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Für Michael, Freund in allen Jahreszeiten

Übersetzung aus dem Englischen von Elvira Willems

ISBN 978-3-8270-7776-9
November 2015
© 2015 Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/Berlin
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Covermotiv: »Haus« Picture Press/Adam Burton und
»Himmel« FinePic®, München
Datenkonvertierung: psb, Berlin

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1

Eleanor erwachte, weil sie spürte, dass etwas fehlte. Draußen peitschte der Wind den Regen immer noch in Böen gegen die Fenster; drinnen war es zu still, kein Atemzug, kein Herzschlag – nur ihr eigener. Die Dunkelheit fühlte sich unbelebt an. Noch bevor sie die Hand ausstreckte und an dem Wasserkrug und der Vase mit den welken Blumen vorbei das leere Bett ertastete – die zurückgeschlagenen Decken, das zerdrückte Kissen –, hatte sie gewusst, dass sie allein war. Sie ließ die Angst in sich einsickern, bis in die letzte Zelle ihres Körpers. Sie schmeckte ihren erdigen, metallenen Schmerz auf der Zunge, spürte ihn dann in den Handflächen, am unteren Ende der Wirbelsäule und im Hals wie eine ölige, zuckende Schlange, sie roch ihn auf ihrer Haut, säuerlich wie verdorbene Milch.

Seltsam verdreht saß sie in einem Sessel; ihr linker Fuß war eingeschlafen, ihre Wange geriffelt, wo sie an dem Holz gelehnt hatte. Als sie sich rührte, raschelte der Stoff ihres Rocks, und ihr fiel wieder ein, dass sie sich am Abend zuvor nicht ausgezogen hatte. Sie hatte nur ihr Haar geöffnet und sich die Schuhe von den Füßen getreten. Zu müde und vollkommen durcheinander hatte sie sich im Dunkeln in diesen Sessel gesetzt und es dem Schlaf überlassen, den schrecklichen Tag zu beenden.

Ein paar Sekunden blieb sie reglos sitzen, lauschte ihrem unregelmäßigen Herzschlag und fragte sich, was sie tun sollte. Dann schwang sie sich mit solcher Wucht aus dem Sessel, dass sie stolperte. Mit dem tauben Fuß stieß sie gegen einen Becher und warf ihn um. Sie knickte um und wimmerte vor Schmerz auf. Da sie sich auf die Gegebenheiten des Raums kaum mehr besinnen konnte, tastete sie sich mit ausgestreckten Händen bis zur Tür vor. Dabei stieß sie gegen das Fußende des Betts und die Ecke der Kommode, suchte nach dem Türknauf und dann nach dem Treppengeländer, das sie die schmale, knarrende Treppe nach unten führte. Überall war es stockfinster, wie sehr sie ihre Augen auch anstrengte, durch die Verdunkelungsvorhänge einen Schimmer zu erhaschen, bis sie in die Küche tappte, wo die letzte Glut im Herd einen matten Schein warf. Neben der Sitzbank stand ein Paar Stiefel, und sie stieg hinein und öffnete die Haustür. Der Wind schlug ihr entgegen, patschte ihr nass ins Gesicht und raubte ihr den Atem. Selbst im Schutz des Vordachs rauschten all die hunderttausend Blätter, als wäre sie bei Sturm auf dem Meer oder ein Zug donnerte auf sie zu. In so einer Nacht jagte man eigentlich keinen Hund vor die Tür. Aber ohne lange zu zögern lief sie hinaus in das Strömen und Tosen. Schwerfällig, denn die Stiefel waren ihr viel zu groß, und das dicke Gummi scheuerte an ihren Schienbeinen. Der Wind blies ihr entgegen, als wollte er sie zurücktreiben. Zweige kratzten über ihre Haut, und auf der Straße flog erst ein Ast an ihr vorbei, dann unter Gepolter ein Mülleimerdeckel. Schon war sie nass bis auf die Haut, die Bluse klatschte an ihren Rippen, und der feuchte Rock klebte ihr zwischen den Beinen. Sie wollte rufen, doch der Wind riss ihr den Namen von den Lippen, bevor er noch zu einem Laut werden konnte, und verschluckte ihn.

