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Wolfgang Held

Vier Minuten Sternenzeit

Leben mit den kleinen und großen
Rhythmen der Zeit

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Inhalt

Vorwort

Wie lange dauert ein Augenblick?

Das Gleichgewicht der Gegenwart

Wenn Rhythmen nicht aufgehen – oder: Von der Zeit «zwischen den Jahren»

Wie lange dauert die Gegenwart?

Geschwindigkeit und Herzrhyhtmus

Vier Minuten Sternenzeit

Der «Rahm» des Tages – oder: Von der morgendlichen und abendlichen Erkenntnis

Mit dem Abend beginnt der neue Tag

Die Obertöne des Tageslaufs – oder: Der Sinn des Mittagsschlafs

«Die unendlichen Augen, die die Nacht in uns öffnet»

Die Sechzehntelnote im Tageslauf

Wann geht etwas in «Fleisch und Blut» über?

Die Vergangenheit rückt immer näher

Sprünge in die Zukunft

Das Jahr. Der Wechsel der Seele vom Entdecker zum Philosophen

Vom kleinen und großen Rhythmus des Willens

Ein Atem – länger als ein Jahr

Der Rhythmus der menschlichen Geburten

Die Zahl der Zeit

Die Zahl der Vollständigkeit

Der Mondknotenzyklus und die Nähe des höheren Ichs

Saturn und die Langsamkeit

Die langen Stunden im Winter

Sonnenrhythmen

Die Spanne der Aufmerksamkeit

Der Bogen des Tageslaufes

Der Zusammenklang von Erde, Mond und Sonne

Die doppelte Verzögerung der Sonne

Jedes Jahr ist anders – vor allem nach 2160 Jahren

Die irdische und kosmische Woche

Jetzt steht jeder am Bug der Zeit

«Wassermannzeitalter» – Was heißt das?

Krise und Aufbruch – Vom Rhythmus der Sonnenflecken

Das menschliche Maß der Planetenriesen

Der aufrechte Gang und das Weihnachtsfest

Die zwei Sonnenwenden der Weihnachtszeit

Vorwort

«Ich bin eigentlich ganz anders, ich komme nur selten dazu.» Ein Satz, der zum Schmunzeln anregt, aber auch ein Satz, der sein Ziel nicht verfehlt. Denn was der österreichische Dichter Ödön von Horváth vor hundert Jahren aufschrieb, scheint heute aktueller denn je.

Nichts entscheidet so gravierend über den Erfolg der eigenen Persönlichkeitsentwicklung wie das persönliche Verhältnis zur Zeit. Waren im 20. Jahrhundert Zeitratgeber der Wirtschaft und dem Management vorbehalten, so stellt sich heute für jeden Einzelnen die Gretchenfrage: «Wie hältst du es mit der Zeit?»

Der Pionier der modernen Rhythmusforschung, Gunther Hildebrand, formulierte bereits in den 80er Jahren: «Jeder Mensch befindet sich heute in einem chronobiologischen Zeitkonflikt.» Heutiges Kultur- und Arbeitsleben bedeutet, dass wir häufig im Widerspruch zu unseren organischen Rhythmen leben und dadurch die eigene Vitalität fortwährend schwächen. Natürlich weiß jeder, dass es nicht darum gehen kann, der hohen Lebensgeschwindigkeit auszuweichen. Die Frage heißt nicht, wie wir dieses «Leben auf Kosten der eigenen Rhythmen» verhindern können, sondern wie wir der heutigen Arrhythmie gewachsen sind und schließlich zu deren souveränen und musikalischen Gestaltern werden.

Die Gestaltung und Gliederung der Zeit bedeutet im Bereich des Lebens über kurz oder lang immer Rhythmus.

Um zu neuen Rhythmen in der eigenen Lebensgestaltung zu kommen, lohnt es sich, die vielen bestehenden Rhythmen und inneren Qualitäten des Zeitlaufes kennen und erfahren zu lernen. Auf diese Weise gewinnen wir eine Verwandtschaft mit der Zeit und kämpfen nicht gegen sie, sondern die Zeit selbst wird zu unserem Verbündeten, weil sie unser Werkzeug wird.

