoe hinunter, wie sie schon unendlich viele Schreie hinuntergeschluckt hatte.

[19] Ich bin ja nicht schwer verletzt. Ich muss vernünftig sein. Vater hat den Leuten gegenüber immer damit geprahlt, wie vernünftig ich sei. Deshalb darf ich nicht hysterisch werden. Ich muss mich jetzt bemühen, etwas sehr Vernünftiges zu tun.

Sie begab sich wieder an ihren Schreibtisch, griff zum Federhalter und nahm einen neuen Bogen Papier heraus.

Lieber Mr. Blackshear,

Vielleicht erinnern Sie sich noch, dass Sie sich nach dem Begräbnis meines Vaters erboten hatten, mir Rat und Hilfe zuteilwerden zu lassen, wenn die Umstände es erfordern sollten. Ich weiß nicht, ob Sie das damals nur gesagt haben, weil man derartige Dinge bei Begräbnissen zu sagen pflegt, oder ob Sie es wirklich ehrlich gemeint haben. Ich hoffe das Letztere, weil, wie Sie bereits vermutet haben dürften, diese Umstände jetzt eingetreten sind. Ich glaube, ich bin das Opfer einer Wahnsinnigen geworden…

2

…Es ist mir außerordentlich peinlich, jemandem diese ekelhaften Einzelheiten anvertrauen zu müssen. Ich bin nicht schnell bereit, andere Menschen mit meinen Sorgen zu belästigen, aber da Sie meinem verstorbenen Vater ein so ausgezeichneter Ratgeber waren, würde ich Ihren Rat in der Ihnen von mir geschilderten Situation ganz besonders zu schätzen wissen.

Wenn Sie mich nach Erhalt dieses Briefes anriefen und [20] mich Ihre Meinung über diese Angelegenheit wissen ließen, wäre ich Ihnen außerordentlich dankbar. Ich beabsichtige natürlich, Ihnen meine Dankbarkeit auch in substantiellerer Form als nur in Worten auszudrücken.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Ihre

Helen Clarvoe

Der Brief wurde in Mr. Blackshears Büro abgegeben und dann in seine Wohnung auf Los Feliz gesandt, da er schon früher nach Hause gefahren war. Er kam nicht mehr regelmäßig in sein Büro. Mit fünfzig begann er sich allmählich und taktvoll ins Privatleben zurückzuziehen, teils, weil er es sich leisten konnte, aber hauptsächlich, weil ihn die Eintönigkeit überkommen hatte wie ein zu früher Winter. Die Dinge hatten angefangen, sich zu wiederholen: neue Situationen erinnerten ihn an vergangene, und Menschen, die er kennenlernte, waren genau wie andere Menschen, die er schon seit Jahren kannte. Es gab nichts Neues mehr für ihn.

Der Sommer war dahin. Für Blackshear hatte der Winter der Leere eingesetzt, und dort, wo einmal etwas in seinem Innersten zerbrochen war, hatte sich Frost gebildet. Seine Frau war tot, seine beiden Söhne hatten geheiratet und lebten ihr eigenes Leben, und seine Freunde waren Geschäftsbekanntschaften, die er zum Lunch entweder im Scandia oder im Brown Derby oder im Roosevelt traf. Abendessen und nächtliche Partys waren selten, weil Blackshear lange vor Tagesanbruch aufstehen musste, um gegen sechs Uhr in seinem Büro zu sein, wenn die Börse öffnete.

Nach der ersten Hälfte des Nachmittags war er müde und [21] gereizt, und als Miss Clarvoes Brief abgegeben wurde, hätte er ihn fast nicht aufgemacht. Durch ihren Vater, der einer von Blackshears Klienten gewesen war, kannte er Helen schon seit vielen Jahren, und ihre gestelzte Sprache und ihr sprunghaftes Wesen deprimierten ihn. Er war nie imstande gewesen, in ihr eine Frau zu sehen. Sie war einfach Miss Clarvoe, und er hatte mehr als ein Dutzend Klientinnen genau wie sie: einsame reiche Damen, die noch reicher werden wollten, um ihrer Einsamkeit den Stachel zu nehmen.

»Verdammtes Weibsbild«, sagte er laut. »Zum Teufel mit allen faden Weibern.«

Aber schließlich machte er den Brief doch auf, weil auf dem Kuvert in Miss Clarvoes sauberer, nach links geneigter Privatschulschrift die Worte ›Vertraulich, Sehr Wichtig‹ standen.