Die Häuser links und rechts der Straße waren unbeleuchtete, geduckte Schemen. Sie lief weiter. Sie hatte Seitenstechen, und von dem Knöchel, den sie sich verknackst hatte, schoss sporadisch Schmerz das Bein herauf. Bei jedem Schritt stieß sie sich die Zehen an den Stiefelspitzen. Vor zwei Abenden hatte sie sich die Zehennägel rot lackiert, während er zugesehen hatte. Brennende Augen. Sie spürte den blauen Fleck, wo er sie am Arm gepackt hatte, und unter dem Schal, den sie sich um den Hals gewickelt hatte, um ihn zu verstecken, pochte der Knutschfleck. Er hatte die Finger in ihre Haut gegraben und seinen Mund auf ihren gepresst, bis sie Blut schmeckte, und er hatte gesagt, sie könne ihn niemals verlassen. Jetzt nicht mehr. Sie waren zu weit gegangen.

Sie erahnte den Weg eher, als dass sie ihn sah, und bog von der Straße ab. Überhängende Äste verfingen sich in ihrem Haar, und die Brombeerranken in der Hecke rissen an ihren nassen Kleidern. Der Wind tobte. Es roch nach gepflügter Erde und nassem Farn. Dann rannte sie über die Weide und den Hang hinunter. Das Rauschen des Wassers vermischte sich mit dem Rascheln des Laubs und dem Brausen der Luft. Endlich blieb sie stehen und blickte sich hektisch um. Sie konnte die dichten Umrisse der Bäume ausmachen und das braune, schäumende Wogen. Eine blinde Gewissheit hatte sie hierhergeführt. Und jetzt?

Und wie sie dort stand und nicht weiterwusste, ließ der Regen plötzlich nach, und einen Moment lang trat hell und klar der Mond zwischen den Wolken hervor. In diesem Augenblick sah sie ein Gesicht – oder glaubte es zu sehen. Ein weißes Gesicht in dem dunklen Wasser, wie eine Blüte, wie eine gebrochene Spiegelung.

Dann verschluckten die Wolken den Mond wieder, und das Gesicht – ob real oder eingebildet – war verschwunden. Zurück blieb nur die tosende Dunkelheit.

Eleanor schleuderte die Stiefel von den Füßen und spürte, dass ihr Rock riss, als sie ihn auszog. Selbst jetzt, in diesem irrwitzigen Augenblick, musste sie daran denken, wie er ihn aufgehakt hatte, sehr langsam, zu ihren Füßen hockend, die Hand zwischen ihren Beinen, die Augen unverwandt auf ihr Gesicht gerichtet, als blickte er tief in sie hinein. Erinnerungen haben ihren eigenen Takt, sie existieren in ihrer eigenen Welt, in der die Gesetze der Zeit keine Gültigkeit haben. Als sie an das Flussufer lief und dann – mit ausgestreckten Armen und wie eine Fahne hinter ihr herflatternden Haaren – mit einem hohen, weiten Satz ins Wasser sprang, fiel ihr ein, wie sie ihn das erste Mal erblickt hatte, und es war, als sähe sie ihn noch einmal mit diesem Stich unbändigen Verlangens. Und sie dachte, fast ein wenig reuig und amüsiert, dass das, was sie da machte, wirklich dumm war. Sie fragte sich, ob sie sterben würde, doch Angst hatte sie keine, nur das Gefühl, dass sie nicht das Leben gelebt hatte, das sie geplant hatte. Was würden die Leute denken? Was würden sie sagen? Sie würden die Köpfe schütteln: die Armen. Wer hätte das gedacht, wer hätte so etwas je geahnt, wie konnte es nur so weit kommen?

Die Zeit schien still zu stehen, sie hing in der Luft wie ein riesiger Vogel. Der Regen hatte aufgehört, der Wind erstarb, der Sturm hatte sich ausgetobt und seine Spuren der Verwüstung hinterlassen. Zu spät, zu spät. Sie sah sich selbst dort schweben und auf das verzerrte Gesicht des Mondes hinabblicken. Und dann sah sie, wie sie stürzte.

