Kaiser, Joachim Erlebte Musik. Von Bach bis Strawinsky

PIPER

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Neuauflage einer früheren Ausgabe

ISBN 978-3-492-97734-0

Juni 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© Die Erstausgabe erschien bei Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1977

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: SZ Photo / Regina Schmeken / Bridgeman Images

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Was die Musik einem sein kann

Ganz privates Vorwort

Bei uns zu Hause wurde viel musiziert. Mein Vater war Arzt, und er wäre wohl lieber noch Geiger geworden, dann allerdings freilich auch gleich richtig Solist, hübsch interkontinental gefeiert, mit Allüren und großen Gagen. Aber während seines Medizinstudiums hatte er berühmte Lehrer in Berlin und Königsberg konsultiert; die hatten ihn angehört, seinen (übrigens wirklich) fabelhaft kräftigen, temperamentvollen Ton gelobt, seine (übrigens im Alter schlimm hervortretende) Tendenz zur Unsauberkeit bedauert, ein paar kaum mehr korrigierbare Fehler festgestellt – und ihm abgeraten. Das hatte er sich gesagt sein lassen.

Doch eine Wunde blieb. Manchmal, wenn wir aus Konzerten mittelmäßiger Geiger nach Hause fuhren, dann brach es aus ihm heraus, wie schlecht der Solist gewesen sei und wie ganz anders dieses Stück gespielt werden müsse – regelmäßiges Üben vorausgesetzt. Wenn freilich ein großer Virtuose aufgetreten war, spürte ich meinem Vater nicht etwa Neid, sondern Erleichterung an. Er wußte wohl, daß er auch mit viel Fleiß den letzten Satz des Brahms-Konzerts, die Flageolett-Hürden aus dem Tschaikowsky-Konzert oder gewisse Paganini-Unannehmlichkeiten niemals podiumssicher geschafft hätte. Dann war er froh, nicht als gescheiterter Musiker irgendwo die zweite Geige zu spielen.

Also: ein Mediziner mit musikalischen Neigungen. Er hatte als Landarzt im masurischen Milken zu praktizieren begonnen. 1933 zog er nach Tilsit, wo einige Arztstellen – »Praxen« – frei geworden waren. Kluge jüdische Ärzte nämlich, die nicht glauben wollten, der NS-Spuk gehe schnell vorüber, emigrierten zu ihrem Heil schon damals. Für ihre jungen »arischen« Kollegen war das natürlich eine Chance, so sehr man die Weggezogenen (die Vertriebenen) auch bedauerte – als Freunde, als Kammermusikpartner, als Akademiker, denen so was zustieß. Jüngere können sich heute kaum mehr vorstellen, mit welch selbstverständlichem Ehrfurchtstremolo das Zauberwort »Akademiker« vor gar nicht allzu langer Zeit ausgesprochen wurde, von Akademikern und Nicht-Akademikern.

Tilsit. Dreißig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verwechselt die Enkel-Generation es bereits mit Tiflis. Muß, etwa von München aus gesehen, auch irgendwo weit hinten im Osten sein. Tilsit war eine Mittelstadt. 60 000 Einwohner. Gelegen an der nordöstlichen Grenze des »Reiches«, was man damals freilich ohne Anführungszeichen schrieb, sagte, dachte. Indirekt klingt Tilsit in der Nationalhymne mit: »… bis an die Memel.« Denn Tilsits Fluß war ja die Memel. Die Zeitung hieß Memelwacht. Der Musikverein veranstaltete Konzerte. Wenn der Karl Erb, der Heinrich Schlusnus, die Lore Fischer kamen, dann freute man sich lang und herzlich darauf. Erb kam übrigens mit einem jungen Begleiter namens Ferdinand Leitner, der während des Liederabends auch ein Solostück spielen durfte und mit dem der berühmte Tenor einmal so laut im Künstlerzimmer herumschrie, daß später die ganze Stadt darüber wisperte. Der Musikvereinsvorsitzende hatte den Auftritt (es ging um Geld, nicht um Kunst) nämlich erschauernd mitangehört und ein bißchen weitererzählt.

Edwin Fischer wurde Jahr für Jahr bewundert, Kempff hatte eine erlauchte Gemeinde von schönen, adligen Damen. Viel später lernte ich die diesbezügliche Aufklärungs-Terminologie kennen. Das seien die Frauen der Junker gewesen. Mit meiner Erinnerung an die freundlichen, vielleicht oberflächlichen, enthusiastisch kunstinteressierten, vielleicht nicht allzu kunst-»verständigen« Menschen, in deren Namen ein »von« vorkam, hat diese spätere, demokratische und soziologische Belehrung über ostelbisches »Junkertum« wenig zu tun. Möglicherweise sieht man dergleichen als Kind, als junger Pennäler nicht. Ich müßte mir meine Erinnerung umlügen, müßte sie antifeudal mystifizieren, wenn ich irgendeine Schreckens-Reminiszenz vorbringen wollte. Schrecken und Angst verbanden sich damals für (manche) Kinder immer nur mit den konkret militanten Forderungen des Staates. Am liebsten wich man ins Private aus gegenüber der Diktatur, die ja nicht Abstraktum war, sondern übermächtiger Eingriff in den Zeitplan: dann und dann ist »Dienst«, dann und dann droht unausweichlich der Drill, der Befehl, die physische Belastung. Argumente dagegen gibt es in Diktaturen nicht, sondern höchstens irgendein Ausweichen. Die »Junker« indessen hatten, zumindest für uns »Bürgerliche«, überhaupt nichts Schreckliches. Sie lebten und ließen, vielleicht ein bißchen schlechter, leben. Nach 1945 zeigte sich immerhin, wie diese Junker und erst recht ihre Frauen mit Unglück fertig zu werden vermochten ohne Weinerlichkeit. Sie fügten sich ins Unvermeidliche. Tapfer und hochmütig (obwohl, ja vielleicht gerade weil es ihnen »dreckig« ging).

Aber davon ließ man sich nichts träumen – oder höchstens etwas »träumen«, was dann verdrängt wurde. Im übrigen war die Kunst wichtig.

