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Erzähle mir die Vergangenheit

und ich werde die Zukunft erkennen


Konfuzius

Prolog

Wo bin ich?, schoss es ihm durch den Kopf. Er lag rücklings auf dem Boden und spürte etwas Feuchtes, Klebriges an seiner rechten Hand. Er hob sie etwas an, ließ sie jedoch entkräftet zurück auf den Boden sinken. Sein Kopf schmerzte. Vergebens versuchte er, sich aufzurichten, gab seiner Müdigkeit nach und fiel abermals in einen Dämmerzustand.

Er wusste nicht, wie lange er weggetreten war. Als er seine Augen öffnete, war ihm plötzlich bewusst, wo er sich befand. Mühsam richtete er sich auf und saß benommen auf dem Teppich. Wieder spürte er das Zeug an seiner Hand. Er hielt sie vor sein Gesicht. »Blut!«, stieß er entsetzt aus. Rasch griff er an seinen Hinterkopf, konnte dort aber keine Wunde ausmachen.

Blitzartig kamen seine Erinnerungen zurück. Panisch sprang er auf und starrte auf den leblosen Körper vor ihm. Die Augen waren weit aufgerissen und die Haare blutgetränkt.

Und da waren sie wieder, die Stimmen. Wie eine Horde wild gewordener Affen schrien sie in seinem Kopf. Er hämmerte mit den Fäusten gegen seinen Schädel und hoffte, die Stimmen zum Schweigen zu bringen. Doch je mehr er dagegen ankämpfte, desto lauter wurden sie.

 

1

Drei Monate zuvor

 

Herbert Kull war ein kleiner Mann Mitte fünfzig und alles andere als attraktiv. Er war es auch noch nie gewesen. Selbst dann nicht, als sein Haar noch fülliger war. Sein gut genährter Bauch ragte über seinen zu eng geschnallten Gürtel. Er bildete sich ein, immer noch in Größe 48 zu passen, wie vor zwanzig Jahren.

Herbert war alleinstehend. Nicht, dass ihn keine Frau haben wollte. Er war einfach nicht für die Zweisamkeit und schon gar nicht für die Ehe gemacht. Viel zu kompliziert. Anpassungsfähigkeit war nicht seine Stärke. Denn er war ein Kontrollfreak, was in einer Partnerschaft zum Desaster wurde. Mehrere Male hatte er das schon erlebt. Seine penible Art hatte alle Frauen in die Flucht geschlagen. Also blieb er allein und ging seinem geregelten Tagesablauf nach.

Herbert liebte die Ordnung in seiner Wohnung. Alles hatte seinen festen Platz und durfte nicht umgestellt werden. Erst recht nicht von einer Putzfrau. Zwölf hatte er verschlissen und es dann aufgegeben. Er konnte nicht verstehen, wie unverschämt manche Leute waren und die Dinge nach dem Staubwischen nicht ganz genau an den Platz zurückstellten, an den sie gehörten.

Für die zwei letzten Haushaltshilfen hatte er Fotos von seiner Wohnung gemacht und diese sortiert in einem Ordner abgelegt. Als Orientierungshilfe. Die Damen zeigten wenig Verständnis. Herbert konnte ihre negativen Reaktionen nicht nachvollziehen und kündigte ihnen.

Sein Beruf – passionierter Buchhalter – passte zu ihm. Er konnte seiner Liebe zu Struktur, Ordnung und Genauigkeit nachgehen. Nichts übersah er, alle Berechnungen und Aufstellungen waren perfekt. An seinem Arbeitsplatz in der Bank Fischlin wurde er für seine korrekte Arbeitsweise sehr geschätzt. Vor allem sein Vorgesetzter hatte lobende Worte für ihn. Mit seinen Kollegen hingegen hatte Herbert wenig zu tun. Er blieb die meiste Zeit in seinem Büro.