Sie klatschte auf dem Wasser auf und wurde wieder ihr mit Armen und Beinen um sich schlagender, verzweifelter Körper, ohne jeden Gedanken, ohne jede Erinnerung. Die Strömung wirbelte sie herum und zog sie nach unten. Ihre Lunge platzte schier, und hinter ihren Augenlidern explodierten helle Punkte. Etwas – ein Fels, ein Baumstamm – schrammte an ihrem Oberschenkel vorbei und ratschte die Haut auf. Sie stellte sich vor, wie sie eine Wolke von Blut hinter sich herzog. Dann stieg sie plötzlich nach oben, durchbrach die Wasseroberfläche, gierte nach Luft und stieß sie keuchend wieder aus. Von neuem ging es hinunter ins nasse Strömen, Kies, Steine und Schlamm, Flussalgen, die sie einhüllten, doch diesmal kürzer, und als sie das nächste Mal nach oben kam, nahm sie einen tieferen, kontrollierteren Atemzug und schaffte ein paar Schwimmzüge, die sie ein Stück durch das schmutzige Wasser trugen. Sie reckte eine Hand nach oben und ergriff einen überhängenden Ast, um sich daran festzuklammern. Ihr Handteller brannte, doch ihre Finger schlossen sich um Luft. Alles war viel zu schnell: Kies, Felsen, Steine und Bäume, das Rauschen des Wassers und das schwache Schimmern des Halbmonds, der ab und an zwischen den Wolken hervorlugte.

Sie stieß gegen einen Fels, und ein stechender Schmerz durchschoss sie; dann wurde sie aufs Ufer zugeschleudert wie Treibgut. Diesmal gelang es ihr, eine Wurzel zu packen und sich daran festzuhalten, während ihr Körper zur Seite strudelte. Und dann sah sie, wie im Traum, noch einmal das Gesicht – oder doch nicht? –, ein Stück flussaufwärts brauste es auf sie zu, dem Mondschein zugewandt. Wie ein schlafendes Kind, dachte sie, wie eine Seerose, friedlich in den Fluten. Heulend reckte sie die Hand danach aus und packte zu, fand Haar, das ihr durch die Finger glitt, fand eine Handvoll Stoff und riss daran. Der Leib folgte wie ein riesiger Fisch, bleich und schimmernd unter dem Wasser, bis er neben ihr war, gummiartige, aufgeweichte Haut und geschlossene Augen, voller Schlamm und Schleim.

»Du Idiotin«, sagte sie über das Tosen des Flusses. Sie hörte ihre Stimme: fast beiläufig, sachlich. »Das wirst du mal schön sein lassen. Hast du gehört?«

Eleanor packte den Oberarm fester und zog noch einmal, und jetzt waren sie in den glitschigen Untiefen, geschützt zwischen den Wurzeln, während der Fluss vorbeirauschte. Ein Stück flussaufwärts sah sie eine Stelle, wo das Ufer niedriger war; dorthin hievte und stieß sie den schweren Körper. Sie hielt ihn an einem Handgelenk fest und kletterte rückwärts auf die Uferböschung. Er drohte ihr zu entgleiten.

»Nein«, sagte sie, als könnten Worte ihn daran hindern. »Ich lasse dich unter gar keinen Umständen los.«

Sie zerrte an dem Arm, bis sie Sorge hatte, sie könnte ihn auskugeln, und endlich konnte sie die Hände unter beide Achseln schieben. Sie zog mit aller Kraft, ihre Füße rutschten in dem feuchten Gras und ihre Wirbelsäule knackte vor Anstrengung, und bei jedem Ruck keuchte sie. Das hört sich fast an wie Sex, dachte sie. Wie ein wilder Ritt zum Höhepunkt.

