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Jean-Claude Lin

Das A und O des Lebens

Vom innerlich werdenden Menschen

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Inhalt

Vorwort

Das A und O des Lebens

In Wahrheit ist alles Wunder

Eure Zeit aber ist allewege

Was man nicht im Kopfe hat

Blicke groß in die Geschichte

Ein Gottesbild und sein Altar

Das Leben ist ja nicht gerade dünn

In der Kunst ist alles möglich

Allerseelen

Und Jesus weinte

Wo du auch hingehst

Das leben ist wunderbar

Gelassenheit, Mut und Weisheit

Was ist Wahrheit?

Ein neues Sehen der Welt

Das Leben ist uns nah

Weil es die Schönheit ist

Das Leben meistern

Freude schafft, was nicht da ist

Dem Weltgeist näher sein

Werde ein Mensch mit Initiative

Wir sind so frei

Alles ist jetzt

Übe die Kunst der Langeweile

Reden mit dem eigenen Herzen

Ein Gefühl vollkommener Authentizität

Die Kraft, Erfahrung ins Licht zu kehren

You’re welcome

Das Licht sehen

Das leben verstehen

Nicht müde werden

Hat alles einen Sinn?

Der Wind bläst, wo er will

Wir sind da

Für dich will ich leben

Verstohlen geht der Mond auf

Kraftwerk Schiller

Wir haben alle Zeit der Welt

Man muss weggehen können

Am Anfang war das Glück

Die Welt ist eine Arche

Mit schwerem Koffer im Regen

In jedem Augenblick

Lebenskunst

Worum geht es im Leben?

Pause!

Morgen ist ein neuer Tag

Wie wir werden, was wir sind

Lass uns immer schöner werden

Immer schon

Quatorze-dix-huit

Liebe, Sehnsucht, Tod und Leben Anstelle eines Nachworts

Nachklang

Für Nathanael, Sarah, Samuel,
Elias und Jeremias

im Gedenken an

Susanne Katharina Wege Lin

* 19. August 1956

† 19. Juni 2014

die uns so viel gegeben hat

und bedeutet.

Vorwort

Wie findet ein Mensch zu sich? Das mag auf Anhieb eine etwas seltsam anmutende Frage sein. Als ob wir irgendwo anders weilen könnten als in der eigenen Existenz – leiblich, seelisch, geistig. Doch seelisch wie geistig können wir sehr wohl uns irgendwo außerhalb der eigenen unmittelbaren Gegenwart befinden, gerade weil wir uns in dieser Gegenwart des eigenen Leibes und Lebens unserer Zeit nicht beheimatet fühlen.

Zum Glück bilden solche Momente der eigenen Befragung keinen Dauerzustand. Aber ohne sie würden wir etwas Wesentliches aller menschlichen Entwicklung vermissen: zu den Quellen des Schöpferischen im eigenen Selbst zu gelangen. Ich zumindest habe die immer wiederkehrende Befragung meiner Existenz und meines Lebens in der Zeit gebraucht, um auf dieser Erde Fuß zu fassen. Und andere mögen diese Notwendigkeit für sich ebenfalls fühlen oder gefühlt haben.

In den folgenden fünfzig Kapitel dieses fünfzigsten Bands der falter Reihe mit seinen zwei Ergänzungen erzähle ich von den Erfahrungen und Einsichten, die ich als innerlich werdender Mensch meine gemacht beziehungsweise erhalten zu haben. Sie umspannen eine Zeit von etwas über vierzehn Jahren, von April 2000 bis September 2014, und sind ursprünglich in dem Lebensmagazin a tempo erschienen. Leicht überarbeitet scheinen sie mir aber nach wie vor geeignet, Anregung wie Orientierung für andere Suchende und Strebende zu sein.

In ein Exemplar der Liebesgeschichte Am Meer ist es wärmer von Hiromi Kawakami schrieb ich als Widmung für meine Frau Susanne zu Epiphanias im Jahr 2011 folgende drei Zeilen:

Zwischen den Jahren

fällt der Schnee von den Bäumen

du kommst wieder heim

Möge ein jeder von uns zu gegebener Zeit heimkommen, zu sich wie auch zu seinen Lieben.

Stuttgart, 7. Januar 2020

Jean-Claude Lin

Das A und O des Lebens

Aller Anfang ist schwer, sagt das Sprichwort. Es kennt die Mühsal der Vorbereitung, das Gewicht der Einwände, die Ohnmacht vor fehlenden Mitteln. Aller Anfang ist leicht, sagt dagegen die Erfahrung. Denn das Zu-Ende-Führen ist unvergleichlich schwerer: dabei sein und dabei bleiben − das will erst gelernt werden, von den ersten Schritten der Kindheit bis ins letzte hohe Alter.

Woher die Kraft nehmen, wenn die Begeisterung der ersten Tage einer Unternehmung verflogen ist, wenn gegebene Widerstände immer noch nicht weichen oder überwunden geglaubte plötzlich wieder auftauchen?

Es ist eine Charakteristik des bewussten menschlichen Handelns, dass das Ende einer Handlung bereits in ihrem Anfang liegt. Dort liegt es unentfaltet, ist noch nicht offenbar − dazu bedarf die Handlung erst ihrer Verwirklichung. Aber das Ende, das Ziel liegt dort als Kraft, als Keim der Zukunft.

Wie bei der einzelnen Handlung, kommt auch früher oder später im Leben eines Menschen die Frage nach dem Ende, dem Ziel, dem Sinn des eigenen Lebens. Besitzt auch mein Leben als Ganzes ein sinnstiftendes Ende und Ziel?