Er kam morgens in die Bank, machte sich einen Kaffee und ging an seinen Arbeitsplatz. Die Bürotür hielt er geschlossen. Auf dem Gang war er nur anzutreffen, wenn er Kopien machte oder auf dem Weg ins Archiv war. Sogar seine Akten verwahrte er in seinem Büro, obschon es die Platzverhältnisse kaum zuließen. Er bevorzugte es, auf engem Raum zu arbeiten, damit er die Kontrolle hatte. Zum Leidwesen seiner Kollegen. Wollten sie eine Akte einsehen, mussten sie zuerst Herbert anfragen, ob er nicht so freundlich wäre und die Dokumente herausgeben könne, was ständig für Unruhe sorgte. Selbstbedienung war für ihn ein Fremdwort und würde nur Unordnung in seine strukturierte Ablage bringen. Herbert hasste Unordnung.

Der Austausch mit den Kollegen reduzierte sich auf geschäftliche Angelegenheiten. Dass man in der Kaffeepause über ihn lästerte, störte ihn wenig. Er brauchte die Anerkennung seiner Kollegen nicht. Einige seiner Marotten blieben im Verborgenen; über die offensichtlichen lachte die halbe Belegschaft.

Ab und zu schwatzte er mit Jolanda Brand, der Empfangsdame der Bank Fischlin. Sie unterhielten sich über das Wetter oder über den zunehmenden Straßenverkehr. Es war ihm bewusst, dass sie einfach nur freundlich sein wollte. Als Rezeptionistin war sie das Aushängeschild der Bank und verhielt sich gegenüber ihren Kollegen freundlich und korrekt. Manchmal übertrieb sie es mit ihrer Nettigkeit, doch für einen kurzen Wortwechsel war sie für Herbert die ideale Gesprächspartnerin.

Herbert erschien immer pünktlich um acht Uhr an seinem Arbeitsplatz. Weil er sich auf keinen Fall verspäten wollte, ging er schon eine halbe Stunde früher aus dem Haus. Jeden Tag trug er die gleichen, penibel geputzten Schuhe. Dazu ein sauberes, gebügeltes Hemd mit Krawatte und einen beigen Hosenanzug, der viel zu eng war.

Seit über zwanzig Jahren saß Herbert auf demselben Stuhl. Eigentlich wäre längst ein neuer fällig. Doch Herbert fand den abgewetzten Lederstuhl mit den quietschenden Rollen sehr bequem. Er gab ihm das Gefühl von Sicherheit. Auf einem neuen Stuhl könnte er niemals so gut sitzen wie auf dem alten. Das Gleiche galt für die Büroeinrichtung. Während sich seine Kollegen ab und zu etwas Neues gönnten, schob Herbert seine Akten seit zwei Jahrzehnten in dieselben Schränke und Schubladen. Nicht zuletzt deshalb, weil er sich bei einem neuen Inventar ein neues Ordnungssystem hätte aneignen müssen. Das wollte er nicht. Wie in seiner Wohnung hatte auch im Büro alles seinen festen Platz.

Auf der Fensterbank stand eine weiße Orchidee, die er hingebungsvoll pflegte. Auch sie war ein fester Bestandteil seines beschaulichen Lebens. Ansonsten wirkte sein Büro puristisch. Die Wände waren kahl, kein Nippes stand auf dem Schreibtisch. Weil der Raum ziemlich klein geraten war, gab es keinen Platz für einen Kleiderständer. Deshalb hatte Herbert einen Haken an der Tür befestigt, an den er morgens sein Jackett hängte. Er ärgerte sich, wenn Lukas Brügger, sein Chef, die Tür schwungvoll aufstieß und sein Jackett gegen die Wand flog. Der Wandabrieb hinterließ jedes Mal hässliche weiße Spuren auf seiner Jacke, die nur mühsam zu entfernen waren.

Zu Herberts geregeltem Tagesablauf gehörte auch das Mittagessen. Jeden Tag holte er sich bei Pedro, einem spanischen Imbissstand, ein Thunfischsandwich zum Mitnehmen. Zurück im Büro packte er das Brot sorgfältig aus und legte es auf einen der Pappteller, die er sich von zu Hause mitgebracht hatte und in seiner Schublade hortete. Das Gleiche galt für die Servietten. Die Papiertücher, die Pedro in die Tüte packte, landeten im Papierkorb. Mit ihnen mochte sich Herbert den Mund nicht abwischen, man wusste ja nie, durch wessen Händen sie schon gegangen waren.

