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Fußnoten


1 Aus den Anfangsbuchstaben von Kansas und Texas erhielt die Gesellschaft ihren Spitznamen KATY, der auch im Emblem des Unternehmens zu finden ist. Er wird im folgenden Text ebenfalls verwendet.

2 Dabei handelt es sich um einen deutschsprachigen Zweig der Methodisten, welche ihrerseits zu jener Zeit eine der größten Glaubensgemeinschaften der USA waren. Die United Brethren in Christ (so im Original) gelten als die erste in den USA entstandene Konfession.

3 Vgl. Tobias Preisegott Burton, Karl May, Der Geist des Llano Estacado

4 Eine Region im heutigen Grenzgebiet von Sachsen, Thüringen, Bayern und Tschechien. Thüringen wurde auch als das grüne Herz Deutschlands bezeichnet.

5 Ein mechanisches Musikinstrument, das imstande ist, eine kleine Kapelle zu ersetzen.

6 Pound (lb): angloamerikanische Gewichtseinheit; ein lb entspricht 453,6 Gramm

7 Die frühe Eroberung durch die Nordstaaten verhinderte dort größere Kampfhandlungen und Zerstörungen während der Sezession. Als sich 1866 viele schwarze Soldaten der Nordstaaten in der Stadt aufhielten, kam es am 1. Mai erst zu Ausschreitungen und in den zwei folgenden Tagen zu schweren Verfolgungen. Bis zum 3. Mai wurden achtundvierzig Menschen, davon sechsundvierzig Schwarze und zwei Weiße (denen Sympathie zu den Schwarzen vorgeworfen wurde), ermordet. Etliche Wohnhäuser und Kirchen von schwarzen Einwohnern der Stadt wurden abgebrannt.

8 Lawyer; engl. für Anwalt

9 Nach dem US-amerikanischen Recht eine juristische Zusammenkunft, bei der nicht über die Hauptsache entschieden wird, sondern über eher nebensächliche Anträge. Die beiden wichtigsten davon sind jene, ob überhaupt ein Hauptverfahren eröffnet werde oder nicht vielmehr der Angeklagte auf freien Fuß zu setzen sei – aus Mangel an Beweisen oder wegen erfolgter Verfahrensfehler.

10 Judge; engl. für: Richter

11 Joss; kantonesisch für: Schicksal

12 Historisch gesehen war im Kontext der Sklavengesellschaften Amerikas ein Quadroon oder Quarteron eine Person mit einem Viertel afrikanischen und drei Viertel europäischen Vorfahren.

13 Eine ursprünglich aus dem heutigen Kroatien stammende Rotweinsorte. Die Weine zeichnen sich durch ein charakteristisch würziges, an Zimt, Nelken, schwarzen Pfeffer und dunkle Waldfrüchte erinnerndes Aroma aus. Die Rebsorte wurde in den späten 1850er-Jahren nach Kalifornien eingeführt und begründete dort den heute weltbekannten Weinanbau.

14 Das Gedicht stammt von Joseph Karl Benedikt Freiherr von Eichendorff (1788–1857), deutscher Dichter, Novellist und Dramatiker.

15 Sieben Bären; siehe dazu Karl May, Old Shurehand III

16 Die Lange Hand, siehe dazu Karl May, Old Shurehand III

17 Arizona in der Sprache der südwestlichen Sanddünenvölker

18 Vgl. Karl May, Winnetou I

19 Vgl. Old Shatterhand, Neue Abenteuer, Bände 4-6

20 Ein Vorläufer des Fahrrades

21 Lange Zeit, bevor Thomas Alva Edison seine marktreife Glühbirne zum Patent anmeldete, gelang dem 1818 in Deutschland geborenen Heinrich Goebel eine Vorerfindung. Er nahm einen Parfümflakon und stellte mittels einer Quecksilberentlüftung ein Vakuum im Innern des Glaskolbens her. Auf diese Weise verhinderte er das Verglühen des Fadens. Goebel bastelte weiter an seiner Erfindung und soll 1859 mit seinen Lampen bereits eine Brenndauer von 400 Stunden erreicht haben. Er beleuchtete damit das Schaufenster seines Uhrmacherladens in New York. Aber das soll dermaßen hell gewesen sein, dass sich die Nachbarn beschwerten und Göbel die Beleuchtung wieder abbauen musste.