»Komm schon«, sagte sie. »Komm. Bitte.«

Qualvoll langsam nur ließ der Körper sich bewegen, rutschte schwer auf sie zu, bis er mit einem Ruck, bei dem sie nach hinten ins Gras stolperte, aus dem flachen Wasser herauskam und auf sie fiel. Kurz blieb sie reglos so liegen, starrte auf die samtige, dunkle Himmelskuppel über ihr, den Mond und die weiß funkelnden Sterne, und auf das trübe Muster, das die Äste der Bäume zeichneten. Nichts und niemand scherte sich um die beiden, die hier auf der nassen Erde lagen; nichts und niemand sah sie. Dann kämpfte sie sich unter der Last heraus, kniete sich daneben und beugte sich weit vor, um ihre warmen Lippen auf die kalten zu drücken und ihren Atem ruhig in den Mund zu blasen, wie sie es gelernt hatte. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. Mein Leben in deines. Mein Leben für deines. Meine Liebe. Das Ich und das Du lösen sich auf. Den Brustkorb drücken. Noch einmal, und dann noch einmal. Wie eine Maschine. Wie Hustenstöße. Die Erinnerung daran stieg auf, wie sie als Kind zugesehen hatte, wenn jemand ins Feuer pustete, um es zum Leben zu erwecken. Und endlich ein Keuchen, ein Stöhnen, und dann entströmte dem Mund ein Schwall wässriger Gallenflüssigkeit. Eleanor hielt inne, ließ sich rücklings auf die Böschung sinken und schloss die Augen. Alles drehte sich, und sie wurde von einem gewaltigen Zittern gepackt, sämtliche Muskeln von Kälte und Trauer durchgerüttelt. Unter ihren schmutzigen Lidern quollen heiße Tränen hervor.

»Das verzeihe ich dir nicht«, sagte sie. »Hast du gehört? Niemals.«

Sie schlug die Augen wieder auf und starrte hinauf in den riesigen, schwarzen Himmel, der jetzt übersät war mit Sternen. Es war vorbei.

2

Eleanor Lee stand in der Bibliothek, wo es nach Staub roch und nach Zerfall. Der Wind ließ die losen Schindeln rappeln und fegte den Schornstein herunter. Es war schon Wochen her, seit sie das letzte Mal einen Fuß hier hereingesetzt hatte. Undeutliche Schemen waren noch undeutlicher geworden; die Gegenstände verschmolzen mit den Schatten. Die Dunkelheit senkte sich herab. Sie hatte zu lange gewartet und war zu spät dran, um die Vergangenheit vor der Gegenwart zu verbergen.

Sie streckte den Stock nach vorn aus und tastete so nach den Ecken der Stühle und nach Sachen, die am Boden herumlagen. Sie strich über das alte Schaukelpferd und setzte es in Bewegung, dass es auf der Stelle galoppierte und mit weißen Augen wild nach vorn starrte. Der Stock traf auf ein Objekt, und sie bückte sich, um es zu berühren: Das musste das Puppenhaus sein, mit dem erst ihre Kinder und dann die Kinder ihrer Kinder gespielt hatten – ja, das Dach ließ sich aufklappen und offenbarte eine ordentliche Miniaturwelt. Ein Stapel Bücher kippte um, als sie vorbeiging. Ein Seidenschal, den jemand vergessen hatte, lag da wie eine abgeworfene Schlangenhaut. Sie hob ihn auf, strich nachdenklich darüber und hängte ihn sich um den Hals. Ihre Füße bewegten sich leise durch die Trümmer; ihr langer Rock raschelte, die Armreifen an ihren Handgelenken klimperten. Bei den zwei Stahlschränken, die nebeneinander an der hinteren Wand standen, blieb sie stehen und zog die oberste Schublade des höheren der beiden auf. Ihre Finger kratzten über den Inhalt, ertasteten die vollgepackten Mappen aus Pappe und Kunststoff, die losen Blätter darunter. Wo konnten sie sein? Willkürlich zog sie eine Mappe heraus, hielt sie sich vor das Gesicht und kniff die Augen zusammen, als könnte plötzlich alles wieder klar werden, nur für einen kurzen Moment. Es war natürlich völlig hoffnungslos. Schublade um Schublade voller Papiere, und sie wusste, auch wenn sie sie nicht mehr sehen konnte, dass auf dem Boden auch noch Kartons standen. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wo sie das, was sie suchte, hingetan hatte. Sie hätte es erst gar nicht all die Jahre aufbewahren sollen.

Aus einem Impuls heraus schob Eleanor die Hände in die Schublade, zog Mappen heraus und breitete sie um sich herum aus, rührte mit ihrem Stock heftig darin herum und zerrte die nächste Handvoll heraus, bis die Schublade leer war. Sie riss die zweite Schublade auf, doch dann hielt sie inne und seufzte schwer.