Also: der Fischer spielt halt mit einem Finger mal versehentlich auch zwei Töne. Aber, »der Fischer, der darf sich das leisten«. Und Kulenkampff ist doch etwas fischblütig, etwas kühl, »trotzdem wohl unser bester Geiger«, weil der Kreisler, der Hubermann, der Szigeti nicht mehr auftreten. Und ist nicht der Ton von Karl Freund fürs Brahms-Konzert etwas zu klein? Tilsit hatte auch ein Stadttheater, ein Orchester, einen Generalmusikdirektor, der – sein lautes Mitsingen wurde gern parodiert – Klavierabende veranstaltete, über die in der Memelwacht zurückhaltende Betrachtungen erschienen, weil der Dirigent/Pianist halt ziemlich hoher Pg war. Es gab mehrere Chöre, die miteinander wetteiferten. Sie führten die großen Passions- und Requiems-Musiken auf. Verdis »Requiem« freilich schien ostpreußischen Protestanten schon zu opernhaft: »Das kann man nicht in der Kirche aufführen.«

Was die Oper und das Orchester betraf, so kamen die ganz großen Partituren – Bruckner, Wagner, Strauss – kaum vor. Kleinstadtbewohner neigen zum Lokalpessimismus, wollen zeigen, daß sie sich nicht von ihrem Städtchen die Maßstäbe vorschreiben lassen. Sagen darum, das beste an ihrem Städtchen X sei doch die Eisenbahn oder Autobahn nach Y. Und Y ist dann die jeweils nächste Großstadt: für Tilsit war es Königsberg, im Falle Ingolstadt ist es München. An die »Meistersinger« traute man sich in Tilsit nicht heran, weil die »Grenzlandtheater-Bühne« zu klein sei. Mit der eher kammermusikalischen »Ariadne« hätte man Pech gehabt, weil die Solisten-Stimmen zu klein gewesen wären. Für die Titelpartie des »Don Giovanni« kam im Mozart-Jahr 1941 der Gast aus dem Reich. Er wohnte bei uns. Dem Dienstmädchen spendierte er 10 Reichsmark.

Im Mittelpunkt der klein- oder mittelstädtischen Musikkultur standen die Solo-Abende, weil eben der große Solist in Tilsit auch nicht schlechter spielt als im fernen Berlin – ja vielleicht sogar noch ein bißchen besser, freier, unnervöser. Spätabends dann Nachfeiern im kleinen, privaten Kreis, unter Honoratioren und Interessenten – für diesen »kleinen Kreis« möglicherweise wichtiger und für den Künstler möglicherweise anstrengender als das Konzert selbst.

Neben den offiziellen Konzerten, keineswegs nur als Lückenbüßer, fanden die Hausmusikabende statt als selbstproduzierter Kontrapunkt. Woche für Woche Streichquartett. Weil der Kinderarzt gut Klavier spielte, auch mal Kammermusik mit Klavier. Zum »Forellen-Quintett« bat man einen Kontrabassisten aus dem Orchester. Ein Berufsmusiker, der ganz gern kam. An Zigarren und Wein fehlte es nicht. »Optimismus ist das beste Recht aller Musici«, schrieb der Dirigent des Kirchenchores 1938 ins sorgfältig geführte Gästebuch.

Bestimmt kein Zufall, daß des Tilsiter Dichters Johannes Bobrowski in Tilsit spielender Musiker-Roman »Litauische Claviere« heißt. Wie gesagt, an Krieg und Vertreibungsende dachte damals, zwischen 1933 und 1938, aber wahrscheinlich noch viel länger, kein Mensch wirklich. Auch wenn gelegentlich geschimpft und geunkt wurde. Mein Vater nahm es »den Nazis« übel, daß er – wenn er in Hauskonzerten oder bei Chorbeziehungsweise Musikvereinsfeiern öffentlich auftrat – so viele Zug-Stücke nicht mehr vortragen konnte, die er doch »drauf« hatte: Wieniawskis d-Moll-Konzert, Mendelssohns e-Moll-Konzert und den ganzen Fritz Kreisler. Zu Hause spielten wir das natürlich alles. Und der Landgerichtsdirektor Grimm (kein »Nazi«, aber wie die allermeisten beamteten Juristen in der »Partei«) spielte den Klavierpart des d-Moll-Trios von Mendelssohn in SA-Uniform. Er kam gerade von irgendeiner Veranstaltung. Man fühlte nicht oppositionell, sondern privat. Musik ist unpolitisch. Und die Hauptstadt Berlin und die Bewegungshauptstadt München waren weit.

So wuchs ich mit Kammermusik auf. Unter den Sextanern des Staatlichen humanistischen Gymnasiums, das ich besuchte, hatten von 17 Schülern mehr als die Hälfte Klavierstunden: neun oder zehn. (Es gab ja noch keine Langspielplatten und schon gar kein Fernsehen.) Und Ärzte machten ja sowieso Musik.

Erstaunlich, was die Musik gerade den Ärzten sein kann! Woher eigentlich das auffällige Interesse so vieler Ärzte für Musik? Oder: woher das Vorurteil, demzufolge Mediziner so häufig musikalisch seien? Man kann Hypothesen durchprobieren. Zunächst im Hinblick auf die Zahlenverhältnisse. Da die Ansicht, Ärzte seien musikalisch, weit verbreitet ist, fällt jeder entsprechende Fall als Bestätigungsfall auf. Schon wieder ein Arzt – sagt man, wenn Dr. med. Sowieso Klavier spielt, wenn der berühmte Chirurg Z. Hauskonzerte veranstaltet. Schon wieder ein Arzt – denke ich, wenn mir ein Mediziner etwas zu meinen Kritiken oder Büchern schreibt. Freilich: falls Pfarrer musikalisch sind, wird das kaum konstatiert. Musik gehört zum Gottesdienst, zur Liturgie – ein Pfarrer muß singen können, klar. Jura wiederum ist musik-neutral. Aber manche Musiker, bevor sieʼs wurden, fingen mit der Juristerei als einem Alibi-Studium an. (Heinrich Schütz, Robert Schumann, Karl Böhm.) Nur: sie blieben’s dann nicht. Von der Medizin sattelt sich’s weniger leicht um.