Nachdem Herbert seine Hände mit einem Desinfektionsmittel gereinigt hatte, machte er sich an sein Mittagessen. Im Grunde hätte er es bevorzugt, das Sandwich mit Besteck zu verspeisen. Er störte sich an der Thunfischmasse, die bei jedem Bissen an den Seiten herausquoll und auf seinen Teller kleckerte. Das belegte Brot mit Messer und Gabel in mundgerechte Happen zu schneiden, kam ihm indes übertrieben vor. Mit einem weiteren Papiertuch wischte sich Herbert nach jedem Stück, das er abbiss, den Mund ab.

Der eigentliche Grund, weshalb er sein Essen bei Pedro holte, war, dass Pedro der einzige Imbissbetreiber in der Nähe der Bank war, der für die Zubereitung der Speisen Handschuhe trug und die Brote frisch belegte. Auf Hygiene legte Herbert großen Wert. Den Fischgeruch, der sich jeden Tag nach dem Mittagessen in seinem Büro ausbreitete, beseitigte er mit einem Raumerfrischer, der nach Lavendel duftete. Ein Odeur, das ihn an seine Mutter erinnerte. Sie hatte Lavendel geliebt.

Herbert hatte seiner Mutter viel zu verdanken. Sie hatte ihn zu einem disziplinierten, ordentlichen Mann erzogen. Eigenschaften, die jeder Mensch besitzen sollte, wie sie immer zu sagen pflegte.

Bernadette Kull war eine stolze Frau und wusste, worauf es im Leben ankam. Sie hatte Herbert und seine zwei Schwestern fest im Griff. Wenn sie aus dem Haus ging, zog sie ein steif gebügeltes Deuxpièces an, kämmte ihr schwarzes Haar streng zurück und knotete es im Nacken zu einem kleinen Dutt. Seit dem Tod ihres Mannes trug sie nur noch Schwarz. Das gehörte sich so.

Herberts Vater war kurz vor seinem 40. Geburtstag verstorben. Es hieß, er sei für einen Kuraufenthalt in die Berge gefahren und dort tot zusammengebrochen. Lungenembolie. Seit diesem Tag musste sich Bernadette allein um die Familie kümmern. Finanziell war sie abgesichert. Geld war genug vorhanden. Karl Kull war der Alleinerbe eines Schweizer Hutmachers.

Herberts Großvater, Karl Kull senior, hatte aus dem Nichts eine angesehene Hutfabrik hochgezogen, deren Hüte sogar ins Ausland exportiert wurden. Karl junior indes interessierte sich nicht für das Familienunternehmen und verkaufte die Hutfabrik gleich nach dem Tod des Vaters. Der Verkauf warf eine beachtliche Summe ab. Seine Familie konnte gut davon leben, er selbst gab sich voll und ganz seiner Kunst hin. Er schnitzte Holzfiguren. Ab und zu verkaufte er eine seiner Marienstatuen an eine Kirche. Ein seltener Fall, denn die meisten seiner Kunstwerke hatten das Atelier nie verlassen und stapelten sich in den Kellerregalen. Mit der Zeit wurde die Werkstatt zu einer überfüllten Kammer, die mehr an ein Lager als an ein Kunstatelier erinnerte.

Herberts Vater war ein kleiner Mann mit Schnauzbart gewesen. Von ihm hatte er offensichtlich seine Statur geerbt, nicht aber das dicht gewellte Haar. Er war ein ruhiger, zurückgezogener Mann gewesen. Die Ehe mit Bernadette war mehr oder weniger arrangiert, sie war seine Cousine zweiten Grades.