»Sei nicht albern«, sagte sie laut mit weicher, brüchiger Stimme. »Denk lieber nach.«

Sie traf einen Entschluss und tappte aus dem Zimmer. Sobald sie im Flur war, der ihr vertrauter war, bewegte sie sich schneller, auch im Wohnzimmer, wo im offenen Kamin ein Feuer knisterte und auf dem Beistelltisch eine geöffnete Weinflasche stand. Nahe der Tür stand ein Flügel, dessen Politur wohl wie immer im weichen Licht glänzte, und darauf die schimmernde Kupferschale. Eleanor tastete auf dem Kaminsims nach der Streichholzschachtel, nahm diese mit in die Bibliothek und schloss die Tür hinter sich. Zielstrebig bewegte sie sich auf die beiden Aktenschränke zu, fuhr dabei im raschen Zickzack mit dem Stock vor sich her, und als sie davorstand, zog sie die untersten Schubladen auf und tastete darin herum, um sich davon zu überzeugen, dass darin Papiere waren. Sie riss ein erstes Streichholz an, ließ es in die Schublade fallen, und dann gleich noch ein zweites.

Sie hatte gedacht, eine Metallschublade wäre das perfekte Behältnis für ein kleines, begrenztes Feuerchen. Sie könnte den Inhalt einer Schublade nach der anderen schön sicher verbrennen, in ein weiches pudriges Häufchen Asche auflösen. Doch sie hatte sich getäuscht. Die Flammen schossen fast sofort aus der ersten Schublade hoch und sprangen auf den Samtvorhang über. Gierig machten sie sich daran, den Stoff zu verzehren. Im ersten Augenblick war Eleanor wie gelähmt; sie ahnte die Schemen der hellen Flammen sogar durch ihre Augenlider, der beißende Qualm brannte ihr in der Nase und im Hals. Dann schlug ihr die Hitze entgegen, und sie taumelte nach hinten und stolperte über das Puppenhaus. Sie nahm den dicken, bestickten Schal, den Gil ihr vor Jahren geschenkt hatte, von ihren Schultern und warf ihn über die Schublade, um das Feuer zu ersticken. Doch er nährte das Feuer nur weiter, das ein Eigenleben entwickelt hatte, von dem Schrank voller Geheimnisse übersprang und an den Fensterrahmen hochzüngelte. Funken stoben auf Eleanor zu, sie spürte unzählige Bläschen sich auf der Haut bilden. Als würde man gestochen, dachte sie, als stürzte sich ein ganzer Schwarm verrückter Wespen aus dem Backofen auf mich.

Als sie sich rückwärts aus dem Zimmer hinausbewegte, heraus aus dem Lodern und dem gierigen Prasseln der Zerstörung, schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass dies eine brutale und grandiose Art zu sterben wäre – das alte, geliebte Haus in einem gigantischen Feuer zu vernichten, nur um siebzig Jahre alte Geheimnisse zu bewahren. Doch so würde wenigstens niemand je davon erfahren. Das Gebäude wäre zerstört, aber das wahre Ich auch weiterhin sicher und verborgen.

Langsam kam sie zu sich. Sie roch etwas Verbranntes, und dann ging ihr auf, dass sie selbst das war. Verbranntes Haar und verbrannte Haut. Ein Kissen unter ihrem schmerzenden Kopf, gestärkte Laken. Sie hob den Arm und musste feststellen, dass er dick verbunden war. Sie schlug ihre blinden Augen auf und nahm die künstliche Helligkeit von Neonröhren wahr.

»Wo bin ich?«

»Was zum Teufel hast du gemacht?«, dröhnte eine Stimme auf sie ein. Sie wünschte, sie wäre nicht nur blind, sondern auch taub, denn dann müsste sie nicht hören, wenn alle ihr etwas erklärten, sie fragten, sie ausschimpften, als wäre sie jetzt, da sie alt war, wieder zum Kind geworden.

»Hallo, Leon. I ch bin wohl im Krankenhaus?«

»Selbstverständlich bist du im Krankenhaus. Und du hast Glück, dass du nicht im Leichenschauhaus gelandet bist. Wie konntest du so dumm sein und ein Streichholz ans Haus halten?«

»Es war ein Unfall.«

»Natürlich war es ein Unfall! Was denn sonst? Du hättest sterben können.«

»Aber ich bin nicht gestorben. Es geht mir ganz gut, Leon. Nur ein paar Verbrennungen. Sehe ich zum Fürchten aus?«

»Was?«

»Hallo, Gran«, sagte eine Stimme von der anderen Seite des Betts.

