cover
Gitta Rübsaat Hrsg.

Dschungel der Erinnerungen

Band 1





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

*Dschungel der Erinnerungen*

von A bis Z

 

Band 1

 

Die Genehmigung der Autoren zur Verwendung ihrer Werke für diese gemeinnützige Anthologie liegt vor!

 

Gitta Rübsaat (Hrsg.)

Autoren – Anthologie

 

Gemeinsam für caritative Hilfsprojekte

Die Autoren verzichten auf jegliches Honorar, der Nettoerlös geht also vollständig an

„Arca Fabiana – Tierrettung Azoren e.V.“

Allen BookRix Autoren ein herzliches Dankeschön und unser besonderer Dank gilt Geli Ammann, die

uns das von ihr entworfene und gemalte Coverbild ebenfalls kostenlos zur Verfügung gestellt hat.

Die Originalausgabe erschien im Juli 2019

bei BookRix GmbH & Co.KG als e-book - www.bookrix.de

und das Taschenbuch über Print on Demand by Amazon

– KDP

Herstellung: Amazon Distribution GmbH Leipzig

Copyright © 2019 Gitta Rübsaat (Hrsg. und Mitautor)

Alle Rechte liegen bei den Autoren

Cover Illustration: ©Geli Ammann

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung der Autoren

zulässig. Das gilt vor allem für Vervielfältigungen,

Übersetzungen, so wie das Speichern und Verarbeiten in

elektronischen Systemen.

ISBN: 9781073824168

Imprint: Independently published

Inhaltsverzeichnis

 Unsere Geschichten mit A oder B

  1. - Außenseiter-Spitzenreiter - Angela Ewert
  2. - Abenteurer wie Tom und Huck - Manuela Schauten
  3. - Aufklärung - Rebekka Weber
  4. - Aussteiger - Margo Wolf
  5. - Ein Ort voller Bücher - Ina Baumgarten
  6. - Angst - Doris Frese
  7. - Mein erstes Auto - Matthias März
  8. - Aufklärung im Bücherschrank - Gitta Rübsaat
  9. - Dies Bildnis ist …. - Klaus-Rainer Martin

 

Unsere Geschichten mit C oder D

  1. - Dachau - Roland Schilling
  2. - Cassettenrecorder weinen nicht - Matthias März
  3. - Dienstleistungen - Doris Frese
  4. - Daddy, Daddy-cool - Gitta Rübsaat
  5. - Camping am Ende der Welt - Margo Wolf
  6. - Canasta mit Usa - Angela Ewert
  7. - Diekholzen - Geli Ammann
  8. - Carmen wird geboren - Carmen Liebing

 

Unsere Geschichten mit E oder F

  1. - Frühling - Doris Frese
  2. - Ein Fahrrad an der Käsetheke - Manuela Schauten
  3. - Die Einbrecher - Margo Wolf
  4. - An einem Freitag, den 13. … - Matthias März
  5. - Ferien auf dem Bauernhof - Gitta Rübsaat
  6. - Entfernt … - Rebekka Weber
  7. - Die Faschings-Grippe - Esra Kurt
  8. - F wie Freundschafti - Ina Baumgarten
  9. - Das Fischland - Angela Ewert
  10. - Als wir noch Flieger waren - Roland Schilling
  11. - Freundschaft - Geli Ammann
  12. - Eine hinterlistige Fangfrage - Klaus-Rainer Martin

 

Unsere Geschichten mit G oder H

  1. - Hans im Glück - Gitta Rübsaat
  2. - Getriebeblues - Margo Wolf
  3. - Geräusche und Gerüche - Doris Frese
  4. - Goldhamster sind goldig - Matthias März
  5. - Garderobenwechsel - Heidrun Böhm
  6. - Unser Halbwissen - Klaus-Rainer Martin
  7. - Harzreise - Angela Ewert
  8. - Geburtstage - Geli Ammann

 

Unsere Geschichten mit I oder J

  1. - Italienisch für Anfänger - Matthias März
  2. - Jungmädchenzeit - Doris Frese
  3. - Ich sehe Dich - Margo Wolf
  4. - Ingrid und Jochen - Angela Ewert
  5. - In vollen Zügen - Heidrun Böhm
  6. - Inselhopping in Jugoslawien - Gitta Rübsaat
  7. - Jens, Sonnyboy - Rebekka Weber

 

Unsere Geschichten mit L oder K

  1. - Der kleine Lord - Sophie Lange
  2. - Kinderkuren - Matthias März
  3. - Kleider machen Leute - Heidrun Böhm
  4. - Kaffee- mehr als ein Genuss - Doris Frese
  5. - Kinder brauchen Liebe - Gitta Rübsaat
  6. - Lang lang ist es her - The ArticFox
  7. - London 1-3 - Christine Singh
  8. - Mein erstes Konzert - Ina Baumgarten
  9. - Lebensmittelkarten - Klaus-Rainer Martin
  10. - Unsere Anthologien

Außenseiter - Spitzenreiter? - Angela Ewert

Schon in der Schule hatte Hellmut offenbar eine Affinität zum Arztberuf, denn er gab schon damals an, einmal Augenarzt werden zu wollen. Es gab auch noch andere Berufswünsche, aber Pastor wollte er eigentlich nie werden. Er war ja schon Pastorensohn und wusste nur zu gut, was das in der DDR bedeutete. Die Mitschüler riefen ihn „Paster“.

 

Er durfte von seinem Vater aus nicht zu den Jungen Pionieren und auch nicht der FDJ beitreten, was er beides gern getan hätte, um dabei zu sein. Einmal wollte man ihn sogar zum Gruppenratsvorsitzenden wählen, obwohl er gar nicht dazu gehörte. Das hat sich ihm sehr nachhaltig eingeprägt. Hellmut wollte kein Außenseiter sein, sondern dazu gehören!

 

Ich war genauso Außenseiterin in der Schulzeit, schon weil ich kein Arbeiterkind war. In meiner Klasse waren nicht viele Kinder aus den Kreisen der sog. „Intelligenz“. Ich empfand das aber keineswegs als Makel sondern als Privileg. Vater Anwalt und Mutter Künstlerin – das war etwas Besonderes und mir gefiel das durchaus.

