Dag Hammarskjöld

Zeichen am Weg

Das spirituelle Tagebuch des UN-Generalsekretärs

Überarbeitete Neuausgabe

herausgegeben von Manuel Fröhlich

Deutsch von Anton Graf Knyphausen

Inhalt

Einführung

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

Weiterführende Literaturhinweise zu Dag Hammarskjöld

Zu Textgestalt und Kommentierung

Zeichen am Weg

1925–1930

1941–1942

1945–1949

1950

1951

1952

1953

1954

1955

1956

1957

1958

1959

1960

1961

Anmerkungen

Lebensdaten

Impressum

Einführung

Wer sich in unwegsamem Gelände bewegt, ist dankbar für jede Art von Orientierung, die ihm Pfeile und Hinweise am Straßenrand, an Bäumen oder auf Steinen geben. Diese Zeichen, von »Vorgängern« hinterlassen, geben Gelegenheit, kurz innezuhalten, sie geben Bestätigung für den zurückgelegten und Zuversicht für den künftigen Weg. Gerade für einen Wanderer, der sich in der Landschaft des nördlichen Schwedens mit ihrer beeindruckenden Weite und herben Schönheit bewegt, sind solche Zeichen am Weg oftmals unverzichtbar, um nicht vom Ziel abzukommen, von der Nacht überrascht oder von einem Unwetter heimgesucht zu werden. Dag Hammarskjöld liebte ausgedehnte Wanderungen durch den Norden seines Heimatlandes und gab diese Gewohnheit auch nicht auf, als er 1953 zum zweiten Generalsekretär der Vereinten Nationen gewählt wurde. Es liegt nahe, den Titel, den er seinem Tagebuch gab, »Vägmärken« – Zeichen am Weg, mit der beschriebenen Erfahrung des Wanderers zu verbinden.

Die Eintragungen der folgenden Seiten entsprechen auf den ersten Blick nicht dem üblichen »Tagebuch«, das man von einem führenden Politiker seiner Zeit erwarten würde. Sie liefern keine anekdotenreichen Schilderungen diplomatischer Verhandlungen, es finden sich keine farbigen Porträts prominenter Zeitgenossen, keine politischen Rechtfertigungen oder Abrechnungen. Die Eintragungen des Tagebuchs sind auf einer anderen Ebene verortet. Als Zeichen eines privaten wie öffentlichen Lebensweges markieren sie Punkte des Innehaltens, der Bestätigung, der Zuversicht – aber auch des Zweifelns, der Weggabelung und der Entscheidung. Erkennbar wird dadurch die Korrespondenz des äußeren mit dem inneren Lebensweg Dag Hammarskjölds, die der Herausgeber der englischen Ausgabe des Tagebuchs, W. H. Auden, als den Versuch beschrieben hat, vita activa und vita contemplativa miteinander zu vereinen. Aus der Hand eines führenden Staatsmanns, der durch seine teils gewagten Vermittlungsbemühungen oder aber die »Erfindung« der UNO-Blauhelme die formativen Jahre der Weltorganisation geprägt hat, ein wohl einzigartiges Dokument.

I.

Schon ein erstes Durchblättern des Tagebuchs zeigt die Vielschichtigkeit der Notizen: Es finden sich Aphorismen, Naturimpressionen, literarische Zitate und Anspielungen, Gebete oder Gedichte. Diktion, Wortwahl und Bildsprache erinnern teils an zeitgenössische literarische Werke, wie etwa die von Hammarskjöld ins Schwedische übersetzten Texte Djuna Barnes’ und Saint-John Perses. Zudem zeigt sich Hammarskjöld beeinflusst von schwedischen Autoren wie Vilhelm Ekelund, Karin Boye, Hjalmar Gullberg, Bertil Ekman oder Gunnar Ekelöf, die teils durch Zitate im Tagebuch vertreten sind. Eine Vielzahl von biographischen, geistigen, philosophischen und literarischen Einflüssen bilden das Material der Zeichen am Weg. Die Eintragungen sind weder kontinuierlich noch in regelmäßigem Abstand oder Umfang vorgenommen worden. Unzweifelhaft ist das Tagebuch dagegen »redigiert« worden, was schon durch das auf der ersten Seite notierte Motto kenntlich gemacht wird: »Nur die Hand, die ausstreicht, kann das Rechte schreiben.« Gleichwohl ist das Tagebuch zunächst nicht mit der festen Absicht einer späteren Veröffentlichung begonnen worden. So schreibt Hammarskjöld selbst in einer Eintragung aus dem Jahr 1956: »Diese Aufzeichnungen –? Sie waren Wegzeichen, aufgerichtet, als du an einen Punkt kamst, wo du sie brauchtest, einen festen Punkt, der nicht verloren gehen durfte. Und das sind sie geblieben. Aber dein Leben hat sich verändert, und du rechnest nun mit möglichen Lesern. Vielleicht wünschst du dir sie sogar! Für manchen könnte es doch von Bedeutung sein, einen Schicksalsweg zu verfolgen, über den der Lebende nicht sprechen mochte.«