Behutsam drehte sie den Kopf, denn sie spürte den dumpfen Schmerz in ihrem Schädel. Im Mund hatte sie einen aschigen Geschmack.

»Jonah!« Sie lächelte in seine Richtung. »Du bist auch hier.«

»Ja. Und du siehst nicht zum Fürchten aus. Nur ein bisschen verrußt und deine Augenbrauen haben ein paar kahle Stellen und deine Haare sind ein bisschen kraus. Wie fühlst du dich?«

»Das weiß ich gar nicht so genau. Was ist passiert?«

»Kannst du dich nicht erinnern?« Leon ging jetzt auf und ab; mit drei Schritten war er am Fenster, und dann machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte in die andere Richtung. Hin und her, dabei schob er bestimmt unablässig die Hände in die Taschen und zog sie wieder heraus. Als wäre er selbst ein schwelendes Feuer, dachte Eleanor, als sich der Umriss seiner massigen Gestalt am Fußende ihres Bettes vorbeibewegte. Jonah dagegen saß ruhig auf dem Plastikstuhl. Sie roch sein Aftershave, und als sie eine Hand ausstreckte, ertastete sie den weichen Stoff seines Mantels.

»Ich erinnere mich noch, dass es anfing zu brennen«, sagte sie vorsichtig.

»Du hattest Glück, dass Adrians Sohn noch auf war und Computerspiele spielte«, sagte Leon. Seine Schuhe quietschten, als er kehrtmachte. »Er hat das Feuer vom Fenster aus gesehen und ist angerannt gekommen und hat es gelöscht. Dann hat er den Krankenwagen gerufen und danach hat er uns angerufen.«

»Ist viel zerstört worden?«

»Anscheinend kaum etwas. Die Vorhänge und ein Teil vom Fensterrahmen. Es ist natürlich eine Riesensauerei.«

»Und die Aktenschränke?«

»Die Stahldinger? Keine Ahnung, aber ich vermute mal, die sind so konstruiert, dass sie selbst einer Bombe standhalten würden. Mach dir keine Sorgen. Deine Papiere und Briefe sind noch alle da.«

»Oh.«

Endlich setzte Leon sich.

»Aber was wäre passiert, wenn Adrians Sohn nicht noch wach gewesen wäre und den Flammenschein gesehen und sofort reagiert hätte?«

»Aber er hat es doch gesehen. Und wenn nicht, hätte ich die Feuerwehr gerufen und die hätte das Feuer gelöscht.«

»Was glaubst du denn, wie lange es dauert, bis die da draußen bei dir sind?«

»Keine Ahnung?«

»Bis die da sind, steht das ganze Haus in Flammen und du mit.«

»Vielleicht.«

»So kann es nicht weitergehen«, sagte Leon.

»Wie meinst du das?«

»Ich wusste, dass so etwas passieren würde, aber du hörst ja nicht. Allein in so einem großen baufälligen Haus mitten im Nirgendwo. Du bist alt und so gut wie blind.«

»Das ist mir keineswegs entgangen.«

»Es ist gefährlich. Ich kann das nicht mehr zulassen.« Seine Stimme verriet ihr, wie sie sich sein Gesicht vorstellen musste: entschlossen vorgeschobenes Kinn und die leicht wichtigtuerische Miene, die er aufsetzte, wenn er sich Sorgen machte. Die hatte er schon als kleiner Junge gezogen, wenn er wütend und durcheinander war und Trost brauchte, es aber nicht über sich brachte, darum zu bitten.

»Leon«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Ich weiß, dass du es gut meinst, aber ich bin kein Kind, und ich bin auch nicht unzurechnungsfähig. Das ist nicht deine Entscheidung, sondern meine.«

»Das stimmt wohl.« Jonah holte wie ein Zauberer einen knallgrünen Apfel aus seiner Manteltasche, rieb ihn am Ärmel und biss knirschend hinein. »Sag uns, was du willst, Eleanor.«

»Ich will nach Hause.«

»Nach Hause!« Leon schnaubte empört.