Außerdem machte ich keinen Hehl daraus, dass ich konfirmiert wurde und danach auch zur jungen Gemeinde und später in die Studentengemeinde ging. Das war für mich die einzige Möglichkeit, Gleichgesinnte zu treffen – vor allem, nachdem ich die Schule vorzeitig beendet und schlagartig keinerlei Kontakte zu Gleichaltrigen mehr hatte. Für meine Klassenkameraden war ich schon immer irgendwie exotisch und nach meinem Ausscheiden hatte ich nur noch ganz sporadisch Kontakt zu einzelnen Mitschülern, eigentlich nur zu einer, von der ich mal dachte, sie wäre meine Freundin.

Aber wie das so ist – aus den Augen, aus dem Sinn.

 

Hellmut war eigentlich zur Erweiterten Oberschule (Gymnasium) zugelassen worden auf Grund seiner guten Noten. Er war von den Jungen Klassenbester, also stand es ihm auch zu, auf die Oberschule zu kommen, für die er auch schon die Zulassung hatte. Aber da gab es den „Haken“ - Vater Pastor! Also ließen sich die zuständigen Herren und Damen etwas einfallen und bestellten Hellmut während der Sommerferien in die Schule.

Sein Vater ging zwar mit, stand ihm aber nicht wirklich zur Seite und sagte außer „Guten Tag“ und „Auf Wiedersehen“ kein Wort, obwohl er sonst keineswegs auf den Mund gefallen war.

Hellmut und sein Vater kamen vor eine Kommission aus mehreren Lehrern, Direktor und Schulrat, wo eine Art Scheinverhandlung stattfand, die ihn davon abbringen sollte, auf die Oberschule zu wollen. Hellmut war dieser Übermacht nicht gewachsen und sein Vater offenbar ebenfalls nicht, obwohl er es durchaus gewohnt war, als Superintendent mit Staatlichen Stellen zu verhandeln. Aber er hatte offenbar andere Dinge für seinen Sohn im Sinn.

Nachdem die Sache mit der Oberschule gestorben war, machte der Vater ihm etwa vierzig verschiedene Vorschläge, wo er eine Lehre beginnen könne. Hellmut lehnte alles ab! Er wollte weder Optiker werden, noch Schrauben verkaufen.

 

Nachdem diese Vorschläge fehlgeschlagen waren, rückte der Vater mit einer „neuen Idee“ heraus. Es gäbe da eine Möglichkeit, das Abitur innerhalb von zwei Jahren an einer kirchlichen Schule zu machen. Allerdings müsste er dann auch einen kirchlichen Beruf ergreifen. Hellmut hörte nur, zwei Jahre Aufschub und sagte zu allem Ja und Amen. Der Vater fuhr umgehend mit ihm nach Dahme – acht Eisenbahnstunden von Rügen entfernt – und meldete seinen Sohn dort an.

Die Entfernung bedeutete, dass er mit sechzehn Jahren von zu Hause weg und im Internat leben musste und nur alle sechs Wochen nach Hause fahren konnte. Ein harter Schnitt ohne große Vorwarnung. Aber die Zeit dort war sehr bereichernd für Hellmut allein auf Grund eines sehr humanistisch und musisch geprägten Unterrichts.

 

Es kam dann, wie sein Vater es wohl insgeheim längst geplant und gewünscht hatte – Hellmut bewarb sich für das Theologiestudium und wurde beim zweiten Versuch von der Uni Rostock angenommen und studierte Theologie, lernte mich kennen, heiratete, wurde Vikar, dann Pastor und ziemlich unglücklich in diesem Beruf, obwohl ich immer fand, dass er ihn sehr gut machte.

Während seiner zehnjährigen Zeit als Pastor kamen wieder die Ärzte ins Spiel, erst der Hausarzt, der auch in die Kirche ging, dann die junge Nachfolgerin, mit der wir uns bald befreundeten. Auch eine Lehrerin gehörte zu unserem engsten Freundeskreis. Das war sicher auf dem Lande schon immer so – Pastor – Lehrer – Arzt. Zu DDR-Zeiten aber nicht so häufig, weil die meisten Angst hatten, mit dem Pastor befreundet zu sein. Doch bei uns war es so.

 

Als Außenseiterin fühlte sich auch unsere älteste Tochter, solange wir in der DDR lebten. Auch sie wurde „Paster“genannt und hatte sich von den Lehrern einiges anzuhören. Die zweite Tochter tangierte das eher wenig. Als vermutlich Hochbegabte war es besonders für die Ältere auf einer Dorfschule ganz sicher nicht einfach.

Dann der bekannte Schnitt – wir gingen in den Westen und es war vorbei mit dem Pastorenberuf.

Hellmut war schon immer technisch sehr interessiert. Die Computer waren noch relativ neu und spannend für ihn. Er lernte viel darüber, bekam ein Diplom und begann dann selbst für einige Jahre in der Erwachsenenbildung zu unterrichten.

Dann begegnete ihm ein Unternehmer, der die Lizenz für ein Programm für Ärzte erworben hatte und Leute brauchte, die damit umgehen konnten. Hellmut war damit schon von der Erwachsenenbildung her vertraut und sprang schnell darauf an, wurde abgeworben und war von da an mit Ärzten als Kunden beschäftigt.

 

Mit diesem Chef lief die Sache bald sehr unbefriedigend. Ein Zu- bzw. Unfall half ihm aus diesem Job heraus. Danach probierte er es mit einem ärztlichen Labor und wurde wieder entlassen und noch ein paar Jahre in einer anderen Firma, bis er endlich den Schritt in die Selbständigkeit wagte und feststellte, dass er selbst sein bester Chef ist. Den Ärzten ist Hellmut treu geblieben, dem Programm nicht, weil er ein besseres gefunden hat.

 

Nun ist er dabei, unseren Sohn auf dessen ausdrücklichen Wunsch als Nachfolger heranzuziehen, was sich nicht ganz einfach gestaltet und beide täglich vor neue Herausforderungen stellt.

Auch unser Sohn ist wieder in vieler Hinsicht ein Außenseiter und fühlt sich, wie er mir kürzlich sagte „nirgends dazugehörig“. 

Beide sind eher Einzelkämpfer und nicht so recht teamfähig, was jede Zusammenarbeit schwierig gestaltet.

 

*****

Abenteurer wie Tom und Huck - Manuela Schauten

Als am 1.12.1968 im ZDF zum ersten Mal ein Vierteiler ausgestrahlt wurde, gab es für meinen Bruder und mich kein Halten mehr. Wir mussten einfach die Sendung sehen. Heutzutage würde sie im Nachmittagsprogramm laufen, doch 1968 tickten die Uhren noch anders, und die Ausstrahlung begann pünktlich um 20.15 Uhr.