Doch auch wenn wir die relativen oder absoluten Zahlen aus dem Spiel lassen, der Ärzte-Orchester nicht gedenken, den Dr. Billroth ebenso vergessen wie den Dr. Peter Clemente – läßt sich erklären, warum denn die Ärzte, falls sie überhaupt »musisch« sind, sich eben gerade für Musik engagieren und offenbar doch seltener für Malerei, Lyrik, Architektur? Ärzte sind, im allgemeinen, Handarbeiter. Sie haben es mit Konkretem zu tun und neigen, weil sie als »Diener der leidenden Menschheit« Realisten sein müssen, gewiß nicht zum »Sprüchemachen«, zur Schönrednerei, sind relativ selten literarisierende Intellektuelle. Von den produktiven Genies, also Arzt-Autoren wie Benn, Carossa, Céline, Döblin, abgesehen. Aber die normalen, die mittleren, die vielen Ärzte, sie weichen eben doch am liebsten ins »Musische« aus. Weil sie gern praktisch tätig sind, wollen sie auch beim Hobby manuell beschäftigt sein; und weil ihre Freizeittätigkeit begreiflicherweise nicht dem Fleischlich-Realen gelten soll, sondern etwas Reinem, Schönem, Harmonischem, Nicht-Sterbendem: darum die Vorliebe so vieler Ärzte für Musik.

Für mich hieß das also: in meiner Kindheit ziemlich regelmäßig Streichquartett der »Großen«. Und die Erinnerungen an gewisse Stücke, an, wie man geschwollen sagt, erste »Begegnungen« mit Musikwerken (freilich auch einigen Literaturwerken), sie sind für mich, das mag seltsam klingen, weit realer als beispielsweise die Erinnerung an Orte, Häuser, Zimmer, Katastrophen. Ja ich könnte mir eine Autobiographie vorstellen, die den Fortschritt des Lebens, des Lebensalters an ganz bestimmten Musikstücken festmacht.

Keine Angst, ich will das hier nicht ellenlang ausführen: wie ich mich zum Beispiel an einen Mozart-Satz, das Andante aus der Es-Dur-Sonate für Klavier und Violine, das unheimlich-trauermarschähnlich den Rhythmus des Allegrettos aus Beethovens 7. Symphonie vorwegzunehmen scheint, wie ich mich an diesen finster und herrlich pochenden Satz klammerte, als endlich ganz klar war, daß der Krieg und der Osten verloren waren und daß – so mußte es scheinen – keine Zukunft mehr sei.

Das erste Musikstück, das mir Eindruck machte, war ausgerechnet das Klarinettenquintett von Brahms. Am Abend vorher hatten die Erwachsenen bei uns gespielt, am nächsten Morgen, ich ging noch in den Kindergarten, sang ich das Hauptthema laut und vergnügt beim Schuhe-Anziehen nach. Selten habe ich meinen Vater so stolz erlebt, er konnte gar nicht oft genug die Sechs-Achtel-Takt-Phrase von dem kleinen Bengel trompetet hören. Natürlich vergißt man so etwas schnell wieder.

Aber bei der nächsten Begegnung mit Brahms’ Opus 115 erinnert man sich. Musik dringt anders in die Person ein, wenn sie so früh Spaß macht, als wenn man sie erst als begüterter Erwachsener mit Hilfe einer Langspielplatten-Kassette zur Kenntnis nimmt.

Jeder, der mit Musik zu tun hat, dürfte von Analogem berichten können. Die Quinta, das war für mich die Entdeckung, wie schön Mozarts d-Moll-Klavierkonzert sei. Etwas Herrlicheres kann es gar nicht geben! Ein ziemlich schwachsinniges Smetana-Rondo für Klavier zu acht Händen verschmolz ganz und gar mit der ersten Pubertäts-Verliebtheit – wobei anzumerken wäre, daß die restlichen sechs Hände bei der Erarbeitung dieses Werkes zwei kaum älteren Zwillingsschwestern und einer weiteren, wie mir schien, herrlich begabten Jungpianistin gehörten. Dann doch Chopin, f-Moll-Fantasie, Bach (nicht die Matthäus-Passion, wo mich Arien und Evangelist und das befohlene feierlich stille Zuhören langweilten, sondern Violinkonzert E-Dur), Schlusnus mit Schuberts »Musensohn«, Beethovens Cellosonate A-Dur, die ein guter Freund, heute Solocellist in Kapstadt, einzustudieren versuchte, die »Waldstein-Sonate«, von der es eine geistvolle Wilhelm-Kempff-Plattenaufnahme gab, der »Eulenspiegel«, der uns, wie übrigens auch das d-Moll-Klavierkonzert von Brahms, als höchst moderne, schwerverständliche Musik vorkam. Und nicht der »Tristan«, sondern die »Meistersinger«. Danach – kurz vor dem Abitur in Hamburg – die »Walküre«.

Natürlich hat man als Schüler alle diese Werke zwar lebhaft, neugierig, begeistert an irgendeinem (für mich heute noch fixierbaren) Tag, verbunden mit irgendeinem für mich genauso fixierbaren Lebensereignis, kennengelernt.

Aber das heißt beileibe nicht, man hätte sie auch verstanden, völlig kapiert, analytisch »begriffen«. Während ich diese Worte niederschreibe, mit denen sich Laien gern vor meist unangemessenen Fragen schützen – »Wissen Sie, ich liebe Musik sehr, aber ich verstehe nichts von ihr«, sie sagen das, weil sie außerstande sind, den fachmännischen oder soziologischen Jargon über Musik mitzumachen –, ist mir aber nur zu bewußt, daß die analytische Erklärung eines großen Werkes, um die man sich lebenslang bemühen muß, doch auch so etwas darstellt wie eine Chimäre. Natürlich: Musik ist nie neutral. Jedes Werk hat oder birgt Geheimnisse, die ihm entrissen werden können. Jeder Satz ist zugleich auch ein Problem, jede Lösung wirft neue Probleme auf. Wenn man jedoch von erlebter Musik etwas will, wenn sie einem unverwechselbar wird, dann ist die Frage, ob man alles oder »ganz« verstanden hat, nicht mehr entscheidend. Adäquates Begreifen, adäquate Aufführungen – was kann das eigentlich heißen? »Nur Begräbnisse sind adäquate Aufführungen«, antwortete Günter Grass einmal auf die Suggestiv-Frage, ob er sich einer adäquaten Aufführung seines »Plebejer«-Dramas gern aussetzen würde. »Und ist es Ihnen nie zuviel? Es muß doch schrecklich sein, immer wieder die gleichen Sachen zu hören.« Antwort: Wenn man älter wird, neigt man sogar dazu, gegenüber dem Mittleren nachsichtiger zu werden. Trotzdem: Überdruß, entsetzlichen, lähmenden Überdruß empfinde ich, wenn überhaupt, nur bei der Begegnung mit dem Mittelmäßigen. Doch etwas Besonderes, ein neuer Ton, das neue Talent verdrängt allein Überdruß, weckt Enthusiasmus.