22 Gemeint ist Louis Pasteur

23 Veraltet für Milzbrand (Anthrax)

24 Der US-amerikanische Bürgerkrieg (1861-65) endete mit der Kapitulation des Südens (der Konföderierten Staaten von Amerika). Zwar bildete die humanitäre Sklavenbefreiung den Kriegsgrund, jedoch waren auch handfeste wirtschaftliche Interessen im Spiel.


Im Wilden Westen Nordamerikas
FRAGWÜRDIGE GENTLEMEN


In dieser Reihe bisher erschienen

2201 Aufbruch ins Ungewisse

2202 Auf der Spur

2203 Der schwarze Josh

2204 In den Fängen des Ku-Klux-Klan

2205 Heiße Fracht für Juarez

2206 Maximilians Gold

2207 Der Schwur der Blutsbrüder

2208 Zwischen Apachen und Comanchen

2209 Der Geist von Rio Pecos

2210 Fragwürdige Gentlemen

2211 Jenseits der Grenze

2212 Kein Glück in Arizona


H. W. Stein (Hrsg.)



Fragwürdige
Gentlemen





Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!
Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung
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Infos unter: 
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© 2019 BLITZ-Verlag
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Autor: Hymer Georgy
Überarbeitung: Thomas Ostwald
Titelbild: Ralph Kretschmann
Logo: Mario Heyer
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-440-4

Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!



1.


Der Dampfkessel der American-Standard-Lokomotive gab sein Bestes. Das fauchende Ungetüm zog den niedrigen Kohlenwagen sowie die acht sich dahinter befindlichen hohen, lang gestreckten Waggons in zunehmend schnellerem Tempo durch die abwechslungsreiche, hier noch nicht gänzlich vegetationsarme Region von Ostkansas auf dem Weg nach Parsons. Kohlen glühten auf, als von einer rußgeschwärzten Schippe nachgelegt wurde. Dunkler, dichter Qualm breitete sich unablässig aus, und die verbindenden Gestänge der Achsen drehten sich kreischend ohne Unterlass. In das Fahrgeräusch des vielrädrigen Eisenbahnzuges der Missouri-­Kansas-Texas Railroad1 mischten sich zunehmend immer häufiger Schüsse aus zahlreichen Feuerwaffen. Die Scheiben, die nicht durch Kugeln getroffen wurden und zerplatzten, zerschlugen die Passagiere selbst von innen heraus mit den Kolben ihrer Gewehre und Pistolen, um ein besseres Schussfeld zu erhalten.

An die dreißig etwas verwildert wirkende Reiter, größtenteils mit Filzhüten auf den Köpfen und mit bunten Halstüchern vor den Gesichtern, stoben auf einer Seite neben dem dahinrasenden Zug daher. Sie feuerten scheinbar ungezielt von ihren Reittieren her seitwärts auf die Scheiben der sechs hinteren Waggons. Der eine oder andere Passagier, eher zufällig getroffen, brach hinter den Fenstern zusammen oder stürzte blutend zwischen die Reihen der Sitze. Die entsetzten Schreie junger Frauen waren zu vernehmen, die hier und dort wenig damenhaft auf dem Boden in Deckung lagen und sich erschrocken die Hände vor das Gesicht schlugen.

Dann wurden jedoch auch mehrere Banditen getroffen. Sie stürzten über ihre stolpernden Pferde in vollem Ritt hinweg in den Staub zwischen das dürre Gras und blieben liegen, wo sie gefallen waren.