Da mein Bruder bereits lesen konnte, las er meinen kleinen Geschwistern und mir aus dem Buch von Mark Twain vor. Dass eine tolle Sendung kommen sollte, merkten wir daran, dass wir überpünktlich ins Bett geschickt wurden und unsere Eltern es sich vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatten.

„Das muss ich sehen!“, flüsterte mir mein, um ein Jahr älterer, Bruder Michi zu, dabei glitt er lautlos aus dem oberen Bett unseres Etagenbettes.

„Was musst du sehen?“, wollte ich flüsternd wissen.

„Tom und Huck!“, war seine begeisterte Antwort.

„Die Beiden aus dem Buch?“

„Ja, kommst du mit?“

„Ja klar“, lautlos glitt ich ebenso aus dem Bett, schaute noch schnell in die unteren beiden Betten, denn dort schliefen bereits tief und fest unsere jüngeren Geschwister. Auf unseren nackten Füßen huschten wir zur Tür, die Michi lautlos öffnete. Durch einen schmalen Spalt schoben wir uns vorsichtig in den Flur, denn wenn man diese Tür weiter öffnete, begann sie laut zu knarren. Zu unserem Glück stand die Wohnzimmertür halb offen, sodass dass wir einen wunderbaren Blick auf den Fernseher hatten. Unsere Eltern saßen wohl auf dem Sofa, denn sehen konnten wir sie nicht, aber wir vernahmen ihr Getuschel.

Kurz drauf begann der Film und wir setzten uns im Schneidersitz auf den Teppichläufer, der im Wohnungsflur ausgelegt war. Gebannt verfolgten wir den Film, sodass wir nicht bemerkten, dass unsere Mutter aufgestanden war und plötzlich in der Tür stand. Sie sagte kein Wort, legte jedoch den Zeigefinger auf den Mund und ging wortlos ins Bad. Auf dem Rückweg strich sie meinem Bruder liebevoll über den Kopf und verschloss nicht die Tür.

Und weiter ging es, wie Tom und Huck den Mord an dem Doc beobachten und wie im Anschluss der Unschuldige verhaftet wurde. Kurz bevor man diesen armen Stadtstreicher mit Federn teerte, sagten die beiden endlich aus. Ich atmete hörbar erleichtert auf und erhielt sogleich von meinem Bruder einen kräftigen Stoß in die Rippen. Er riss seine Augen weit auf und funkelte mich böse an. Bis zum Ende des Films verhielt ich mich nun mucksmäuschen still.

Während der Abspann lief, schaute ich immer noch gebannt auf den Fernseher, da stupste mich mein Bruder an und wir huschten so schnell wie möglich in unsere Betten zurück. Dort unterhielten wir uns flüsternd, denn vor lauter Aufregung konnten wir noch nicht schlafen.

Es dauerte nicht lange und auch unsere Eltern hatten sich zu Bett begeben. Wir warteten noch einige Zeit, dann schlichen wir ins Wohnzimmer und dort spielten wir das gerade Gesehene nach. Eine Pfeife hatten wir nicht, aber auf dem Tisch lagen ja Zigaretten. Michi schnappt sich eine, sozusagen als Ersatz für die Pfeife. Wir kauerten uns hinter einen Sessel. Unserer Fantasie ließen wir freien Lauf.

Wir krochen über die Sessel und das Sofa. Spielten im Flüsterton, wie Tante Polly sich aufregte und ich hangelte dann übers Sofa, als würde ich durchs Fenster aufs Garagendach steigen, um mich mit meinen Freund zu treffen.

Nach einiger Zeit lagen wir auf der Lehne des Sofas und stellten uns vor, dass wir in dieser Scheune auf dem Heuboden lagen. Wir blickten zur Tür, dort erschienen plötzlich Indianer Joe, der Doc und noch ein Cowboy, der seine Munitionskette quer über Bauch und Kopf trug. Seine blitzenden Revolver steckten in seinen Colttaschen. Der Doc, in seinem schwarzen Anzug, hielt eine Schaufel in der Hand. Im Geiste hörten wir, wie Indianer Joe den Doc ansprach: „Wo ist es vergraben?“

Zielstrebig ging der Doc noch ein paar Schritte vor und begann, mit der Schaufel zu graben. Es ging dem Cowboy nicht schnell genug, stieß den Doc zur Seite und machte selbst weiter. Nachdem sie endlich die Kiste fanden und die Dollars herausholten, ging der Streit los. Plötzlich stach Indianer Joe mit seinem Messer zu, der Doc kippte zu Seite. Der Cowboy zog sofort seinen Revolver und ließ sich auf nichts ein. Aber schließlich teilten sie doch das Geld und verschwanden.

Mein Bruder, der den Huck spielte, wollte gerade auf die Sitzfläche des Sofas runterrutschen, um nach dem Doc zuschauen, doch urplötzlich zog er mich von der Lehne hinters Sofa und drückte mir die Hand auf den Mund. Erst jetzt vernahm ich schlurfende Schritte aus der Diele in Richtung Bad. Mucksmäuschenstill verharrten wir, bis wir wieder das Schließen der Schlafzimmertür hörten. Sofort ließen wir unserer Fantasie wieder freien Lauf und machten uns auf den Weg zum Mississippi – landeten auf einem Bootssteg, den die Lehne des Sofas darstellte, und angelten.

Irgendwann wurden wir aber doch richtig müde und schlichen uns ins Kinderzimmer zurück. Über einen Stuhl hangelte ich mich zurück ins Bett. Mein Bruder betrachtete seitdem sein Bett als Tonne, in der er sich unter seine Decke hinein schob.

Am nächsten Tag verlor meine Mutter kein Wort darüber, sie meinte nur zu Michi: „Lass die Zigaretten aus, sonst haben wir noch einen Brandfleck im Sofa“.

Selbstverständlich sahen wir auch die anderen Teile, die wir ebenso tagsüber, wie auch nachts nachspielten, aber auch eigene Interpretationen der Geschichten erfanden.

 

*****

Aufklärung…vom Klapperstorch über die Bravo - Rebekka Weber

„Was ist nur mit Frau Theis passiert?“, flüsterten wir Nachbarskinder und sahen uns fragend an.

Wir standen im Garten, der zu den beiden Mietshäusern gehörte, in denen unsere Familien lebten und tauschten unsere Beobachtungen aus. Seit gestern mussten sich nämlich die drei Kinder der Familie Theis allein versorgen, und der Vater war gerade wieder ins Krankenhaus gefahren.

