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Kurzbeschreibung:

In einem Kino in Los Angeles lebt einer der letzten Vampirclans der Stadt. Als ein Mitglied auf einer Reise nach Arizona entführt wird, brechen die sterbliche Amber Connan und Vampirjäger Julius Lawhead auf, den Freund zu retten. Doch der Entführer, der mächtige Vampirmeister Nathaniel Coe, fordert ein anderes Clanmitglied zum Tausch. Julius willigt ein und setzt mit seinem schrecklichen Versprechen alles aufs Spiel.

Rebekka Pax

Codex Sanguis

Flammenmond 


Edel Elements

Konvertierung: Datagrafix

KAPITEL 1

Amber

In unserer kleinen Werkstatt war es still geworden.

Meine Augen taten weh, von den Fingern ganz zu schweigen. Aber ich wollte den Bilderrahmen heute um jeden Preis fertigstellen. Er war mit Abstand die beste Arbeit, die ich in meiner Zeit als Vergolderin je abgeliefert hatte.

Die Figuren, die den Rahmen zierten, hatte ich in tagelanger Feinarbeit neu modelliert und in die alten Ornamente eingefügt. Jetzt galt es nur noch, die letzten matten Stellen mit Achat zu polieren, bis das neu aufgetragene Blattgold glänzte, als sei es aus massivem Edelmetall.

Zum wiederholten Mal legte ich den Polierstein aus der Hand, um meine verkrampften Finger zu lockern. Da klopfte es leise an der Tür.

„Ja bitte?“

„Ich bin’s, wollte mal sehen, ob du nicht schon vor Erschöpfung zusammengeklappt bist.“ John Lapiccola schob seinen Kopf durch den Türspalt. Mein Chef sah aus, als sei er mit einem Sack Mehl zusammengestoßen. Seine grauen Haare und auch der Bart waren durch den Kalkstaub noch eine Nuance heller geworden.

Würziger, weicher Kaffeeduft wehte in den Raum. John kam herein, reichte mir einen dampfenden Becher und rieb die schwielige Hand an seiner Arbeitsschürze ab, wo sich der Kaffeefleck in Dutzenden anderen verlor.

Ich hielt mir genießerisch die Tasse unter die Nase. „Oh, danke. Genau den habe ich jetzt gebraucht.“ Der Kaffeeduft weckte meine Lebensgeister.

Doch sobald John näher an die Werkbank trat, wurde ich nervös.

„Ich bin noch nicht ganz fertig.“

„Natürlich bist du fertig, fertiger geht es nicht!“ Er strich sich über den dichten Bart, rückte dann seine Brille zurecht und beugte sich über den Rahmen. „Das hier ist hervorragende Arbeit, Amber Connan, aber das muss ich dir nicht sagen, nicht wahr? Unser Auftraggeber wird mehr als zufrieden sein.“

„Danke.“ Ich war schrecklich erleichtert. Sein Lob, mit dem er sehr sparsam umging, ließ mich erröten.

„Wüsste ich nicht, welche Teile ergänzt wurden, ich könnte es beim besten Willen nicht unterscheiden. Womit wir bei einer anderen Sache wären. Hast du dieses Wochenende schon etwas vor, Amber?“

Ich sah ihn irritiert an. Seit wann interessierte sich John dafür, wie ich meine freien Tage verbrachte?

Unweigerlich drifteten meine Gedanken zu Julius. Mit ihm konnte ich sicher nichts unternehmen. Die Gesetze seines Clans wurden auch für gelangweilte Freundinnen nicht gelockert. Julius hatte gegen einen Befehl seines Meisters verstoßen und war deshalb auf unbestimmte Zeit in einen Sarg eingesperrt worden. Mittlerweile waren über zwei Monate verstrichen, und noch immer war kein Ende der Strafe in Sicht.

