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Prolog

„KOMM SOFORT ZURÜCK und mach die Tür auf, verdammt noch mal!“ Heftig und voller Wut hämmerte er mit der Faust gegen das Holz und brüllte dabei im Takt seiner Schläge: „Ich! Will! Hier! Raus! Ich! Will! Hier! Raus!“

Schließlich ließ er mutlos die Arme sinken und drehte sich um. „Scheiße!“, entfuhr es ihm. „So eine verfluchte Scheiße!“

Sein Blick wanderte durch den kleinen, schummerig beleuchteten Raum, der – gerade noch ein Ort der Erholung – schlagartig zu seinem Gefängnis geworden war. Sechs Kubikmeter Fichtenholzverkleidung umschlossen ihn wie ein hölzerner Kokon. Gegenüber der Tür waren in L-Form drei Bänke angebracht, übereinander, wie Stufen im Haus eines Riesen. Links neben der Tür hing ein Thermometer. Es zeigte 89 °C an. Noch vor ein paar Minuten hatte er die Hitze als wohltuend empfunden. Inzwischen würde er alles dafür geben, ihr entkommen zu können. So heiß stellte er sich die Hölle vor, und er hatte nicht vor, in ihr zu verbrennen.

Die feinen weißen Körner der Sanduhr, die er bei seinem Eintritt umgedreht hatte, waren inzwischen vollzählig im unteren Glas angekommen, was bedeutete, dass er bereits länger als eine Viertelstunde hier drin war.

Er musste raus! Schwungvoll drehte er sich wieder zurück und knallte seine Faust gegen die schmale Tür. Doch sie gab nicht nach, bewegte sich keinen verdammten Millimeter. Er drehte die Sanduhr wieder um, damit er ein gewisses Zeitgefühl behielt und wusste, wie lange er hier ausharren musste. Wie lange es dauern würde, bis man ihn entweder befreite oder er elendig verrecken würde. Bei dem Gedanken zog sich sein Magen schmerzhaft zusammen. Er setzte sich auf die unterste Holzbank und grübelte über seine Lage nach, während der Schweiß über seine Haut rann, an den Armen hinunter bis zu den Händen, von wo er tröpfchenweise zu Boden fiel und über seine dunkel behaarte Brust bis zum Bauch, wo er sich in den Hautfalten als kleiner Rinnsal sammelte. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, über Mund und Kinn, doch der fortgewischte Schweißfilm wurde umgehend durch einen neuen ersetzt.

Er hatte inzwischen heftigen Durst. Zudem fühlte er sich müde und erschöpft von dem langen, ereignisreichen Tag. Er wollte ins Bett, sehnte sich nach Schlaf. Doch anstatt sich auf kühlen Laken auszustrecken, saß er auf einer harten Holzbank, verschwitzt, durstig und ohne Gewissheit, dass er in absehbarer Zeit hier herauskommen würde. Von den anderen wusste keiner, dass er hier war und in tödlicher Gefahr schwebte. Und nach dem, was gerade vorgefallen war, musste er damit rechnen, dass er hier nicht lebend herauskam, dass niemand ihn befreien würde. Es war später Abend, bis ihn jemand fand konnten noch viele Stunden vergehen.

Bis dahin würde es zu spät sein. Irgendetwas musste er tun!

Sein Blick fiel auf die kleine Scheibe in der Tür. Sie hatte Form und Größe einer Zeitschrift und war damit viel zu winzig, als dass er durch sie die Sauna hätte verlassen können. Doch wenn er sie kaputtschlug, würde man seine Hilferufe vielleicht eher hören. Außerdem käme zumindest etwas kühlere Luft herein. Der Gedanke, etwas anderes als diese trockene Hitze einzuatmen, die in seinen Lungen brannte, erfüllte ihn voll und ganz. Mit neu erwachter Zuversicht sah er sich um, suchte etwas, womit er die Scheibe zerschlagen könnte. Der Holzkeil, auf den er noch vor fünf Minuten entspannt seinen Kopf gebettet hatte, fiel in sein Blickfeld.

Er ergriff ihn und stand auf. Sein Kreislauf fing an, ihn im Stich zu lassen, ihn schwindelte. Er schloss kurz die Augen und stützte sich an der Wand ab, bis der Raum aufhörte, sich um ihn zu drehen. Dann atmete er tief durch, hob den Keil mit beiden Händen über seinen Kopf, zielte und ließ ihn schwungvoll auf das Fenster krachen.

Er hatte das Geräusch von splitterndem Glas erwartet, doch alles, was er hörte, war ein dumpfer, satter Ton. Als der Keil von der Scheibe abprallte, rutschte er aus seinen verschwitzten Händen und polterte auf den Boden. Das war kein herkömmliches Glas, es war Plexiglas! Abgesehen von einem langen, kaum sichtbaren Kratzer war die Scheibe absolut unversehrt. Er heulte laut auf vor Wut und Enttäuschung. „So eine verdammte Scheiße!“, brüllte er herzhaft. Er fuhr sich über die Wangen, ohne zu wissen, ob es Schweiß war, den er von seinem Gesicht wischte, oder Tränen der Angst und Verzweiflung. Es war ihm auch vollkommen gleichgültig. Wichtig war einzig und allein, hier herauszukommen. Zu überleben.

Er rief erneut um Hilfe, doch die Wände warfen seine Rufe hämisch zurück, zumindest kam es ihm so vor.

Ernüchtert ließ er sich auf die Bank fallen. Den Kopf in die Hände und die Ellenbogen auf die Knie gestützt überlegte er, was er tun konnte, um diesem höllisch heißen Gefängnis zu entfliehen. Mit den Händen fuhr er sich durch das kurze dunkle Haar. Es war klatschnass.

Der Durst wurde immer unerträglicher. Jeder Atemzug war eine Tortur. Sein ganzer Körper schwamm praktisch in Flüssigkeit, doch seine Mundhöhle war staubtrocken. Seine Zunge fühlte sich wie ein Fremdkörper an, als wäre sie ein Stück Wildleder, das sich irrtümlich in seinen Mund verirrt hatte.

Völlige Stille umgab ihn. Nur der Ofen knisterte und knackte. In seinen Ohren klang es bedrohlich, wie das Kichern des Todes.

Die Sandkörner hatten sich erneut im unteren Glas gesammelt. Er war jetzt also länger als eine halbe Stunde dieser extremen Hitze ausgesetzt. Schwerfällig erhob er sich von der Bank, stützte sich an der Wand ab und drehte die Uhr erneut um. Ausatmend setzte er sich wieder auf die unterste Bank. Sogar diese winzige körperliche Anstrengung hatte ihn erschöpft.

Während er zusah, wie die Zeit in Form weißer Sandkörner verrann, hätte er heulen können. Er musste hier verschwinden, so schnell wie möglich. Aber wie? Ohne große Hoffnung schweifte sein Blick durch den kleinen Raum, während er leise vor sich hin fluchte. Irgendeine Möglichkeit musste es doch geben, verdammt noch mal!