Wie ich zur Verwirklichung der Ziele, die ich mir setze, so unklar und diffus das auch − eben anfänglich − sein mag, dabeibleiben muss, so auch bei der Suche nach dem Sinn des eigenen Lebens. Dann mache ich die Entdeckung, die der deutsche Philosoph Hegel im Nachsinnen über die Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenlebens in folgendes, unübertreffliche Wort geprägt hat: «… der gebildete, innerlich werdende Mensch will, dass er selbst in allem sei, was er tut.»* − In allem sein, was ich tue: das ist das A und O des Lebens.

* So in einem mündlichen Zusatz zu § 107 der Grundlinien der Philosophie des Rechts von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig bänden, Band 7, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980.

In Wahrheit ist alles Wunder

Zahlen regieren unsere Welt − große und kleine, teilbare und unteilbare. Unlängst gingen zwei solche durch die Presse: eine große und eine kleine. Das Chromosom 21 − eines der kleinsten von insgesamt 23 Chromosomen, die das gesamte Erbgut des Menschen ausmachen − ist in deutsch-japanischer Zusammenarbeit entschlüsselt worden: 33 546 361 Basen auf dem langen Arm des Chromosoms 21, und auf dem kurzen Arm 281 116; damit sind 99,7 % beziehungsweise 99,995 % aller genetischen Informationen dieses Chromosoms gezählt und identifiziert. Wenn in naher Zukunft alle 23 Chromosomen des Menschen entschlüsselt vorliegen, wird ein «Text» gegeben sein, dessen Anzahl «Buchstaben» schier unvorstellbare astronomische Höhen erreicht.

Wo aber werden wir hinschauen müssen, um die Bedeutung dieser «unzähligen» Buchstaben des menschlichen Genoms lesen zu können?

Was die Wissenschaft durch Fleiß und Präzision zutage fördert, ist wirklich bewundernswert. Wird die Welt aber dadurch entzaubert? Eine Antwort hat Martin Buber in seinen gesammelten Erzählungen der Chassidim übermittelt:

«Man fragte Rabbi Baruch: Warum wird Gott in der Hymne ‹Schöpfer der Arzneien, Furchtbarer der Preisungen, Herr der Wundertaten› genannt? Kommt es denn den Arzneien zu, neben den Wundertaten und gar vor ihnen zu stehen?

Er antwortete: Gott will nicht als der Herr übernatürlicher Wundertaten gepriesen werden. Darum ist hier durch die Arzneien die Natur eingeführt und vorgestellt. Aber in Wahrheit ist alles Wunder.»

Der Mensch selbst, wie wir ihm täglich begegnen, jede Erscheinung des Lebens auf dieser Welt ist bereits Wunder.

Die Wissenschaft könnte uns dies noch intensiver zum Bewusstsein bringen.

Eure Zeit aber ist allewege

Niemand wird es heutzutage leugnen: eine Fremdsprache zu lernen ist nützlich. Mindestens etwas Englisch sollte man können; noch besser wäre es, gleich zwei Fremdsprachen zu lernen. So macht man manchmal überraschende Entdeckungen: beispielsweise, dass eine Wendung, die Martin Luther gebrauchte, sich im Englischen besser erhalten hat als im Deutschen.

«Meine Zeit ist noch nicht hie, eure Zeit aber ist allewege», antwortet Jesus im siebten Kapitel des Johannes-Evangeliums, als seine Brüder ihn auffordern, zum großen Herbstfest der Juden, zum Laubhüttenfest, nach Jerusalem hinaufzugehen. «Allewege» − always, sagt heute noch der Englisch Sprechende, wenn er immer meint.

Aber − ist es nicht noch überraschender, dass es dem Menschen gegeben sein sollte, immerzu «zeitig» handeln zu können? Der Sohn Gottes muss seine Zeit abwarten. Für den Menschen ist es immer Zeit.

Wenn wir das Gespräch mit Walter Jens im Lebensmagazin a tempo vom Oktober 2001 nachlesen, können wir auch diesem Rätsel etwas näher kommen. Für den leidenschaftlichen Liebhaber der Sprache Walter Jens’ ist die wichtigste Tugend des Menschen, «sich umfassend zu bilden», und das heißt für ihn, «nachzudenken und am Ende eines langen Meditationsprozesses ein eigenes und unabhängiges Urteil zu fällen».

Solange wir aufmerksam sind, können wir unterwegs sein zu einem eigenen, unabhängigen Urteil. Dies ist die Grundvoraussetzung des freien Menschen. Ihm ist gegeben, sie immerzu zu pflegen.

Unsere Zeit ist allewege.

Was man nicht im Kopfe hat

Wir können viel besitzen. Geld, Aktien, Immobilien. Bücher und Bilder, Schmuck und Tand. Viele nützliche Dinge, auch schöne. Ja sogar Macht und Einfluss, Ansehen und Autorität. Manches liegt uns nahe, anderes weiter entfernt. In der «Nähe» scheint uns das Dauerhafte, Beständigere zu liegen. So ist letztlich eine Fähigkeit ein viel sichereres Vermögen als das Geld, das sie bereits erwirtschaftet hat.

Gefragt danach, wie seine Lieder geschrieben werden, antwortete Sven Regener in einem Gespräch für das Lebensmagazin a tempo vom Juli 2001: «Was man nicht sowieso im Kopf behält, ist es auch nicht wert.» Tagelang trägt er das zu Schaffende bei sich, in sich, «im Kopfe» herum, bis es als Ganzes geboren werden kann. Es muss in ihm wachsen und reifen. Die Fähigkeit dazu − das empfindet er als das eigentlich Wertvolle: das eigentliche Vermögen.

a tempo