„Der Klapperstorch soll wieder zugebissen haben und jetzt hat sie ein krankes Bein“, meinte einer meiner Spielkameraden zu wissen.

Und wirklich, als die Nachbarin nach ein paar Tagen nach Hause kam, trug sie tatsächlich einen Verband um den Unterschenkel. Gleichzeitig vernahmen wir aus ihrer Wohnung im Dachgeschoss ein lautes Krähen. Ein neues Baby war angekommen!

Als ganz kleines Kind habe ich geglaubt, dass der Storch die Kinder bringt, denn das wurde uns von den Erwachsenen erzählt. Und man müsse Zucker auf die Fensterbank legen, wenn man ein Kind möchte. Damit würde man den Storch anlocken.

Ich habe viele Halbgeschwister, die allerdings schon aus dem Haus waren oder bei ihrem Vater lebten.

Nach mir hat meine Mutter keine Kinder mehr bekommen. So bin ich fast als Einzelkind aufgewachsen und konnte mir bei Geschwistern nichts „abgucken“. Allerdings war ich viel mit Nachbarskindern unterwegs und irgendwann, ganz klar, wollten wir alle wissen, worin sich Jungs und Mädchen unterscheiden.

Wir trafen uns irgendwo, wo uns die Erwachsenen nicht beobachten konnten, draußen im Wäldchen oder in einem Hausflur, ließen die Unterhosen runter und gaben uns imaginäre Spritzen in den Po. Ganz klar, dass wir dabei auch einen Blick auf den kleinen Unterschied warfen. Ich denke, dass diese „Doktorspiele“ auch heute noch verbreitet sind.

 

Wann fing nun die eigentliche Aufklärung bei mir an?

Ich erinnere mich noch genau an diese Zugfahrt, die uns Anfang der sechziger Jahre aus der Klingenstadt Solingen in unseren Urlaubsort am Bodensee brachte. Mein Opa und meine Mutter hatten ihren Reiseproviant bereits aus den Taschen hervorgeholt und saßen genüsslich schmausend neben mir, während ich ganz versunken in meiner Reiselektüre blätterte.

Damals war ich sechs Jahre alt, ein aufgewecktes Kind mit streichholzkurzen, hellblonden Haaren, das Bücher in kürzester Zeit verschlang. Nun hätten sicherlich „Pippi Langstrumpf“ oder „Die Kinder aus Bullerbü“ besser in meinen Rucksack gepasst, aber aus einem ganz besonderen Grund hatte meine Mutter mir mein allererstes BRAVO-Heft gekauft.

Worin bestand nun mein frühes Interesse, diese Zeitschrift zu lesen?

War ich etwa frühreif und wollte ich in diesem zarten Alter schon alles über Sex wissen? Mitnichten! Der einzige Grund, weshalb ich mich für dieses Magazin begeisterte, war ein darin veröffentlichter illustrierter Bericht über vier Jungs aus Liverpool. Und in einen von ihnen, in den hübschesten mit Namen Paul McCartney, hatte ich mich unsterblich verliebt. Meine Mutter zeigte Verständnis für meine Schwärmereien und hatte keine Einwände, dass ich so zeitig anfing, dieses Jugend-Magazin zu lesen.

Damals schon gab es in jeder Ausgabe die „berühmte“ Aufklärungsrubrik von Dr. Sommer, die mich zu jener Zeit aber überhaupt noch nicht interessierte.

Einige Jahre später – es muss Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre gewesen sein – sorgte dann in diesen Heften ein großer Aufklärungsreport für Furore: geheimnisvolle, zugeheftete lila Seiten aus extra dickem Papier, auf denen alles stand und abgebildet war, was man als junger sexinteressierter Mensch so wissen sollte. Ich erinnere mich, dass ich diese Seiten herausgetrennt und sorgfältig aufbewahrt habe. Als ich dann anfing, mich für Jungs zu interessieren – so ungefähr im Alter von zwölf Jahren – habe ich diese Seiten unter meinem Bett, wo ich sie in einer Kiste verstaut hatte, wieder hervorgeholt und alles haargenau nachgelesen.

Zur gleichen Zeit bekam ich auch das erste Mal meine Periode. Charlotte, meine umsichtige Mutter – Gott hab‘ sie selig – hatte für diesen Fall vorgesorgt und stattete mich mit allem aus, was ich während dieser „Tage“ brauchte.

Sie selbst kam aus einem sehr strengen Elternhaus, war gar nicht aufgeklärt worden und wurde mit 19 Jahren, ohne dass sie realisierte, wie das überhaupt passiert war… schwanger. Gerade zwanzig geworden, musste sie heiraten, bekam während des Krieges drei Kinder und schwor sich, dass es ihre einzige Tochter einmal besser haben sollte.

 

So konnte ich mit allen Fragen, die die BRAVO nicht beantwortete, zu ihr kommen und meine Mutter gab mir auch im Laufe des Lebens viele Tipps, was Liebesdinge anbetraf. Als ich einmal verkündete, dass ich nur einen größeren Mann heiraten würde, meinte sie: „Blödsinn! Die Größe ist gar nicht so wichtig, denn kleine Männer kann man höher ziehen.“ Ich gebe zu, dass ich diesen Satz damals noch nicht so richtig verstanden habe.

 

Mit vierzehn Jahren hatte ich auf einmal ein großes Problem: Meine Periode blieb nämlich aus. Schwanger konnte ich nicht sein, da ich weder einen Freund noch mit einem Mann geschlafen hatte. So ging ich zum ersten Mal im Leben zu einem Gynäkologen.

Nach der Untersuchung meinte der Arzt zu mir: „Es könnte daran liegen, dass du in den letzten Jahren so schnell in die Höhe geschossen bist. Deine inneren Organe sind da wohl nicht mitgekommen.“

Er überwies mich an die Uni-Klinik Düsseldorf, wo gerade die ersten Erfahrungsberichte mit der „Pille“ ausgewertet wurden. Und dieses neue Wundermittel zur Schwangerschaftsverhütung sollte ich dann auch schlucken, allerdings aufgrund einer medizinischen Indikation.

So fuhr ich im zarten Teenie-Alter viermal im Jahr mit dem Bus 25 km von Solingen in die Landeshauptstadt und hatte auf dem Rückweg jedes Mal eine kostenlose Drei-Monats-Pillen-Packung im Handgepäck. Und… meine Periode setzte nach einiger Zeit tatsächlich wieder ein. Ich sollte die Pille jedoch weiter einnehmen, damit sich mein Zyklus stabilisierte.