Die unermüdlich vor sich hin dampfenden Steine auf dem zylinderförmigen Ofen fielen ihm ins Auge. Vielleicht war ein Stein hart genug, um die Scheibe zu durchbrechen! Sein Verstand sagte ihm, dass es unwahrscheinlich war, doch es war auch seine letzte Hoffnung. Er hob die Kelle aus dem Holzeimer, der zu seinen Füßen stand. Das Wasser darin erzeugte ein leises Plätschern, das für ihn so verlockend klang wie der Ruf der Sirene für die Seeleute der Antike. Er schöpfte etwas von der Flüssigkeit heraus und hob langsam und vorsichtig die Kelle an den Mund. Bloß keinen Tropfen verschwenden, indem zu hastige Bewegungen seiner zitternden Hand das kostbare Wasser verschütteten.

Seine ausgetrocknete Zunge saugte das warme, nach Eukalyptus duftende Wasser auf wie ein Schwamm. Es schmeckte scheußlich, war aber dennoch so etwas wie ein kleiner Hoffnungsschimmer. Solange er dieses warme, an Hustenbonbons erinnernde Wasser hatte, war nicht alles verloren. Der kleine Eimer war allerdings nicht einmal halbvoll. Etwas weniger als ein Liter, schätzte er. Wie lange würde es wohl reichen, wie lange würde es ihn vor dem Verdursten bewahren? Er musste unbedingt sparsam damit umgehen.

Mit der Holzkelle versuchte er, einen der Steine aus dem Haufen zu lösen. Es war nicht einfach, sie waren eigentlich zu groß für die Kelle und rutschten immer wieder weg. Im Sitzen ging es nicht, er musste aufstehen. Er quälte sich hoch und keuchte laut vor Anstrengung. Sein Kopf begann zu schmerzen. Er kniff die Augen zusammen, zwang er sich zur Konzentration. Dann versuchte er es noch einmal, das immer stärker werdende Pochen hinter seiner Stirn ignorierend.

Schließlich fiel einer der Steine in die Kelle, fast zufällig. Ein breites Lächeln erschien für eine Sekunde auf seinem schmalen, kantigen Gesicht, doch ein zweiter Stein hatte sich ebenfalls gelöst und fiel auf seinen nackten Fuß. Er jaulte auf, hob den getroffenen Fuß an und ließ gleichzeitig den anderen Stein in den Eimer fallen. Es spritzte und zischte. Das Wasser war zwar sehr warm, dennoch würde der Stein darin schnell abkühlen.

Er setzte sich und untersuchte mit schmerzverzerrtem Gesicht in dem schwachen Licht seinen verletzten Fuß. Die Kante des Steins hatte die Haut aufgeritzt, so dass es ein wenig blutete. Gleichzeitig hatte er sich an dem Stein verbrannt. Die Stelle war rot und schmerzte, doch schlimm war es nicht. Er tauchte seine Hand in den Eimer und tastete nach dem Stein. Er war abgekühlt und ließ sich ohne Schwierigkeiten anfassen. Mit der feuchten Hand kühlte er die Verletzung und stand schließlich erneut auf. Mit neu erwachter Zuversicht, den nassen Stein in der Hand, begann er, die spitzen Ecken seines kinderfaustgroßen Werkzeugs gegen die Plexiglasscheibe zu schlagen. Der Effekt war zwar etwas größer als bei dem Kopfkeil, dennoch war das Ergebnis niederschmetternd. Mehr als einige weitere, kaum tiefere Kratzer hatte er der Scheibe nicht zugefügt. Egal! Er musste es weiter versuchen, wollte nicht sterben. Nicht jetzt und nicht auf diese Art.

Immer wieder ließ er den Stein gegen die Scheibe krachen. Doch bald verließ ihn die Kraft. Er keuchte erschöpft und konnte die Arme nicht mehr heben, es ging einfach nicht.

Seine zitternden Beine gaben unter ihm nach, klappten regelrecht zusammen. Heulend wie ein kleines Kind kauerte er auf dem Holzboden.

Die Zeit verging. Bis auf sein mühsames Atmen war nur das Knistern und Knacken des Ofens zu hören. Die Geräusche, die er so herbeisehnte – Schritte, die sich öffnende Tür – ließen weiter auf sich warten. Als er die letzten Tropfen des warmen Wassers in seinen Mund laufen ließ, hatte er Mühe, zu schlucken, weil er nicht verhindern konnte, dass er gleichzeitig vor Verzweiflung schluchzte. Sein Schicksal war besiegelt, wenn er nicht sehr bald befreit werden würde. Und diese Hoffnung schwand mit jeder Minute, die verging.

Bald hatte er das Gefühl, von innen heraus zu vertrocknen. Krämpfe schüttelten ihn, ihn schwindelte und sein Kopf drohte zu zerbersten. Vorsichtig legte er sich flach auf den Boden und streckte die Arme aus. Seine Hand stieß an etwas. Er nahm den Gegenstand hoch und betrachtete ihn nachdenklich. Etwas würde er noch erledigen, beschloss er und kämpfte sich mühsam wieder hoch.

Doch sein Körper spielte nicht mehr mit. Minuten später brach er einfach zusammen, seine Augen fielen zu.

So ist es also, wenn man stirbt, dachte er noch. Dann umfing ihn gnädige Dunkelheit.

Sechs Wochen zuvor

DIE DÜSE DES Staubsaugers fuhr lärmend über den Fliesenboden unter der Garderobe und stieß gegen ein Hindernis, das hinter dem Saum von Stephans Trenchcoat verborgen war. Kristina Wilbert schob den Mantel zur Seite, seufzte und schaltete den Staubsauger aus. Dann stellte sie sich an den Fuß der Treppe und brüllte: „Marco! Komm runter und räum deine Fußballschuhe weg! Wenn ich es wieder tun muss, bekommst du sie erst Weihnachten zurück!“

Da es gerade Mitte Mai war, schien das eine ernst zu nehmende Drohung zu sein. Das Gesicht ihres Sohnes erschien fast sofort neben dem Treppengeländer. Kristina machte eine auffordernde Handbewegung. „Na los, beeil dich. Ich möchte endlich fertig werden.“

Eine Hand in die Seite gestemmt und den Fuß einsatzbereit über dem Powerknopf des Staubsaugers beobachtete Kristina ihren Ältesten, der murrend die Treppe herunterkam und die Schuhe lieblos in den Schuhschrank feuerte.

„Herzlichen Dank“, sagte Kristina mit einem Hauch Ironie. „Und jetzt ab, die Hausaufgaben warten“.

Vor sich hin schimpfend stieg der Achtjährige die Treppe hinauf und seine Mutter schaltete das Gerät wieder ein.

Sie wohnte mit ihrem Mann und den beiden Kindern in einem modernen Fünf-Zimmer-Reihenhaus mit Terrasse und einem kleinen Gartenstück, das ihr Mann Stephan mit Hingabe pflegte. Er konnte stundenlang von seinen mickrigen Rosenstöcken schwärmen und freute sich wie ein Kind, wenn Petersilie und Schnittlauch in seinem kleinen Kräuterbeet zu wachsen begannen.

Kristina ging in das gemütlich eingerichtete Wohnzimmer und zog den Stausauger hinter sich her wie einen störrischen Hund. Mit verbissener Akribie saugte sie den Nussbaum-Dielenboden und den hellbraun gemusterten Teppich unter dem Esstisch, als ihre sechsjährige Tochter mit dem Telefon in der Hand auf sie zukam. Erneut schaltete Kristina das Gerät aus. „Was ist?“, fragte sie erschöpft.