Karl Kull war mit 30 Jahren immer noch nicht verheiratet gewesen. Also hatte seine Mutter eine kleine Familienfeier organisiert. Bernadette und ihre Schwester Margrit waren zum Fest eingeladen in der Hoffnung, Karl junior würde sich für eine der beiden entscheiden. Denn auch die Schwestern galten mit ihren 27 und 29 Jahren als unvermittelbar. Emotionslos entschied sich Karl junior für Bernadette. Sie war die Jüngere und Hübschere der beiden. Drei Monate später waren sie verheiratet und Bernadette sichtlich verliebt in ihren Mann. Karl junior brauchte etwas länger, um sich an seine Frau und an die Ehe zu gewöhnen. Die erste Zeit schliefen sie in getrennten Schlafzimmern; er tat sich schwer, die Ehe zu vollziehen. Bernadette versuchte mit allen Mitteln, das Interesse ihres Mannes zu wecken. Für lange Zeit ignorierte er sie, bis zu einem gemeinsamen Wochenende in den Bergen. Neun Monate später kam ihre Tochter Evelyne zur Welt. Ein Jahr später folgte Henrietta.

Karl vergötterte seine zwei Töchter. Er nutzte jede Gelegenheit, um mit ihnen zu spielen, und vergaß darüber seine Holzschnitzerei. Auch Bernadette rückte in den Hintergrund, was ihr missfiel. Eifersüchtig beobachtete sie die innige Beziehung zwischen Vater und Töchtern. Je mehr Zuneigung Evelyne und Henrietta von Karl erhielten, desto mehr litten sie unter ihrer Mutter. Es hatte mit Kleinigkeiten begonnen. Kaum war Karl außer Sicht- und Hörweite, schlug Bernadette die Kleinen. Zuerst auf die Finger, dann auf den Po, bis heftige Ohrfeigen an der Tagesordnung waren. Für lange Zeit merkte Karl nichts von dem, was in seiner Abwesenheit im Hause Kull vor sich ging. Erst als er beim Windelwechseln blaue Flecken entdeckte, kam er dahinter. Anstatt seine Frau darauf anzusprechen, nahm er zunächst die Haltung eines stillen Beobachters ein. Er sah sehr wohl, wie sich seine Töchter vor Bernadette fürchteten und in ihrer Gegenwart oft weinten. Als er genug Indizien gesammelt hatte, konfrontierte er seine Frau mit dem Verdacht, die Kinder zu misshandeln.

Bernadette war außer sich. Sie stritt ab, ihre Kinder jemals geschlagen zu haben. Aber Karl ließ nicht locker, bis sie es schließlich zugab und um Vergebung bettelte. Karl drohte damit, sie zu verlassen.

Es folgten drei Monate des Schweigens. Karl hatte ein Kindermädchen eingestellt und zog sich in sein Atelier im Keller zurück, wo er sich eine Schlafstätte eingerichtet hatte. Bernadette bekam ihren Mann nur noch zu Gesicht, wenn er seine Kinder sehen wollte. Das Kindermädchen war angehalten, ihn zu benachrichtigen, falls sich Bernadette nicht an die Regeln hielt. Ein Fehlverhalten hätte genügt und Karl hätte die Scheidung eingereicht. Bernadette hielt sich an die Forderungen und überließ die beiden Töchter fortan dem Kindermädchen.

Unglücklich darüber, die Gunst ihres Mannes verloren zu haben, versuchte sie mit allen Mitteln, seine Aufmerksamkeit und Liebe zurückzugewinnen. Sie scheiterte kläglich. Er verweigerte jeglichen Kontakt zu ihr. Bis zu dem Tag, als sie ihm einen Brief unter der Kellertür durchschob.

 

Mein lieber Karl,

was wäre, wenn die Welt erführe, was du zu verheimlichen versuchst? Solange du mir ein guter Ehemann bist und sich alles nur in deinem Kopf abspielt, ist dein Geheimnis bei mir sicher.

In Liebe

Deine Bernadette

 

Karl kehrte in Bernadettes Leben zurück. Dem Kindermädchen wurde gekündigt. Ein Jahr später kam Herbert zur Welt. Karl schenkte ihm keine Beachtung. Um seine Töchter kümmerte er sich ebenfalls nicht mehr. Einzig zu den Mahlzeiten setzte er sich zu seiner Familie an den Tisch, aß schweigend und zog sich wieder in den Keller zurück.