Das kam mir natürlich gerade recht, denn ich hatte – mittlerweile war ich fünfzehn – einen jungen Mann kennengelernt und war mir sicher, dass ich durch ihn in naher Zukunft meine „Jungfräulichkeit“ verlieren würde. Um Verhütung brauchte ich mir also keine Sorgen zu machen, denn durch die regelmäßige Pilleneinnahme war ich ja geschützt.

 

Inzwischen war ich 1,75 m groß, hatte meine blonden Haare auf Schulterlänge wachsen lassen und befand mich – leider – in einer reinen Mädchenschulklasse. Durch die beiden Kurzschuljahre und weil ich erst kurz vor der Einschulung sechs geworden war, gehörte ich in der Schule eigentlich immer zu den „Küken“. Und in meinem letzten Realschuljahr hatte ich nun Mitschülerinnen, die ein- oder zweimal sitzengeblieben und ein oder sogar zwei Jahre älter als ich waren. Diese prahlten ganz schön mit ihren sexuellen Erfahrungen, erzählten von ihren Erlebnissen auf und nach den Klassenfétén und schauten mitleidig auf mich, die „noch unschuldige Kleine“ herab. Ich gebe zu, dass ich ein wenig neidisch auf sie war.

Bald schon sollte sich jedoch etwas Bedeutendes in meinem Leben ändern…

Da ich mich immer sehr für Musik interessiert hatte, nahm mich mein vier-Jahre-älterer Cousin eines Tages mit ins „Haus der Jugend“, wo jeden Samstag von 17:00 bis 21:00 Disco für Jugendliche stattfand. Meine Mutter erlaubte mir, dorthin zugehen, allerdings unter der Bedingung, dass ich den letzten Bus um 21:15 nach Hause nahm, was ich auch immer brav tat. Anfangs tanzte ich mit meinem Cousin, hatte aber bald Kontakt zu anderen jungen Leuten. So geriet ich mit der Zeit in eine nette Clique, die außer den Discobesuchen auch ab und zu etwas unternahm, z.B. wandern ging oder Musikkonzerte in der näheren Umgebung besuchte.

Unter ihnen war ein sympathischer Kerl, namens Richie, der zufälligerweise im gleichen Stadtteil wie ich wohnte. Er war 22 Jahre jung, schlank, 1,80 m groß, wohnte zwar noch bei seinen Eltern, war aber schon seit einigen Jahren berufstätig und fuhr sein eigenes Auto. Einen roten Opel-Kadett!

Mit der Zeit ergab es sich, dass ich nicht nur in der Disco immer öfters mit Richie tanzte und dabei die ersten Disco-Fox-Schritte erlernte, sondern auch, dass er mich immer häufiger mit seinem Auto abholte oder heimbrachte, wenn wir zusammen mit der Clique etwas unternahmen.

Beim Abschied küsste ich meinen Chauffeur jedes Mal brav auf die Wange und umarmte ihn kurz. Mit der Zeit dauerte es jedoch immer länger, bis ich mich von Richie lösen und aus dem Auto aussteigen konnte.

Ich hatte mich ernsthaft in ihn verliebt! Seine ruhige und männliche Art gefiel mir sehr und Paul McCartneys Bild war längst völlig verblasst.

Eines Tages fragte Richie mich: „Geh‘n wir eigentlich zusammen?“

„Gerne“, antwortete ich überglücklich. „Wenn ich dir nicht zu jung bin?“

„Nee, nee“, grinste Richie, „geht schon in Ordnung.“

Das war kurz bevor ich sechzehn wurde.

Mit einer großen Party feierte ich dann meinen Geburtstag (an einem Schalttag!) und beschloss, dass „es“ in den nächsten Monaten passieren sollte. Mittlerweile waren Richie und ich sehr vertraut miteinander geworden. Die Abschiedsküsse im Auto verlagerten sich mit der Zeit von der Wange auf den Mund, und wenn wir am Wochenende mit seinem Auto spazieren fuhren, hielten wir oft auf einsamen Waldwegen, wo wir im kuscheligen Wageninnenraum eifrig unsere Finger betätigten.

Der große Tag, der doch so schön werden sollte, nahte! Durch die BRAVO und die Erzählungen meiner älteren Mitschülerinnen war ich ja völlig auf- und abgeklärt und wollte ganz selbstbewusst an die Sache herangehen. Richie lud mich ein, ihn an einem Samstagnachmittag bei sich zuhause zu besuchen. Seine Eltern würden außer Haus bei Verwandten sein, und so hätten wir den ganzen Nachmittag freie Bahn.

Mein Freund wohnte unter dem Dach in einem kleinen Zimmerchen. Es war erst Mitte September, aber soweit ich mich erinnern kann… herbstlich kühl. Wir setzten uns auf sein Bett, fingen an uns zu streicheln, zogen unsere Sachen aus und ich… meine Socken ganz schnell wieder an, denn auf einmal hatte ich entsetzlich „kalte Füße“ bekommen und das im wörtlichen und im übertragenen Sinne.

 

Denn als Richie nun so nackt vor mir stand, erschrak ich mich ganz fürchterlich! Dieses männliche Glied, das bis jetzt immer mit Stoff verhüllt gewesen war und das ich noch ein wenig zaghaft während unserer Aktivitäten im Auto gestreichelt hatte, war jetzt hoch aufgerichtet und zeigte sogar auf mich. Wie sollte dieses große Ding in mich hineingehen? dachte ich. Das konnte doch gar nicht klappen!

Mein Freund bemerkte mein Zögern und meinte: „Wir können gerne noch warten, wenn du noch nicht möchtest.“

„Doch, doch, ich will es!“, versicherte ich.

Richie versprach ganz vorsichtig und lieb zu sein. So ließ ich es geschehen und verspürte außer einem kurzen Schmerz… Nichts! Ich war maßlos enttäuscht! Das sollte nun dieses große, einmalige Gefühl gewesen sein, das die BRAVO versprochen hatte? Das stimmte ja gar nicht.

 

Mit der Zeit legte ich meine Scheu vor dem nackten Manne ab und lernte Zärtlichkeiten und Sex mit Richie zu genießen. Wir waren ca. ein Jahr zusammen, als wir uns jedoch verkrachten und für einige Monate trennten.

Mittlerweile hatte ich auf eine weiterführende Schule gewechselt und ging nun mit einem Klassenkameraden aus, der sich jedoch als Hallodri entpuppte.