Die meisten, äußerst zielsicheren Schüsse, kamen in schneller Folge hauptsächlich aus jenem ganz bestimmten Gewehrlauf, der ein Stück weit aus einem der hinteren Fenster im vorletzten Wagen ragte. Zehn, zwölf, vierzehn Mal verließ eine Kugel nach der anderen die präzise Waffe, ohne dass nachgeladen wurde. Die ausgeworfenen Patronenhülsen prasselten auf den Wagenboden. Immer mehr Angreifer oder deren Pferde ereilte ihr Schicksal. Das Reittempo der verbliebenen Banditen schien etwas nachzulassen, vielleicht wurde aber auch der Zug nochmals etwas schneller. Die Passagiere konnten beobachten, dass die Angreifer immer mehr zurückblieben und selbst die Kugeln aus deren Gewehren die Waggons schließlich nicht mehr zu erreichen vermochten. Zuletzt sah man die Pferde der Banditen in der Landschaft gänzlich anhalten. Aus der Ferne waren deren einzelne Gesichter nicht zu erkennen, auch nicht, als sie sich jetzt, ihrem skrupellosen Anführer folgend, die maskierenden Tücher ebenso wütend wie enttäuscht von den Gesichtern rissen. Mit so heftiger Gegenwehr hatten sie offenbar nicht gerechnet gehabt!

Vielfältiges Stimmengewirr erfüllte nunmehr die bei schneller Fahrt schaukelnden Waggons. Hier und da war ein erleichtertes, seufzendes Aufatmen zu vernehmen. Manch einer der Fahrgäste dankte im Stillen Gott für dessen Eingreifen in der Not, nachdem ihnen nun bewusst wurde, dass doch noch nicht das letzte Stündlein geschlagen hatte. Diejenigen Männer, die hinter den Fenstern Position bezogen und auf die Angreifer gefeuert hatten, erhoben sich vorsichtig, obwohl der Zug weiterhin mit fast eineinhalbfacher als gewöhnlicher Geschwindigkeit dahinraste. Gutes Festhalten war allseits erforderlich.

Zu diesen sich nun wieder in eine würdigere Position begebenden Personen gehörte auch ein mittelgroßer Mann mit auffallend spitzem Gesicht. Er kauerte zuvor noch in derselben Sitzgruppe neben dem für seine Begriffe äußerst treffsicheren Schützen. Er war um die fünfunddreißig Jahre alt, von kräftiger Statur, trug einen hellgrauen Anzug, wie ihn die Städter der Ostküste des Landes bevorzugten, sowie zum weißen Hemd einen dünnen, schwarzen Schleifenbinder. Breite, dichte Koteletten ragten von den Seiten des vollen schwarzen gekräuselten Haupthaares bis hinab zu seinem Kinn. Die Augen lagen dunkel und beinahe ein wenig verschlagen tief in ihren Höhlen. Den Revolver, ein Smith & Wesson No. 1 1/2, Kaliber .32 Rimfire, mit dem er selbst nur vier oder fünf Mal durch jenes zerborstene Abteilfenster gefeuert hatte, dessen scharfe zackige Glasreste nun noch bedrohlich im Rahmen steckten, schob er mit beinahe lässiger Bewegung in das hierfür gedachte Holster seitlich vor seinem Bauch unter der halb offenstehenden Jacke. Dann wandte er sich etwas schief lächelnd seinem Nachbarn mit dem Gewehr zu, der sich soeben ebenfalls erhob.

„Meine Güte!“, gab er laut gegen den hereindringenden Fahrtwind mit einem deutlich Bostoner Akzent von sich, und blickte auf. „Ihr schießt wie der Teufel! Was ist denn das für eine Zauberflinte? So etwas habe ich ja noch nie gesehen. Vielen Dank! Das war ausgezeichnet geschossen, Mister ...“

Er kam nicht dazu, zu Ende zu sprechen, denn in diesem Augenblick traf ihn eine Faust gegen den Kopf, seitlich an der Schläfe. Der Mann aus dem Osten verdrehte schlagartig die Augen und fiel wie vom Blitz gefällt zurück auf die gepolsterte ­Sitzbank hinter ihm. Dort kippte er ohnmächtig mit dem Oberkörper zur Seite. Keinen weiteren Mucks von sich gebend, blieb er dort in dieser Verrenkung liegen.