„Für dich. Ein Herr Schumann.“ Leonie reichte ihrer Mutter den Apparat, den Kristina leicht verwundert entgegennahm. Herr Schumann? Der Name sagte ihr so spontan nichts. Ein Lehrer von Marco vielleicht?

„Ach, Mama?“

Kristina legte die Spitze ihres Zeigefingers auf das kleine Mikrofon und warf ihrer Tochter einen mühsam beherrschten Blick zu. Die sah ihre Mutter aus unschuldigen Augen an. Sie waren groß und von einem silbrigen grau, genau wie Kristinas. Die Stirn in Dackelfalten gelegt sagte Leonie: „Marcos Maus ist mir gerade abgehauen. Und ich weiß nicht, wo sie jetzt ist.“

Wäre Kristina eine Comicfigur, wäre ihre Sprechblase mit Blitz, Donner und Ausrufungszeichen gespickt. Bevor sie jedoch etwas Passendes sagen konnte, war Leonie mit einem diskreten Hinweis auf das Telefon, das Kristina noch immer wie einen Knochen in der Hand hielt, die Treppe hinauf gehuscht. Kopfschüttelnd sah Kristina ihr nach und meldete sich. „Wilbert.“

„Schumann. Hallo Krissi.“

Der Groschen begann zu rollen, hing kurz fest und fiel schließlich.

„Mensch, Marius! Das ist ja eine Überraschung!“ Kristina stieg über den Staubsauger und ließ sich strahlend auf die cremefarbene Couch fallen. „Wie geht es dir?“

„Mir geht’s prima. Und dir?“

„Ach, eigentlich gut. Es meldet sich nur leider niemand auf meine Anzeige.“

„Was für eine Anzeige?“, fragte er irritiert.

„Familie günstig abzugeben“, grinste Kristina. „Die Bande macht mich wahnsinnig.“

Marius’ herzliches Lachen drang durch den Hörer und durchrieselte sie angenehm. Sie hatte ihn vermisst, fiel ihr auf. Ihn, und die anderen beiden auch.

„Was hältst du davon, die ‚Bande’ für ein Wochenende irgendwo zu parken?“ fragte Marius.

„Sehr viel“, stöhnte sie. „Wann?“

„Ich dachte an das erste Juli-Wochenende, also in sechs Wochen. Ich habe schon mit Jan und mit Svenja telefoniert. Sie haben Zeit und freuen sich genau wie ich auf ein Wiedersehen.“

„Jan und Svenja kommen auch? Das klingt super!“ freute sich Kristina. „Wie in alten Zeiten.“

„Nicht ganz“, schwächte Marius ab. „Beide nehmen ihre Partner mit. Dein Mann ist also auch herzlich eingeladen. Wie heißt er noch gleich?“

„Stephan“, antwortete Kristina. „Ich werde es ihm ausrichten. Kannst du uns ein Hotel empfehlen?“

„Im Prinzip schon“, sagte Marius. „Ich ging aber eigentlich davon aus, dass ihr wie die anderen auch bei uns wohnt. Hier ist Platz genug.“

„Für vier Paare? Du machst Witze.“ Kristina staunte und zupfte an ihrem Pony herum, der ihr immer wieder gern in die Augen fiel.

„Nein, ich meine es ernst“, versicherte Marius ihr. „Wir haben eine Souterrain-Wohnung mit zwei Schlafzimmern im Keller, und außerdem ein Gästezimmer im Dachgeschoss. Es gibt einen Pool, eine Sauna und einen schönen Strand praktisch vor der Tür – also alles, was man braucht, um sich mal ein paar Tage zu erholen.“

Kristina staunte noch ein wenig mehr. „Sag mal, wo wohnst du denn jetzt?“, fragte sie verblüfft. „Im Paradies?“

„Beinahe“, lachte Marius. „Wir wohnen in Flensburg, an der dänischen Grenze. Ich gebe dir mal die Adresse durch. Hast du was zum Schreiben?“

Sie stand auf und ging in die Küche. „Sekunde“, bat sie, öffnete eine Schublade und fischte einen Zettel und einen Kugelschreiber heraus. „Okay, ich höre.“ Mit ihrer zierlichen, etwas schnörkeligen Handschrift notierte sie Adresse und Telefonnummer und legte dann den Stift zur Seite. „Ich sag dir Bescheid, sobald ich mit Stephan gesprochen habe“, versprach sie und machte es sich mit dem Telefon wieder auf der Couch bequem. Dies war eine zu schöne Ablenkung von der lästigen Hausarbeit, als dass sie Marius gestattet hätte, das Gespräch allzu schnell wieder zu beenden. „Erzähl, wie geht es Jan und Svenja?“

„Jan wohnt noch immer in Berlin“, berichtete Marius. „Er arbeitet als Fitness-Trainer im Studio seiner Freundin. Yvonne heißt sie, glaube ich.“

„Als Fitness-Trainer?“ fragte Kristina ungläubig. „Er hat doch ein abgeschlossenes BWL-Studium.“

„Tja, hat sich wohl so ergeben. Sehr ehrgeizig war er ja nie. Und Svenja und ihr Mann haben zwei Kinder und leben ganz in deiner Nähe, irgendwo bei Hamburg.“

„Wie geht es Carmen?“

„Wir sind geschieden“, erzählte Maris, in einem Tonfall, der ihr signalisierte, dass er mit seiner Ehe längst abgeschlossen hatte. „Charlotte lebt bei ihr.“

„Wie alt ist eure Tochter jetzt?“

„Sie wird bald neun. Jedes zweite Wochenende ist sie hier bei uns.“

„Uns?“ fragte Kristina neugierig.

„Bei mir und Verena. Wir leben seit zwei Jahren zusammen.“

„Aha. Dann lernen wir Verena also auch kennen. Woher kennst du sie?“

„Wir sind uns in der Klinik über den Weg gelaufen, in der ich arbeite. Ihr Vater ist Chefarzt bei mir in der Chirurgie.“ Er machte eine kurze Pause und Kristina konnte entfernt eine weitere Stimme hören. Im nächsten Moment war Marius wieder am Telefon. „Du, tut mir leid“, sagte er bedauernd, „ich muss jetzt in den OP. Du meldest dich? Es wäre absolut großartig, wenn ihr auch kommen könntet.“

„Ich rufe dich so bald wie möglich an“, versprach Kristina. „Und danke für die Einladung. Das wird bestimmt toll.“

„Das glaube ich auch. Also, hoffentlich bis bald, Krissi.“

„Bis bald, Marius.“

Nachdenklich beendete sie das Gespräch, legte das Telefon neben sich auf die Couch und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

Marius Schumann. Wie lange hatte sie nichts mehr von ihm und den anderen gehört? Drei Jahre, vier? Bis dahin hatte es hin und wieder ein Lebenszeichen in Form einer Weihnachtskarte oder eines Anrufes an ihrem Geburtstag gegeben, doch irgendwann hatte das aufgehört. Ihre gemeinsame Zeit lag so weit zurück, die Erinnerungen waren immer mehr verblasst und von den gegenwärtigen Erlebnissen in den Hintergrund gedrängt worden. Und nun dieser Anruf aus heiterem Himmel. Marius’ Stimme wieder zu hören war wie der Klang eines vertrauten, liebgewonnen Liedes, dass lange nicht mehr gespielt worden war.