Das vorliegende Buch Vier Minuten Sternenzeit will für diesen Weg des Kennen- und Nutzenlernens der Zeit Streifzüge durch die kleinen und großen Rhythmen des Lebens anbieten und Anregungen geben, selbst zum Zeitforscher, selbst zum Schöpfer bisher unbekannter kleiner und großer Rhythmen zu werden.

Wolfgang Held

Wie lange dauert ein Augenblick?

Nimmt man die Frage wörtlich, so lautet die Antwort «sechs Sekunden». Dies ist die Zeitspanne, in der durchschnittlich die Augenlider einmal blinzeln. Sie fahren blitzschnell über die Augen, verteilen die Tränenflüssigkeit neu, reinigen die Augenoberfläche und sorgen für eine kurze Abschattung, eine Unterbrechung des Sehens. Doch dieser Bruchteil einer Sekunde Pause im Sehen ist entscheidend, weil dadurch das Sehen rhythmisch gegliedert wird. Während wir mit geöffneten Augen in die Welt schauen und uns damit von uns selbst lösen, weil wir mit den Sehstrahlen durch die geöffneten Augen hindurch draußen bei den Erscheinungen sind, bringt uns der Lidschlag zu uns selbst zurück. Er hilft uns beispielsweise von der Anteilnahme, dem staunenden Aufnehmen wieder Distanz zu gewinnen, beim selbstvergessenen Anschauen das Urteilsvermögen zu behalten.

Der Rhythmus des Lidschlages ist nicht nur bei jedem Menschen verschieden, er variiert außerdem je nach Tätigkeit und innerer Befindlichkeit. So kann er sich beschleunigen und so schnell wie der Atemrhythmus werden, das heißt, dass sich alle drei Sekunden die Lider senken, oder er kann sich auf wenige Male pro Minute verlangsamen. Letzteres ist beispielsweise in einer andachtsvollen oder kontemplativen Stimmung der Fall, während in einer hitzigen Diskussion oder bei Unsicherheit die Lidschlag-Periode hektisch werden kann.

Ein Selbstversuch, bei dem man mit häufigem Blinzeln in die Natur schaut oder ein Gemälde betrachtet, zeigt unmittelbar, dass eine bestimmte Zeitspanne ununterbrochenem Schauens notwendig ist, damit ein Eindruck gefühlsmäßig ausgelotet werden kann. Zu häufiges Blinzeln verhindert, dass wir uns Neuem mit Anteilnahme zuwenden können.

Sei es Autofahren, die Arbeit am PC oder das Lesen, immer ist unser Auge mit dem Aufnehmen von Informationen beschäftigt, ist intellektuell herausgefordert. Als Ausgleich ist es ratsam, das Auge auch träumen zu lassen, das heißt, sich von Farben und Formen überwältigen zu lassen. Um das Gelb eines blühenden Rapsfeldes oder die Farbnuancen eines Sonnenuntergangs, einer Gebirgslandschaft genießen zu können, müssen die Augen ruhig werden. Dies geschieht scheinbar von selbst, sobald wir uns einem solchen Eindruck unbefangen und konzentriert zuwenden.

Die Seele gestaltet die zeitlichen Abläufe des Körpers so, wie es für ihre Tätigkeit sinnvoll ist. Der Leib wird – so hat es der Arzt und Kosmologe Walter Bühler ausgedrückt – zum Instrument der Seele. Der Lidschlag ist eine Art Atem der Seele. So wie bei andachtsvoller Stimmung das Blinzeln ruhig wird, nimmt dessen Frequenz bei intellektueller Tätigkeit, wenn wir uns beispielsweise in einer fremden Gegend zurechtfinden wollen oder wenn wir einen verlorenen Gegenstand suchen, zu.

In dem Theaterstück Das Leben des Galileo Galilei lässt Bertolt Brecht den italienischen Astronomen seiner Haushälterin erklären, wie die Planetenbewegung heliozentrisch vorzustellen sei. Zur Demonstration setzt er sie auf einen Drehstuhl und versetzt diesen daraufhin in Rotation. Als sie nach den Phänomenen gefragt ihn verständnislos anschaut, braust er auf mit den Worten: «Du sollst nicht glotzen, du sollst schauen!» Damit ist gemeint, dass das Gesehene nur dadurch verstanden werden kann, indem wir uns nach einer Zeit des Betrachtens davon kurzzeitig abwenden. Der unmittelbare Eindruck tritt zurück – es entsteht Raum für das Denken.