Schließlich versöhnte ich mich wieder mit Richie, und wir verstanden uns besser als je zuvor.

Wir fuhren sogar zweimal zusammen mit seinem Auto nach Frankreich, um an der Cote d’Azur und an der Atlantikküste unseren Urlaub zu verbringen. Mit achtzehn Jahren zog ich nach Köln, um dort zu studieren.

Mein Freund half mir, meine Studentenbude einzurichten und besuchte mich auch jedes Wochenende.

 Mit der Zeit jedoch lebten wir uns immer mehr auseinander. Ich hatte mein Studium, er seine Arbeit, die Interessen passten nicht mehr zusammen. Außerdem dachte mein Freund daran, mit nun mittlerweile 25 Jahren, eine eigene Familie zu gründen. Und von diesem Gedanken war ich noch meilenweit entfernt! Ich wollte studieren und vielleicht danach noch in die Welt hinaus.

So haben Richie und ich uns nach dreijähriger liebevoller Freundschaft getrennt. Ganz lustig war, dass ich während der Freundschaft mit Richie noch 5 cm gewachsen bin und nun mit 1,80 m genauso groß wie er war.

Nach unserer endgültigen Trennung habe ich meinen Ex-Freund jedoch nicht aus den Augen verloren.

Wenn ich zu Besuch in meiner Heimatstadt weilte, berichtete mir meine Mutter von den letzten Neuigkeiten, die sie über Richie gehört hatte. So erfuhr ich, dass er eine Österreicherin geheiratet und mit ihr einen Sohn bekommen hatte.

Mit nur 37 Jahren ist mein erster Freund dann jedoch ganz plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben. Das hat mich natürlich tief getroffen und fassungslos stand ich ein paar Wochen später an seinem Grab.

Hätte ich ihn geheiratet, wäre ich schon in jungen Jahren Witwe geworden! Ich bin ihm jedoch auf ewig dankbar, weil er so lieb zu mir gewesen war, und ich werde ihn nie vergessen.

Was nun die eigentliche Aufklärung und meine eigenen Erlebnisse anbetrifft, möchte ich folgendes Fazit ziehen: Ich denke, dass sich in dieser Hinsicht – auch im heutigen „aufgeklärten Zeitalter“ – nicht viel geändert hat.

 Junge Menschen können durch Schulunterricht, Lektüre, Gespräche, Pornofilme und die vielfältigen Medien theoretisch alles wissen, richtig aufgeklärt werden sie jedoch erst durch ihre eigene Erfahrung. Das ist heute nicht anders als früher.

 Und vor dem ersten Mal haben doch alle ein wenig Schiss! 

 

*****

Aussteiger - Margo Wolf

Wenn nicht jetzt, wann dann? Frühjahr 2013

 

Prolog

Es war Winter 1976 und wie schon viele vor und nach uns, zog es auch uns in den sonnigen warmen Süden, was konnte anderes in Frage kommen, als die Inseln des ewigen Frühlings?

Wie fast jeder, der Teneriffa einmal erlebt hatte, verloren wir sofort unser Herz an diese wunderbare Insel und wir beschlossen damals, einmal in der Rente hierher zu ziehen, aber wie das Leben schon so spielt, im Laufe der Jahrzehnte kam ein ganzes Leben dazwischen, Beruf, Haus bauen, Kinder, und wir vergaßen…

 

Wir haben ein Computergeschäft, dass unser Sohn übernommen hatte, aber mein Mann half immer noch gerne aus.

Eines Tages kam ein Kunde mit einem Freund, der ein besonderes Anliegen hatte. Er hatte eine Ferienwohnung auf Gomera, eine der Kanarischen Inseln, und wollte einen billigen Laptop, den er auch dort lassen könnte, wenn er nicht anwesend war. Zum Glück hatten wir gerade ein passendes Gerät im Geschäft, mein Mann bot es an und als es um den Preis ging, stach meinen Mann plötzlich der Hafer:

 „Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie können den Laptop umsonst haben, wenn meine Frau und ich drei Wochen in ihrer Wohnung Urlaub machen können.“

Es sollte ein Scherz sein…

„Gerne“, nickte der Mann vollkommen ernst, „ich bin im Sommer ohnehin nie dort.“

Das machte sogar meinen Mann für Sekunden sprachlos!

Wir trafen uns danach noch öfter und bald hatten wir alles abgemacht.

Im nächsten August ging es mit dem Flieger nach Teneriffa, wo uns ein Freund des Wohnungsinhabers abholte und uns auch ein Zimmer für die Nacht anbot, da die Fähre erst am nächsten Morgen fuhr.

Drei Wochen Gomera!

Eine herrliche Insel zum Wandern und Entspannen, die Wohnung war in einer kleinen Ferienanlage in Valle Gran Rey, sie hatte eine große Terrasse und es gab auch einen netten Swimmingpool, der uns fast allein gehörte, da nur wenige Gäste da waren.

Aber…, nach nicht mal zwei Wochen hatten wir alles abgefahren und auch abgewandert und uns wurde immer langweiliger. Wir beschlossen, nach Teneriffa zurückzukehren und uns die letzten Tage des Urlaubs dort umzusehen.

Das taten wir und da kam wieder die Erinnerung…, wie hatten wir sie nur vergessen können?

Natürlich hatte sich die Insel in den vergangenen Jahrzehnten verändert, Touristenhochburgen reihten sich nun aneinander, wo damals nur winzige Fischerdörfer waren, aber der Zauber und das südliche Flair waren geblieben!

Als wir abflogen, wussten wir eines ganz sicher, diesmal kommen wir wieder!

Im nächsten Herbst, wir hatten einen sehr nebligen kalten Herbst in Wien, reichte es uns und wir beschlossen, unser Vorhaben umzusetzen und ein paar Wochen mehr als einen gewöhnlichen Urlaub lang, nach Teneriffa zu fliegen.

Tagelang durchforsteten wir das Internet nach einer passenden Unterkunft. Ich weiß nicht, ob wir besonders wählerisch waren, aber wir fanden nichts Geeignetes, entweder waren die Kommentare dementsprechend oder die Fotos der Wohnung und Umgebung sagten uns nicht zu. Wir wollten weder in der Einflugschneise des Flughafens, noch oberhalb einer Disco oder mit Blick auf die Autobahn 6 bis 8 Wochen verbringen.

„Ruf doch den Mann an, bei dem wir auf Teneriffa genächtigt haben“, schlug ich meinem Mann vor.