Mit Freunden unternahm ich nur selten etwas, noch seltener, seitdem ich mit den Unsterblichen von Santa Monica Umgang pflegte. „Nein, ich hab nichts vor.“

„Erinnerst du dich, worüber wir vor einer Weile gesprochen haben? Dass du gerne auch Skulpturen restaurieren würdest?“

Mir stockte der Atem. Das war mein großer Traum, seit jeher. „Na klar!“

„Wenn du mir über das Wochenende ein paar aussagekräftige Tonmodelle anfertigst, können wir darüber reden. Ich habe am Montag einen Besichtigungstermin. Auf meine alten Hände kann ich mich leider nicht mehr zu hundert Prozent verlassen, und wenn du mir etwas lieferst, das mich überzeugt …“

Mein Herz tat einen begeisterten Satz, und ich fiel meinem Chef um den Hals. „Oh, das wäre Wahnsinn!“

„Dann nimm dir eine Packung von dem feinen weißen Ton mit, und alles, was du an Werkzeug brauchst. Und dann ab mit dir nach Hause.“

Ich war schon beim Werkzeugschrank, bevor John zu Ende gesprochen hatte. „In welche Richtung soll es denn gehen?“, fragte ich, ohne aufzusehen, während ich ein Sortiment Spatel zusammensuchte.

„Stell dich auf barocke Sakralkunst ein und überrasch mich.“

„Eine Hand?“

„Zum Beispiel“, sagte John mit einem Lachen. Meine Begeisterung schien ihn zu amüsieren. Er prostete mir mit dem Kaffeebecher zu. „Dann wünsche ich dir ein schönes Wochenende. Ich mache mich auf den Heimweg. Wir sehen uns Montag.“

„Ja, dir auch, John. Und danke. Danke!“

Ich lauschte darauf, wie er die Werkstatt verließ, und atmete tief durch. Sobald ich alleine war, stieß ich einen Jubelschrei aus und hüpfte ausgelassen durch den Raum. Endlich! Endlich bekam ich die Chance, auf die ich so lange gewartet hatte!

„Glückwunsch!“, tönte plötzlich eine vertraute Stimme durch meine Gedanken, die in meinem Kopf einen Widerhall erzeugte wie in einer Kathedrale.

Ich zuckte zusammen. „Verdammt! Wie lange hast du schon gelauscht?“

„Lange genug, um zu wissen, dass du einen Klumpen Ton meiner Gesellschaft vorziehst.“

„Du bist unfair, Julius.“

„Deine Freude war so intensiv, dass sie bis zu mir gedrungen ist, da musste ich einfach nachschauen.“ Er schickte mir eine Erinnerung an sein Lachen. „Ich freue mich für dich, ich freue mich wirklich. Aber versprich mir, dass du dich nicht bei deiner Mom in Silverlake versteckst. Komm zu mir, wir können uns unterhalten, während du bastelst.“

„In dein finsteres Loch?“

„Ich lasse Lampen holen, so viele du brauchst, Liebes. Es tut mir so gut, deine Stimme nicht nur in meinem Kopf zu hören.“

Ich musste an Ma denken. Schon das letzte Wochenende hatte ich in der Zuflucht der Vampire verbracht. Für diesen Samstag hatte ich ihr versprochen, dass wir gemeinsam zu Frederiks Grab fahren würden.

„Du kannst sie am Nachmittag besuchen, Amber.“

„Julius, pfusch nicht in meinen Gedanken rum!“

„Entschuldige“, murmelte er ein wenig gekränkt.

Ich fühlte, wie er sich zurückzog und die magische Verbindung der Siegel schloss, als zöge er vorsichtig Türen zu, peinlich darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen.

Prompt hatte ich ein schlechtes Gewissen. Aber wie sollte ich auch gelassen bleiben, wenn er sich seit Wochen ständig in meinen Kopf einschlich? Ich hatte das Gefühl, keinen einzigen Moment des Tages mehr alleine zu sein. Zwar hatte ich gelernt, mich vor derlei Überfällen zu schützen, doch noch war all das so neu für mich, dass ich diesen gedanklichen Schutzwall bewusst aufrichten musste, und an Tagen wie diesem vergaß ich es leider viel zu oft.

Rasch zog ich einen weißen Tonblock aus dem Regal, schnitt mir ein Stück ab und wickelte es in Frischhaltefolie. Als ich kurz darauf die Werkstatt verließ und die Tür abschloss, war die Freude über meine unverhoffte Chance zurück. Dem irritierten Blick der Dame aus dem Nachbarhaus nach zu urteilen, strahlte ich über das ganze Gesicht.