Fünf Jahre vor seinem tragischen Tod bei einem Flugzeugabsturz während einer Friedensmission im Kongo schloss Hammarskjöld mit diesen Worten eine Veröffentlichung des Tagebuchs zu Lebzeiten aus. Und so überließ er die Entscheidung über die Veröffentlichung des Manuskriptes von 160 Seiten, das einer seiner Mitarbeiter nach Hammarskjölds Tod auf dem Nachttisch in dessen New Yorker Appartement vorfand, einem Freund, dem er einen undatierten Brief auf dem Manuskript hinterlassen hatte. Leif Belfrage, seinem ehemaligen Kollegen aus dem schwedischen Außenministerium, hatte Hammarskjöld geschrieben: »Lieber Leif, einmal habe ich Dir erzählt, vielleicht erinnerst Du Dich daran, dass ich trotz allem eine Art Tagebuch geführt habe. Ich wäre froh, wenn Du Dich irgendwann seiner annähmest. Hier ist es. / Begonnen wurde es ohne einen Gedanken daran, dass jemand es lesen sollte. Mein späteres Schicksal, mit allem, was über mich geschrieben oder gesagt worden ist, hat aber die Lage verändert. Das einzig richtige Profil, das man zeichnen könnte, ergeben diese Notizen. Darum habe ich in den letzten Jahren mit einer Veröffentlichung gerechnet, obwohl ich weiterhin für mich selbst und nicht für ein Publikum schrieb. / Wenn Du findest, dass sie verdienen gedruckt zu werden, so gib sie heraus – als eine Art Weißbuch meiner Verhandlungen mit mir selbst – und mit Gott. / Dag« Leif Belfrage entschied sich zur Veröffentlichung, und so erschien das Tagebuch des UNO-Generalsekretärs bis heute in einer Vielzahl von Sprachen und Ausgaben.

In seinem Brief an Belfrage gibt Dag Hammarskjöld einen weiteren Hinweis auf die Art der Zeichen am Weg, auf die Landschaft und die Horizonte, vor denen er verläuft. Verhandlungen mit mir selbst und mit Gott nennt er die Eintragungen, die er offensichtlich als Korrektiv zu einer Reihe von öffentlichen Urteilen über ihn verstanden wissen will. Das Bild des Weges zeigt sich damit auch als Chiffre persönlicher Sinnsuche, ja sogar eines Reifeprozesses, der verschiedene Stationen durchschreitet.

II.

