Vom innerlich werdenden Menschen
Vorwort
Das A und O des Lebens
In Wahrheit ist alles Wunder
Eure Zeit aber ist allewege
Was man nicht im Kopfe hat
Blicke groß in die Geschichte
Ein Gottesbild und sein Altar
Das Leben ist ja nicht gerade dünn
In der Kunst ist alles möglich
Allerseelen
Und Jesus weinte
Wo du auch hingehst
Das leben ist wunderbar
Gelassenheit, Mut und Weisheit
Was ist Wahrheit?
Ein neues Sehen der Welt
Das Leben ist uns nah
Weil es die Schönheit ist
Das Leben meistern
Freude schafft, was nicht da ist
Dem Weltgeist näher sein
Werde ein Mensch mit Initiative
Wir sind so frei
Alles ist jetzt
Übe die Kunst der Langeweile
Reden mit dem eigenen Herzen
Ein Gefühl vollkommener Authentizität
Die Kraft, Erfahrung ins Licht zu kehren
You’re welcome
Das Licht sehen
Das leben verstehen
Nicht müde werden
Hat alles einen Sinn?
Der Wind bläst, wo er will
Wir sind da
Für dich will ich leben
Verstohlen geht der Mond auf
Kraftwerk Schiller
Wir haben alle Zeit der Welt
Man muss weggehen können
Am Anfang war das Glück
Die Welt ist eine Arche
Mit schwerem Koffer im Regen
In jedem Augenblick
Lebenskunst
Worum geht es im Leben?
Pause!
Morgen ist ein neuer Tag
Wie wir werden, was wir sind
Lass uns immer schöner werden
Immer schon
Quatorze-dix-huit
Liebe, Sehnsucht, Tod und Leben Anstelle eines Nachworts
Nachklang
Für Nathanael, Sarah, Samuel,
Elias und Jeremias
im Gedenken an
Susanne Katharina Wege Lin
* 19. August 1956
† 19. Juni 2014
die uns so viel gegeben hat
und bedeutet.
Wie findet ein Mensch zu sich? Das mag auf Anhieb eine etwas seltsam anmutende Frage sein. Als ob wir irgendwo anders weilen könnten als in der eigenen Existenz – leiblich, seelisch, geistig. Doch seelisch wie geistig können wir sehr wohl uns irgendwo außerhalb der eigenen unmittelbaren Gegenwart befinden, gerade weil wir uns in dieser Gegenwart des eigenen Leibes und Lebens unserer Zeit nicht beheimatet fühlen.
Zum Glück bilden solche Momente der eigenen Befragung keinen Dauerzustand. Aber ohne sie würden wir etwas Wesentliches aller menschlichen Entwicklung vermissen: zu den Quellen des Schöpferischen im eigenen Selbst zu gelangen. Ich zumindest habe die immer wiederkehrende Befragung meiner Existenz und meines Lebens in der Zeit gebraucht, um auf dieser Erde Fuß zu fassen. Und andere mögen diese Notwendigkeit für sich ebenfalls fühlen oder gefühlt haben.
In den folgenden fünfzig Kapitel dieses fünfzigsten Bands der falter Reihe mit seinen zwei Ergänzungen erzähle ich von den Erfahrungen und Einsichten, die ich als innerlich werdender Mensch meine gemacht beziehungsweise erhalten zu haben. Sie umspannen eine Zeit von etwas über vierzehn Jahren, von April 2000 bis September 2014, und sind ursprünglich in dem Lebensmagazin a tempo erschienen. Leicht überarbeitet scheinen sie mir aber nach wie vor geeignet, Anregung wie Orientierung für andere Suchende und Strebende zu sein.
In ein Exemplar der Liebesgeschichte Am Meer ist es wärmer von Hiromi Kawakami schrieb ich als Widmung für meine Frau Susanne zu Epiphanias im Jahr 2011 folgende drei Zeilen:
Zwischen den Jahren
fällt der Schnee von den Bäumen
du kommst wieder heim
Möge ein jeder von uns zu gegebener Zeit heimkommen, zu sich wie auch zu seinen Lieben.
Stuttgart, 7. Januar 2020 |
Jean-Claude Lin |
Aller Anfang ist schwer, sagt das Sprichwort. Es kennt die Mühsal der Vorbereitung, das Gewicht der Einwände, die Ohnmacht vor fehlenden Mitteln. Aller Anfang ist leicht, sagt dagegen die Erfahrung. Denn das Zu-Ende-Führen ist unvergleichlich schwerer: dabei sein und dabei bleiben − das will erst gelernt werden, von den ersten Schritten der Kindheit bis ins letzte hohe Alter.
Woher die Kraft nehmen, wenn die Begeisterung der ersten Tage einer Unternehmung verflogen ist, wenn gegebene Widerstände immer noch nicht weichen oder überwunden geglaubte plötzlich wieder auftauchen?
Es ist eine Charakteristik des bewussten menschlichen Handelns, dass das Ende einer Handlung bereits in ihrem Anfang liegt. Dort liegt es unentfaltet, ist noch nicht offenbar − dazu bedarf die Handlung erst ihrer Verwirklichung. Aber das Ende, das Ziel liegt dort als Kraft, als Keim der Zukunft.
Wie bei der einzelnen Handlung, kommt auch früher oder später im Leben eines Menschen die Frage nach dem Ende, dem Ziel, dem Sinn des eigenen Lebens. Besitzt auch mein Leben als Ganzes ein sinnstiftendes Ende und Ziel?