…Für den Fall, dass Sie meinen, ich übertreibe vielleicht, beeile ich mich, Ihnen zu versichern, dass ich den genauen Wortlaut sowohl des Telefongespräches wie auch meiner darauffolgenden Unterhaltung mit der Hoteltelefonistin, June Sullivan, wiedergegeben habe. Ich bin sicher, dass Sie verstehen werden, wie schockiert und verwirrt ich bin. Ich habe niemandem in meinem Leben etwas zuleide getan, nicht wissentlich jedenfalls, und ich bin zutiefst überrascht, dass mir anscheinend jemand übelwill…

Als er den Brief zu Ende gelesen hatte, rief er Miss Clarvoe in ihrem Hotel an, jedoch mehr aus Neugierde als im leisesten Bestreben, ihr zu helfen. Miss Clarvoe gehörte nicht zu den Frauen, die Hilfe annehmen würden. Sie lebte von sich, [22] für sich und in sich gekehrt, von der Welt durch eine Mauer von Geld und die eisernen Gitter ihres Egoismus getrennt.

»Miss Clarvoe?«

»Ja.«

»Hier ist Paul Blackshear.«

»Oh.« Es war kaum ein Wort, eher ein tiefer Seufzer der Erleichterung.

»Vor ein paar Minuten habe ich Ihren Brief bekommen.«

»Ja. Ich – ich danke Ihnen für den Anruf.«

Es klang mehr wie das Ende eines Gespräches als der Anfang. Irgendwie durch ihre Zurückhaltung erbost, sagte Blackshear: »Sie haben mich doch um Rat gefragt, Miss Clarvoe.«

»Ja, ich weiß.«

»Ich habe sehr wenig Erfahrung in derartigen Dingen, aber ich rate Ihnen dringend…«

»Bitte«, entgegnete Miss Clarvoe, »bitte, sprechen Sie nicht weiter.«

»Aber Sie haben mich doch gefragt…«

»Es könnte jemand zuhören.«

»Ich habe eine Geheimnummer.«

»Ich leider nicht.«

›Sicher meint sie dieses Mädchen, June Sullivan‹, dachte Blackshear. Dieses Mädchen würde natürlich zuhören, wenn sie nicht zufällig anderweitig beschäftigt war. Miss Clarvoe hatte sie wahrscheinlich provoziert, oder zumindest ihre Neugier geweckt.

»Es haben sich nämlich inzwischen neue Dinge ereignet.« Miss Clarvoes Stimme klang vorsichtig. »Darüber kann ich mit Ihnen aber nur unter vier Augen sprechen.«

[23] »Ich verstehe.«

»Ich weiß, wie beschäftigt Sie sind, und ich hasse es, mich aufzudrängen, aber – es bleibt mir nichts anderes übrig, Mr. Blackshear, ich muss es tun. Ich muss es tun.«

»Bitte sprechen Sie ruhig.« Hinter ihrer Mauer von Geld und hinter ihrem Eisengitter war Miss Clarvoe die Jungfrau in der Not, die zögernd und ungeschickt um Hilfe rief. Blackshear verzog das Gesicht zu einer sauren Grimasse bei der Vorstellung seiner selbst in der gleichfalls zögernden Rolle des Retters, eines müden, uninteressierten Ritters in Harris Tweed. »Sagen Sie mir, was ich tun soll, Miss Clarvoe.«

»Wenn Sie zu mir ins Hotel kommen könnten, wo wir – ungestört – sprechen können…«

»Wahrscheinlich wären wir hier in meiner Wohnung viel ungestörter, wenn Sie zu mir kommen könnten.«

»Ich kann nicht. Ich – ich habe Angst auszugehen.«

»Also gut. Wann soll ich kommen?«

»Sobald Sie nur können.«

»Dann bin ich in Kürze bei Ihnen, Miss Clarvoe.«

»Ich danke Ihnen. Ich danke Ihnen vielmals. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich…«

»Dann lassen Sie es doch bitte. Auf Wiedersehn.«

Er legte schnell den Hörer auf. Der Klang von Miss Clarvoes Dankbarkeitsergüssen, die hart und unmelodisch aus dem Telefon hervorklapperten wie Münzen aus einem Spielautomaten, ging ihm auf die Nerven. Er als Auffänger von Miss Clarvoes Gefühlsanwandlungen – nein, besten Dank.

›Wie gemütsarm diese Frau ist‹, dachte Blackshear, ›dass [24] sie sich wie ein Geizhals nur für sich selber aufspart und von dem, was sie besitzt, nur so viel ausgibt, um sich gerade am Leben zu erhalten!‹

Obwohl sie ziemlich häufig korrespondierten, hatte er sie seit ihres Vaters Begräbnis nicht mehr gesehen. Groß, bleich und tränenlos hatte sie, abseits von den andern, am Grabe gestanden. Ihre einzige Gefühlsäußerung war ein gelegentlicher scharfer Seitenblick zu Verna Clarvoe, der weinenden Witwe, hinüber, die sich auf den Arm ihres Sohnes Douglas stützte. Je mehr Tränen ihre Mutter vergoss, umso starrer war Helen Clarvoes Rücken geworden und umso verkniffener ihr Mund.

Als die Trauerfeierlichkeiten vorüber waren, hatte Blackshear, dem ihr stummes Leid nicht entgangen war, sich ihr genähert.