***

Julius

In meinen Körper zurückzukehren war jedes Mal aufs Neue ein Schock. Zehn Wochen und zwei Tage waren vergangen, seitdem mein Meister mich in einen Sarg verbannt hatte. Sechs schwere Eisenriegel und eine Kette mit Silberlegierung hielten mich davon ab, mein Gefängnis zu sprengen.

Das war die Strafe für meinen Ungehorsam, für den Hochmut, meinem Meister einen Vampir aus seinem Clan zu rauben. Ich hatte es verdient, das war mir bewusst. Aber ich hatte mit Tagen und Wochen gerechnet, niemals mit über zwei Monaten.

Mein Körper hatte sich nach und nach an die Gefangenschaft gewöhnt und hielt nun eine Art Winterschlaf. Der Hunger war da, doch er brannte schon lange nicht mehr. Am Anfang hatte er mich fast wahnsinnig gemacht, wütete und zerrte an mir, doch jetzt war er zu einem dumpfen Schmerz zusammengeschrumpft, der als kleine, steinerne Kugel in meinen Eingeweiden lag und den Tag meiner Freilassung ersehnte.

Wenn ich über meine Arme und Brust tastete, fühlte ich die ausgetrockneten Muskeln wie zähe Drähte unter der Haut.

Eine Tür knarrte.

Flüsterleise Schritte huschten über den Parkettboden. Sie waren mir ebenso vertraut wie die mit ihnen nahende Magie. Treueeide, die ich geleistet hatte, entflammten zum Leben. Der Besucher war Curtis Leonhardt, mein Schöpfer. Sein erster Gang nach dem Aufwachen führte ihn stets zu meinem Gefängnis. Er strich über den Sarg, und es fühlte sich an, als berühre er meinen Kopf.

„Guten Abend, Julius“, sagte er freundlich.

„Meister“, entgegnete ich in Gedanken. Meinen verdorrten Stimmbändern verständliche Laute zu entlocken, war unmöglich.

„Dein Herz schlägt nicht.“

Das hatte ich noch gar nicht bemerkt. So weit war es also schon gekommen.

Curtis kniete sich hin, und dann regnete auch schon warme Lebenskraft zu mir hinab. Die Kälte in meinen Gliedern wich nur langsam. Ich öffnete die Augen.

Der Anblick war der gleiche wie in den letzten Wochen und Monaten: totale Finsternis. Panik kochte in mir hoch und stemmte sich gegen Curtis’ Energie.

„Bitte, lass mich frei. Ich verspreche, mich nie wieder gegen dich zu stellen.“

Die tröstende Kraft verschwand mit einem Schlag. Ich hörte, wie er aufstand. „Noch nicht, Julius!“

„Warum?“

Meine Finger kratzten über das zerrissene Innenfutter, während meiner Kehle heisere Zischlaute entwichen. Curtis verschwand, wie immer, wenn unser Gespräch diesen Punkt erreichte. Die Tür schlug zu, und er war fort.

Ich beruhigte mich schnell wieder. Wenn ich eines in den letzten Wochen gelernt hatte, dann, wie ich meinen Körper zur Ruhe zwingen konnte. Es war unmöglich, dem Sarg zu entkommen.

Die Polsterung und die Seide hingen bereits in Fetzen. An vielen Stellen hatte ich das blanke Holz freigelegt, Späne herausgekratzt, bis meine Hände nur noch blutige Klumpen waren. Ohne frisches Blut waren sie nur langsam geheilt. Es war mir eine Lehre gewesen.

Ich schob meinen Kopf auf den Kissen zurecht, faltete die Finger über der Brust und verfiel wieder in meinen Dämmerzustand. Das Einzige, womit ich mich ablenken konnte, waren meine Erinnerungen, die Bilder aus meiner Vergangenheit und die Gedanken meiner Lieben.

Ich entsann mich noch gut an meine erste Verurteilung, die ich im Sarg verbüßte, vor all diesen vielen, vielen Jahren in Paris. Damals hatte ich noch so wenig gewusst, jede Nacht in Panik verbracht, jede Nacht geschrien, getobt und mich selbst verletzt.

