FRIEDRICH RITTELMEYER

DAS VATERUNSER

EIN WEG ZUR MENSCHWERDUNG

URACHHAUS

INHALT

Vorwort

Vom Beten

Vater unser, der du bist in den Himmeln

Geheiligt werde dein Name

Dein Reich komme zu uns

Dein Wille geschehe, wie oben in den Himmeln, also auch auf Erden

Unser alltägliches Brot gib uns heute

Und vergib uns unsere Schulden, wie wir vergeben unseren Schuldigern

Und führe uns nicht in Versuchung

Sondern erlöse uns von dem Bösen

Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit

Fußnoten

Impressum

VORWORT

Das Vaterunser ist das Einzige, das alle eint, die Christen sein wollen.

Das Herrenmahl ist als Gemeinschaftsmahl gegeben worden. Aber es ist durch die Jahrhunderte hindurch der Streitapfel gewesen. Das »Apostolische Glaubensbekenntnis« sollte der Zersplitterung wehren. Aber die Einigkeit aller Christen in ihm ist Schein. Es ist zerredet und zerstritten worden. Im Vaterunser aber begegnen sich alle, die sich zu Christus bekennen.

Und doch ist das Vaterunser von ganz anderem Geist als alle bisherigen Kirchen. Frei ist es, frei und offen nach allen Seiten – wo Kirchen oft so eng und ängstlich waren. Groß ist es, von weltumspannender Größe – wo Kirchen oft so klein und dürftig waren. Schlicht ist es und selbstlos – wo Kirchen oft so prunkvoll und anspruchsvoll auftraten. Stark ist es und willensmächtig – wo Kirchen oft so wortreich und willensschwach waren. Ja, man wundert sich, dass es »das Christentum« gibt, wie man es vor sich sieht, wenn man ins Vaterunser eindringt. Millionenfach gebetet, steht es in der »Christenheit« wie ein altehrwürdiges Gotteshaus, in dem Tausende täglich ein und ausgehen, und dessen Schätze doch nur wenige ahnen.

Das Vaterunser ist nicht das Gebet eines Auserwählten-Kreises, sondern das Gebet aller Völker und Zeiten. Das ist schon durch eine lange Geschichte erwiesen. Der Mensch ist in ihm da, der Mensch, wie ihn Christus erschaffen wollte. An diesem Menschen können alle zur Menschwerdung kommen, Zeiten und Völker. Durch das Vaterunser kann sich ein völliger Umbau der Seele vollziehen. Ein ganz neues Dasein wird geschenkt. Ein neuer Mensch erwacht in einer neuen Welt. Aus dem Vaterunser könnte eine ganze Kultur hervorgehen, nein, viele Kulturen, je nach den Völkern und Zeiten. Anders wird der Chinese das Vaterunser beten, anders der Amerikaner, anders der Deutsche. Anders würde auch jede Kultur aus dem Volkstum heraus sich färben. Und doch würde durchscheinen durch alle: der Christusmensch.

Darum mag es einer Zeit dargeboten werden, in der es viele Völker gibt, misstrauisch einander gegenüberstehend, die doch alle nach dem Menschen suchen; einer Zeit, die den Menschen wieder zu Ehren bringen will gegenüber den Institutionen und Paragrafen; einer Zeit, die nach menschlicher Größe sucht.

Das Vaterunser ist kein Lehrgebäude. Und doch lebt in ihm das ganze Christentum. Und nicht etwa bloß als Gefühl oder als Praxis, sondern als Geist, der alle Konfessionen und Dogmen überragt. Das sagen die Worte der ersten Bitten: Namen, Reich, Wille.

So mag es einer Zeit dargeboten werden, in der Lehren und Meinungen nicht so wichtig genommen werden, in der aber das Leben überall geachtet, das wahre Leben begehrt wird; einer Zeit, in der man aber auch fühlt, dass es der Geist sein muss, der alles durchdringt, in der man mit dem alten Intellektualismus tief unzufrieden ist, in der man nach neuem lebensstarken Geist Ausschau hält.

Das Vaterunser sagt kein Wort von Christus. Sein Name wird nicht genannt. Aber das lebendigste Wesensbild von Christus strahlt aus ihm.