»Ich bin sehr traurig, Helen.«

Sie hatte ihr Gesicht abgewandt. »Ja. Ich auch.«

»Ich weiß, wie gern Sie einander hatten, Sie und Ihr Vater.«

»Das stimmt nicht ganz.«

»Nein?«

»Nein, Mr. Blackshear. Ich hatte ihn gern, er mich nicht.«

Dann sah er sie nur noch, als sie schwerfällig in den Rücksitz des langen Cadillacs kletterte, in dem die Hauptleidtragenden, Mrs. Clarvoe, Helen und Douglas, befördert wurden. Sie gaben ein seltsames Trio ab.

Eine Woche darauf erhielt er einen Brief von Miss Clarvoe, dass sie ins Hotel Monica gezogen sei, wo sie jetzt ständig wohne, und dass sie ihn bäte, ihr Vermögen zu verwalten.

[25] Er hätte alles andere erwartet, nur nicht, dass Miss Clarvoe ausgerechnet das Monica wählen würde. Es war ein kleines Hotel an einem belebten Boulevard im Herzen Hollywoods, und es gab sich im Allgemeinen nicht mit ruhigen, einsamen Frauen wie Miss Clarvoe ab, sondern mit Passanten, die ein, zwei Nächte blieben und weiterfuhren; kleinere leitende Angestellte mit ihren Frauen, die Geschäft mit Vergnügen verbanden, Handelsreisende mit ihren Musterkoffern, Werbefachleute, die neue Kunden suchten, gewisse Damen, deren Namen bei den Hotelpagen registriert waren, um die Filmstudios zu besuchen und Fernsehaufnahmen zu sehen. Alles Menschen, die Miss Clarvoe im Allgemeinen ablehnte und mied. Dennoch hatte sie sich bereitgefunden, mitten unter ihnen zu leben, wie ein Besucher von einem andern Planeten.

Blackshear ließ seinen Wagen auf einem Parkplatz stehen und überquerte die Straße zum Hotel Monica.

Der Empfangschef, dessen Namensschildchen ihn als G. O. Horner identifizierte, war ein dünner, ältlicher Mann mit hervorstehenden Augen, wodurch er einen Ausdruck von eingehendstem Interesse und Neugier bekam. Dieser Ausdruck täuschte. Nach dreißig Jahren in diesem Beruf interessierten ihn die Menschen genauso wenig wie den Bienenzüchter die einzelne Biene. Ihre Unterschiede gingen in einem Wust von Statistiken unter und verloren schon durch das bloße Zahlengewicht an Realität. Sie kamen und gingen, aßen und tranken, waren glücklich, traurig, dünn, dick, stahlen Handtücher und vergaßen Zahnbürsten, Bücher, Hüftgürtel und Schmucksachen; sie brannten Löcher in die Möbel, rutschten in Badewannen aus und sprangen [26] aus dem Fenster. Sie waren alle gleich, wenn sie ums Bienenhaus schwärmten, und Mr. Horner trug ein Schutznetz der Gleichgültigkeit über Kopf und Schultern.

Das Einzige, was ihn interessierte, war eine prompte Bezahlung der Rechnung. Und da Blackshear zahlungsfähig aussah, wurde er angelächelt.

»Kann ich irgendetwas für Sie tun, mein Herr?«

»Ich glaube, Miss Clarvoe erwartet mich.«

»Darf ich um Ihren Namen bitten?«

»Paul Blackshear.«

»Nur einen Augenblick, mein Herr, ich werde anfragen.«

Horner ging auf den Telefontisch zu. Er trat leise und behutsam auf, als hätte einer seiner alten Feinde Reißnägel auf den Fußboden gestreut. Dann sprach er kurz mit dem diensthabenden Mädchen, wobei er kaum den Mund bewegte. Das Mädchen starrte Blackshear mit mürrischer Neugier über ihre Schulter hinweg an, und er fragte sich, ob das vielleicht June Sullivan sei, von der Miss Clarvoe in ihrem Brief gesprochen hatte.

Blackshear starrte zurück. Sie war eine magere Blondine mit zitternden Händen und einem verkrampften weißen Gesicht, als hätte der schwarze Blutegel von Kopfhörer ihr schon zu viel Blut ausgesogen.

Horner beugte sich über sie, doch das Mädchen wich, so weit es konnte, vor ihm zurück und begann zu gähnen. Es gähnte drei- oder viermal, bis seine Augen zu tränen anfingen und sich die oberen Lider röteten. Ihr Alter zu schätzen war unmöglich. Sie hätte ebenso gut eine unterernährte Zwanzigerin wie eine unterentwickelte Vierzigerin sein können.

[27] Horner kam zurück. Seine Finger spielten gereizt an den Revers seines schwarzen Anzugs herum. »Miss Clarvoe hat hier unten nichts hinterlassen, mein Herr, und ihr Apartment gibt keine Antwort.«

»Ich weiß genau, dass sie mich erwartet.«