Nach jedem Blinzeln schauen wir wieder neu in die Welt. Das Blinzeln im Rhythmus von sechs Sekunden summiert sich jeden Tag zu 5.000-mal Neu-Sehen. Der Lidschlag ist deshalb der «kleine Bruder» des Schlafes, wie dieser als der kleine Bruder des Todes bezeichnet wird. Im Blinzeln «stirbt» der kontinuierliche Sehvorgang, aber gerade das macht ihn menschlich. So wie wir durch die Nachtruhe uns selbst neu finden und erfrischt die Welt mit neuen Augen anschauen können, so erneuert jeder Lidschag unsere Augen, beziehungsweise unser Sehen.

Das Zublinzeln ist nicht ohne Grund eine der charmantesten Arten der Begrüßung, weil mit dem Augenzwinkern die beschriebene Erfrischung nicht uns selbst, sondern dem Gegenüber zugedacht wird.

Nach jedem Blinzeln schauen wir wieder neu in die Welt.

Das Gleichgewicht der Gegenwart

«Lernen Sie das Gesunde am Kranken verstehen!» Dieser Hinweis Rudolf Steiners gilt auch, wenn es darum geht, unser Verhältnis zur Zeit zu erfassen: Es gehört zu den schwerwiegendsten Schädigungen des menschlichen Zeiterlebens bzw. des Menschseins überhaupt, wenn das Gedächtnis gestört ist. In milder Form ist diese Beeinträchtigung verbreitet. Viele Menschen bemerken nach einer Gehirnerschütterung, dass ihr Gedächtnis Lücken aufweist. Sie können sich nicht an Geschehnisse erinnern, die unmittelbar mit der Verletzung zusammenhängen. Für das eigene Empfinden ist die betreffende Zeitspanne nicht existent. Sie kann nur durch fremde Schilderungen annähernd belebt werden. Für unser Gegenwartserlebnis ist dieses Stück fehlender Vergangenheit allerdings unerheblich. Weitaus folgenschwerer ist, wenn durch eine Gehirnblutung die Merkfähigkeit vollständig verloren geht. Neue Eindrücke oder auch persönliche Gedanken und Empfindungen können dann nicht mehr im Gedächtnis verankert werden. Nur für die Zeitspanne des Ultrakurzzeitgedächtnisses – und das sind kaum mehr als 20 Sekunden – bleibt ein Eindruck in der Seele bestehen. Es legt sich der Schleier des Vergessens über alles Wahrgenommene. Sei es der Blick auf die Uhr oder aus dem Fenster, um nach dem Wetter zu sehen, oder der Telefonanruf eines Bekannten, der seinen Besuch ankündigt, spätestens nach zwanzig Sekunden ist bei Verlust der Merkfähigkeit alles vergessen. Dies gilt auch für die Vorfreude auf den Besuch, denn schon kurz nach dem Anruf ist der Grund der Freude aus dem Bewusstsein entschwunden. Man wird die fröhliche Stimmung, deren Anlass man nicht mehr kennt, als scheinbar unbegründete Launenhaftigkeit abtun. Das Erschütternde ist, dass sich durch den Verlust der Vergangenheit auch die Zukunft verschließt, denn wenn man nichts im Gedächtnis halten kann, dann verliert man neben der Vergangenheit auch all das aus dem Sinn, was uns mit unserer Zukunft verbindet. «Zukunft hat Herkunft» ist die viel zitierte Formel für diese Erkenntnis.

Wie ist das zu verstehen? Mit jedem Wunsch, den wir hegen, jedem Plan, den wir fassen, setzen wir uns mit der Zukunft auseinander. Wir werfen eine geistige Angel in die Zukunft und holen sie in die Gegenwart. Der Werbespruch eines Finanzdienstleisters: «Jetzt an die Zukunft denken», ist gut gewählt, weil in ihm weitaus mehr als bloße wirtschaftliche Vorsorge steckt. Für den Menschen gehört zum «Jetzt» immer auch die Zukunft. Jeder Entschluss, aber auch jede Hoffnung, verweisen auf sie. In jedem Augenblick entstehen auf diese Weise Keime, aus denen Zukunft sprießt. Doch damit sie wachsen können, zu Quellen unseres Handelns werden, müssen wir sie bewahren können – und das verlangt Gedächtnis. Es klingt widersprüchlich: Mit dem Verlust der Erinnerungsfähigkeit können wir uns an unsere eigene Zukunft nicht mehr erinnern.