So mag es einer Zeit dargeboten werden, die sich den Christus-Namen hat verleiden lassen, die Christus ganz neu sehen lernen soll; die ihn am besten von seinem Wesen her neu erfasst. Denn er ist lebendig gegenwärtig unter uns und will die Menschheit zu neuen Zielen führen.

Der Wortlaut, in dem wir das Vaterunser bringen, ist im Wesentlichen der altbekannte. Neuere Arbeiten haben uns nicht überzeugt, dass es anders sein müsste. In dem Vaterunser, wie es die Christen seit alters gesprochen haben, sind wir auf jeden Fall dem wirklichen Christus näher als in irgendeiner Konjunkturhypothese von Gelehrten.

Noch weniger überzeugend waren uns die Arbeiten, die aus dem Vaterunser ein israelitisches Gebet machen wollten. Ja, jeder Satz und jedes Wort ist in israelitischen Gebeten nachweisbar. Aber jeder Satz und jedes Wort haben eine ganz andere Bedeutung als in den israelitischen Gebeten.

Das Buch, das hier dargeboten wird, kann seinen Dienst nicht tun, wenn es nur durchgelesen wird. Wem es an diesem Dienst liegt, der möge etwa größere oder kleinere Teilabschnitte lesen, aber immer hindurchblicken durch die Einzelheiten auf die Bitte, die zur Betrachtung steht, und durch die Bitte auf das Vaterunser als Ganzes, und durch das Vaterunser auf Christus, wie er lebendig gegenwärtig sein will. Zur Neu-Eroberung des Vaterunsers aus unserer Zeit heraus will dieses Buch helfen. Und zur Neu-Begegnung mit Christus.

Einst hat der Verfasser als junger Mensch mit besonderer Freude über das Vaterunser gesprochen. Dann hat er während des Weltkriegs in Berlin die Menschen durch den Geist des Vaterunsers innerlich zu erheben gesucht. Wenn er jetzt zum dritten Mal über das Vaterunser das Wort nimmt, so tut er es, weil ihm die einzelnen Vaterunser-Bitten noch mehr zu lebendigen Wesen und zu persönlichen Freunden geworden sind. Das Vaterunser ist ihm immer mehr zur unmittelbaren Gegenwart Christi geworden, wie er mit uns leben will. Dazu möchte dies Buch auch anderen nach Kräften helfen.

Wir sind in eine Zeit eingetreten, die deutlich in der Tiefe das Antlitz des Erzengels Michael zeigt. Geistesstärke, Willensmut, Menschengröße wollen von ihm her unsere Seele ergreifen und erfüllen. So möge das Heidentum, das in unserer Zeit auf allen Seiten hervorbricht, dem Erzengel Michael begegnen. In uns möge es ihn erleben. Dieser Geist ist der Führer zum Sieg. Im Vaterunser lebt gerade dieser Geist. Und eben in diesem Geist ist Christus heute nah, unerhört nah.

VOM BETEN

Ein Buch über das Gebet – da wird heute vielen Menschen grau zumute. Gerade darüber will man – nach allem, was man von klein auf gesehen und erfahren hat – nichts mehr hören. Wenn überhaupt noch gebetet werden soll, dann ist das Beten doch eine allerpersönlichste Sache des Menschen. Jeder findet sich ganz auf seine Weise damit ab. »Darüber kann man nicht reden.«

Und doch gibt es kaum etwas Wichtigeres, das geschehen kann. Was verborgene Seelenkomplexe im Innern des Menschen anrichten, ist immer offenkundiger geworden. In früheren Jahrhunderten haben die Menschen vieles im Gebet abreagiert. Und heute?

Der dies schreibt, hat in einem katholischen Krankenhaus vor seinem Zimmer öfters Nonnen im Garten auf und ab gehend beten hören. Der Inhalt der Gebete schien nicht besonders lebendig in der Seele gegenwärtig zu sein. Aber es war für sie eine heilige Welt, von Jugend auf vertraut. Das umfing sie mütterlich, versetzte sie in eine andere Sphäre und beruhigte, ordnete, umfriedete sie bis in die Untergründe ihres Daseins hinein. In den altheiligen Rhythmen der Gebete schwang ihre Seele mit, löste sich und begnadete sich. – Das Gleiche kann man erleben, wenn ein Frommer alten Stils sich eine halbe Stunde in der Kirche vor dem »Allerheiligsten« innerlich ausruht. – Dazu die Beichte.