Ein Valéry-Zitat erklärt fast alles. »Die Welt hat durch das Außergewöhnliche Wert und durch das Durchschnittliche Bestand.«

Joachim Kaiser

Vorbemerkung

In diesem Band, der großer Musik zwischen Bach und Strawinsky, interessanten Aufführungen und Schallplatten sowie den Problemen moderner Vermittlung gilt, findet der Leser drei ungleiche Kapitel-Gruppen.

Zunächst also die 18 Kapitel des ersten Teils, wo, einigermaßen chronologisch geordnet, Aufsätze über Komponisten, ihre Werke und Interpretationen dieser Werke erscheinen. Ich habe mich dabei leiten lassen von Kompositionen, die tatsächlich zum Repertoire gehören. Nur im 17. und im 18. Kapitel, zwischen Schönberg und Bernd Alois Zimmermann, finden sich auch Rezensionen, die Modernem, seltener Gespieltem gelten. Das Repertoire ist Richtschnur, aber es ist nicht immer entscheidend.

Werke, die mit Recht immer wieder interpretiert werden und mit Recht für unerschöpflich gelten, werden hier mehrfach behandelt. Die »Zauberflöte«, Beethovens Klavierkonzert in G-Dur, Strawinskys »Psalmen-Symphonie« usw. sind bewußt in mehreren interpretatorischen Brechungen aufgenommen. Widersprüche bleiben stehen. Natürlich sehe ich heute manches anders als vor fünfzehn oder fünfundzwanzig Jahren.

Aber ich hoffe, daß solche Widersprüche den Leser nicht stören. Störender sind die Wiederholungen. Ganz ließen sie sich nicht vermeiden, da es notwendig immer wieder um die gleichen Werke und Probleme ging. Wenn der Leser dieses Buch durchblättert, das auf den für die Süddeutsche Zeitung geschriebenen Kritiken fußt, das aber auch Zeitschriftenaufsätze enthält, Einzel-Analysen und einige spezifisch für diesen Band geschriebene Werk-Interpretationen, dann könnte ihm ein Mißverhältnis auffallen. Leicht zu finden sind Aufsätze über Verdi-Opern oder Wagnersche Tondramen oder auch über Gesamteinspielungen der Beethovenschen Symphonien beziehungsweise des »Wohltemperierten Klaviers« von Bach. Aber warum erscheint nicht ebenso deutlich das F-Dur-Quartett von Ravel oder das Violinkonzert von Tschaikowsky? Antwort: auch die genannten Werke sind behandelt. Nur erscheinen sie nicht im Zusammenhang mit den betreffenden Komponisten, sondern im Zusammenhang mit ihren Interpreten. Eine Rezension, die Bizets »Carmen« gilt, kann sich noch so eindringlich auf die Aufführung beziehen – es ist klar, nicht die Hauptdarstellerin, die Titelheldin steht im Mittelpunkt, sondern der Abend war eben Bizets »Carmen« gewidmet. Wenn hingegen Pollini an einem Abend Werke von Schubert, Chopin, Beethoven und Stockhausen vorträgt, dann wird eine Kritik dieses Klavierabends keine Schubert-Schumann-Beethoven-Stockhausen-Kritik sein, sondern Bezugspunkt der Rezension ist Pollini. Und falls es nicht tunlich war, nur eine Pollinische Interpretation zu isolieren (und als Pollinis Beethoven-Interpretation ins Beethoven-Kapitel zu nehmen), dann kommen die vier Werke erst im Zusammenhang mit Pollini im zweiten Teil des Buches vor. Der Leser ist darum gebeten, wenn er den Band als musikalisches Handbuch oder gar Konzert- und Opernführer benutzen möchte, im Register unter Tschaikowsky und »Violinkonzert« nachzuschlagen, falls es ihm auf dieses Werk ankommt und er das Werk im Tschaikowsky-Kapitel vermißt.

Vollkommene Gerechtigkeit gegenüber allen bedeutenden Kompositionen und Komponisten war nicht mein Ziel; ich hätte sie auch nicht erreichen können, wenn sie mein Ziel gewesen wäre. Selbstverständlich gibt es Musik, von der ich meine, sie sei bedeutender und wichtiger, sei wiederholte Bemühung wert, während mir anderes ferner liegt.

Übrigens sind nicht immer die besten, die vollendetsten Interpretationen auch die aufschlußreichsten, interessantesten. Oft ging mir an einer mittleren Wiedergabe eines Meisterwerkes mehr darüber auf, was dieses Werk eigentlich darstellt und was es eigentlich fordert – als an einer vollendeten, die als selbstverständlich erscheinen läßt, was keineswegs selbstverständlich ist.

München, im Juni 1977

J. K.

Erster Teil

Komponisten

Von Bach bis Zimmermann

1. Kapitel

Johann Sebastian Bach • Johann Christian Bach

Johann Sebastian Bach

Picander

Er hieß Christian Friedrich Henrici, schrieb aber unter dem Pseudonym Picander und war gewiß kein großer Dichter, sondern nur ein mittlerer Poet, dem das Lustige und Gewöhnliche leicht von der Hand gingen. Doch nachdem ihm der satirische Boden zu heiß geworden und Gesetztheit hinzugetreten war, entfaltete er auch eine umfangreiche Produktion religiöser Texte. Das poetische Handwerk machte ihm augenscheinlich Spaß. Er schien bereit, umzuändern, auf gegebene musikalische Modelle neue Worte zu ersinnen und seinem großen, guten Freund nach Kräften hilfreich zu sein. Dieser Freund hieß Johann Sebastian Bach. Picander selbst schrieb in einem Vorwort zu seinen Kantatentexten bescheiden: »daß vielleicht der Mangel der poetischen Anmuth durch die Lieblichkeit des unvergleichlichen Herrn Capell-Meister, Bachs, dürfte ersetzt … werden«. Im übrigen legte Picander gar keinen Wert darauf, die Kantatentexte, die er für Bach hingeschrieben hatte, als bedeutende eigene Werke auszugeben. Er war gewiß auf anderes viel stolzer.