Man könnte meinen, dass man durch die erwähnte Behinderung – befreit von Erinnerungen und Zukunftsvisionen – ungestört die Gegenwart genießen könnte, aber das Gegenteil ist der Fall. Unser Jetzt wird nur durch die Anwesenheit von Vergangenem und Zukünftigem reich. Indem wir frühere Erlebnisse verarbeiten und neu verstehen lernen, lassen wir die Vergangenheit in der Gegenwart lebendig werden und indem wir neue Ziele stecken, denken wir nicht nur an die Zukunft, sondern erzeugen sie.

Ein zweiter Widerspruch liegt in Folgendem: So sehr es richtig ist, dass Vergangenheit und Zukunft unsere Gegenwart bereichern, so gilt auch, dass diese beiden Zeitströme die Gegenwart überschwemmen und auslöschen. Vergangenheit und Zukunft erscheinen für das Gegenwartserleben wie zwei Waagschalen. Sind sie im Gleichgewicht, so fühlen wir uns in der Gegenwart «zuhause». Sobald allerdings eine dieser Schalen überwiegt, fällt es schwer, sich auf den Augenblick einzulassen. Ein Beispiel aus der Kindheit: Die Erwartung auf die Weihnachtsbescherung kann regelrecht einen Zorn auf die störende Gegenwart entstehen lassen, die als Wartezeit zwischen mir und den Geschenken steht. Es können aber auch Zukunftssorgen sein, welche die Gegenwart überschatten oder die nostalgische Erinnerung einer glücklicheren Vergangenheit. Wer solchen Empfindungen ausgesetzt ist, spürt, dass in Zukunft und Vergangenheit eine jeweils eigene Kraft wohnt, die in der menschlichen Seele übermäßiges Gewicht gewinnen kann, wenn das uns eigene Mittelmaß nicht immer wieder von uns selbst hergestellt wird.

Dem Sternbild der Waage steht im Tierkreis der Widder gegenüber. In fast allen Abbildungen wird der Schafbock in eigentlich untypischer Körperhaltung dargestellt: Er sitzt der im Jahreslauf ziehenden Sonne zugewandt und wendet den Kopf in die entgegengesetzte Richtung. Damit wird er zum Bild des Gleichgewichts im Zeitlichen, der Balance zwischen Vergangenem und Zukünftigem.

Indem wir – gleich dem Widder – zurückblickend der Zukunft zugewandt sind, wird unsere Gegenwart reich.

Wenn Rhythmen nicht aufgehen – oder:
Von der Zeit «zwischen den Jahren»

Der Lauf von Sonne und Mond findet sich in unserer Zeitrechnung elementar wieder. Im Rhythmus eines Jahres wandert die Sonne durch den Tierkreis und im Lauf eines Monats wechseln die Phasen des Mondes. So verschieden Sonne und Mond sind, so verschieden äußern sie sich auch in unserer Zeitgliederung. Während das Jahr streng am Sonnenlauf orientiert ist und jede der vergangenen Kalenderreformen dazu diente, diese Übereinstimmung von Sonnenlauf und Jahreslauf zu verbessern, läuft der Mond nicht synchron mit dem Monat. Neu-, Halb- und Vollmond fallen nicht immer auf das gleiche Datum eines Monats. Von Vollmond zum nächsten Vollmond sind es im Durchschnitt 29,5 Tage, während ein Sonnenjahr 365 Tage umfasst. So wie die einzelnen Tierkreisbilder den Sonnenlauf räumlich in zwölf Gebiete teilen, so gliedert der Mond zeitlich das Jahr in zwölf Teile – aber eben nicht genau, wie die Rechnung zeigt:

Ein Sonnenumlauf:

365 Tage

12 Mondumläufe:

12 × 29,5 Tage = 354 Tage

Rest:

11 Tage