Ein Wiedersehen mit ihm, Svenja und Jan! Kristinas Augen mit den dichten, dunklen Wimpern leuchteten auf und ein verträumtes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie an die gemeinsame Zeit in Berlin dachte. Damals hatten sie sich eine Wohnung geteilt, in der Zinnowitzer Straße, nur eine U-Bahn-Station von der Humboldt-Universität entfernt. Die Wohnung war perfekt gewesen: Altbau mit kunstvollem und üppigem Stuck an den Decken, einer geräumigen Wohnküche mit altmodischem Kachelofen, einem Balkon, der groß genug war, um einen wackeligen Klapptisch und vier alte Stühle darauf unterzubringen, und vier relativ kleinen Zimmern, die dennoch ausreichend Platz boten für ein Bett, einen Schrank und einen Schreibtisch. Sie hatte Sport, Geschichte und Englisch auf Lehramt studiert, Jan Betriebswirtschaft, Marius Medizin und Svenja Jura.

Kristina legte die Beine hoch und reiste in Gedanken zehn Jahre zurück. Was war das für eine schöne Zeit gewesen! Nächtelang hatten sie diskutiert, billigen Rotwein getrunken und verdammt wenig geschlafen. Svenja war zu der Zeit ihre beste Freundin gewesen, mit Marius hatte sie – meist nach ein paar Gläsern Rotwein – stundenlang philosophiert, und Jan, der verrückte Kerl, hatte immer die lustigsten Ideen und mit Abstand die meisten Verabredungen gehabt.

Es wäre wirklich schön, überlegte sie, wenn ihre Freundschaft wieder aufleben würde.

Während sie den Abendbrottisch deckte, hörte sie Stephans Schlüssel im Türschloss.

„Hallo“, rief er vom Flur her.

„Hi, da bist du ja endlich.“ Kristina ging ihm entgegen und gab ihm einen Kuss. „Die Konferenz hat aber ganz schön lange gedauert.“

Er seufzte. „Wem sagst du das? Ich bin völlig erledigt. Und Kollege Marquardt hatte wie üblich entsetzlich viel zu erzählen, ohne wirklich etwas zu sagen. Ich glaube, ich blute aus den Ohren.“

Kristina grinste und warf einen kurzen Blick auf sein Hörorgan. „Sieht alles normal aus, keine Sorge. Und jetzt setz dich hin, das Essen ist gleich fertig.“ Dann wandte sie sich zur Treppe und rief: „Marco! Leonie! Kommt runter, essen!“

Kurz darauf saßen alle am Tisch und langten hungrig zu. Kristina hatte Spargel und gekochten Schinken besorgt, dazu gab es frühe Kartoffeln und Sauce Hollandaise.

„Leo, hast du eigentlich die Maus wieder eingefangen?“, wollte Kristina wissen und warf ihrer Tochter einen vorwurfsvollen Blick zu.

„Ja, hab ich.“ Leonie schnitt ihrem Spargel kaltblütig den Kopf ab und legte ihn auf den Teller ihres Vaters. Sie mochte Spargel gern, doch die Köpfe waren ihr zu weich.

„Nur, weil ich dir geholfen habe“, stellte Marco richtig. „Mit einem Stückchen Käse“, erklärte er stolz seiner Mutter. Kristina lächelte ihm zu. „Gut gemacht, du cleveres Kerlchen.“

„Sie war unter meinem Bett“, berichtete Leonie und schob sich ein Stück Schinken in den Mund.

„Ich hoffe, sie hat keine Löcher in die Socken gebissen, die du dort so gern aufbewahrst“, seufzte Kristina.

Leonie wechselte lieber das Thema und erzählte von der Schule. Marco berichtete anschließend von seinen Erfolgen beim Fußballtraining, und Stephan hörte interessiert zu. Kristina sah ohne hinzuhören von einem zu anderen und die Brust wurde ihr eng. In diesen Momenten, wenn alle zusammen waren, sich unterhielten und in den Augen aller die Zuneigung stand, die sie füreinander empfanden, fühlte sie sich glücklich und zufrieden.

Es war heutzutage leider keine Selbstverständlichkeit mehr, eine Familie zu haben, in der Liebe, Harmonie und gegenseitiger Respekt herrschten. Für Kristina war es ein unglaubliches Geschenk, zwei gesunde und vergnügte Kinder zu haben, einen Mann, mit dem sie sich blind verstand, und ein schönes Heim, in dem sie sich alle wohl fühlten.

Ihre eigene Kindheit war geprägt gewesen von den Streitereien ihrer Eltern, von ständigen Geldsorgen und schließlich von dem grässlichen Gefühl, ein Scheidungskind zu sein. Damals hatte sie sich geschworen, nie zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen. Sie musste lächeln, während sie ihre Familie betrachtete und war unendlich dankbar dafür, dass Stephan ihr gezeigt hatte, dass Ehe nicht zwangsläufig gleichzusetzen war mit Streit, Tränen und Sorgen.

Als die Kinder satt waren, scheuchte Kristina sie mit der Aufforderung nach oben, ihre Zimmer aufzuräumen und sich anschließend zu waschen. Natürlich würden sie es nicht tun, wie jeden Abend, doch zumindest waren Stephan und sie für ein paar Minuten allein. Sie räumte die leeren Teller ab.

„Du wirst nie erraten, wer heute angerufen und uns beide übers Wochenende eingeladen hat“, sagte sie über die Schulter.

„Dieses Wochenende?“ fragte Stephan verwundert.

„Nein, erst in sechs Wochen. Anfang Juli.“

„Ah“, nickte Stephan. „Und wer ist so freundlich?“

„Mein alter Freund Marius. Marius Schumann.“

Stephan stand auf und sammelte die leeren Gläser ein. „Kenn ich nicht.“

„Wir haben während unseres Studiums zusammen gewohnt. Ich hab dir doch von ihm und den anderen erzählt.“ Kristina spülte die Teller kurz unter warmem Wasser ab und räumte sie dann in den Geschirrspüler. Ihr Mann stellte die Gläser auf der Arbeitsplatte ab und sah seine Frau an. „Richtig. War der Kontakt nicht abgebrochen?“

„Leider ja. Doch jetzt hat Marius uns alle zu sich eingeladen.“ Sie wiederholte in schwärmerischem Ton, was Marius ihr über sein Haus und die Umgebung erzählt hatte. „Ich würde gern hinfahren“, schloss sie.

„Wohin denn genau?“, fragte Stephan vorsichtig.

„Nach Flensburg. Das ist von hier keine zwei Stunden entfernt.“ Sie wusste, wie sehr er lange Autofahrten verabscheute.

Er zuckte mit den Schultern. „Das geht ja noch. Was ist mit den Kindern? Sind sie auch eingeladen?“

„Das soll ein Wochenende nur für uns Erwachsene werden, zumindest habe ich Marius so verstanden. Ich bin sicher, deine Eltern hätten nichts dagegen, wenn Marco und Leonie ein paar Tage bei ihnen blieben.“ Sie strich ihrem Mann liebevoll über die Wange. „Wir wären endlich mal wieder Stephan und Kristina, nicht Papa und Mama.“

Er grinste. „Na, wenn das so ist! Natürlich fahren wir hin.“

Kristina drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Prima!“, strahlte sie. „Dann werde ich Marius morgen anrufen und zusagen.“

Svenja Schiller lauschte auf Nikolais gleichmäßige Atemzüge. Er lag auf der Seite, den Mund leicht geöffnet, sein tagsüber so ordentlich frisiertes, dunkles Haar mit den wenigen grauen Strähnen war durcheinander und fiel ihm in die hohe Stirn.