In der ganzen Welt singt man also Picander-Verse – gewiß meist gedankenlos, manchmal aber auch kopfschüttelnd. Da ist die Rede von Herzen, die im Blute schwimmen, von Würmern, von Augen, aus denen der Heiland Tränen saugen soll. Da spricht sich ein barocker Zerknirschungsüberschwang aus, den das auf seine vernünftige Sachlichkeit so stolze moderne Christentum am liebsten tilgen oder mildern würde, wenn nicht Bachs Ton jedes Picander-Wort festhielte.

Man hat den in so hohe Sphären hinaufgehobenen Schriftsteller seine Unsterblichkeit büßen lassen. Autoren, die vergessen sein werden, wenn man immer noch Picander-Texte singt, entrüsten sich lebhaft darüber, welch ein schlechter Dichter und Mensch dieser Picander doch gewesen sei. Selbst Albert Schweitzer schreibt: »Alles erstaunte, als Picander sich 1724 der geistlichen Poesie zuwandte und einen Jahrgang Kantatentexte veröffentlichte. Daneben fuhr er ganz unbekümmert fort, die widerwärtigsten und gemeinsten Sachen drucken zu lassen. Man wundert sich, daß der Meister sich zu einem so unfeinen und wenig sympathischen Menschen hingezogen fühlte …« Fast alle verachten Picander. Dabei wird freilich übersehen, daß Picanders naive Bildhaftigkeit für Bach nicht nur kein Hindernis, sondern gewiß ein musikalischer Ansporn war. »Es erhub sich ein Streit, die rasende Schlange, der höllische Drache stürmt wider den Himmel mit wütender Rache« – das sind vielleicht keine tiefen Dichterworte; doch auch wer die Komposition nicht kennt, kann sich gewiß vorstellen, was für ungeheure polyphone Schlangenlinien sich der Thomaskantor dazu hat einfallen lassen. Und wer Bachs Matthäus-Passion zu lieben gelernt hat, der wird die Picander-Worte »Am Abend, da es kühle war, / Ward Adams Fallen offenbar« bis zu dem Schluß »Ach liebe Seele bitte du, / Geh lasse dir den todten Jesum schenken, / O heilsames, o köstliches Angedenken!« weder missen noch für schlechte Poesie halten mögen, auch wenn er weiß, daß der Schriftsteller Picander da einen Text von Salomon Franck nur verkürzt und umgeschrieben hat.

Am 10. Mai 1764 starb der 64jährige Picander in Leipzig. Seine Frau war Patin bei den Bachs, und dem Thomaskantor dürfte der gewiß manchmal etwas frivole Ton seines Freundes gar nicht peinlich gewesen sein. Die nicht eben steife »Kaffee-Kantate« hat er mit hörbarem Vergnügen komponiert. Diejenigen aber, die nicht müde werden, mit Picander ins Gericht zu gehen, sollten vielleicht doch ein wenig Demut lernen gegenüber einem Schriftsteller und Journalisten, der Bach soviel Großes abzuverlangen wußte. Ist es nicht verständlich und sogar rührend, daß Bach, den man sich heute gewiß viel zu erhaben und feinsinnig vorstellt, einen kleinen, lustigen Leipziger Schreiber liebte – und daß er, von einigen rühmenswerten Freunden abgesehen, die sich tapfer für ihn einsetzten, wenig Umgang hatte mit jenen feinsinnigen, professoralen Ästheten, die (mit Recht) bis auf den heutigen Tag auf Herrn Henrici neidisch sind?

9. V. 1964

Das Weihnachtsoratorium

In seinem Don-Juan-Stück über Herrn Ornifle will Jean Anouilh den Helden, einen ziemlich gewissenlosen modernen Schriftsteller, so frivol wie möglich darstellen. Dazu hat sich Anouilh am Ende des ersten Akts eine Szene ausgedacht, die modernen Zuschauern in der Tat ungemein zynisch scheint. Herr Ornifle empfängt da den Besuch des Paters Dubaton und läßt sich – denn er ist durchaus gutmütig – dazu überreden, ein kleines Weihnachtsliedchen zu dichten, das der Pater für eine Kinderbescherung braucht. Rasch wirft Herr Ornifle einen ganz entzükkenden Text hin. Doch damit man auch sieht, wie bös’ er sei, verfertigt er im gleichen Augenblick seinem abgefeimten Agenten ein denkbar lockeres Chanson. Der Pater hebt verzweifelt die Hände zum Himmel, und selbst das jeweilige Theaterpublikum ist über soviel Ruchlosigkeit entsetzt.

Mit einer so herben Mixtur aus Geistlich und Weltlich hätte man aber einen Mann nicht schockieren können, der die letzten siebenundzwanzig Jahre seines Lebens in Leipzig verbrachte, als Künstler immer einsamer und eigenbrötlerischer wurde, zwanzig Kinder zeugte, den Eß- und Trinkfreuden des Daseins zugeneigt schien, ein recht schwieriger, streitbarer Untergebener war und dabei wohl doch der größte, dem Geheimnis aller Harmonie nächste Komponist, den die Musikgeschichte kennt: Johann Sebastian Bach. Wohl hat auch er die Unterschiede zwischen weltlichen Tanzsätzen, konzertantem Glanz und dem spezifischen Ton eines Chorals gekannt und beherzigt. Aber seine Musik ist noch kein Opfer jener Spaltung, die im 18. Jahrhundert begann, im 19. unübersehbar und im 20. so unüberbrückbar wurde, daß es heute sakrilegisch wirkt, Heiliges und Profanes zu vermengen, so, wie Anouilhs später vom Teufel geholter Dichterling es tut. Nur in einer späten Kunstform darf die Musik als vermittelnder Grund hinter den Reinen und den weniger Reinen stehen, um Gegensätze, die sprachlich nicht überwunden werden können, versöhnend zu umfassen: in der Oper. Die Schurken fügen sich in die Ensemble-Sätze des »Fidelio« und des »Rigoletto«, der »Götterdämmerung« und der »Elektra«.