Gesagt getan und er meldete sich auch sofort. Mein Mann fragte ihn, ob er eine Ferienwohnung für uns an der Hand hätte, oder sonst einen Rat wüsste.

Nein, er selbst hätte keine Wohnung an der Hand, aber er kennt jemand, der uns weiterhelfen könnte, er wird unsere Telefonnummer weitergeben und derjenige würde dann zurückrufen.

„Naja, wenn sich in den nächsten 14 Tagen nichts rührt, dann versuche ich es nochmals“, meinte mein Mann, nachdem er das Gespräch beendet hatte.

Irrtum, keine zwanzig Minuten später meldete sich eine Karin, zu unserer Freude ebenfalls eine Wienerin, die schon lange auf Teneriffa lebt, und fragte, ob wir diejenigen wären, die eine Ferienwohnung suchen würden. Wir bejahten und sie meinte, es wäre so kurzfristig schwierig, aber sie würde sich umsehen.

Ein paar Tage später rief Karin wieder an und meinte, sie hätte etwas, es wäre zwar nur ein Studio, also eine Einzimmerwohnung, aber sie würde Fotos schicken.

Die Fotos gefielen uns und da wir ja den Ort schon vom Sommer her kannten, sah ich mich gleich auf Google Earth um und ging schon mal virtuell in Poris de Abona spazieren. (Der Ort schreibt sich wirklich mit „o“!)

Es ist ein kleiner Ort mit nicht mal 1000 Einwohnern im Südosten von Teneriffa, aber direkt an einer schönen Bucht am Meer gelegen und etlichen Gästen, die hier überwintern und auch eher die Ruhe abseits der Touristenzentren suchen.

Anfang Jänner trafen wir auf Teneriffa ein und Karin empfing uns, sie zeigte uns die Wohnung und übergab uns den Schlüssel.

Es war ein Studio, lag in einem großen mehrstöckigen Wohnblock und bestand aus einem einzigen Raum mit einer gläsernen Trennwand, Badezimmer und einer Terrasse. In der Mitte des Wohnblocks war ein schöner Garten mit einem grossen Pool.

Wir, die wir gerade aus dem kalten Europa gekommen waren, genossen die Wärme und die Schönheit der Insel ausgiebigst, kurvten mit unserem Mietauto auf der ganzen Insel herum, wanderten unten am Meer entlang und oben durch die Caldera des Teidegebiets. 

Ich glaube, jeder hat schon mal Fotos von Teneriffa gesehen und die zeigen immer eine üppig blühende Insel, voll mit Palmen, die sich im Wind leicht wiegen und wer kennt nicht die beliebten Papageienblumen oder die Weihnachtssterne, die auf Teneriffa so hoch wie Bäume werden?

Dieses Teneriffa gibt es auch, es handelt sich aber dabei um den feuchteren Norden, der Süden, getrennt vom gewaltigen Teidemassiv, ist wesentlich trockener, wüstenartig, hier herrschen Kakteen und verschiedene Sträucher, hauptsächlich Wolfsmilcharten vor. 

Der Vorteil ist, dass es im Süden wärmer als im Norden ist und es kaum Regen gibt. Die üppigen Gärten in den großen Touristenzentren Los Christianos und Las Americas sind alle künstlich angelegt und gedeihen nur dank ständiger Bewässerung.

Das Beeindruckendste ist aber der Nationalpark Teide. Schon wenn man Kurve um Kurve die Straße höher fährt, ist man von den Eindrücken gefesselt, schließlich muss man sich von 0 Höhenmeter auf 2300m hocharbeiten.

Zuerst Kakteen und Gestrüpp, mit dazwischen terrassierten Feldern und Bananenplantagen, danach der Corona Forestal, ein Kiefernwald, der die ganze Insel wie ein Haarkranz umgibt. Oft ziehen hier Nebelschwaden durch, verzaubern alles, es tropft manchmal von den Bäumen.

Dann wird es heller, und wie ein Flugzeug stößt man durch die Wolkendecke, man glaubt, sich in einem anderen Land, auf einem anderen Planeten wieder zu finden, so mag es zu Urzeiten auf der Erde oder auf dem Mars aussehen.

Schwarzes Lavagestein und rötliches Geröll wechseln sich ab, dazwischen an windgeschützten Stellen, niedriges Gebüsch, kaum kniehoch und wenn man Glück hat und es ist klares Wetter, so sieht man bis hinunter auf das Meer und die Orte dort.

In der Ferne sieht man die anderen Inseln des Archipels, als würden sie über dem Meer schweben und über allem thront der Teide, wie ein Vater, der seine Kinder beschützt.

 

Viel zu schnell waren die 6 Wochen vorbei und da es uns so gut gefallen hatte, verlängerten wir unseren Aufenthalt das nächste Mal gleich auf 3 Monate und die Insel gefiel uns immer besser, wir erkundeten auch die verstecktesten Plätze und langsam fanden wir uns auch in den Städten zurecht, fühlten uns schon ein wenig wie zu Hause.

 

Aber für die lange Zeit wurde uns die Einraumwohnung doch zu klein, noch dazu, wo unsere Kinder uns auch gerne mal besuchen wollten. Da wir die Absicht hegten, von nun an jeden Winter auf der Insel zu verbringen, begann ich mich im Internet umzusehen, wie es mit Ferienwohnungen in Langzeitmiete aussah, kaufen wollten wir nichts, denn wer weiß, ob es uns in fünf Jahren noch auf der Insel gefallen würde?

Wir baten auch Karin, mit der wir inzwischen gut befreundet waren, sich für uns umzusehen. Wir sahen uns einige Wohnungen an, aber nichts gefiel uns so richtig, wir wollten in keine große Ferienanlage, wovon es einige sogar in dem beschaulichen Poris gibt.

Karin wohnte damals in einem kleinen Haus mit 6 Wohnungen, drei im Erdgeschoß und drei im ersten Stock.

Alles fest in spanischer Hand und eine Wohnung davon war zu mieten. Wir sahen sie uns an und es gefiel uns ganz gut. Die Wohnung hat einen Wohnraum, in dem die Küche integriert ist, zwei Schlafzimmer und natürlich Bad und Vorraum.

Vom Balkon hat man einen schönen Blick, fast über die ganze Bucht und vom Küchenfenster direkt auf den Teide. Zu dem Haus gehört noch ein Pool und daneben eine große Außenküche mit langen Tischen, wohin man ausweichen kann, wenn man kleine Feste feiern will. Und auch eine Garage mit einer allerdings engen Einfahrt gehört dazu. In ca. 50m ist man am Meer und in 200m gibt es einen kleinen Sandstrand.