Als sie sicher war, dass er fest schlief, stand sie leise auf, schlüpfte in ihre Hausschuhe und verließ das Schlafzimmer. Vorsichtig schloss sie die Tür hinter sich. Dann eilte sie im Dunkeln die Treppe hinunter, wandte sich mit der Sicherheit einer Blinden nach links Richtung Küche und schaltete die Lampe über dem Küchentisch ein. Das helle Licht ließ sie blinzeln. Ein paar Sekunden stand sie da, dann ging sie zum Kühlschrank und öffnete ihn. Sie fand ein Glas mit Bockwürsten, nahm sich eine Wurst heraus, biss hinein und verdrehte genüsslich die Augen, während sie den Kühlschrank wieder schloss. Kauend sah sie sich in der Küche um. Ihr Blick fiel auf die Uhr an der Wand. Es war viertel vor zwölf. Sie würde morgen früh kaum aus dem Bett kommen, das wusste sie. Egal, sie musste einfach etwas essen, vorher war an Schlaf nicht zu denken.

Auf dem Küchentisch lag Nikolais Handy. Eine Weile starrte sie es an, mit schmalen Augen und angehaltenem Atem, als wäre es ein gefährliches Raubtier. Gedankenverloren biss sie ein weiteres Stück von der Wurst. Dann strich sie mit der freien Hand das blonde, schulterlange Haar hinter ihr rechtes Ohr, machte zwei Schritte und nahm das Handy mit einer raschen Bewegung vom Tisch. Nikolais Sperrcode wusste sie schon seit langem. Sie gab seinen Geburtstag ein, 1508, und das Menü öffnete sich. Mit einem weiteren Tastendruck öffnete sie die Nachrichten. Die letzte, die ihr Mann erhalten hatte, lautete: „Mein Tiger, es war unglaublich gestern Abend. Wann sehen wir uns wieder? Ich vermisse dich so! 1000 Küsse, deine kleine (Nackt)Schnecke.“

Svenja fühlte einen Kloß im Hals und stopfte sich dennoch den Rest der Wurst in den Mund. Mein Tiger! Wie lächerlich das klang. Und wer zur Hölle war ‚Schnecke’? Sie erinnerte sich noch an Bienchen und an Häschen. Nikolai war also von den Insekten über die Nagetiere bei den Kriechtieren gelandet.

Er hätte Zoodirektor werden sollen statt Anwalt, dachte Svenja zynisch und legte das Handy wieder an seinen Platz zurück. War die nackte ‚Schnecke’ eine Kollegin? Eine Mandantin? Oder die Staatsanwältin Weller, von der Nikolai eine Weile so oft gesprochen hatte? Er hatte sie als Drachen bezeichnet, erinnerte sich Svenja. Ein Täuschungsmanöver? In der letzten Zeit hatte er sie nicht mehr erwähnt.

Nachdem sie das Würstchen verputzt hatte, machte sie sich über die Reste vom Apfelkuchen her. Dann aß sie einen Becher Erdbeerjoghurt. Zum Schluss verschlang sie ein paar Schokoladenbonbons. Sie hatte den ganzen Tag über fast nichts gegessen. Mittags hatte sie eine trockene Scheibe Knäckebrot und einen halben Apfel geknabbert. Mehr nicht. Sie war ziemlich stolz auf sich. Wenn sie erst wieder schön schlank war, würde Nikolai endlich die Finger von anderen Frauen lassen. Das hoffte sie jedenfalls inständig. Sie liebte ihren Mann sehr, und dass er sie regelmäßig betrog, tat furchtbar weh.

Vielleicht würde das Wochenende bei Marius die Wende bringen, die ihre Ehe so dringend benötigte. Bis dahin konnte sie locker noch sechs, sieben Kilo abnehmen und wäre damit dicht an ihrem Wunschgewicht.

Sie freute sich unbändig auf die Zeit mit Marius, Jan und Kristina. Krissi war, soviel wusste Svenja, Lehrerin an einer Realschule, mit einem Studienrat verheiratet und hatte, so wie sie selbst, zwei Kinder, etwa im gleichen Alter. Obwohl sie nicht weit auseinander lebten, hatten sie sich seit mindestens acht Jahren nicht gesehen, höchstens mal telefoniert. Und dabei waren sie so gut befreundet gewesen. Es war höchste Zeit, die Freundschaft wieder aufleben zu lassen, nicht nur zu ihr, sondern auch zu Jan und vor allem zu Marius.

Svenja ging in das Gästebad, machte Licht und schloss die Tür ab. Dann kniete sie sich vor die Schüssel.

„Heute Abend wird es spät“, eröffnete Nikolai ihr am nächsten Morgen und griff nach seiner Aktentasche. „Juristenstammtisch. Warte nicht auf mich.“

Sie runzelte die Stirn, was er nicht sehen konnte, da sie ihm den Rücken zuwandte, während sie das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine räumte. Natürlich! dachte sie. Juristenstammtisch. Vermutlich würden nur zwei Juristen teilnehmen: ihr Mann und Staatsanwältin Schnecke!

Nikolai trat auf seine Frau zu und tätschelte ihr Hinterteil. „Bis morgen, Schnuppel.“

Ihr Kosename war nicht zoologischen Ursprungs, fiel ihr auf.

Sie drehte sich zu ihm um. „Bis morgen“, flüsterte sie mit erstickter Stimme.

Er drückte ihr einen halbherzigen Kuss auf die vollen, rosigen Lippen und pfiff vergnügt vor sich hin, während er zur Haustür ging.

Da war er wieder, der Kloß im Hals. Ihr ständiger Begleiter. Svenja spürte, dass ihr gleich die Tränen kommen würden, doch sie drängte sie zurück. Sie musste Jana für den Kindergarten fertig machen und die Pausenbrote für Julius schmieren. Und wenn sie beide abgeliefert hatte, wartete die Wäsche auf sie. Einkaufen musste sie auch und die Fenster hatten Schlieren. Sie hatte keine Zeit für Selbstmitleid.

In der nächsten Stunde war alles wie immer: Jana heulte, während Svenja ihr langes Haar bürstete, weil das Ziepen so wehtat. Julius zog sich seine schmutzigste Jeans an und schimpfte vor sich hin, als sie ihn energisch aufforderte, eine saubere Hose anzuziehen. Svenja schlug im Geiste drei Kreuze, als die Kinder in der Schule und im Kindergarten waren. Sie liebte Jana und Julius mit jeder Faser ihres Herzens, genoss jedoch ebenso die wenigen Stunden Ruhe, wenn die zwei nicht da waren und sie pausenlos beanspruchten.

Julius war inzwischen fast neun und Jana wurde im nächsten Jahr eingeschult. Svenja hatte ihren Beruf nie ausgeübt, war all die Jahre für die Familie da gewesen. Mit dem Ergebnis, dass sie, wie ihr Spiegelbild ihr klar aufzeigte, inzwischen nicht mehr so aussah wie Meg Ryan in ‚Harry & Sally‘, sondern eher als die kleine Schwester von Cindy aus Marzahn durchgehen konnte. Immerhin war sie besser angezogen als Cindy und schminkte sich dezenter.