»Ja.«

Die Tür ging auf, und eine hochgewachsene Frau mit langer grauer Mähne kam hereingerauscht, atemlos und mit von der Nachtluft geröteten Wangen.

»Mutter!«, sagte sie halb schluchzend und ließ sich schwer aufs Bett fallen. Sie streckte die Hand aus, doch ohne die alte Frau zu berühren, die neben ihr winzig wirkte, zerbrechlich, aber unbeugsam. Und irgendwie sehr einsam – wie jemand, der auf kabbeliger See in einem Rettungsboot hockt. »Oh, liebste Mum! Was für einen Schrecken du uns eingejagt hast. Geht es dir gut? Du Arme! Was hast du denn jetzt wieder angestellt?«

»Hallo, Esther. Wie nett, dass du hergekommen bist.« Als wäre es eine Teegesellschaft, dachte Jonah und grinste, amüsiert über seine Großmutter, in sich hinein.

»Sie sagt, sie will nach Hause«, warf Leon ein. »Sie sagt …«

»Ich bin hier, weißt du«, unterbrach Eleanor ihn in scharfem Ton. »Ich kann für mich selbst sprechen.«

»Du kannst nicht einfach nach Hause, nicht nach dieser Geschichte. Das musst du doch einsehen«, flehte Esther.

»Ich sehe gar nichts ein. Das Feuer wurde offensichtlich gelöscht, bevor es großen Schaden anrichten konnte.«

»Darum geht es nicht.«

»Worum geht es denn dann?«

»Komm wenigstens fürs Erste zu uns. Dann überlegen wir gemeinsam, was zu tun ist.«

»Was zu tun ist«, wiederholte Eleanor und setzte sich in dem schmalen Bett kerzengerade auf. »Das klingt ominös.«

»Ich meine doch nur …«

»Ich weiß, was du meinst. Du meinst, man kann nicht mehr darauf vertrauen, dass ich allein zurechtkomme.«

»Du hättest sterben können«, wiederholte Leon noch einmal, als wäre es seine Trumpfkarte.

»Na und? Warum reitest du so darauf herum? Ich bin vierundneunzig. Ich kann sterben, wann ich will!«

»Willst du denn?«, fragte Jonah voller Neugier.

»Nicht unbedingt. Aber ich will selbst darüber entscheiden, wie ich lebe. Und ich will auf gar keinen Fall in einem Wartezimmer des Todes hocken, eine Decke über den Knien und Pflegerinnen, die mich Herzchen nennen, mich mit labberigem Shepherd’s Pie und gummiartigem Rührei füttern und mich dazu zwingen wollen, Bingo zu spielen und mir die Haare frisieren zu lassen. Und meine Angehörigen besuchen mich pflichtbewusst an verregneten Sonntagnachmittagen und machen höflich Konversation.«

»Aber …«

»Singkreis!«

»Du übertreibst«, versetzte Leon steif und aufgebracht.

»Findest du?«

»Egal.« Esther streckte noch einmal die Hand aus, und diesmal berührte sie ihre Mutter vorsichtig, als wäre sie noch heiß von den Flammen. »Du musst nicht in ein Pflegeheim. Du kannst bei einem von uns leben. Das weißt du doch. Bei mir zum Beispiel. Oder bei Quentin oder Samuel …«

»Nein. Lieber sterbe ich.«

»Sind wir so schlimm?«, fragte Jonah.

»Lieber sterbe ich«, wiederholte Eleanor, »als dass sich meine Kinder um mich kümmern müssen.«

»Hast du mal überlegt, wie unfair das uns gegenüber ist?«, fragte Leon. »Wir machen uns Sorgen um dich ganz allein da draußen. Wir machen uns Sorgen, wenn wir in Urlaub fahren wollen oder ein paar Tage nicht nach dir sehen können. Wir rasen die Autobahn rauf und runter, um dich zu besuchen, und machen uns unablässig Gedanken.«

»Ah«, sagte Eleanor. »Ich glaube, das nennt man emotionale Erpressung, Leon.«

Irgendwo auf der Station schrie eine Frau, ein wiederholtes Wehklagen voller Schmerz. Sie hörten Absätze über das Linoleum gehen, und dann eine Stimme, die beruhigend auf sie einredete, doch das Jammern ging weiter.