Es war, die ihn traf, soviel sei nun hier verraten, meine Faust!


*


Ich stellte den Henry-Stutzen ungerührt mit dem Kolben nach unten auf die Sitzbank in die Ecke zur Außenwand des Waggons hin, sodass er trotz der schnellen Fahrt nicht umkippen konnte. Dann beugte ich mich über mein Opfer. Es war bewusstlos, daher gab es keine Schwierigkeiten, ihn zunächst des Revolvers zu entledigen und dann für einen Moment genauer zu betrachten. Letzteres tat ich, obwohl ich dazu in den letzten beiden Stunden eigentlich schon hinreichend Gelegenheit gehabt hatte, bevor der Überfall begann.

Willard Duncan Blackstone. So hatte er sich mir vorgestellt, kurz nach unserer Abfahrt in Kansas City am späten Vormittag. Inzwischen war ich allerdings völlig überzeugt, dass er mir in unserem oberflächlich gebliebenen Gespräch nicht seinen richtigen Namen verraten hatte. Der ganze Mann war falsch! Über Boston, seine angebliche Heimatstadt, wusste er nicht einmal zu sagen, dass Rebecca Lee Crumpler die erste Schwarze in den Vereinigten Staaten war, die dort, zehn Jahre war es wohl her, einen ­Hochschulabschluss in Medizin erhielt – noch vor der Sezession! Jeder Mensch, der wirklich in Boston geboren oder länger dort ansässig war, hätte das auf jeden Fall erwähnt. Zumindest, nachdem sich die Gespräche im Abteil um die langfristigen Folgen des Bürgerkrieges, also auch um die Freiheit der Schwarzen, drehten, und man ihn daraufhin ansprach.

Einige Minuten bevor dann der Überfall begann, beschlich Blackstone zudem eine sichtliche Nervosität, die mir nicht entging. Und während es mir selbst gelang, etliche Angreifer mit gezielten Schüssen aus dem Stutzen von ihren Pferden zu holen, hatte er hingegen nicht nur im Eifer des Gefechts für mich erkennbar deutlich daneben gefeuert. Entweder, ­Willard Blackstone war ein erbarmungswürdiger Schütze, seine Waffe war extrem verzogen oder er schoss aus irgendeinem Grunde absichtlich nicht sehr gezielt.

Gegen die erste Annahme sprach die Art und Weise, wie er seine Waffe trug. Ein solch spezielles Holster verwendeten nur städtische Revolvermänner, die ihr Handwerk beherrschten und von der Profession her sehr schnell im Ziehen und außergewöhnlich gut im Schießen sein mussten. Die zweite Überlegung vermochte mein Kennerblick zu entkräften: Es handelte sich bei seiner Waffe um einen womöglich ­oftmals verwendeten, aber äußerst gepflegten modernen fünfschüssigen Trommelrevolver. Der Knauf war ein sogenannter Bird’s Head, also abgerundet. Kimme und Korn bildeten eine gerade, saubere Linie. Die Banditen waren so nah neben dem Zug hergeritten, dass er sicher ein oder zwei mühelos damit hätte treffen können, wenn er es nur ernstlich gewollt hätte. Blieb die dritte Möglichkeit.

Ich klopfte seine Anzugjacke ab und förderte schließlich neben einer dicken ledernen Geldbörse und einem Billett, welches bis nach Chetopah reichte, ein doppelt zusammengefaltetes, innen mit Tinte beschriebenes Papierblatt zutage. Bevor ich jedoch alle Fundstücke einer weiteren Begutachtung unterziehen konnte, wurde ich gestört.