Es gab Tage, an denen er sich überhaupt nicht blicken ließ. Dann schlich sich Bernadette zu Karl ins Atelier. Herbert erinnerte sich daran, wie seine Mutter an diesen Abenden an seiner offenen Zimmertür vorbeirauschte. Schnell kroch er dann aus dem Bett, huschte in den Korridor und sah ihr nach, bis sie die Kellertür hinter sich zugezogen hatte. In diesen Nächten roch es in der Diele herrlich nach Lavendel. Das Parfüm, welches sich seine Mutter von ihrem Mann zu Weihnachten schenken ließ. Wenn es im Haus nach Lavendel roch, war seine Mutter gut gelaunt. Herbert liebte diesen Duft.

Nach Karls Tod war im Hause Kull der Duft nach Lavendel und mit ihm das Lächeln aus Bernadettes Gesicht verschwunden.

Als sich Herbert im Alter von zehn Jahren ein paar Franken beim Schneeschaufeln verdient hatte, wollte er seiner Mutter eine besondere Freude zu Weihnachten bereiten und kaufte ein Lavendelparfüm. Wie sehr sich Herbert auch anstrengte, er konnte sich nicht daran erinnern, wie seine Mutter auf sein Geschenk reagiert hatte. Jedenfalls duftete es im Hause Kull nie wieder nach Lavendel.

Bernadette war nach dem Tod ihres Mannes verbittert und zog die Zügel noch fester an. Evelyne brach das Gymnasium ab und verließ das elterliche Haus mit 16 Jahren. Nachdem sie in der Westschweiz ein Haushaltslehrjahr absolviert hatte, machte sie eine Ausbildung zur Verkäuferin, mietete mit dem wenigen Geld, das sie verdiente, ein Mansardenzimmer und kam nur noch zu Weihnachten nach Hause. Im Gegensatz zu Evelyne erhielt Henrietta während ihrer Ausbildung zur Krankenschwester von Bernadette finanzielle Unterstützung. Sie zog in eine Wohngemeinschaft in der Nähe ihres Ausbildungsbetriebs und brach den Kontakt nach ihrem erfolgreichen Abschluss schließlich ab.

Herberts Schwestern lebten allein. Evelyne hatte nie den passenden Mann gefunden und Henrietta hatte sich von ihrem Ehemann nach vier Jahren scheiden lassen. Als sie ihren Konrad kennenlernte, war sie überzeugt, mit ihm einen Volltreffer gelandet zu haben. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als eine eigene Familie zu gründen. Die elterliche Liebe, die ihr als Kind verwehrt geblieben war, wollte sie bei ihren eigenen Kindern ausleben. Nach der zweiten Fehlgeburt trennte sie sich von Konrad. Nie hatte sie jemandem von der häuslichen Gewalt erzählt, dem eigentlichen Grund ihrer Fehlgeburten. Die blauen Flecken im Gesicht deckte sie mit Make-up ab, den Rest erledigte die Kleidung. Bei der ersten Schwangerschaft stieß Konrad sie im vierten Monat die Treppe hinunter, das zweite Baby verlor sie im siebten Monat. Sie erzählte, sie sei vom Fahrrad gestürzt.

Herbert war der Einzige, der während seines Wirtschaftsstudiums gerne zu Hause geblieben wäre. Doch Bernadette weigerte sich, ihn länger zu beherbergen, und mietete für ihn ein kleines Zimmer im Studentenwohnheim. Jeden Samstag zur Mittagszeit besuchte Herbert seine Mutter. Die wortkargen Gespräche drehten sich ausschließlich um sein Studium.