Nikolai dagegen war immer noch so attraktiv wie damals, als sie ihn kennengelernt hatte. Groß, schlaksig, Ruhe und Überlegenheit ausstrahlend, mit funkelnden dunklen Augen und einem ansteckenden Lachen. Er war ihr gleich aufgefallen, als sie ihn während der Vorlesung über Unterhaltsrecht das erste Mal gesehen hatte. Zuerst war es nur Freundschaft zwischen ihnen gewesen. Sie hatten gemeinsam gelernt und sie hatte ihn bewundert. Er war schon damals so selbstsicher und unbekümmert gewesen. Eigenschaften, die sie auch gern gehabt hätte. Wenn man jedoch als einziges Kind eines ehrgeizigen und dominanten Bundeswehrgenerals dazu verdammt wird, alle paar Jahre den Wohnort und die Schule zu wechseln und neue Freundschaften schließen musste, brauchte man entweder ein dickes Fell oder ein angeborenes, unerschütterliches Selbstvertrauen. Svenja besaß weder das eine noch das andere.

An einem warmen Sommerabend hatten sie allein in Nikolais Studentenbude gesessen, Weißwein getrunken und sich unterhalten. Irgendwann war Nikolai aufgestanden und hatte die neueste Kuschelrock-CD eingelegt. Milk and Toast and Honey von Roxette erklang, als er sich wieder neben sie setzte.

Sie hockten auf dem Boden, den Rücken an die unmoderne braune Couch gelehnt. Er drehte sich zu ihr und sah ihr tief in die Augen. Langsam nahm er ihr das Glas aus der Hand und stellte es auf den kleinen Couchtisch.

„Du bist zauberhaft“, sagte er leise. Dann legte er seine Hand unter ihr Kinn und zog sanft ihren Kopf zu sich heran. Ein wohliger Schauer durchrann sie, als seine Lippen die ihren berührten. Sie spürte seine Zunge, schloss die Augen und legte ihre Arme um ihn. Sekunden später lagen sie auf dem altmodischen, abgewetzten Teppichboden.

Mit Nikolai zu schlafen war eine völlig neue Erfahrung für sie. Er war der Boss, ließ keine andere Meinung gelten, drängte sie in die Rolle der Unterwürfigen. Er bestimmte – sie hatte zu gehorchen. Irgendwie gefiel ihr das. Es erregte sie, wenn er im Bett den Ton angab und ihr sagte, was sie tun sollte. Bis dahin hatte sie nur das gekannt, was man inzwischen „Blümchensex“ nannte. Es hatte ihr durchaus gefallen, doch das, was sie mit Nikolai erlebte, stellte ihre bisherigen sexuellen Kenntnisse komplett auf den Kopf.

Von dem Abend an waren sie ein Paar gewesen. Krissi, Jan und Marius sah sie nicht mehr so häufig, da sie jede freie Minute bei Nikolai verbrachte, obwohl sie die gemeinsame Zeit mit ihren Freunden schmerzlich vermisste.

Nach dem Studium zog sie mit Nikolai zusammen, und bald darauf war sie schwanger, also heirateten sie. Nikolai machte sein Refendariat noch in Berlin, doch als er ein tolles Angebot von einer großen Kanzlei aus seiner Heimatstadt Hamburg bekam, zogen sie dorthin. Als Julius mit drei Jahren in den Kindergarten kam, hoffte Svenja, wenigstens halbtags in einer Kanzlei arbeiten zu können, doch gerade als sich die Möglichkeit ergab, wurde sie erneut schwanger.

Sie seufzte, schaltete die Waschmaschine ein und warf einen Blick aus dem Fenster. Es war zwar wolkig und etwas zu kühl für die Jahreszeit, aber trocken. Vielleicht fand sie später noch Zeit zum Joggen.

Fünf Wochen später

„DIE ARME ENGER an den Körper“, wies Jan Schroeder den jungen Mann mit der Figur von Mick Jagger an, der gerade mit verbissener Miene Zwei-Kilo-Hanteln stemmte, in dem leidlichen Versuch, den dürren Ärmchen etwas mehr Fülle zu verleihen. Die Luft war von einer Mischung aus Schweiß und Deogeruch erfüllt, akustisch ergänzt vom Keuchen der Trainierenden, der Musik aus den Lautsprechern und den Geräuschen der Geräte, die benutzt wurden; grelles Quietschen, rhythmisches Stampfen und metallenes Klirren. Jan waren diese Töne längst so vertraut, dass er sie kaum noch wahrnahm.

Er ging weiter, an den Laufbändern vorbei zu den Crosstrainern und schenkte Maja, die immer rot anlief, wenn er auftauchte, ein strahlendes Zahnpasta-Werbung-Lächeln. Sie lächelte zurück und senkte schüchtern den Blick. Maja war Mitte Zwanzig und kam bis zu dreimal in der Woche, was, wie Jan ahnte, zu einem großen Teil daran lag, dass sie hoffnungslos in ihn verknallt war.

„Bist du nachher beim Spinning dabei?“ fragte er mit einem tiefen Blick in ihre Augen und fuhr sich durch das blonde, kinnlange Haar.

Sie starrte ihn überrascht an. „Nein, äh, also, vielleicht, ich weiß nicht genau, mal sehen“, stotterte Maja mit brennenden Wangen. Sie trainierte inzwischen seit vier Monaten im Workout & Wellness Fitness-Center, und dies war das erste Mal, das Jan mehr als nur berufliches Interesse an ihr zeigte.

„Du warst wirklich fleißig in der letzten Zeit“, sagte er anerkennend und legte eine Hand auf das Gerät. „Man sieht es. Du bist viel besser in Form als zu Anfang.“

Sie strahlte wie ein Kernreaktor. „Danke, Jan.“

Er ließ seinen fachmännischen Blick über Majas Körper gleiten, begann bei ihren rotierenden Beinen, die inzwischen schlanker und muskulöser waren als noch vor wenigen Monaten, wanderte über den fast flachen Bauch hinauf zu ihrem hübschen Busen und hielt inne, als er ihr in die leuchtenden Augen sah.

„Du siehst echt sexy aus.“ Den letzten Satz begleitete wieder sein charmantes, jungenhaftes Lächeln. Majas Kopf glühte inzwischen korallenfarben. Ihr rotblondes langes Haar hatte sie zu einem lustig hüpfenden Pferdeschwanz gebunden, die Stupsnase zierten ein paar helle Sommersprossen und ihr voller, breiter Mund kam Jan wie die Versuchung selbst vor.

Er wusste genau um seine Wirkung auf Frauen. Mit seinem blonden Wuschelkopf, der durchtrainierten Figur und seinem Lausbubenlächeln sah er deutlich jünger aus, als er war. Ihm und auch seiner Freundin Yvonne war klar, dass viele der jungen Frauen, die bei ihnen trainierten, nicht nur hier waren, um an ihrer Figur zu arbeiten. Yvonne gefiel das zwar nicht, andererseits war es gut fürs Geschäft.

Maja legte sich nach Jans Kompliment noch etwas mehr ins Zeug. Sie erhöhte das Tempo und himmelte ihn an.