Curtis hatte recht behalten. Dieses Mal war es anders, einfacher. Ich hatte mich meistens unter Kontrolle, und der Hunger war erträglich. Ich brauchte nicht mehr so dringend Blut, sondern konnte von der Energie meiner Vampire zehren. So blieb ich bei klarem Verstand.

Genau in diesem Moment, da ich an ihn dachte, erwachte Brandon, der Unsterbliche, den ich von Curtis gestohlen hatte und der nun mir die Treue hielt. Bluttausch und Eide verbanden unsere Körper, und so spürte ich, wie der Funke, der Seele und Leben ist, in seinen schlafenden Leib einkehrte.

An seiner Stelle hätte ich als Erstes den Sargdeckel aufgestoßen, um frei atmen zu können; Brandon tat das nicht.

Er öffnete die Augen, bewegte seine Hände und schmiegte seine Wange in die Kissen, ganz wie ein Mensch, der sich nach dem Weckerklingeln noch einmal umdreht.

Er wartete auf Christina. Seine Freundin würde als jüngere Unsterbliche frühestens in einer Viertelstunde erwachen.

Christina war eine schöne Latina mit kastanienbraunen, langen Haaren und Augen, so dunkel, dass sie mitunter schwarz aussahen, wenn sie wütend oder hungrig war. Ihre kleine Gestalt mit den fraulichen Rundungen hatte schon manchen Mann verführt und zu Leichtsinn getrieben, den er dann bitter bereute. Denn in Christina steckte viel mehr, als es auf den ersten Blick schien. Sie war schlagfertig, mit Fäusten und Worten gleichermaßen.

Ich hatte sie wenige Wochen, bevor ich meine Strafe antrat, verwandelt. Damals lag sie nach einem Kampf im Sterben, und Brandon hatte mich auf Knien angefleht, seine menschliche Dienerin zu retten und zu einer von uns zu machen.

Ich tat es und brach damit mein Versprechen mir selbst gegenüber, niemals Vampire zu schaffen. Seitdem war Christina mein, wie auch er.

Die Verwandlung hatte sie verändert. Sie war schüchtern, ängstlich und unterwürfig geworden, wie alle Neugeborenen. Doch die alte Christina war nicht vollständig verschwunden.

Ich bin in meinem Leben Zeuge vieler erfolgreicher Verwandlungen gewesen, und jedes Mal war es eine Freude zu erleben, wie die Neuen nach den gefährlichen ersten Jahren Stück für Stück zu ihrem alten Ich zurückfanden.

Christina hatte noch viel vor sich. Sie musste lernen zu jagen, lernen, ihren Hunger zu kontrollieren. Junge Vampire starben wie die Fliegen, sei es, weil der Hunger ihren Verstand zerstörte, oder weil andere sie töteten. Eigentlich sollte ich sie schützen, aber ich lag eingesperrt in dieser Kiste, und so hatte Brandon diese Aufgabe übernommen.

„Julius, bist du da?“, flüsterte er nun in die Tintenschwärze.

„Ja.“

„Wie geht es dir?“

„Wie schon? Hier gibt es nicht viel Ablenkung.“

„War Curtis bei dir?“

„Natürlich, wie immer.“ Ich konnte die Bitterkeit in meinen Worten nicht ganz verbergen, und Brandon war meine Stimmung nicht entgangen. Sein Herz schlug aus Mitgefühl schneller. „Wenn ich nicht so weit weg wäre, würde ich zu dir kommen.“

„Ich weiß, danke.“

Brandon und Christina waren in Arizona.

Als er mir vor einer Weile von seiner entbehrungsreichen Kindheit im Reservat und seinem Wunsch erzählte, noch einmal an seinen Geburtsort zurückzukehren und den Geistern seiner Vergangenheit einen Besuch abzustatten, hatte ich ihn dazu ermuntert.

„Wo seid ihr jetzt?“

„Na´ní´á Hasání.“

„Also in Cameron?“

„Ja, auf einem Campingplatz nicht weit von meinem Heimatort. Vor Sonnenaufgang war nicht mehr genug Zeit. Wir bleiben eine Nacht, um alles anzusehen, dann kommen wir heim.“

„Nimm dir alle Zeit, die du brauchst, Brandon.“

„Ja, werde ich, danke, Meister.“

Er stand auf, legte seine Hände flach auf den Boden des Wohnwagens und machte einen Katzenbuckel, um seinen Körper nach der langen Schlafesstarre zu lockern. Sein langes rabenschwarzes Haar fiel wie ein dunkler Wasserfall vornüber.