»Warum willst du nicht bei mir leben?«, fragte Esther. »Wir könnten es uns schön machen. Ich könnte die Gesellschaft weiß Gott gut gebrauchen.«

»Ich will nicht bei dir leben, Esther. Ich will bei keinem von euch leben.« Sie zögerte, und dann stieß sie einen langen Seufzer aus. Die drei um das Bett sahen, wie sie ihre knochigen Schultern hochzog und dann unter dem Krankenhausnachthemd wieder entspannte. »Würdet ihr mich jetzt bitte allein lassen.«

»Ich bin doch gerade erst gekommen.« Esther klang, als würde sie gleich anfangen zu weinen. »Sobald ich es gehört habe, bin ich ins Auto gesprungen und …«

»Ich weiß. Kommt in einer Stunde oder so wieder. Ich bin müde. Ich will schlafen.«

Doch an schlafen war gar nicht zu denken. Sie schloss die Augen, als die drei gingen, und schlug sie wieder auf, sobald sie ihre Stimmen und ihre Schritte nicht mehr hören konnte, nur noch das hohe Summen der Lampen, das ferne Quietschen der Stationswagen und draußen vor dem Fenster das normale Leben, das weiterging: zuschlagende Autotüren und Stimmengesumm. Froh, allein zu sein, setzte sie sich im Bett auf und trank ein paar Schlucke Wasser aus dem Plastikbecher auf dem Nachttisch, doch der aschige Geschmack in ihrem Mund ging nicht weg. Die Kinder bedrängten sie mit ihren Ängsten und ihren Bedürfnissen. Die Atmosphäre wurde dann fest und heiß und reglos, wie vor einem aufziehenden Gewitter.

Sie versuchte, sich selbst mit ihren Augen zu sehen: alt, stur, lästig, klammerte sie sich weit über ihre Zeit hinaus an das Leben. Manchmal redeten sie über sie, als wäre sie gar nicht da. »Stur wie ein Esel«, flüsterten sie dann. »Du weißt doch, wie sie ist. Mit Vernunft ist ihr nicht beizukommen.«

Sie war alt und sie war stur, doch sie hatte nicht die Absicht, jemandem zur Last zu fallen. Sie atmete tief durch und schob den Unterkiefer vor.

»Also gut.«

»Also gut? Was?«

»Ich gehe in ein Heim. Ich weiß, dass ihr euch Sorgen macht. Es ist nicht recht. Nichts von alldem ist recht.«

»Tu’s nicht nur für uns«, sagte Leon. »Du weißt, dass ich das nicht so …«

»Ich weiß genau, wie du es gemeint hast. Niemand sollte vierundneunzig werden. Es ist schmachvoll.«

»Aber …«

»Ihr könnt das Haus inserieren. Ich ziehe an Weihnachten aus.«

»Ehrlich? Du siehst ein, dass es für alle das … das Beste ist.«

»Ich ziehe an Weihnachten aus, aber vorher gehe ich nach Hause. Allein.«

»Wir machen alles«, sagte Leon schnell, voller Schuldgefühle und in dem Versuch, sie zu besänftigen. »Du brauchst dich um nichts zu kümmern. Wir verkaufen das Haus, finden einen schönen Ort, nicht so einen Ort, wie du ihn beschrieben hast, betreutes Wohnen …«

»Es ist gut, Leon.«

»Und wir sortieren deine ganzen Sachen. Das können wir nach und nach machen.«

»Nein. Das ist meine Bedingung. Ich will nach Hause gehen, und ich will, dass jemand anders meine Besitztümer durchsieht, meine ganzen Papiere und Erinnerungen.«

»Warum?«

»Darum.«

»Aber das können wir doch machen. Wir tun das gern. Es macht uns nichts aus.«

»Ich will einen Fremden.«

»Ganz wie du willst.« Leon setzte sich auf einen Stuhl, der unter ihm knarrte. Er rieb sich das Kinn, seine Hand kratzte über die grauen Stoppeln. »Das lässt sich sicher einrichten, wenn du es wünschst.«

»Ich wünsche es.«

»Also«, warf Jonah ein, »ich glaube, ich wüsste da auch schon jemanden.«