„Warum habt Ihr den Gentleman da niedergeschlagen?“, fragte mich nämlich nun eine aufgeregt klingende, helle männliche Stimme. Sie gehörte ebenfalls einer Person, welche die Reise mit mir zusammen im selben Abteil angetreten hatte, aber unterwegs bislang sehr schweigsam geblieben war. Er stand hinter mir im Gang und hielt sich gegen die schaukelnde Bewegung des Zuges am Rahmen des Abteilzugangs fest. Es handelte sich bei ihm um einen halbdeutschen Prediger mit dem wohlklingenden Namen Thaddaeus Milford. Er gehörte zur ­Kirche der Vereinigten Brüder in Christo2, denen nicht nur der Glaube an Gott das Mitführen einer Waffe oder gar deren Einsatz verbot, sondern dessen Angehörige damit auch im Zweifel nicht umzugehen verstanden. Daher war er während des Feuergefechts still für alle vor sich hin betend in Deckung geblieben. Sicher aber handelte es sich nicht um einen Feigling, so, wie er sich nun einmischte.

Ich blickte langsam zu ihm und setzte zu einer erklärenden, gelassenen Antwort an. Er fügte jedoch bereits tadelnd, als würde er eine ­vorbereitete Unwahrheit von mir erwarten, hinzu: „Leugnet es nicht! Ich habe es genau gesehen, und der Herr ist mein Zeuge!“ Bei seinem ersten Satz deutete er zunächst mit seiner fleischigen Hand auf das Häufchen Elend von Blackstone, bei dem zweiten dann mit dem Zeigefinger erst auf mich und dann gen Wagenhimmel sowie darüber hinaus.

„Ich leugne es ja gar nicht!“, antwortete ich ruhig und ließ von dem Bewusstlosen ab. In einer Hand hielt ich die beiden Fundstücke.

„Dann wolltet Ihr ihn ausrauben, wie?“, fragte der Prediger misstrauisch. „Die Gunst der Situation nutzen, wie?“ Das jeweilige wie stieß er spitz zwischen den Lippen seines kleinen runden Mundes hervor. Überhaupt war dieser Diener ­Gottes ein echtes Kuriosum. Das freundliche, bartlose, rosige Vollmondgesicht glänzte in der Nachmittagssonne, deren gleißende Strahlen in den ­Waggon hinein ­fielen. Seine Augen verrieten Güte und Barmherzigkeit, und die große Knollennase mittendrin spottete jeder Beschreibung. Er trug die schwarze Halbsoutane in voller Überzeugung zu seinem Berufsstand und verfügte trotz seiner merkwürdigen Gesamterscheinung über das rechte Maß der erforderlichen Autorität. Vor dem ansehnlichen Bauch baumelte ein goldenes Kreuz mit falschen Rubinen an einer langen Kette, die bis um seinen Hals reichte. Seine Kopfbedeckung hatte er aufgrund der Temperaturen abgelegt, die im Zug herrschten, bevor die Scheiben zu Bruch gingen. Daher wehte nun sein etwas angegrautes nackenlanges, strähniges Haar leicht im hereindringenden Fahrtwind. Es erinnerte mich entfernt an Bildnisse auf alten Seegemälden, bei denen die Unbill des Meeres und Stürme als das Gesicht eines weißhaarigen göttlichen Greises dargestellt wurden.

„Ich weiß, wie das für Euch vielleicht aussehen muss, Hochwürden. Aber wenn ich es Euch erklären darf ...“, begann ich vorsichtig, um mich dabei der Höflichkeit halber gänzlich zu ihm hinzuwenden, wurde aber von ihm erneut unterbrochen.

„Du sollst nicht begehren deines Nächsten ­Dollars!“, gab er allen Ernstes mit der Inbrunst der Überzeugung, aber eben seiner hellen Stimme, von sich.

Ich warf einen kurzen Blick auf die offenbar gut gefüllte fremde Brieftasche in meiner Hand. „Heißt das an betreffender Stelle der Bibel nicht vielmehr: Du sollst nicht stehlen?“, entgegnete ich lächelnd. Die Anspannung der überstandenen Attacke der Räuberbande wich von mir. Der Angriff war vorüber, und von dem Mann Gottes hatte ich sicher nichts Ernsthaftes zu befürchten. Auch, so fiel mir ein, wenn ich bei früheren Reisen in dieser Gegend bereits leidlich andere Erfahrungen gemacht hatte.3

„Wie auch immer: Stehlen ist Sünde!“, sagte er bestimmend und verzog dabei seine eigenwillige Schnute. Er besaß darin Zähne wie Stifte, sorgsam voneinander durch sichtbare Zwischenräume getrennt.