Ich biss mir auf die Zunge vor Neid. Wie gerne hätte ich auch nur die Beine angewinkelt, aber dafür war der Sarg nicht hoch genug. Wütend schlug ich mit der Faust gegen die Seitenwand, dass die Riegel schepperten.

„Julius?“ Brandon richtete sich auf. „Was ist denn?“

„Nichts. Gar nichts.“

In den vergangenen Wochen war Brandon nach der Jagd immer zu mir gekommen und hatte die Kraft geteilt, die er aus dem Blut seiner Opfer zog. Wir verbrachten Stunden in der Meditation und wuchsen als Meister und Schwurgebundener zusammen. Es war eine gute Gelegenheit gewesen, einander besser kennenzulernen und die Fähigkeiten zu üben, die mit meinem neuen Status einhergingen.

Unsere Verbindung war einer Art Unfall geschuldet. Ich hatte lange wie ein Außenseiter im Clan gelebt. Aus den kleinen Rangeleien zwischen den übrigen Mitgliedern hatte ich mich immer herausgehalten. Dennoch neideten sie mir meine Position direkt nach Curtis und legten mir meine Passivität als Schwäche aus. Brandon war einer von ihnen gewesen. Er provozierte mich immer wieder, und ich ließ es lange ungestraft.

Als mir schließlich der Kragen platzte, geriet ich im Streit in einen solchen Rausch, dass Brandon schließlich gezwungen war, mich als seinen neuen Herrn und Meister anzuerkennen. Als ich danach begriff, was ich getan hatte, war es für eine Rückkehr zu spät.

Durch meine Unbesonnenheit hatte ich Curtis’ Autorität infrage gestellt – nicht nur innerhalb der Leonhardt, sondern auch vor den Oberhäuptern der anderen Clans. Bestrafung war die logische Folge. Und so sehr ich hier in meinem Gefängnis auch leiden mochte, konnte ich mich doch glücklich schätzen. Andere Clanherren hätten mein Vergehen mit dem Tode bestraft.

Vor dem Tag, der alles veränderte, hatte etwas wie Feindschaft zwischen Brandon und mir bestanden. Jetzt war alles anders. Als sein Meister liebte ich Brandon wie ein Vater sein Kind. Sich gegen diese Gefühle aufzulehnen, war hoffnungslos. Sie wurden von den Schwüren, die ich zu seinem Schutz geleistet hatte, ebenso bestimmt wie von der Magie, die all unserem Handeln zugrunde liegt.

Hin und wieder tobte ich innerlich, weil ich mich in dem engmaschigen Netz aus Gehorsam und Treue gefangen glaubte, aber ich hatte keine Wahl. Nicht, bevor ich weitere zweihundert Jahre existiert hatte und damit endlich stark genug war, um mich vom Clan loszusagen.

***

Amber

Ich war meinem Gefühl gefolgt. Der Besuch bei dem kleinen Auktionshaus hatte sich gelohnt. Zwei der angebotenen Skulpturen im Fenster stammten aus dem 17. Jahrhundert. Das Geschäft war zwar schon geschlossen gewesen, doch ich hatte Detailfotos machen können, die mir später als Inspiration für mein Modell dienen würden. Nun führten mich meine Schritte durch die Fußgängerzone von Santa Monica.

Ich schlenderte an den Schaufenstern vorbei und beobachtete die Menschen, die sich in den großen Glasflächen wie Geister spiegelten. Es war zum Verrücktwerden. Paare, überall Paare. Lachende, scherzende Frauen und Männer, die sich berührten, küssten.

Ich konnte Julius weder berühren noch küssen. Wir hatten gerade erst angefangen uns kennenzulernen, als er seine Strafe antrat. Reden, das war das Einzige, was uns blieb. Er hatte mehr Zeit im Sarg verbracht als mit mir.