Was hat stattdessen der »moderne Mensch«? –

Aber es steht noch ernster. Der Mensch der Gegenwart zerfließt nach außen. Er löst sich auf in die Einzelanforderungen seines Berufs und seines Daseins.

Man sieht mitunter einen Eichbaum, der seine Äste wie für die Ewigkeit in die Weite gebreitet hält. Am nächsten Tag ist er zusammengebrochen. Dass das Mark im Innern des Baumes fehlte, konnte man von außen nicht sehen. Hätte er Mark gehabt, so hätte ihm der Sturm der Nacht nichts anhaben, ihn nur fester einwurzeln können.

In dieser Lage ist der »moderne Mensch«. Wenn es nicht gelingt, ihm von innen her neue Kraft zuzuführen, ihn von innen her wieder markstark zu machen, dann darf aller äußere Anschein nicht trügen. Er wird den Lebensforderungen der kommenden Jahrzehnte und Jahrhunderte immer weniger gewachsen sein. Allerlei aufschießende Nervenkrankheiten deuten hin auf die Gefahr. –

Es steht noch ernster. Und nun geht es nicht mehr um den eigenen Vorteil, sondern um die Sache der Menschheit. Der Mensch ist bestimmt, ein Geistesmensch zu werden. In den Zeiten, wo das Gebet noch nicht in Verfall geraten war, hat der Mensch im Gebet sich in einer unsichtbaren Welt erlebt. Er stand als Geist vor Geistern, auch wenn er nur an einen Gott sich wendete. Er reihte sich in die Schar derer, die im Geist leben können. Selbst wenn die Menschen persönlich wenig davon merkten, selbst wenn es sich da um lange Entwicklungen handelte: Der Mensch bereitete Menschheitszukunft vor. Er bereitete auch eigene Zukunft vor. Denn nach dem Tode ist er jedenfalls – wenn überhaupt – Geist unter Geistern.

Und noch mehr: Er lernt sprechen in der höheren Welt. Dort gibt es keinen körperlichen Mund und keine Lippen mehr. Dort gibt es nur Verständigung von Wesen zu Wesen. Ähnlich, wie wir es manchmal im Traum ahnen können. In einem rechten Gebet spricht nicht bloß der Mund, sondern das Wesen des Menschen mit dem Wesen Gottes. Wer nicht, wenigstens in allerersten Anfängen, solches Sprechen lernt, ist in der höheren Welt stumm und taub. Er ist auch wenig wert im Blick auf die geistige Zukunft des Menschengeschlechts.

Und noch mehr: Im Gebet lernt der Mensch wirken im Geist. Er erfährt, dass »Gedanken Kräfte« sind. Er fügt seinen unsichtbaren Willen in die göttliche Weltregierung ein. Er fängt an zu verstehen, wie Engel wirken. Er ahnt und ergreift, was ihm selbst einmal zugedacht ist. Er spürt auch hier Menschheitszukunft. Er schafft eigene Zukunft.

Ist es wahr, ist es möglich, dass der Mensch Geistesmensch wird; ist es wahr, ist es möglich, dass der Mensch weiterlebt nach dem Tod: Dann ist das Gebet das Wichtigste, das es gibt. Dann ist der Mensch in wichtigster Hinsicht so viel wert, wie er beten kann.

Man hat hier zum Beten das Meditieren hinzuzunehmen. Meditieren heißt: einen geistigen Inhalt frei vor seine Seele hinstellen und längere Zeit hindurch mit dem eigenen Geist betrachten.

Viele Menschen werden erst wieder beten lernen durch die Meditation.

Aber so verschieden voneinander Gebet und Meditation erscheinen: Auf der Höhe sind sie einander nah.

Da verwandelt sich das Beten in Anbeten, in andachtsvolles Hineinschauen in die göttliche Wesensherrlichkeit. – »Wer vermag im Ansehen des göttlichen Wunderspiegels zu verharren? Niemand, solange er lebt, hier in der Zeit. Ist es dir aber genommen, so kehre bald dahin zurück, dass es dir wieder werde, und dorten lass, so viel du immer kannst, dein Ziel und deine Zuflucht sein!« So sprach vor sechshundert Jahren Meister Eckehart.