Das Tagebuch selbst setzt dabei erst mit einer Jahresangabe 1925 bis 1930 an; die früheste Eintragung stammt mithin aus dem zwanzigsten Lebensjahr Hammarskjölds. Geboren wurde Dag Hammarskjöld am 29. Juli 1905 in Jönköping in Mittelschweden als vierter Sohn von Hjalmar und Agnes Hammarskjöld. Die Hammarskjölds waren zu dieser Zeit als Adelsfamilie mit einer langen Tradition als Diener und Beamte des Staates bekannt. Ihr Name geht auf den Beginn des 17. Jahrhunderts zurück, in dem König Karl IX. einen seiner Soldaten, Peder Michilsson, ob seiner hervorragenden militärischen Leistungen adelte. Der Name erinnert unmittelbar an diesen Ursprung, schließlich setzt er sich aus »Hammer« und »Schild« zusammen. Seitdem arbeiteten die Hammarskjölds in unterschiedlicher Funktion im Dienst des schwedischen Staates. Dies gilt auch für Hjalmar Hammarskjöld, der im Jahre 1907 zum Gouverneur der Provinz Uppland ernannt wurde. Die Familie samt des zweijährigen Dag zog von Jönköping in das Schloss des Gouverneurs nach Uppsala, den eigentlichen Ort von Kindheit und Jugend Dag Hammarskjölds. Der Vater wird 1914 zu Beginn des Ersten Weltkrieges vom König per Dekret zum schwedischen Ministerpräsidenten ernannt, der zugleich die Aufgaben des Verteidigungsministers übernimmt. Nur drei Jahre später muss er nach massiven Anfeindungen aus der Bevölkerung zurücktreten. Weil er kriegsbedingt Lebensmittelrationierungen einführte, erhielt er den Spitznamen »Hungerskjöld«. In seiner Amtszeit verfolgte Hjalmar Hammarskjöld einen Kurs strikter außenpolitischer Neutralität. Dabei konnte er auf eigene Erfahrungen auf dem Gebiet der Diplomatie und des Völkerrechts zurückgreifen. Er hatte sein Land bereits bei einer Vielzahl von Konferenzen und Vermittlungsmissionen vertreten. Zudem engagierte er sich in einer Reihe von Fällen in internationalen Schiedsgerichten und war Delegierter bei der Zweiten Friedenskonferenz 1907 in Den Haag. Mit Gründung des Völkerbundes übernahm er leitende Funktionen in Fragen der Kodifizierung internationalen Rechts und der Abrüstung. Abseits der außen- und innenpolitischen Aktivitäten fand Hjalmar Hammarskjöld aber auch noch Zeit für eine Vielzahl weiterer Interessen. So wurde er Mitglied der Schwedischen Akademie, die den Literaturnobelpreis verleiht. Sein literarisches Interesse schlug sich in zahlreichen Übersetzungen spanischer, portugiesischer oder südamerikanischer Volkslieder ins Schwedische nieder.

Innenpolitik, Diplomatie und Völkerrecht sowie Literatur gehörten damit für Hjalmar Hammarskjölds vier Söhne sozusagen zur Familientradition. Und tatsächlich führten diese die Tradition fort: Der Älteste, Bo, wurde Gouverneur der Provinz Södermanland und arbeitete als Staatssekretär im Sozialministerium. Åke hingegen arbeitete beim Völkerbund und beim Internationalen Gerichtshof, wo er 1936 gar zum Richter ernannt wurde, bevor er nur ein Jahr später an rheumatischem Fieber starb. Sten schließlich trat in die literarischen Fußstapfen seines Vaters, indem er als Journalist und Autor einiger Romane und Erzählungen in den USA arbeitete. Viele Möglichkeiten, aber auch eine enorm hohe Leistungserwartung standen somit vor dem jüngsten Sohn, Dag. Auch für ihn wird der Vater prägend – das Verhältnis zu ihm ist aber beileibe nicht konfliktfrei. Als Dag Hammarskjöld 1954 zum Nachfolger seines verstorbenen Vaters in der Schwedischen Akademie gewählt wird, zeichnet er das facettenreiche Porträt eines Mannes fester Überzeugungen und hohen Verantwortungsgefühls, das zwischen den Zeilen mindestens ebenso viel über den Sohn wie über den Vater verrät. In dieser Rede betont der UNO-Generalsekretär die Verbindung von persönlicher Ethik und politischer Verantwortung, er unterstreicht die parteipolitische Unabhängigkeit des öffentlichen Dienstes sowie die Idee einer internationalen Rechtsgemeinschaft als wesentliche Bedingung einer sich herausbildenden Weltgesellschaft.