Die letzten zehn Jahre ihres Lebens verbrachte Bernadette im Pflegeheim. Sie litt unter Altersdemenz und erkannte Herbert bei seinen samstäglichen Besuchen nicht mehr. Im Sommer brachte er ihr Lavendel mit und stellte den Strauß auf einen kleinen Tisch am Fenster ihres Zimmers. »Die Pflegerinnen werden sich um ihn kümmern«, sagte Herbert und streichelte liebevoll die Hand seiner Mutter. Bernadette saß mit leicht wippenden Bewegungen in ihrem Stuhl und blickte durch ihn hindurch. Herbert fragte sich oft, ob sie wirklich keine Notiz von ihm nahm. Meistens verbrachte er zwei Stunden bei ihr und las ein paar Zeilen aus einem Roman vor. Es war jedes Mal dasselbe Buch und er redete sich ein, Bernadette würde Gefallen daran finden. Es erzählte die Geschichte eines brotlosen Künstlers, der trotz seiner Kritiker seine Passion nie aufgegeben hatte. Herbert stellte sich vor, wie sich seine Mutter bei dieser Geschichte ihrem verstorbenen Künstlergatten ganz nah fühlte.

Obwohl Evelyne in derselben Stadt lebte, machte sie sich rar. Ihre Besuche im Pflegeheim waren kurz und meistens nur zu Bernadettes Geburtstag oder wenige Tage vor Weihnachten. Herbert ärgerte sich über diese Gleichgültigkeit, sprach es aber nie an. Henrietta blieb konsequent und nahm den Kontakt zur Mutter, auch als es dieser zunehmend schlechter ging, nicht wieder auf. Das Verhältnis der Geschwister untereinander war distanziert; niemand interessierte sich für den anderen.

Der Beerdigung blieben Evelyne und Henrietta fern. Sie empfanden den Tod ihrer Mutter als Befreiung. Endlich war die Zeit gekommen, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. Die Familie kam nun gar nicht mehr zusammen, es gab keinen Anlass mehr.

In Herberts Erinnerung verlebte er eine sorglose Kindheit. Die Vorwürfe seiner Schwestern, er habe die Wahrheit verdrängt und sich in seine eigene Welt geflüchtet, wies er vehement zurück. Er hatte keine Ahnung, wieso sie auf ihm herumhackten. Ebenso wenig konnte er nachvollziehen, weshalb Evelyne und Henrietta viel Zeit und Geld für Therapiesitzungen verschwendeten. Er brauchte keinen Therapeuten, um sein Leben meistern zu können. Im Gegensatz zu seinen Schwestern hatte er alles im Griff. Seine geregelten, wenn auch monotonen Abläufe gaben ihm Sicherheit. Er wusste genau, welcher Schritt als nächster kommen würde, und blieb von unangenehmen Überraschungen verschont. Folglich war es ihm mehr als recht, den seltenen Kontakt zu seinen Schwestern nach Bernadettes Tod ganz abzubrechen.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der Herbert Mühe hatte, zu schlafen. Er schreckte aus dem Schlaf hoch, ohne sich an Träume zu erinnern. Mit einem Rezept für Betablocker in der Hand entließ ihn sein Hausarzt achselzuckend. Fortan schlief Herbert durch und fand sich damit ab, täglich eine Pille zu schlucken. Ein weiteres Tagesritual.

 

2

Simone machte sich einen Kaffee und setzte sich auf ihren kleinen Balkon. Ihre nackten Füße stützte sie gegen die Brüstung und zündete sich ein Zigarillo an. Genau genommen war sie Nichtraucherin, versuchte aber derzeit, sich die schlechte Angewohnheit abzugewöhnen, bei jeder Gelegenheit den Schokoladenvorrat zu plündern. Ein Zigarillo verschaffte Abhilfe. Dennoch würde sie sich nie als Raucherin bezeichnen, schließlich paffte sie das Zeug nur.

An diesem Samstagmorgen war nicht viel los auf den Straßen. Sie beobachtete ein paar Autofahrer, die vergeblich nach einer freien Parklücke suchten. Ein schwieriges Unterfangen an einem Samstag, wenn sich die Stadt mit den vielen Einkaufswütigen füllte. Ansonsten war es ruhig. Gewöhnlich spielten Kinder vor dem Haus. Heute waren die Quälgeister offensichtlich mit ihren Eltern zum Einkaufen gefahren.