Hin und wieder glaubte ich, Julius’ Gesicht zu vergessen, doch dann sah ich ihn plötzlich wieder vor mir, so real, dass ich meinte, meine Hände in seinen dunklen Locken vergraben zu können. Noch immer manövrierten wir beide vorsichtig um Worte herum, die unsere Beziehung bezeichnet hätten. Freunde, ja. Etwas mehr als das, auch ja. Ein Paar? Womöglich. Vielleicht irgendwann.

Ich war ein gebranntes Kind, was Männer anging, und Julius hatte im Moment weiß Gott andere Probleme als seinen Beziehungsstatus. Die anderen Unsterblichen sahen das scheinbar ohnehin nicht so eng. Nach ein paar Jahrhunderten Lebensdauer waren vermutlich andere Dinge wichtig. Und was zwischen Julius und mir wirklich zählte, waren die Siegel – eine Verbindung, für die es kaum Worte gab und die uns doch enger aneinanderband als irgendetwas sonst, das ich jemals für einen anderen Menschen empfunden hatte.

Ich vermisste seine Berührungen, den besonderen Geruch seiner Haut, erdig, kalt und frisch, sein Lachen, die gemeinsamen Abendspaziergänge.

Viele der vergangenen Nächte hatte ich auf einem kleinen Bett neben Julius’ hölzernem Gefängnis geschlafen, einerseits, um in seiner Nähe zu sein, und andererseits, um nicht zu Hause sein zu müssen.

Bei Ma in Silverlake war der Tod meines Bruders Frederik allgegenwärtig. Sie hatte die Wände mit Bildern von ihm gepflastert und brach alle paar Stunden in Tränen aus.

Die Erinnerungen und der kühle Abendwind ließen mich schaudern. Ich konnte es kaum ertragen, Ma weinen zu sehen, denn das erinnerte mich unweigerlich an Frederiks Ende. Er war zu einem zombieartigen Wesen geworden, bösartig und mordlüstern. Ich hatte ihm eigenhändig mit einem Schwert den Kopf abgeschlagen und bereute die Tat nicht. Frederik war mir mit Sicherheit dankbar. Seine Seele war nun frei.

Dennoch floh ich vor den Erinnerungen und der Trauer, die einen Aufenthalt daheim so unerträglich machten. Ich schämte mich dafür, so selten für Ma da zu sein, aber ich kam nicht dagegen an.

Die Straßen leerten sich. Die Menschen gingen nach Hause oder kehrten in Bars ein. Ich hatte wieder zu trödeln begonnen. Dabei wurde ich von Julius schon sehnsüchtig erwartet. Obwohl die Siegel, die uns verbanden, fast vollständig geschlossen waren, hallten seine Gefühle in mir wider, und ich konnte deutlich spüren, dass seine Gedanken gerade bei mir waren.

Der Bluttausch, der mit der Gabe der Siegel einhergegangen war, hatte mich verändert.

Ich war stärker, schneller und gesünder geworden. Meine Sinne schienen besser entwickelt, und ich hatte mich selbst häufiger dabei erwischt, dass ich Gespräche belauschte, die eigentlich in sicherer Entfernung geführt wurden.

Aber die Siegel hatten auch ihre negativen Seiten. Ich konnte Julius zwar mit einiger Mühe aus meinen Gedanken heraushalten, aber ich war noch nicht dazu in der Lage zu verhindern, dass er sich jederzeit meiner Kraft bedienen konnte – wenn er nicht achtgab, sogar bis zu dem Punkt, an dem ich einfach zusammenbrach.

Die Siegel waren Fluch und Segen zugleich, und ich hatte Julius nie gänzlich verziehen, dass er mir das erste aufgezwungen hatte. Auch wenn ich mittlerweile wusste, dass er auf Curtis’ Befehl gehandelt hatte, dem er sich eigentlich nicht widersetzen konnte.

Das zweite und dritte Siegel hatte er sich wie ein Jahrmarktspieler durch simple Tricks ergaunert.

Doch jetzt war Schluss. Meine Worte waren deutlich ausgefallen. Noch eine Trickserei, noch ein Versuch, mich mit Vampirmagie gefügig zu machen, um mir das vierte Siegel abzuluchsen, und wir würden getrennte Wege gehen.