Gleichwohl gesteht er später, den dominanten, gelegentlich schroffen und abweisenden Vater nicht wirklich nahe gekannt zu haben. Das Gegenteil gilt wohl für seine Mutter Agnes, zu der er bis an ihr Lebensende 1940 ein sehr enges Verhältnis hatte und deren bestimmenden Charakterzug er ebenfalls in der Rede auf Hjalmar Hammarskjöld als »eine radikal demokratische, wenn man so will ›evangelische‹ Sicht der Mitmenschen (…) sowie einen mit Gefühlswärme durchzogenen Antirationalismus« bezeichnete. Als Frau des Gouverneurs war sie in eine Reihe sozialer Aktivitäten in der Armen- und Krankenhilfe eingebunden. Prägend für die Uppsala-Jahre Dag Hammarskjölds war daneben Nathan Söderblom, Erzbischof und enger Vertrauter der Familie. Zu dessen gelebten Grundüberzeugungen gehörten neben der Arbeit um die Verständigung der Weltreligionen auch das Bemühen um ein aus dem Glauben erwachsendes, konkretes Engagement in sozialen und politischen Belangen, das letztlich auch eine Frage der persönlichen Ethik und Selbstprüfung ist. Für seine ökumenischen Bemühungen erhielt Söderblom 1930 den Friedensnobelpreis. Er eröffnete Dag Hammarskjöld eine Reihe von Perspektiven, die für dessen späteres Wirken von Belang sein sollten.

III.

Der Lebensweg Dag Hammarskjölds ist zu Beginn des Tagebuchs allerdings noch offen. 1923 hatte er in Uppsala sein Abitur mit sehr guten Noten abgeschlossen und das Studium der Fächer Nationalökonomie, Philosophie und Französisch aufgenommen, später folgt noch die Rechtswissenschaft. Die ersten Eintragungen des Tagebuchs haben einen fragenden, suchenden Charakter nach dem Ziel des Lebensweges, den persönlichen Talenten und Schwächen. Das Jahr 1930 markiert dann in mehrfacher Hinsicht einen Einschnitt: Mit der Übernahme des Generalsekretärpostens der Nobelstiftung durch Hjalmar Hammarskjöld zieht die Familie nach Stockholm. Dag wechselt die Universität und lernt dort eine Reihe führender Ökonomen und Philosophen Schwedens kennen. Kaum hat er den Titel eines Bachelor of Laws erlangt, wird er ebenfalls 1930 in eine Regierungskommission zur Überwindung der Arbeitslosigkeit berufen, der er bis 1934 angehörte. Das Tagebuch schweigt in dem arbeitsreichen Jahrzehnt zwischen 1930 und 1940. Seine in dieser Zeit erarbeitete Dissertation über die Zyklen der Konjunkturausbreitung ging in den Abschlussbericht der Kommission ein. Zusammen mit seinem Bruder Bo gehört Dag zu einer Gruppe von Leuten, die er teils als Lehrer, teils als Mitstudierende kennt und die wichtige Weichenstellungen des schwedischen Sozialstaates vornehmen. Sowohl auf sozialdemokratischer wie auf konservativer Seite wird der parteilose Fachmann geschätzt und 1935 zum Sekretär der Reichsbank berufen: Kurze Zeit später folgt die Ernennung zum Staatssekretär im Finanzministerium, wo er bis 1945 arbeitet. Die durchaus umstrittene Doppelfunktion sowohl in der Reichsbank als auch im Finanzministerium rechtfertigt er durch den Verweis auf die parteipolitische Unabhängigkeit und die ausschließliche Gemeinwohlverpflichtung seiner Beamtentätigkeit. Es ist eine Ethik öffentlichen Handelns, die hier heranreift und deren Grundlage ein kompromissloses, in kontinuierlicher Selbstprüfung zu bewahrendes Verantwortungs- und Loyalitätsgefühl ist.

Und an dieser Stelle verbinden sich der im Tagebuch nur skizzierte »äußere« Lebensweg Dag Hammarskjölds, die Stationen seiner rasch verlaufenden Karriere, mit dem »inneren« Lebensweg, dessen Stationen in den Eintragungen intensiv protokolliert werden. Es sind drei Bewegungsmuster, die sich in diesem Protokoll nachzeichnen lassen: Zum einen nehmen die Eintragungen ihren Ausgang oft in einer konkreten Begebenheit, einer Begegnung oder Erfahrung aus dem Alltag, die dann – im Nachhinein – reflektiert und verarbeitet wird. Zum Zweiten sind es Gedanken, Einsichten und Ideen, die Hammarskjöld aus diversen literarischen, philosophischen oder religiösen Quellen aufnimmt und in Zusammenhang mit seiner Lebenssituation setzt. Und zum Dritten ist es das Zusammenspiel des Erlebens von Natur und Landschaft mit dem Erkunden der eigenen Gedankenwelt und Persönlichkeit. Diese drei Bewegungsmuster, die auf vielfältige Art und Weise variiert und kombiniert werden, sind von einer übergreifenden Motivation bestimmt: Es ist die Suche nach Standards und Prinzipien, nach Maximen des Handelns, nach dem rechten Einsatz seiner »Talente«, die Hammarskjöld umtreibt.