Der Zug verlangsamte nun die Fahrt und kehrte allmählich zu seiner normalen Geschwindigkeit zurück, während er in eine weite Kurve bog. Die Lokomotive stieß einen schrillen, lang anhaltenden Pfiff aus, als Dampf abgelassen und damit sogleich signalisiert wurde, dass die Gefahr überstanden war. Es klang fast zu freudig. Auch die letzten männlichen Passagiere erhoben sich daraufhin und die Ehemänner unter ihnen halfen ihren Damen auf. Vier der Passagiere in diesem Waggon würden sich allerdings nie mehr erheben, wie ein anwesender Arzt alsbald feststellen sollte. Wie viele es in den anderen Waggons letztlich waren, blieb zunächst unklar. Drei weitere hier hatten ebenfalls, wenn auch leichtere, Schusswunden oder solche von umherfliegenden Glassplittern davongetragen, die zu versorgen jener Doktor sich nun eilends anschickte.

Es herrschte fortan unter den übrigen Passagieren eine erhebliche Aufgeregtheit nach den soeben erlebten Geschehnissen. Überall wurde schnell, zumeist in amerikanischen oder englischen Mundarten, jedoch auch in anderen europäischen Sprachen, durcheinandergeredet. Offenbar erörterte man dabei vor allem die Frage, ob man denn nun mit dem Zug anhalten oder lieber so schnell wie möglich die nächste Station erreichen solle. Diese lag allerdings immer noch etwa eineinhalb Reisestunden entfernt, aber ich hörte kaum hin und wandte mich wieder an den Prediger.

„Wir sollten uns lieber ebenfalls erst einmal um die anderen Fahrgäste kümmern. Sicher benötigt mancher nicht nur medizinischen, sondern auch seelischen Beistand!“, forderte ich in Anbetracht des herrschenden Tohuwabohus den Mann Gottes auf. Leider waren solche Überfälle auf Eisenbahnen und Kutschen in dieser rauen Gegend keine Einzelfälle, und immer wieder gab es dabei Tote und Verletzte zu beklagen – und trauernde Hinterbliebene. Diesmal schien es einigermaßen glimpflich ausgegangen zu sein. Einigermaßen!

Der Prediger blickte besorgt um sich, ohne mich dabei gänzlich aus den kleinen Augen zu lassen, und erkannte wie ich einige verstörte Gesichter. Irgendwo weinte ein älteres Kind, und an anderer Stelle jammerte eine Frau, deren Gatte bei dem Überfall sein Leben verloren hatte oder zumindest schwer verletzt worden war. Die rosige Zungenspitze des Predigers fuhr kurz über seine Lippen, als würde ihm hierdurch eine himmlische Erkenntnis zuteil, wie weit er mir trauen könne.

„Na schön“, meinte er dann. „Vielleicht sollten wir das wirklich. Über das hier reden wir später noch! Aber gebt dem Mann sofort seine Sachen zurück, Mister ...?“ Bei dem letzten Wort legte er den Kopf leicht schräg, was bei seinem Rundgesicht kaum etwas veränderte. Dabei sah er mich fragend an, wobei die hellen Augen geradewegs in die Meinigen blickten.

„Charly ...“, antwortete ich ihm sogleich freundlich mit sicherer Stimme, ohne seinem energischen Blick auszuweichen, und setzte meinen bürgerlichen Familiennamen hinzu. „Wie ich bereits zu Beginn der Reise sagte.“ Dann ergänzte ich: „Meine Freunde hier im Westen der Neuen Welt allerdings nennen mich auch ... Old Shatterhand!“