Wie ich zur Verwirklichung der Ziele, die ich mir setze, so unklar und diffus das auch − eben anfänglich − sein mag, dabeibleiben muss, so auch bei der Suche nach dem Sinn des eigenen Lebens. Dann mache ich die Entdeckung, die der deutsche Philosoph Hegel im Nachsinnen über die Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenlebens in folgendes, unübertreffliche Wort geprägt hat: «… der gebildete, innerlich werdende Mensch will, dass er selbst in allem sei, was er tut.»* − In allem sein, was ich tue: das ist das A und O des Lebens.
* So in einem mündlichen Zusatz zu § 107 der Grundlinien der Philosophie des Rechts von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig bänden, Band 7, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980.
Zahlen regieren unsere Welt − große und kleine, teilbare und unteilbare. Unlängst gingen zwei solche durch die Presse: eine große und eine kleine. Das Chromosom 21 − eines der kleinsten von insgesamt 23 Chromosomen, die das gesamte Erbgut des Menschen ausmachen − ist in deutsch-japanischer Zusammenarbeit entschlüsselt worden: 33 546 361 Basen auf dem langen Arm des Chromosoms 21, und auf dem kurzen Arm 281 116; damit sind 99,7 % beziehungsweise 99,995 % aller genetischen Informationen dieses Chromosoms gezählt und identifiziert. Wenn in naher Zukunft alle 23 Chromosomen des Menschen entschlüsselt vorliegen, wird ein «Text» gegeben sein, dessen Anzahl «Buchstaben» schier unvorstellbare astronomische Höhen erreicht.
Wo aber werden wir hinschauen müssen, um die Bedeutung dieser «unzähligen» Buchstaben des menschlichen Genoms lesen zu können?
Was die Wissenschaft durch Fleiß und Präzision zutage fördert, ist wirklich bewundernswert. Wird die Welt aber dadurch entzaubert? Eine Antwort hat Martin Buber in seinen gesammelten Erzählungen der Chassidim übermittelt:
«Man fragte Rabbi Baruch: Warum wird Gott in der Hymne ‹Schöpfer der Arzneien, Furchtbarer der Preisungen, Herr der Wundertaten› genannt? Kommt es denn den Arzneien zu, neben den Wundertaten und gar vor ihnen zu stehen?
Er antwortete: Gott will nicht als der Herr übernatürlicher Wundertaten gepriesen werden. Darum ist hier durch die Arzneien die Natur eingeführt und vorgestellt. Aber in Wahrheit ist alles Wunder.»
Der Mensch selbst, wie wir ihm täglich begegnen, jede Erscheinung des Lebens auf dieser Welt ist bereits Wunder.
Die Wissenschaft könnte uns dies noch intensiver zum Bewusstsein bringen.
Niemand wird es heutzutage leugnen: eine Fremdsprache zu lernen ist nützlich. Mindestens etwas Englisch sollte man können; noch besser wäre es, gleich zwei Fremdsprachen zu lernen. So macht man manchmal überraschende Entdeckungen: beispielsweise, dass eine Wendung, die Martin Luther gebrauchte, sich im Englischen besser erhalten hat als im Deutschen.
«Meine Zeit ist noch nicht hie, eure Zeit aber ist allewege», antwortet Jesus im siebten Kapitel des Johannes-Evangeliums, als seine Brüder ihn auffordern, zum großen Herbstfest der Juden, zum Laubhüttenfest, nach Jerusalem hinaufzugehen. «Allewege» − always, sagt heute noch der Englisch Sprechende, wenn er immer meint.
Aber − ist es nicht noch überraschender, dass es dem Menschen gegeben sein sollte, immerzu «zeitig» handeln zu können? Der Sohn Gottes muss seine Zeit abwarten. Für den Menschen ist es immer Zeit.
Wenn wir das Gespräch mit Walter Jens im Lebensmagazin a tempo vom Oktober 2001 nachlesen, können wir auch diesem Rätsel etwas näher kommen. Für den leidenschaftlichen Liebhaber der Sprache Walter Jens’ ist die wichtigste Tugend des Menschen, «sich umfassend zu bilden», und das heißt für ihn, «nachzudenken und am Ende eines langen Meditationsprozesses ein eigenes und unabhängiges Urteil zu fällen».
Solange wir aufmerksam sind, können wir unterwegs sein zu einem eigenen, unabhängigen Urteil. Dies ist die Grundvoraussetzung des freien Menschen. Ihm ist gegeben, sie immerzu zu pflegen.
Unsere Zeit ist allewege.
Wir können viel besitzen. Geld, Aktien, Immobilien. Bücher und Bilder, Schmuck und Tand. Viele nützliche Dinge, auch schöne. Ja sogar Macht und Einfluss, Ansehen und Autorität. Manches liegt uns nahe, anderes weiter entfernt. In der «Nähe» scheint uns das Dauerhafte, Beständigere zu liegen. So ist letztlich eine Fähigkeit ein viel sichereres Vermögen als das Geld, das sie bereits erwirtschaftet hat.
Gefragt danach, wie seine Lieder geschrieben werden, antwortete Sven Regener in einem Gespräch für das Lebensmagazin a tempo vom Juli 2001: «Was man nicht sowieso im Kopf behält, ist es auch nicht wert.» Tagelang trägt er das zu Schaffende bei sich, in sich, «im Kopfe» herum, bis es als Ganzes geboren werden kann. Es muss in ihm wachsen und reifen. Die Fähigkeit dazu − das empfindet er als das eigentlich Wertvolle: das eigentliche Vermögen.
a tempo