Bezeichnend ist dabei eine Szene, die Henry van Dusen berichtet: Im Jahre 1948 ist Dag Hammarskjöld mit Freunden auf einer Wanderung in Nordschweden unterwegs. Mitgenommen hat er die »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung« von Albert Schweitzer, die er intensiv studiert und seinen Mitwanderern wärmstens empfiehlt. Aufbauend auf einem Forschungsbericht zum historischen Jesus entwickelt Schweitzer in diesem Buch die These, dass die Nachfolge Christi kein abstraktes religiöses Gedankenspiel sei, sondern eine Aufforderung zum Handeln im Hier und Jetzt. Dies prägt auch den Schlussabsatz des Buches, der geradezu zum Appell wird: »Er [Jesus] sagt dasselbe Wort: Du aber folge mir nach, und stellt uns vor die Aufgaben, die er in unserer Zeit lösen muss. Er gebietet. Und denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist …« Die Ethik des Dienens und die Vorbildlichkeit Jesu für das eigene Handeln erscheinen damit als Orientierungspunkte Dag Hammarskjölds. Bereits zu Beginn der fünfziger Jahre beruft er sich in einem Aufsatz über seine Amtsauffassung als Staatsbeamter auf Schweitzer. Dieser wird zu einem zunächst ideellen Weggefährten, mit dem der spätere UNO-Generalsekretär schließlich auch einen Briefwechsel führen wird.

IV.

Auf dem äußeren Lebensweg Dag Hammarskjölds zeichnet sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Wendung ab. Seine Tätigkeit in der Finanzpolitik bekommt eine immer deutlichere »internationale« Komponente. Ging es im Krieg noch um die unter Neutralitätsbedingungen zu organisierenden wirtschaftlichen Beziehungen etwa zum norwegischen Nachbarn, so geht es nach dem Krieg um Modalitäten für Kreditzahlungen und Reparationen sowie wirtschaftlichen Wiederaufbau. In all diesen Fragen wurde Hammarskjöld zur zentralen Figur in Schweden. Die Regierung ernannte ihn 1945 zum Ständigen Berater in internationalen Finanz- und Wirtschaftsfragen. Dem folgten der Wechsel ins Auswärtige Amt und diverse Konferenzerfahrungen (etwa im Zusammenhang des Marshallplans) – aber auch das absehbare Ende seiner Karriereleiter als parteipolitisch nicht gebundener Beamter. Während der 6. Tagung der UNO-Generalversammlung 1951 / 52 ist Hammarskjöld stellvertretender Leiter der schwedischen Delegation und in der darauf folgenden Sitzungsperiode Leiter der Delegation in New York. Zu Beginn des Jahres 1953 geraten dort die Verhandlungen über die Neubesetzung des Amtes des UNO-Generalsekretärs im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in eine Sackgasse. Mehrere Kandidaten werden entlang der Konfliktlinien des Kalten Krieges abgelehnt und blockiert. Eine Einigung scheint kaum möglich. Dass der Name des als Wirtschaftsfachmann und Technokrat geltenden Schweden in dieser Situation aufkommt, ist neben der Tatsache, dass er in Diplomatenkreisen nicht unbekannt war, vor allem der Tatsache geschuldet, dass er aus einem »neutralen« Land kam. Ein guter Bekannter Hammarskjölds, der Maler Bo Beskow, spricht wenige Tage zuvor bei einer Porträtsitzung mit ihm über die Nachfolgefrage in New York. Auf die spontane Nachfrage Beskows, wie es denn mit Hammarskjöld selbst sei, antwortete dieser: »Niemand ist so verrückt, mich vorzuschlagen, und ich wäre verrückt, wenn ich annehmen würde.« Die Anfragen mehrerer Journalisten, die ihn am 1. April erreichten, hielt er zunächst für einen Scherz. Nur neun Tage danach leistete er vor der Generalversammlung der Weltorganisation seinen Amtseid: »Ich, Dag Hammarskjöld, schwöre feierlich die Funktionen, die mir als Generalsekretär der Vereinten Nationen anvertraut wurden, in aller Loyalität, Umsicht und Gewissensprüfung auszuüben. Bei der Ausübung meiner Funktionen und meiner Handlungen werde ich ausschließlich das Wohl der Vereinten Nationen im Blick haben und jegliche Anweisungen oder Ratschläge einzelner Staaten bezüglich meiner Amtspflichten zurückweisen.«