In Bachs Weihnachtsoratorium sind die Gegensätze zwischen weltlichem Jubel und himmlischer Freude nicht nur überbrückt, sondern förmlich getilgt. Was die Puristen dem Werk so gern vorhalten, was seine Weihnachtlichkeit auf den ersten, gelehrten Blick zur Äußerlichkeit, zum nachträglich draufgeklebten Etikett zu machen scheint, das ist aber in Wahrheit der Sieg des weihnachtlichen Tons über den Stoff. Die Musikwissenschaft hat herausgebracht, daß mindestens zwölf der vierundsechzig Nummern des Weihnachtsoratoriums aus anderen Werken stammen, also sogenannte »Parodien« sind. Musikstücke, die anderswo und mit anderem Text in Bachs Werk vorkommen, werden in den Weihnachtszusammenhang eingeschmolzen. Bach vollzieht da eine Oratorien-Taufe, die aus dem Heidenkind ein Christenkind macht – obwohl es scheinbar unverändert bleibt. Wenn der Hauptchoral aus der Matthäus-Passion im Weihnachtsoratorium erklingt, wenn die Arie »Kron und Preis gekrönter Damen« nun »Großer Herr und starker König« heißt, dann bedeutet das keineswegs, Bach habe sich bei einer solchen »Parodie« nichts Weihnachtliches gedacht. Es heißt vielmehr: Auch diese Melodie ist weihnachtswürdig, auch der todbewußte Ton dieses Chorals gehört nun zu Weihnachten. (Denn wenn Bach mit der Instrumentation irgendeiner »parodierten« Stelle offenbar wirklich unzufrieden war, dann hat er das geändert.)

Mit anderen Worten: die gelehrten Hinweise darauf, was original und was nicht original sei, tun so, als könne Weihnachten nichts mit der Welt gemein haben, in der es doch als Wunder geschah. Zusammenhang, Umgebung und Wahl, unverlierbares Eins-Sein zwischen himmlischer Freude und irdischen Tönen drücken sich jedoch gerade in dieser sinnlich-übersinnlichen Ehe aus. Man kann diesen Gedankengang sogar quasi kriminalistisch stützen. Bach schrieb das Dramma per Musica mit dem Titel »Tönet ihr Pauken! Erschallet, Trompeten«, dem die beiden wichtigsten Parodiesätze des Weihnachtsoratoriums entnommen sind, zum Geburtstag der Königin. Der fiel aber auf den 8. Dezember! Wer kann zu sagen wagen, ob Bach – als er in den ersten Dezembertagen eine Huldigungskantate auf seine Königin komponierte – nicht schon an weihnachtlichen Jubel dachte oder ob umgekehrt die beiden Ecksätze aus dem 1. und dem 3. Teil des Weihnachtsoratoriums nur das parodierte Echo weltlicher Freude sind? Der Unterschied wird gleichgültig. Auch im Weihnachtsfest selbst leben ja heidnische Bräuche weiter und sind angesichts des Festes gleichgültig, zumindest nicht abträglich. Und daß ein Komponist froh war, Einfälle, die in bestimmtem, »weltlichem« Zusammenhang nur einmal verwendet werden konnten, nun geistlichfestlich zu wiederholen, das liegt, als Verwertungspraxis, nahe genug.

So also sieht das ästhetische Problem des Weihnachtsoratoriums aus, das vielen Betrachtern Mühe macht. Professor Kretzschmar, ein grundgelehrter, aller unaufrichtigen Schönrednerei sicherlich abgeneigter Mann, schrieb im Vorwort zu meinem alten Klavierauszug strenge: »Der Musik nach gehört das Weihnachtsoratorium nicht zu den gewaltigsten und originellsten Schöpfungen Bachs.« Nun vererben sich solche Klavierauszüge und überleben ihre skeptischen Vorworte. Immer von neuem gelangen sie in die Hände junger Leute, die festlich erleuchtete Kirchen mit dem Jubel einer Weihnachtsoratoriums-Aufführung füllen und sich von der strahlenden Positivität des Chorklangs mitreißen lassen. Noten, die ihren zweihundertsten Geburtstag längst hinter sich haben, werden in Leben verwandelt. Wenn man den jungen, teilnahmsvollen Sopranstimmen zuschaut – die Haut ist frisch, das Kleid etwas simpel, tut die Sängerin dann dreißig Jahre später als zuverlässiger Alt immer noch mit, dann ist die Haut etwas weniger frisch, das Kleid dafür etwas weniger simpel –, dann spürt man etwas von der Beständigkeit großer Musik. Gewiß, ihre Sprache ist nicht ganz leicht, steht außerhalb des Getriebes, will begriffen sein. Doch was zunächst Mühe macht, erweist sich sogleich als Schutz. Jene Bedrohungen, denen das längst in jedes Haushaltsbudget, jede industrielle Apparatur, jede private Überlegung einkalkulierte Weihnachtsfest immer mehr ausgesetzt ist – sie versinken wie Staub vor dem Sturm dieser Töne.

Kern der ersten drei Teile – also des »eigentlichen« Weihnachtsoratoriums – ist die Weihnachtsgeschichte nach Lukas und Matthäus. In lyrisch-betrachtenden Einschüben (Arien, Chorälen, großen Chorsätzen) äußert sich die Seele zu dem verkündeten Geschehen. Der erste Satz stimmt nicht etwa langsam ein, sondern kommt brausend. Zum Jauchzen und Frohlocken wird aufgerufen. Kaum haben Pauken und Trompeten ihren Donner angestimmt, fahren die Violinen mit Zweiunddreißigsteln dazwischen, so, als sollte ein flimmernder Ring um das Oratorium gelegt werden, es von allem täglichen Kram radikal trennend, abschirmend.

Gottes Engel könnten ihr Geschmetter von einem preußischen Militärkapellmeister gelernt haben. Die Worte »Lasset das Zagen, verbannet die Klage« werden in vierfacher Wiederholung, die einem Anlauf gleicht und keine naheliegenden Moll-Reminiszenzen duldet, gesteigert bis zu einer Sequenz, deren Schwung auch den abgespanntesten, verhetztesten Zuhörer unwiderstehlich in weihnachtlichen Festbezirk hineinholt. Frau Musica will der Ihren zunächst einmal ganz sicher sein.

Bald wird das Prinzip deutlich, nach dem in diesem Weihnachtsoratorium so viele Sätze komponiert scheinen: Es ist die variierte Wiederholung. Denn beim zweiten Male scheint der Anfangskomplex ganz ähnlich zu tönen. Aber Bach – wie kein anderer Komponist dazu fähig, der Musik zu ihrer eigenen Sprache zu verhelfen – verändert unauffällig den Schluß, demonstriert, welche Fülle harmonischer Ausweitungen und Fortspinnungen noch im Thema steckt. Er endet in geradezu ekstatischem Jubel.