Und wie das Gebet zu einer hohen Form der Meditation werden kann, so verwandelt sich die Meditation auf ihrer Höhe in ein Sprechen mit höheren Wesen, in ein Fragen, ein Bitten, ein Ringen mit Geistesmächten.

Gerade das Vaterunser kann ebenso als Bittgebet wie als Anbetungsgebet gesprochen werden. Es vereint auf der Höhe alle Segnungen der Meditation mit allen Gnaden des Gebets.

Durch das Johannes-Evangelium hindurch kann man Christus selbst in seinem inneren Leben erschauen. Ein unausgesetztes inneres Sprechen mit dem Vater ist der Hintergrund alles seines äußeren Lebens. –

Die Menschen vergangener Jahrhunderte lebten mehr nach innen, aber versäumten das Außen. Die Menschen unserer Zeit leben nach außen, aber versäumen das Innen. Viel Geisteskraft gehört dazu, zu gleicher Zeit nach außen und nach innen zu leben. Weit mehr Geisteskraft, als der Normalmensch heute schon besitzt. Das ist der Mensch der Zukunft. Christus ist uns hier vorangegangen.

Dies Doppelleben, das der Mensch zu führen berufen ist, weil er eben ein Leib-Geist-Wesen ist, steht im Christus des Johannes-Evangeliums in aller Helligkeit vor uns. Was auch immer im äußeren Leben geschieht: Stets ist ein inneres Geschehen vorangegangen. Bedeutungsvollen Aufschluss gibt jedes Wort, das Christus im Johannes-Evangelium davon erzählt. Zwei Äußerungen stehen sich gegenüber. Ich sage nichts, als was der Vater wirkt. Ich wirke nichts, als was der Vater sagt. Sprechen und Wirken gehen ineinander über. Seine Taten sind Worte. Seine Worte sind Taten.

Auch die andern Evangelisten berichten uns in aller Klarheit, wie das ganze Leben Christi aus dem Gebet geboren ist, wie es vom Gebet überall getragen wird, wie es in lauter Gebet ausgeht. Im Johannes-Evangelium aber kommt dieses unausgesetzte Sprechen mit dem Vater so nah wie nur möglich an uns heran.

Drei Gebete Christi hat das Johannes-Evangelium ausführlich aufbewahrt. Das erste ist das Gebet am Grab des Lazarus. »Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast! Doch ich weiß, dass du mich allezeit erhörst. Aber um des Volkes willen, das umher steht, sage ich es, dass sie glauben, du habest mich gesandt« (Joh. 11,41  42). – Wir erleben das Ende eines langen Gespräches mit. Wir dürfen an dem ruhigen Bewusstsein Christi teilnehmen, dass er immer in der Erhörung steht. Wir tauchen in sein freudeleuchtendes Dankgefühl ein. Wir sehen ein freies, sicheres Wirken aus dem Inneren ins Äußere.

Das zweite Gebet ist das Gebet des innerlichen Ringens, wie das erste Gebet das Gebet des äußeren Wirkens ist. »Jetzt ist meine Seele betrübt. Und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde! Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen. Vater, verkläre deinen Namen! Da kam eine Stimme vom Himmel: Ich habe ihn verklärt und will ihn abermals verklären« (Joh. 12, 27 und 28). – Wir sehen in die innerste Seele Christi hinein mit ihrer menschlichen Not und ihrer göttlichen Größe. Wir erleben die Seele aller seiner Gebete. Wir schauen auch durch ihn hindurch in die Seele des sich zu ihm neigenden Vaters.

Das dritte Gebet ist das »Hohepriesterliche Gebet« (Joh.17). – Nicht genug wundern können wir uns, dass dieses Hohepriesterliche Gebet überhaupt da ist. Und nicht genug freuen können wir uns, dass es wenigstens einen Menschen gegeben hat auf der Erde, der es in seiner Seele widerspiegeln konnte.

Alles, was wir oben über die Zukunft des Menschen gesagt haben, sehen wir hier lebendig vor Augen. Christus steht vor uns, gleichzeitig in beiden Welten lebend. Frei geht er zwischen diesen Welten hin und her. Bald blickt er hin nach der göttlichen Welt, die ihn nun aufnehmen will, dann wieder blickt er nach der irdischen Welt, in der er nun seine Jünger zurücklässt. Auf der Schwelle zwischen zwei Welten lebt sein Ich. In die eine Welt zieht ihn sein Wesen. In die andere Welt zieht ihn sein Wollen.