Nur sie hatte keinen Grund, etwas zu besorgen. Simone bestellte alles, was sie brauchte, im Internet. Sie besaß kein Auto, und die Einkäufe mit der Straßenbahn zu transportieren, wäre ihr zu mühsam gewesen. Ihre Wohnung lag rund 500 Meter von der nächsten Haltestelle entfernt. Das war definitiv zu weit. Ihr Kühlschrank war sowieso die meiste Zeit leer. Kochen konnte sie nicht, und ein paar Karotten taten es auch, falls sie Hunger verspürte. Sie holte sich während der Woche ihr Mittagessen von einem der Take-aways in der Nähe ihres Arbeitsplatzes. Ab und an verabredete sie sich mit Freunden zum Essen. Auch da war ihr Rohkost lieber als ein deftiges Menü. Obwohl sie eine schlanke, zierliche Person war, achtete sie penibel auf ihr Gewicht.

Simone schloss die Augen und genoss die warmen Temperaturen. Bald würden die Ferien beginnen. Sie liebte den Sommer. Nicht nur, weil sie sich auf das Baden im See freute. Es waren die Monate, in denen viele verreisten und das hektische Stadtleben in einen Zeitlupen-Modus umschaltete. In der Bank gab es dann viel weniger zu tun. Die meisten Kunden ließen sich während der Monate Juli und August an ihren Feriendomizilen nieder. Neidisch dachte sie an ihre wohlbetuchten Kunden, die sich auf ihren Jachten tummelten oder sich am Pool ihrer Finca sonnten.

Simone ging in die Küche, um sich einen weiteren Kaffee zu holen. Der Holzboden war angenehm kühl und erinnerte sie an ihren Vorsatz, die alten Dielen zu ölen.

In der Küche fiel ihr Blick auf die zwei halb vollen Gläser Rotwein. Sofort füllten sich ihre Augen mit Tränen. Robert hatte gestern Abend aus heiterem Himmel mit ihr Schluss gemacht. »Ich liebe dich nicht mehr«, hatte er verkündet. Dabei hatte ihre Liebe so perfekt und romantisch begonnen.

Jeden Morgen waren sie in derselben Straßenbahn zur Arbeit gefahren. Er stieg zwei Stationen später ein und blieb bis zu ihrer Haltestelle in der Bahn. Robert setzte sich ihr gegenüber oder auf einen anderen freien Platz, der ihnen Blickkontakt ermöglichte. Für lange Zeit blieb es beim Anlächeln. Später erweiterte sich ihre Interaktion auf ein schüchternes »Guten Morgen«.

Robert war ein hochgewachsener, gut aussehender Mann. Sein Haar war im Nacken kurz geschnitten, das Deckhaar fiel ihm in leichten Wellen in die Stirn. Er benutzte kein Gel, damit er sich lässig durch die Haare streichen konnte. Simone fand Gefallen daran und hätte am liebsten in seinen Haaren gewuschelt. Seine dunklen, fast schwarzen Augen hatten es ihr besonders angetan.

Nach zwei langen Monaten hatte sie genug und drückte Robert beim Vorbeigehen einen Zettel mit ihrer Telefonnummer in die Hand, was eigentlich nicht ihre Art war. Normalerweise ließ sie die Männer den ersten Schritt tun. Der schöne Unbekannte machte jedoch keine Anstalten dazu. Hätte er sich nicht bei ihr gemeldet, hätte sie fortan eine spätere Bahn genommen, es wäre ihr zu peinlich gewesen.

Doch er rief an. Noch am selben Tag. Taktisch nicht unbedingt das, was sie erwartet hatte. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag im Vascos, einer neuen Bar im Herzen der Stadt.

Sie verstanden sich von Anfang an hervorragend. Sie waren beide Banker und hatten genügend Gesprächsstoff. Außerdem gab es gemeinsame Bekannte: Zwei seiner früheren Arbeitskollegen waren mittlerweile Kollegen von Simone. Sie zogen über die beiden her und amüsierten sich köstlich.