Julius hatte Ruhe gegeben. Für die fehlenden zwei Siegel brauchte er meine Mitarbeit, und die bekam er nicht. Nicht in hundert Jahren!

***

Brandon

Brandon hatte Christina aus ihrem Sarg gehoben und zur Tür getragen. Sie schlief noch. Nun saß er auf den Stufen des Wohnwagens und sah hinaus. Der Schatten des Airstream schützte ihn vor dem schwächer werdenden Licht der Abenddämmerung.

Während Christinas Körper in seinen Armen weicher wurde, genoss er die Stille und den Anblick endloser Weite.

Die Wüste erstreckte sich bis zum Horizont. Gras neigte sich im Wind. Knorrige Büsche, gebeugt wie alte Krieger, trieben winzige blaue Blüten. Im kleinen Ort Cameron war alles noch so wie in den Tagen seiner Kindheit, als er Schafe gehütet und Tiere mit der Schleuder erlegt hatte, um ihre Felle zu verkaufen. Viel zu schnell würde er nach Los Angeles zurückfahren und dem Land seiner Vorväter den Rücken kehren müssen.

Der Gedanke an die Großstadt brachte unweigerlich auch den an seinen neuen Meister mit sich. Kurz darauf fühlte Brandon dessen Präsenz.

„Nimm von meiner Kraft, so viel du brauchst“, bot er Julius sogleich an.

„Wenn ich hier wieder rauskomme, hast du verdammt viel gut bei mir“, antwortete dieser.

„Du bist mein Meister … und mein Freund.“

Es fiel Brandon schwer, diese beiden Worte in einem Atemzug zu nennen. Sein Schöpfer, der alte Meistervampir Nathaniel Coe, war ein sadistisches Monster gewesen, und nach dessen Tod und Jahren des Herumirrens war Brandon kühl und scheinbar ohne großes Interesse von Curtis in den Clan der Leonhardt aufgenommen worden. Mit Julius als Herrn schien nun ein neues Zeitalter angebrochen zu sein.

„Mir hat es damals gutgetan, meine alte Heimat wiederzusehen, auch wenn mein Elternhaus längst nicht mehr steht“, sagte Julius, während er einen steten Energiestrom aus Brandons Körper sog.

„Ich weiß nicht, ob es sinnvoll war herzukommen. Es fällt mir schwer zu trennen. Die Erinnerungen vermischen sich. Coe ist überall. Ich dachte, ich könnte die verdammte Vergangenheit einfach in mir vergraben und vergessen. Doch es geht nicht, es geht einfach nicht!“, antwortete Brandon.

„Christina ist bei dir. Rede mit ihr.“

„Sie hat doch keine Ahnung, du hast damals bei unserem Kampf mehr erfahren als jeder andere.“

„Ich hätte deine Erinnerungen niemals so ans Tageslicht zerren dürfen.“

„Bereust du es?“

„Frag nicht.“

Brandon wartete dennoch auf eine Antwort.

„Ich bereue zutiefst, mich Curtis widersetzt zu haben. Wenn du hören willst, ob ich dein Meister sein will, dann ja, das tue ich. Doch wenn Curtis mir die Wahl unter seinen Vampiren gelassen hätte, so wäre sie nicht auf dich gefallen, und das weißt du, Brandon.“

„Ja, ist mir klar.“ Er rieb sich die Schläfen und sah in das Gesicht seiner Freundin, die noch immer ganz in den Klauen des Todes gefangen war.

„Manches passiert nicht, weil wir es wollen, Brandon, sondern weil es so für uns bestimmt wurde“, sagte Julius und löste sich aus der Bindung.

Zurück blieb ein kurzes Schwächegefühl und angenehme Wärme.

Fast im selben Moment zuckte Christina unter dem ersten Herzschlag.

Als sie Minuten später die Augen öffnete, hatte Brandon Zeit gehabt, sich zu sammeln und die schlechten Erinnerungen zu verbannen.

„Hungrig?“, fragte er weich und strich ihr die Haare aus der Stirn.