Und sein Sprechen mit dem Vater ist wirklich vor unseren Augen ein Erstrahlen von Wesen zu Wesen. Man kann es vor allem am ersten Teil des Gebetes in unerhörter Weise nacherleben, wie nicht nur der Gedanke, sondern das Wesen des Sohnes mit dem Wesen des Vaters spricht. Aus dem Vater kommen Fragen; Fragen, die das Wesen des Vaters an den Sohn stellt, eine nach der anderen. Und der Sohn antwortet. Schon das allererste Wort »Gekommen ist die Stunde«: Wenn der Sohn dem Vater gegenübertritt, so steht jetzt der Sohn in der Zeit, der Vater aber über der Zeit. Das empfindet der Sohn zuerst und erwidert auf die geheime Frage des Vaters, dass er dort in der Zeit steht, wo der göttliche Wille, dem er von Stunde zu Stunde folgt, ihn hingestellt hat. Von Wort zu Wort schreitet das Gebet auf solchen Wegen weiter. Das lebendige Wesen des Vaters, das der Sohn auf sich niederstrahlen fühlt, fragt ihn nach seiner Vollmacht, nach seinem Auftrag, nach seinem Werk, nach seinem Willen. Und immer strahlt das Wesen des Sohnes – nicht nur sein Wort – auf den Vater zurück. Das ist: Sprechen in der Geisteswelt.

Erleben wir im ersten Teil des Gebetes mehr das Sprechen mit dem Vater, so erleben wir im zweiten Teil mehr das Wirken mit dem Vater. »Ich bitte« (17,9; 17,15; 17,20); »Ich will« (17,24). Auf göttlichen Höhen sprechen Vater und Sohn miteinander über die Zukunft des Menschengeschlechts. Frei fügt der Sohn seinen Willen dem göttlichen Vaterwillen ein. –

Größeres gibt es auf der Erde nicht zu sehen. Höheres gibt es nicht zu lernen. Sein im Vater. Sprechen mit dem Vater. Wirken mit dem Vater.

Siehe, der Mensch!

Man hat Christus oft den Meister des Gebets genannt. Von dieser Meisterschaft des Gebets ist in den Evangelien viel mehr zu erkennen, als die Menschen schon gefunden haben. Aber es gibt in den Evangelien auch eine wirkliche Schule des Gebets. Während die Mysterienweisen vergangener Zeiten sorgfältig vor der Allgemeinheit verbargen, was sie in engem Kreis rein halten und pflegen wollten, hat Christus seine Winke und Weisungen der ganzen Menschheit frei anvertraut.

Wir haben die Weisungen Christi im Matthäus-Evangelium, verstärkt noch durch das Lukas-Evangelium. Und wir haben seine Winke im Johannes-Evangelium. Die Ersteren mehr für das Volk, die Zweiten für den intimen Jüngerkreis. Man darf sie in diesem Sinn als exoterisch und esoterisch unterscheiden.

Bei den Weisungen, die Christus im Matthäus-Evangelium für das Gebet gibt, fällt zuerst auf, dass es so wenige sind. Über Zeit und Ort, über Häufigkeit, Haltung und viele Fragen, die den Betenden oft recht wichtig waren, hat Christus offenbar nichts gesagt. Andere religiöse Führer haben Vorschriften und Ratschläge in Fülle zu erteilen gewusst. Wir haben als Beispiele den Koran und haben den Talmud. Von Christus findet sich kein noch so leises Wort über Morgen- und Abendgebet oder über Tischgebet. Das wäre gewiss nicht vergessen worden. Das Christus-Wort des Johannes-Evangeliums über das Beten »im Geist und in der Wahrheit« lässt uns erkennen, dass hier volle Absicht waltet.

Dem entspricht auch, dass die Worte über das Gebet im Matthäus-Evangelium beginnen: Wenn du betest … Wir sehen deutlich ein Zeitalter heraufziehen, in dem die Freiheit des Menschen, gerade in Hinsicht auf sein Reden mit Gott, aufs allerstrengste gewahrt bleibt. »Wenn du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließe die Türe zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen, und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird dir’s vergelten öffentlich« (Matth. 6,6). »Schließ die Tür zu«: Damit auch nicht im unterbewusstesten Winkel deiner Seele der Gedanke Raum haben kann, dass dich jemand überraschen könnte. Dieses eine Wort lässt uns schon eine allerzarteste Keuschheit atmen. Nur in solcher Keuschheit, gegen die anderen und gegen uns selbst, darf gebetet werden.