Am nächsten Morgen hatte sie von Robert bereits eine E-Mail. Er lud sie ins Restaurant Sternblick zum Abendessen ein, ein romantisches Lokal mit atemberaubendem Blick über die Dächer der Stadt. Sie lachten, tranken Wein und blickten sich tief in die Augen. Er machte ihr Komplimente und sie fühlte sich wie im siebten Himmel. Als er nach ihrer Hand griff und einen zärtlichen Kuss darauf drückte, war ihr Glück perfekt. Doch dabei blieb es an diesem Abend. Der Handkuss war der einzige Annäherungsversuch. Es brauchte zwei weitere Dates, bis ihre Liebe besiegelt war.

Der Anfang ihrer Beziehung war intensiv gewesen. Sie hatten sich jeden Abend getroffen, ihre Mailbox quoll täglich von Liebesschwüren über. Waren sie eine Nacht getrennt, schickten sie sich Kurznachrichten bis in die frühen Morgenstunden. Kitschiger hätte es nicht sein können.

Mit einer zweiten Tasse Kaffee setzte sich Simone wieder auf ihren Balkon. Ihre Augen waren von der durchweinten Nacht verquollen und rot. Sie wollte nicht mehr an die Zukunftspläne denken, die sie mit Robert geschmiedet hatte.

»Simone?«

Nicht jetzt, dachte sie und zog sich auf dem Sessel zusammen.

»Simone? Du bist doch hier! Ich sehe dein brennendes Zigarillo!«

Simone gab auf, erhob sich, streckte ihren Kopf über die Balkonbrüstung und guckte nach oben. Ihr Nachbar Chris stand auf seinem Balkon, die Frisur zerzaust. Sein Lächeln versiegte, als er ihr verweintes Gesicht sah. »Kleines, was ist denn mit dir los?«

Simone zog ihren Kopf zurück, damit Chris nicht sehen konnte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Sie holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. Schon klingelte es an ihrer Wohnungstür. Sie öffnete und fiel ihrem Nachbarn tränenüberströmt um den Hals. Chris ahnte, was los war, und ließ Simone weinen.

Schließlich hielt sie inne und zog Chris in die Wohnung.

»Magst du einen Kaffee?«

Chris ging selbst in die Küche. Er war erst vor zwanzig Minuten aus dem Bett gekrochen und hatte noch keine Zeit gehabt, zu frühstücken. Dasselbe galt für seine Kleidung: Er trug eine ausgeleierte Jogginghose und ein T-Shirt, was seiner Attraktivität keinen Abbruch tat. Im Gegenteil. Er war durchtrainiert, zu jeder Jahreszeit leicht gebräunt; der Vierzigjährige war ein Leckerbissen und die Frauenwelt lag ihm zu Füßen. Doch zu ihrem Leidwesen bevorzugte er das männliche Geschlecht.

Chris schob Simone in Richtung Balkon auf einen der Lounge-Sessel.

»Irgendwie scheint alles so surreal. Heute morgen hatte ich sogar vergessen, dass Robert mit mir Schluss gemacht hat.«

Chris hörte seiner Freundin aufmerksam zu. Ihre Erzählung wurde mehrmals von heftigen Weinattacken unterbrochen. Chris war geduldig. Er selbst hatte mehrere Trennungen hinter sich und konnte nachfühlen, wie es ihr gerade ging. Er mochte Simone sehr und wusste um ihre komplizierte Art, Sturheit und Eigenwilligkeit. Robert kannte er nur flüchtig, konnte sich aber von den wenigen Begegnungen ein Bild von ihm machen: Er war nicht für eine starke Frau geschaffen. Und Simone war zweifelsohne eine starke Persönlichkeit und nahm Raum für sich ein. Robert war der Typ Mann, der sich von den Frauen gerne bewundern ließ und sie auf klassische Weise verwöhnte. Ein Beziehungsmodell der 1960er Jahre. Solange er sich seines männlichen Status sicher war, funktionierte die Beziehung. Wuchs die Frau über ihren Schatten hinaus, begann der Lack zu bröckeln. Denn Gleichberechtigung in der Partnerschaft war nicht sein Ding. Natürlich hätte Robert nie zugegeben, mit den von der Zeit längst überholten Werten zu liebäugeln. Chris hatte der Beziehung keine lange Lebensdauer gegeben, sich aber entsprechende Bemerkungen verkniffen.