Merkwürdigerweise steht diese Ekstase zu einem anderen, viel späteren musikalischen Ausbruch in überraschend naher Beziehung. Sie erinnert an das forcierte Freiheitslied, das der geschundene Cavaradossi im zweiten Akt der »Tosca« singt, da er vom Sieg Napoleons hört. Beide Male hat die Melodie eine fast gleichartige Struktur und eine anapästische Kadenz. So existieren übrigens in aller großen Musik Zusammenhänge, die aus der Logik der Sache kommen. Die berühmte Durchführungsstelle aus Beethovens Es-Dur-Klavierkonzert, wo das Klavier viermal mit punktierter Akkordwucht gegen die Fragen des Orchesters andonnert, hat Bach in dem vierfach punktierten »Ich stärke dich« aus seiner Motette »Fürchte dich nicht« mit dramatischer Beredsamkeit vorweggenommen.

Es gibt kein ehrfurchtgebietenderes Vergnügen, als solche Verwandtschaften in den Dynastologien großer Musik wahrzunehmen.

Wenn man nun aber pedantisch sein will und anfängt, der Frau Musica die Takte nachzuzählen in diesem ersten Stück des Weihnachtsoratoriums, dann stößt man auf etwas Überwältigendes. Das Vorspiel ist 32 Takte lang, der erste große Chorteil 48 Takte, das Zwischenspiel 8 Takte, der folgende Hauptteil wieder 48 Takte. Dann folgt ein einziger, typischer Überleitungstakt, der Mittelteil umfaßt wieder 64 Takte. Man sieht also, wie das ganze Stück auf einfachsten, genauesten Zahlenverhältnissen (8:16:32:64) beruht. Ob Bach das so trocken nachgezählt hat wie wir? Wahrscheinlich nicht. Zu spontan wirkt bei ihm die harmonische Unterhaltung der ewigen Harmonie mit sich selbst. Man muß, schlicht nachzählend, vielmehr erkennen, daß in diesem großen Mann eine unvorstellbare innere Waage gearbeitet hat, die ihn unwiderstehlich auf einfachste und zwingendste Zahlenverhältnisse stoßen ließ. Jubel und beispielloses Gleichgewicht begegnen sich da, als könnt’s nicht anders sein. (Ähnliches haben die Physiker übrigens für die Schwingungsverhältnisse von Mozarts »Ave Verum« errechnet.)

Nun wird die Weihnachtsgeschichte erzählt. Kann es Zufall sein, daß die drei höchsten Töne des Alt-Rezitativs gerade mit den wichtigsten Worten zusammenfallen (David, Strahl, empor)? Daß die Arie »Bereite dich, Zion« mit genau der gleichen a-Moll-Wendung (e : a) beginnt wie der dann folgende Choral »Wie soll ich dich empfangen?«. Schon immer hat es empfängliche Gemüter gerührt, daß der erste Weihnachtschoral nach all dem Jubel eine Reminiszenz an das große Todeslied aus der Matthäus-Passion darstellt (»Wann ich einmal soll scheiden«). So verschlingen sich die Parodien und Beziehungen zu einem Kosmos von weitester Bedeutung. Wenn Frau Musica Weihnachten feiert, dann erscheinen tiefster Passionsmoment und weltlichster, militantester Paukenjubel vereint. Es herrscht Friede. Ja die Vereinigung geschieht sogar innerhalb eines einzigen Stücks. Auf Luthers Melodie zu »Vom Himmel hoch« singt der Chor den Choraltext »Ach mein herzliebes Jesulein, mach dir ein rein sanft Bettelein«. Aber Pauken und Trompeten halten sich nicht an traulichen Kinderton, sondern komponieren zum Abschluß des ersten Teils donnerndes D-Dur mit dem innigen Weihnachtslied.

Die berühmte »Pastorale«, mit welcher der zweite Teil beginnt, ist laut Albert Schweitzer ein Dialog zwischen den ruhigen Schalmeien (Oboen) der Hirten und den fröhlich-erregten Violinen beziehungsweise Flöten der verkündenden Engel. Die fast schwärmerischen Spannungen, zu denen sich das Gegeneinander steigert, machen diese Hirtenmusik zu ausdrucksvollster, erfülltester Musik – aber doch nicht zu einer so persönlichen Ausdrucksmusik, wie sie in einer anderen Quasi-Pastorale, nämlich dem fis-Moll-Andante aus Mozarts Klavierkonzert in A-Dur, erklingt, wo das Melos linder Verzweiflung alle Hirtennaivität hinter sich läßt.

Frau Musica hat in ihr Weihnachtsgewand ein paar Muster gewebt, die sich wiederholen. So findet sich in der Hirtensymphonie, in der Arie »Großer Herr und starker König« wie auch im Choral »Brich an, o schönes Morgenrot« jeweils die gleiche Sequenz (also Wiederholung der gleichen Tonfolge auf anderer Stufe) an entscheidender Stelle. Aber nicht nur solche Anspielungen macht die Musik. Im differenzierten Tonsatz der Choräle verbirgt sich oft sogar Programmatisches, steckt vorweggenommene Programmusik. Im Choral »Ich will dich mit Fleiß bewahren« wird die gleiche Melodie bei »bewahren« auf festes C-Dur kadenziert, während sie auf die Worte »endlich schweben« den Untergrund von scheuem a-Moll hat. Und im Choral »Seid froh, dieweil«, der geradezu ein Musterbeispiel für variierte Harmonik bei gleichbleibender Melodie darstellt, erscheint am Ende, wenn von Davids Stadt die Rede ist, eine so herb aufsteigende chromatische Bewegung, als wolle die Musik an Jesu späteres Schicksal erinnern.

Und wer könnte die raffinierten Synkopen im Choral »Schau hin, dort liegt im finstern Stall« überhören? Während der Worte »Da ruhet jetzt der Jungfrau Kind« wird der Baß synkopisch geführt. Man spürt: die Krippe im Stall von Bethlehem hat ein bißchen gewackelt, als wäre sie eine Wiege.