Jetzt der finale Fangschuss, dachte er und sah ihr mit ernstem Gesichtsausdruck wieder tief in die grünen Katzenaugen mit den hellen Wimpern. Mit leiser, fast verschwörerischer Stimme fragte er: „Vielleicht gehen wir später noch irgendwo was trinken?“

Sie kam aus dem Rhythmus, stolperte, fing sich aber wieder. „Was? Wer? Wir zwei?“

Er lachte. „Ja, natürlich wir zwei. Wer denn sonst?“ Wieder legte er den ernsten Blick auf. „Um neun in der Newton Bar?“

Ungläubig starrte sie ihn an. Etwa so, als hätte er ihr eröffnet, sie wäre im Finale von ‚Germanys next Topmodel‘.

„Ja, okay“, hauchte sie glücklich. „Wieso nicht.“

Er legte seine Hand kurz auf ihren Unterarm. „Wunderbar. Bis später also.“

Ihr Blick fiel ungläubig auf seine Hand, die sanft über ihren Arm strich. „Ja“, lächelte sie verträumt. „Klar. Bis später.“

Er zwinkerte ihr noch einmal zu und ging dann weiter zu dem weißen, hufeisenförmigen Tresen im großzügigen Empfangsbereich. Dahinter stand Yvonne. Die langen, goldblonden Locken hatte sie zu zwei festen Zöpfen geflochten, die links und rechts über ihre schmalen, gebräunten Schultern hingen. Sie trug ein pinkfarbenes Top mit dem Logo des Studios und reichte Eiweißdrinks an zwei Typen weiter, die am Tresen saßen und sich angeregt unterhielten.

Das Telefon klingelte und Yvonne angelte nach dem Hörer.

„Workout & Wellnes, Yvonne Walter, wat kann ick für Sie tun?“ leierte sie mit unverkennbarem Berliner Dialekt und lauschte in den Hörer. „Nee, tut mir echt leid, am kommenden Wochenende haben wir jeschlossen. Aber ab Dienstag sind wir wieder da.“ Pause. „Ja, klar, fürs nächste Wochenende kann ick Sie eintragen. Für Sauna, ok. Am Samstag. Zehn Uhr? Uff den Namen Rahlke. Allet klar, hab ick. Ok, Tschüssi.“ Sie legte auf und notierte den Termin im Kalender.

Jan schenkte sich einen Kaffee ein und trank behutsam einen kleinen Schluck. Die Vorsichtsmaßnahme war umsonst, heiß war etwas anderes.

„Schließt du heute Abend ab?“ fragte er Yvonne. „Ich bin um neun mit Tom verabredet. Wir wollen ein Bierchen trinken gehen.“

Sie sah ihn skeptisch an. „Schon wieder? Ihr wart doch erst am letzten Freitag los.“

„Na und?“, fragte er rebellisch. Es war immerhin bereits Mittwoch.

„Is ja schon jut.“ Sie zuckte mit den Achseln. „Aber dann machste morjen die Spätschicht, kapito?“

Er trank die Tasse leer und stellte sie in die Spüle. „Geht klar“, nickte er, trat hinter sie und drückte ihr einen innigen Kuss auf den zarten Hals. „Ich geh dann mal die Spinning-Stunde vorbereiten.“ Er wandte sich ab.

„He, warte mal“, hielt Yvonne ihn auf. „Haste Andy anjerufen wegen der Spätschicht am Freitag?“

„Ja, er kommt um eins. Dann können wir gleich anschließend losfahren.“

„Jut.“ Yvonne widmete sich wieder dem Terminkalender und schrieb eine Notiz hinein.

Während Jan zum Spinning-Raum ging, dachte er voller Vorfreude an das Wochenende an der Ostsee. Marius hatte ihm am Telefon erzählt, dass auch Svenja und Krissi zugesagt hatten. Endlich wären sie wieder alle zusammen. Er dachte gern an die unbeschwerte Zeit in der Zinnowitzer Straße zurück. Trotz der normalen Reibereien – Wer hat Küchendienst? Wer bringt die Pfandflaschen weg? Wer ist dran mit Einkaufen und Kochen? – waren sie ein tolles Team gewesen, alle vier. Am meisten freute er sich auf Krissi. Er sah sie vor sich, wie er sie zuletzt gesehen hatte: Kurze schokoladenbraune Haare mit einem frechen Pony, schräge, graue Augen, die immer ein wenig nachdenklich aussahen, zierliche, hübsche Figur. Ob sie wohl noch genauso aussah?

In dem sonnendurchfluteten Trainingsraum legte Jan eine CD in die Anlage. Dann öffnete er die drei Fenster, um frischen Sauerstoff herein zu lassen, und überprüfte anschließend sorgfältig jedes einzelne der zwölf radlosen Bikes. Es war wichtig, dass alle einwandfrei funktionierten.

Die Räder waren in Ordnung. Er sah auf die Uhr, in fünf Minuten begann der Kurs. Die ersten trudelten bereits ein und suchten sich ein Bike aus. Schließlich trat auch Maja durch die Tür und warf ihm einen verliebten Blick zu. Er lächelte sie an, woraufhin ihre Wangen wieder rosig wurden, und ging auf sie zu.

„Ich freue mich schon“, flüsterte er ihr ins Ohr, als er die Starttaste der Anlage drückte. Als die Musik erklang, hob er die Stimme und setzte sich auf sein Bike. „Ok, es geht los, alle auf die Räder!“

Yvonne saß zwischen zwei großen, kuscheligen Kissen auf ihrer Couch, knabberte Pistazien und sah einen alten Berliner Tatort, als das Telefon klingelte. Noch ganz gefangen vom Geschehen auf dem Bildschirm nahm sie den Apparat vom Couchtisch und meldete sich. „Yvonne Walter.“

„Hi Yvonne, hier ist Tom. Ist Jan da?“

Der Krimi war unwichtig geworden, sie war zurück in der Realität, die in diesem Moment genauso unerfreulich war wie der brutale Mord auf dem Bildschirm. Yvonne presste die Lippen fest aufeinander, ihre Augen verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen. Also war Tom doch nur eine Ausrede gewesen! Was bedeutete, dass Jan sich wieder mit irgendeinem Mädchen herumtrieb. Yvonne war so enttäuscht und verletzt, dass sie Mühe hatte, ihre Stimme wieder zu finden.

„Nee, tut mir leid“, krächzte sie und räusperte sich.

„Schade. Du, übrigens, ein Kumpel meines Nachbarn ist gerade hier und er sagt, er kennt dich. Ich geb dich mal weiter.“

Ohne zu wissen warum kroch eine böse Vorahnung in ihr hoch. Als dann eine ölige dunkle Stimme an ihr Ohr drang, stellten sich augenblicklich ihre Nackenhaare auf und alles in ihr ging auf Hab-Acht-Stellung.

„Hallo Schnulli, wie jeht’s?“

Sie setzte sich langsam auf. „Hallo Jochen.“ Ihre rechte Hand begann, eine goldblonde Haarsträhne um den Zeigefinger zu wickeln.

„He, du hast mir jefehlt. Wir müssen uns unbedingt ma wieder sehen“, schmeichelte Jochen.

„Det kannste vergessen.“ Ihre Stimme klang brüchig, sie hörte es selbst.

Er ignorierte ihre ablehnende Bemerkung. „Du bist mit deinem Fitness-Center ja janz schön erfolgreich, wie Tom mir erzählte“, sagte Jochen im Plauderton. „Ick freu mich für dich. Mir jeht es leider nich so jut wie dir.“

Sie schwieg.