Diesen Amtseid fand man später auf einem Zettel in ein Buch gesteckt, das Dag Hammarskjöld mit auf seine letzte Reise in den Kongo genommen hatte. Dabei handelt es sich um die französische Ausgabe der »Nachfolge Christi« des Thomas von Kempen aus dem Jahre 1689. Dieser Fund wirft ein eigentümliches Licht auf die »Berufung« in das Amt des Generalsekretärs. So überraschend und einschneidend diese Wendung in der Karriere Dag Hammarskjölds ist – sie steht im Kontext einer dramatischen inneren Wende, von denen die Eintragungen des Tagebuchs Zeugnis ablegen.

V.

In der ersten Eintragung des Buches hatte sich die offene Lebenssituation des jungen Hammarskjöld gespiegelt: »Berührt vom Winde / meines unbekannten Ziels / zittern die Saiten / im Warten.« Er hatte sich selbst als Fragenden porträtiert, der »hinaus ins fremde Land« getrieben wird. Richtung und Ziel des Weges sind noch nicht bekannt. Auseinandersetzungen mit Vergänglichkeit, Einsamkeit, Tod oder Opfer tauchen schon relativ früh auf. Im Folgenden werden dann jedoch drei Stationen des weiteren Weges Dag Hammarskjölds sichtbar, die er selbst als Reise nach innen, als eine Grenzerfahrung des Unerhörten und schließlich als die Herausforderung der Selbstverwirklichung durch Selbstaufgabe benennt.

Die »Reise nach innen« ist Gegenstand einer Eintragung aus dem Jahre 1950: »Die längste Reise / ist die Reise nach innen. / Wer sein Los gewählt hat, / wer die Fahrt begann / zu seiner eigenen Tiefe / (gibt es denn Tiefe?) – / noch unter euch, / ist außerhalb der Gemeinschaft, / abgesondert in eurem Gefühl / gleich einem Sterbenden / oder wie einer, den der nahende Abschied / vorzeitig weiht / zu jeglicher Menschen endlicher Einsamkeit.« Durch den fragenden, zweifelnden Ton wird schon angedeutet, dass dies keine leichte Reise ist, sondern eine äußerst beschwerliche und von Einsamkeit bestimmte Selbstsuche. Anfang der Vierzigerjahre findet sich eine Eintragung, die auf den ersten Blick sehr deprimiert und fatalistisch klingt, zugleich aber den Keim zu einem für Hammarskjöld später entscheidend werdenden Ausweg in sich birgt: »Es gibt nur einen Weg aus dem dunstigen, verfilzten Dschungel, in dem der Kampf um Ehre, Macht und Vorteil geführt wird – aus den dich umstrickenden Hindernissen, die du selbst geschaffen. Und dieser Weg heißt: zum Tod ja sagen.« In der zweiten Hälfte der Vierzigerjahre ist das Todesthema durch die Schilderungen von Begegnungen mit Tod und Selbstmord sehr dominant. Verschiedene Symbole und Bilder deuten auf eine Krisen- und Verfallserfahrung, in der sich »das Leben manchmal so viel schwerer als der Tod« darstellt. Hinter der glänzenden Fassade einer unaufhaltsam voranschreitenden Karriere offenbart sich in diesen Tagebucheintragungen eine nahezu hoffnungslose Depression. Die Selbstzweifel münden in schonungsloser Selbstkritik: »Von sich wusste er – wusste ich, was im Menschen ist: an Kleinlichkeit, Gier, Hochmut, Neid und Verlangen. / Verlangen –. Auch nach dem Kreuz.« Was unter diesem Kreuz zu verstehen ist, bleibt an dieser Stelle noch unklar, in jedem Fall überwiegt eine negative Sichtweise. Das Wesen menschlicher Existenz, der Sinn des Lebens und die Unzulänglichkeit der eigenen Persönlichkeit – das sind die Themen in diesen Jahren für Hammarskjöld. Hinzu kommt jedoch eine geradezu verzweifelt herausgeschriene Einsamkeit und die Erfahrung enttäuschter bzw. verwehrter Freundschaft, die im Zusammenhang mit Äußerungen zur Oberflächlichkeit physischer Berührung und körperlicher Liebe stehen. Hammarskjöld befindet sich inmitten einer Sinn-, Lebens- und Identitätskrise. Der Opfergedanke taucht wieder auf. Doch hat Hammarskjöld keine Antwort auf die Frage, wofür und zu welchem Zweck er sich wie opfern soll. 1952 greift er auch die Option des Selbstmordes auf, verwirft sie jedoch: »Müdigkeit betäubt den Schmerz und lockt mit dem Tod. So kannst du suchen, die Einsamkeit zu überwinden – eingeladen schließlich zur Flucht aus dem Leben. – Dies nicht! Der Tod mag deine abschließende Gabe ans Leben sein, nicht ein Betrug.«