Solche heiteren Hinweise darf weihnachtliche Musik sich leisten. In der Weihnachtshistorie von Heinrich Schütz zum Beispiel wurde ja nicht nur das Kinderwiegen illustriert, sondern die »Weisen aus dem Morgenland« durften trocken-gravitätisch schreiten, ihrer Würde wohl bewußt und von Fagotten begleitet, als seien sie jener Zug alberner Gelehrter, der in Richard Strauss’ »Till Eulenspiegel« sich ächzend dahinschleppt, bis Till lustig dazwischenfährt. Bei Schütz werden die Hohenpriester und Schriftgelehrten sogar durch große Blechinstrumente verhöhnt, während der helle Trompetenklang bei Bach die strahlende Feierlichkeit steigern soll. Dies alles spricht Musik wortlos aus. Sie weiß noch mehr. Wenn die Engel ihr »Friede auf Erden« anstimmen, dann wird dieser Text wie das »Et incarnatus« aus der h-Moll-Messe von ganz scheuen, fast mystischen Streichern begleitet, so, als sei jener Friede ein ferner Traum, an den man nur zitternd und verstohlen denken darf.

Der schwungvollste Chor des Weihnachtsoratoriums steht am Anfang und Ende des dritten Teils. Daß er eigentlich auf den Text »Blühet, ihr Linden in Sachsen, wie Zedern« komponiert war, daß Bach sich beim Abschreiben zunächst vertat und aus dem mit Palmen erhöhten Zion ein mit Psalmen erhöhtes Zion machte, ist festgestellt, hat aber gegenüber dem feierlichen Pathos der Musik in diesem Zusammenhang und an diesem Ort überhaupt kein Gewicht. Schon die ersten 16 Takte könnten Gegenstand langer Meditationen sein. In einer Aufführung ziehen sie viel zu rasch vorbei. Man merkt da gar nicht, in welche ungemein harmonischen Spannungen sich die Musik verstrickt, so daß selbst dissonante Septakkorde noch wie Auflösungen wirken. Stellt man sich jedoch vor, daß irgendein anderer von Bachs ehrwürdigen Zeitgenossen dies Jubelthema in reines Trompetengeschmetter verwandelt hätte, während bei Bach vom ersten Takt an dissonante harmonische Eigenwilligkeiten stark und selbstverständlich aus schöner Musik große Musik machen, dann beginnt man zu erkennen, daß keineswegs Pathos allein den Weihnachtsschwung dieser Musik bewirkt, sondern daß es ein sprechendes, erfülltes, spannungs- und lösungsreiches Pathos sein muß, wenn Frau Musica Weihnachten feiert.

So begleitet uns dieses Werk über die Jahre hin mit seinem weihnachtlichen Zuspruch. Es hängt seine Schönheiten nicht an die große Glocke, an tönendes Erz – dann würde man ihrer vielleicht bald überdrüssig werden. Es verbirgt seine intimen Zusammenhänge – darum kann man aus jeder Aufführung, auch einer nicht so guten, etwas Neues erspüren. Und es tut manchmal so, als sei Weihnachten ein harmlos-fröhliches Fest – darum merkt man nur langsam, daß auch hier die ganze Welt umspannt wird.

24. XII. 1963

Die Passionen

Evangelist: Da antwortete nun der Landpfleger und sprach zu ihnen

Pilatus: Welchen wollt ihr unter diesen zweien, den ich euch soll losgeben?

Evangelist: Sie sprachen

Coro I. II: Barabbam!

Diesen folgenreichsten Volksentscheid der Weltgeschichte erwarten Jahr für Jahr in der Osterzeit die Bewunderer, Liebhaber oder Verehrer der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach mit lustvollem Grauen. Erschütterung, Neugier und Gewohnheit mischen sich. Man weiß, es müßte die Kirche oder der Konzertsaal eigentlich zusammenfallen, wenn dieser wüste Fortississimo-Akkord erklingt; man fürchtet, daß wieder einmal die Wirkung der Stelle gefährdet werde durch den zu frühen Einsatz irgendeines übereifrigen Chorsängers, der es gar nicht erwarten kann, den nicht ganz leicht zu treffenden Einsatzton herauszuschreien und Barabbas zur Freiheit zu verhelfen.

So ertönen die Passionsmusiken alljährlich. Nach vier Stunden ist die Passion vorbei, und man geht heim. Der Christus war vielleicht etwas zu opernhaft, weil er sich noch vorgestern bei Wagner verströmt hat, sagen die Musikalischen; daß im Schlußchor von höchstem Vergnügen die Rede ist, irritiert zumindest diejenigen, die bis zum Ende zu voller Aufmerksamkeit fähig waren; aber der Moment, wenn Petrus nach dem Hahnenschrei hinausgeht und bitterlich weint, war doch wieder einmal ergreifend. Der junge neue Evangelist sang das beinahe so schön wie Haefliger, meinen die einen, wie Peter Pears, die anderen, wie Karl Erb, die Älteren …

Denn auch Passionsmusik wird, eben als Musik, nicht zelebriert, sondern gesungen, »gespielt«. Sie ist mithin, wie alles, was Menschen tun, dem Mißverständnis, der Abnutzung, der Verflachung, der Wiederholungsroutine unterworfen, wird zum Gegenteil von Kunst, zur Gewohnheit.

Alle wahrhaft unlösbaren Probleme sind, auch, banal. Soll man, nur weil zum Wesen des Erlebens auch die Abnützung gehört (gehören kann, gehören muß), auf jene festen Wiederholungsordnungen verzichten, mit denen der Homo sapiens sich wehrt gegen das strukturlose Verrinnen der Zeit? … »des Geheimnisses Feierkleid ist das Fest, das wiederkehrende, das die Zeitfälle überspannt und das Gewesene und Zukünftige seiend macht für die Sinne des Volks. Das Wunder, daß im Feste immer das Menschliche aufgärte und unter Zustimmung der Sitte unzüchtig ausartete, da darin Tod und Leben einander erkennen?«

Nur fanatischer Radikalismus könnte aufs Wiederholungsrisiko verzichten und damit auf die festliche Struktur geordneter Zeit: weil selbst bester Kunstwille allzu oft nicht genügt und selbst reiner Glaube noch lange nicht garantiert für reine Töne. Soll man Werke wie die großen Bachschen Passionsmusiken also lieber ruhen lassen, wenn man nicht wirklichen Aufführungsgelingens sicher ist, und statt dessen ausweichen auf immer wieder anderes, Neues? Auf die schönen Passionen von Schütz, zum Beispiel, oder auf die näherliegenden Werke Modernerer?