„Pass uff, Tom ist jrade auf’m Klo, also kann ick Klartext reden.“ Jochens Stimme klang ernst. „Ick hab mir jedacht, um unserer alten Freundschaft willen, du könntest mir vielleicht aus der Patsche helfen, wa?“

Yvonne verdrehte die Augen. Jochen steckte ständig in der Patsche. Irgendwem schuldete er immer Geld, und meistens waren das keine zimperlichen Typen.

„Jochen, wir haben seit fast sechs Jahren keenen Kontakt mehr und dabei soll es ooch bleiben.“

„Det seh ick nich so, Süße. Wat würde dein Schatzi wohl sagen, wenn ich ihm ’n bissken wat von früher verklickere, hm?“

Gänsehaut bildete sich auf Yvonnes Armen. Sie hasste es, an früher erinnert zu werden, und Jochen war die personifizierte Erinnerung.

„Det wär ihm vermutlich völlig wurscht.“ Sie klang sicherer, als sie war.

„Wär det deinen Kunden ooch völlig wurscht?“ Jochens Stimme nahm einen bedrohlichen Klang an. „Sperr ma die Lauscher uff, meine Süße. Ick hab’n Kumpel beim Wochenblatt, der würde sich alle zehn Finger nach so ’ner Story lecken.“

Sie schloss die Augen, ihr Kinn zitterte. Dieser Scheißkerl! Sie wollte lieber nicht darüber nachdenken, was für Folgen es hätte, wenn ihre Vergangenheit bekannt wurde. „Wat willste von mir?“ presste sie hervor.

„Mit zehntausend Eiern wär mir schon jeholfen.“

Yvonne lachte bitter auf. „Das is’n blöder Scherz, oder? Woher soll ick denn so viel Kohle haben?“

„He, Tom, haste noch ’n Bier für mich?“ fragte Jochen fröhlich. „Dufte, danke.“ Kurz darauf wurde seine Stimme wieder ernst. „Hör zu, Schnulli, morjen Abend um neune treffen wir uns in der „Bluebox“. Wenn du nich kommst, weeßte, wat passiert.“ Dann wieder in normalem Tonfall: „Danke, Tom. War schön, deine Stimme zu hören, Schnulli. Wir seh’n uns, bis dann.“

Als nur noch Stille an ihr Ohr drang, warf Yvonne das Telefon auf die Couch, schlug die Hände vor das Gesicht und schrie ihre Wut und ihre Angst hinaus.

Unauffällig schielte Jan auf die Uhr. Es war schon fast halb elf, Zeit, zur Sache zu kommen. Maja, die zu den weißen, flachen Ballerinas ein sportliches, hellblaues Polokleid trug, erzählte pausenlos von ihrer Arbeit bei einer Versicherung und langweilte ihn damit zu Tode. Er nickte, lächelte und tat interessiert, doch mit jeder Minute fiel es ihm schwerer, Aufmerksamkeit zu heucheln.

Jan trank sein Bier aus, stellte das leere Glas ab und legte seine Hand auf ihre. Maja verstummte mitten im Satz und sah ihn unruhig an, während sie versuchte, ohne hinzugucken den Strohhalm ihres Tequila Sunrise mit den Lippen einzufangen.

„Gehen wir noch zu dir?“ fragte er mit einem Blick, der selbst Alice Schwarzer zum Schmelzen gebracht hätte. „Ich möchte unheimlich gern mit dir allein sein.“ Seine Finger fuhren sanft über Majas Handknöchel, den Unterarm an der Innenseite hinauf.

Sie war Wachs in seinen Händen.

Er winkte dem Kellner und überzeugte sich beim Bezahlen diskret davon, dass in dem kleinen Extrafach seines Portemonnaies ein Kondom steckte. Im Taxi stieg er zu Maja nach hinten und parkte seine Hand auf ihrem Oberschenkel, während sie zu ihr in die Hannoversche Straße fuhren.

Eine halbe Stunde später sackte er erschöpft und befriedigt auf ihr zusammen.

Sie schmiegte sich in seinen Arm, nachdem er von ihr herunter gerollt war. „Bleibst du heute Nacht hier?“ fragte sie zärtlich und küsste seine Brust.

„Du, tut mir leid, aber das geht nicht.“ Yvonne würde ihm die Hölle heiß machen.

„Wegen deiner Freundin?“

Er seufzte. „Richtig getippt.“

Maja stützte sich auf einen Ellenbogen und sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Warum trennst du dich nicht von ihr?“

„Yvonne ist meine Chefin“, versuchte er zu erklären. „Ich müsste mir einen neuen Job suchen. Und außerdem verstehen wir uns meistens ganz gut.“

„Und was wird aus uns?“ fragte Maja leise. Ihre Augen schimmerten verdächtig. „Sehen wir uns am Wochenende?“

Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Nee, du, das wird nichts. Dieses Wochenende besuche ich einen alten Freund an der Ostsee. Aber wir sehen uns ja nächste Woche im Studio.“

Er schlug die Decke mit dem geblümten Ikea-Bezug zur Seite und schwang die Beine aus dem Ikea-Bett. „Ich geh kurz ins Bad.“

Als er zurückkam, beugte er sich zu Maja und drückte ihr einen Kuss auf die hellen Lippen. „Du warst unglaublich“, sagte er mit einem kleinen Lächeln und streichelte ihre Wange. Sie schwieg und beobachtete ihn, als er in seine Klamotten schlüpfte und zur Tür ging. Als er sie öffnete, drehte er sich noch einmal zu Maja um, die betrübt im Bett lag und ihm mit tränenverhangenen Augen nachsah. Offenbar dämmerte ihr, dass die Idee, sich auf ihn einzulassen, auf der Top-Ten-Liste ihrer schlechten Entscheidungen einen Platz ziemlich weit oben einnahm.

Aufmunternd lächelte er ihr zu. „Nun mach nicht so ein Gesicht, Schätzchen. Wir sehen uns ja bald wieder.“

Er warf eine Kusshand in ihre Richtung, dann machte er, dass er fort kam. Zu Fuß schlenderte er in Richtung Friedrichstraße und bog schließlich rechts in die Johannisstraße ab, wo er seit fast drei Jahren mit Yvonne in einer Dachgeschosswohnung lebte. Im Erdgeschoss desselben Hauses befand sich das Fitness-Studio. Nur einen Katzensprung von der Universität entfernt war die Lage optimal für die Studenten, die sich sportlich betätigen wollten – und das waren eine ganze Menge.

Es war beinahe Mitternacht, als Jan die Wohnungstür aufschloss. Möglichst leise legte er sein Schlüsselbund auf die trutzige, dunkle Kommode in dem großzügigen Flur und lauschte. Aus dem Schlafzimmer drang das Geräusch des laufenden Fernsehers. Also war Yvonne bereits im Bett. Wenn er Glück hatte, schlief sie schon. Möglichst geräuschlos zog er sich die Sneakers aus und schlich auf Socken zum Schlafzimmer.

Yvonne saß im Licht der Nachttischlampe im Bett, mehrere Kissen im Rücken, und sah ihn an, als er durch die Tür lugte.

„Na, ooch wieder da?“ fragte sie ironisch.