Man hört manchmal sagen: Heute wäre eine solche Mahnung nicht mehr nötig. Denn die Menschen verstecken es ohnedies vor ihren Mitmenschen, wenn sie überhaupt noch beten. Heute müsste man eher sagen: Scheut euch doch nicht immer, euch zum Gebet zu bekennen. Aber damit würden wir den tief gehenden Ernst, den diese Mahnung auch für uns hat, achtlos überhören.

Nicht nur, dass es immer noch viel öffentliches Beten gibt. Und nicht jeder, der an einem Kirchengebet teilnimmt, fühlt lebendig, dass er gar nicht wahr sein kann, wenn er nicht dennoch zugleich »in sein Kämmerlein« geht. Auch bei vielem, das heute als »Bekenntnis« vor die Öffentlichkeit tritt, vielleicht sogar mit persönlicher Überwindung, etwa in der »Oxford-Bewegung«, muss man fragen: Gehört es nicht ins »Kämmerlein«?

Die Winke Christi wollen auf ihren innersten Geist abgehorcht sein. Dort sollen wir mit Gott reden, wohin wir nicht einmal unsere allervertrautesten Menschen blicken lassen möchten, wohin wir nicht einmal selbst gern blicken. Denn es gibt Wahrheit, und gibt strengere Wahrheit, und gibt allerstrengste Wahrheit. Nicht nur, dass wir »die Welt« aussperren müssen, alles das, was uns sonst bewegt und Eindruck macht. Schon dies ist viel schwerer, als wir denken. Wir müssen aber auch uns selbst aussperren – damit wir uns selbst finden. Uns selbst, wie wir gewöhnlich über uns denken und fühlen, haben wir auszuschalten, wenn wir in Wahrheit vor Gott stehen wollen. Wir werden erleben, dass immer wieder etwas da ist, das wir aussperren müssen. Als ob wir gestorben und ins Land der allerlautersten Wahrheit hinübergegangen wären, sollen wir beten lernen. Gott wohnt »im Verborgenen«. Dort will er gefunden sein.

Je näher wir aber dem kommen, umso mehr werden wir merken, dass jetzt unsere Gebete Wirklichkeiten sind, dass sie als Wirklichkeiten in die große Wirklichkeit eingreifen. Wir wissen: Sie werden gehört, auch wenn sie nicht erhört werden. Sie sind wie lebendige Samenkörner, die in einen großen Acker hineingesät werden. Wir sehen sie vielleicht niemals wieder, aber sie sind dabei. Wir werden vielleicht die »Erhörung« überraschend irgendwo in unserer Seele entdecken. Wir werden erfahren, dass die Antwort auf unser Gebet auf einmal da ist. Aber das ist uns nicht das Letztwichtige. Wir fühlen, wie unsere Gedanken und Gebete hineingehen in eine große, reiche göttliche Welt und dort mitwirken, wie sie wesenhaft werden und den Christus-Schatz der Erde vermehren, wie sie sich zu Wirkungen und Wirklichkeiten gestalten, die am Gewebe der Welt mitschaffen.

Nach Luthers Übersetzung sagt Christus: »Und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird dir’s vergelten öffentlich.« Man wollte da gleich wieder den jüdischen Lohngedanken wittern. Besser wäre es gewesen, man hätte Acht darauf gehabt, dass es nicht heißt: »wird dich erhören öffentlich«, sondern wörtlich: »Dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird dir wiedergeben.« Und am allerbesten wäre es gewesen, man hätte auf das nächstliegende und größte Beispiel für dieses »Wiedergeben« hingeblickt: Christus selbst. Er selbst ist »wiedergegeben« mit seinem ganzen Leben und Wesen.

Die zweite Mahnung Christi ist: »Wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen.« – Lebt in der ersten Mahnung die innerliebste Keuschheit gegenüber den Menschen, so lebt in dieser Mahnung die innerliebste Keuschheit gegenüber Gott. Die Ehrfurcht, die wir jedem menschlich Großen selbstverständlich nichtweildennoch