Gleichwohl sieht sich Hammarskjöld in der Folge mit einer Art Entscheidungssituation konfrontiert: »Einen Punkt gibt es, wo alles einfach wird, wo keine Wahl bleibt, weil alles, worauf du gesetzt hast, verloren ist, wenn du dich umsiehst. Des Lebens eigener point of no return.« Und kurz nach dieser Eintragung ist zu lesen: »Darf jemand, der die äußere Möglichkeit fand, seine innere Berufung zu verwirklichen, sich der Gefahr aussetzen, sie nur darum nicht zu erreichen, weil er nicht alles andere von sich werfen mag? / Wenn man den Grundsatz nicht anerkennt, dass derjenige, der einen Weg einschlägt, auf die anderen verzichten muss, dann muss man sich wohl überzeugen, dass es dienlich sei, am Kreuzweg stehen zu bleiben. – Aber tadle nicht den, der geht – tadle weder noch lobe.« Mit der erneuten Erwähnung des Kreuzes äußert sich hier der Gedanke der Berufung, ein Gefühl, das sich langsam in den Notizen Bahn bricht; doch welcher Art diese Berufung ist, welches Ziel sie hat und wie sie verwirklicht werden soll, bleibt einstweilen offen. Überaus bedeutsam ist jedoch, dass sich im Anschluss an diese Schilderung die erste längere Passage findet, in der Hammarskjöld sich mit Jesu Schicksal auseinandersetzt und den latent vorhandenen Opfergedanken in Beziehung zu dessen Schicksal bringt. Mit anderen Worten äußert sich – diffus – die Perspektive der Nachfolge, die jedoch noch inmitten erheblicher Zweifel steht. Hammarskjölds Suche ist noch mit einer Fülle von offenen Fragen belastet.

1951 findet sich bereits ein erster Hinweis auf die nunmehr Richtung gewinnende Suche und die damit einhergehende Auflösung der Lebenskrise: »Jetzt, da ich die Furcht überwunden – vor den anderen, vor mir, vor dem Dunkel darunter: / an der Grenze des Unerhörten: / Hier endet das Bekannte. Aber vom Jenseits her erfüllt etwas mein Wesen mit seines Ursprungs Möglichkeit. / Hier wird Begehren zu Offenheit gereinigt: jedes Handeln Vorbereitung, jede Wahl ein Ja dem Unbekannten.« Die »Grenze des Unerhörten« beschreibt er in einer weiteren Eintragung: »Das Unerhörte – vielleicht ganz einfach Lord Jims letzte Begegnung mit Doramin, wo er zum absoluten Mut gelangt und zur absoluten Demut in absoluter Treue zu sich selbst. Mit einem lebendigen Schuldgefühl, aber gleichzeitig im Bewusstsein, dass er, soweit dies im Leben möglich ist, seine Schuld bezahlte