Wir überlegten kurz, riefen Karin an und sagten nur: „Ja, wir wollen die Wohnung.“

Sie war sehr erstaunt, dass wir uns so ohne weiteren Kommentar oder Diskussion entschlossen hatten, aber entweder es passt oder nicht!

Bald darauf hatten wir mit der Eigentümerin alles geregelt und den Mietvertrag in der Tasche. Die Eigentümerin war so glücklich einen Dauermieter zu haben, dass sie uns erlaubte, unsere Sachen, die wir so nach und nach für das Studio angeschafft hatten, in der Wohnung zu deponieren, obwohl es erst April war und der Mietvertrag erst ab September galt.

Als wir zu Hause eröffneten, dass wir ab nun jedes Jahr 6 bis 7 Monate verschwinden würden, gab es lange Gesichter, hatten doch alle geglaubt, wir würden nur reden, träumen und es doch nicht durchziehen, aber denkste!

 

Den nächsten Aufenthalt nutzten wir hauptsächlich, die Wohnung an unsere Ansprüche anzupassen, kauften Möbel, die uns gefielen, strichen Wände und erneuerten auch vieles im Badezimmer, so wurde aus einer neutralen Ferienwohnung ein richtiges Zuhause.

Wir kauften uns auch ein kleines Auto, um nicht die, auf Dauer, teure Automiete, zahlen zu müssen.

Nun verbrachten wir schon einige Winter auf Teneriffa und die Insel wird uns immer mehr zur zweiten Heimat, wobei die Einheimischen mit ihrem entspannten und fröhlichen Wesen noch das ihrige dazu beitragen. Auf jeden Fall sollte man, wenn man vom hektischen Europa kommt, erst einmal tief durchatmen und einen bis zwei Gänge runterschalten, sich ganz dem Zauber der Insel hingeben, im Meer baden, durch Wälder wandern, oder oben die marsähnliche Landschaft bewundern.

Teneriffa hat viele Seiten, bietet für jeden etwas, da gibt es sanfte Hänge voll mit Bananenplantagen, aber auch wilde Schluchten und Felswände, ein Paradies für Kletterer. Man kann stundenlang wandern und begegnet doch keinem Menschen, man kann aber auch in das dichte Gewühl der Städte eintauchen und durch Fußgängerzonen von Geschäft zu Geschäft schlendern.

 

So sind wir, in unserem bereits fortgeschrittenen Alter, zu Aussteigern geworden, haben Stress und Hektik zurückgelassen und passen uns immer mehr an die Lebensweise auf Teneriffa an. Unsere Kinder und auch Freunde besuchen uns gerne und alle sind begeistert von der Schönheit der Insel und dem entspannten Leben hier.

 

Ich kann nur jedem raten, wenn man Träume hat, soll man sie sich erfüllen, es ist nie zu spät dafür, nichts ist schlimmer, als sich am Lebensabend sagen zu müssen, hätte ich nur…!

 

 

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Ein Ort voller Bücher - Ina Baumgarten

In meiner Heimatstadt gibt es eine Stadtbibliothek. Sie ist schon, seit ich denken kann, ein Teil meiner selbst. Als Kind habe ich hier die ersten Bilderbücher ausgeliehen. Mir wurde aus den Büchern erst vorgelesen, dann lernte ich mit ihnen lesen und seitdem ich das kann, besuche ich unsere Bibliothek mindestens einmal im Monat.

Unglaublich viele Bücher aus unserer Bibliothek habe ich schon in den Händen gehalten, manche davon so oft, dass ich sie bald als mein Eigentum betrachten könnte.

 

Mein Leseausweis ist mittlerweile schon so alt, dass nicht einmal mehr der Landkreis auf der Rückseite der Karte derselbe ist. Da gab es zwischenzeitlich eine Kreisfusion. Aber das ist ein anderes Thema.

 

Hier habe ich unzählige Nachmittage, Abende und Vormittage verbracht - den Kopf in die Bücher gesteckt und gemütlich zwischen den Regalen voll mit Büchern entlang schlendernd.

Ich kenne jeden Winkel unserer Bibliothek und trotzdem entdecke ich jeden Monat etwas Neues. Nicht zuletzt wegen der neuverfügbaren Bücher. 

Ohne die Bibliothek hätte ich niemals so viel erlesen können, dazu fehlt mir schlicht der Platz. Ich habe mit den dortigen Büchern mein erstes Haustier gehabt, mich erst in den Prinzen und dann in den Rockstar verliebt, habe Kriminalfälle aufgeklärt und bin durch das Mittelalter ebenso wie die Zukunft marschiert. Dank den Büchern habe ich wahre Weltreisen unternommen und viel Spannendes über unsere Heimat erfahren.

 

Doch auch die Sachliteratur kommt nicht zu kurz. Ich habe hier manche Stunden gesessen und über meinen Vorträgen gebüffelt. Von Solschenizyn bis zum Lexikon des Islam: Zu allem gibt es ein passendes Buch und einen fachkundigen Bibliothekar, der weiß, wo ich es finden kann. Meine Quellen stammten weniger aus dem Internet und viel mehr aus all diesen wundervollen Büchern. Von Algebra bis zu Zierpflanzen. Alles vorhanden. Einen schöneren Ort kann ich mir wahrlich kaum vorstellen. 

Hier leihe ich mir auch immer gern CDs und Hörspiele aus. So viele Bands, die ich wohl möglich ohne diese eigene Etage voller Musik niemals entdeckt hätte. Auch Noten kann man hier ausleihen und ich versuchte damit, auch endlich ein Instrument zu erlernen. Oder auch PC-Spiele sind hier reichlich vorhanden und ganz viele Filme. Ich habe noch nie eine Videothek besucht, dafür aber schon unzählige Male hier meine Filme ausgeliehen. In den Ferien war ich deshalb sogar jeden Tag in der Bibliothek. 

 

Wie man diesem Text sicherlich entnehmen kann, liebe ich unsere Stadtbibliothek über alles und ich würde mich sehr freuen, wenn sich noch viel mehr Bücherfreunde für den Erhalt solcher Kulturstätten einsetzen würden – denn sie machen es Menschen möglich, ein Leben voller Büchern zu führen und dass auch, wenn diese nicht so viel Geld zur Verfügung haben. Und was gibt es schließlich Schöneres, als ein Haus voller toller Bücher?