Christina lächelte. „Immer.“

„Dann komm. In der Lodge sind viele Menschen.“

Sie waren schnell fündig geworden und hatten den Durst gestillt. Jetzt waren sie unterwegs, um zu besichtigen, was nach über neunzig Jahren von Brandons Geburtshaus geblieben war. Der Pfad, der zu der verlassenen Hütte hinaufführte, war schon seit Jahren unbenutzt, doch im Licht zahlloser Sterne fiel es leicht, ihn zu finden. Die karge Flora aus niedrigen Kakteen und mageren Kreosotbüschen brauchte lange, um Spuren auszumerzen.

Brandon und Christina gingen zügig. Wüstensand knirschte leise unter ihren Schuhen. Mit jeder Bewegung klapperte Brandons lange Kette aus Türkisen und Tierzähnen gegen seinen breiten Silbergürtel. Garderobe und Schmuck waren sorgfältig gewählt, um das Wohlwollen seiner Ahnen zu erhalten, wenn er ihr Heim betrat.

Christina ging schweigend an Brandons Seite. Hin und wieder fühlte er ihren Blick auf sich ruhen.

Aus dem Schatten des Felsmassivs schälten sich bald die Ruinen eines Blockhauses. Die Hölzer waren von Sonne und Wind gebleicht und rissig und weiß wie alte Knochen geworden.

Brandon räusperte sich. „Dort drüben war der Schafspferch“, erklärte er, weil er meinte, etwas sagen zu müssen, und wies auf eine lückenhafte Reihe kurzer Pfähle, die wie Ertrinkende gerade noch aus einer Sandwehe hervorragten. Christina betrat neugierig die Hütte. Im Gegensatz zu ihr hatte Brandon das Gefühl, sich keinen Schritt mehr bewegen zu können, als türme sich eine unsichtbare Wand aus Erinnerungen vor ihm auf. Es waren allesamt schlechte.

Dort auf der Veranda hatte sein Vater immer gesessen und getrunken, die Flinte auf dem Schoß und den schmerzenden, verkrüppelten Fuß weit von sich gestreckt. Seitdem ihm eine Eisenbahnschiene darauf gefallen war, hatte sich der ehemalige Gleisarbeiter aufgegeben. Das Leben im Reservat war für ihn die Hölle auf Erden gewesen.

„War das hier dein Bett?“, hallte es aus dem Blockhaus.

Brandon atmete einmal tief durch und trat ein. Es nutzte nichts. Jetzt war er hier, und wenn er sich den Erinnerungen nicht stellte, würde er es später bereuen.

Christina stand neben einer roh gezimmerten Pritsche.

„Das ist Vaters Bett gewesen, ich hatte nur ein paar Decken, hier.“

Er wies auf einen Winkel neben dem Ofen. „Aber meistens, vor allem in den letzten Jahren vor meinem Weggang, habe ich draußen beim Vieh kampiert. Ich vermied es, heimzukommen.“

Christina wusste fast alles über sein früheres Leben als Mensch. Auch, dass er als Kind von seinem Vater verprügelt worden war. Die Wut des Alten auf die Welt, die ihm so übel mitspielte, die Wut auf die Europäer, die sein Volk von ihrem Land vertrieben und ins Elend gestürzt hatten, sie hatte in dem Jungen ein Ventil gefunden.

Brandons Mutter war eine irischstämmige Bardame gewesen. Er hatte Sandy nie kennengelernt, wusste nur, was die Nachbarn über sie redeten. Sandy Dawney war vor dem Elend des Lebens im Reservat und der Schande, ein Mischlingskind geboren zu haben, geflohen, bevor er ein Jahr alt war.

„Lass uns bitte von hier verschwinden, Chris. Julius hatte unrecht, es war nicht gut, nach all der Zeit herzukommen. Das hier zu sehen, macht nichts besser.“

Aber Christina wollte sich noch nicht trennen. Sie fuhr staunend mit der Hand über die Wände, wischte mit dem Fuß durch den Ruß der Feuerstelle.

Brandon trat allein ins Freie und legte den Kopf in den Nacken. Der Anblick des schimmernden Sternenteppichs ließ ihn ruhiger werden. Die Hütte hier war Vergangenheit, seit über neunzig Jahren vorbei. Was zählte, waren seine Zukunft und das Hier und Jetzt.

Christina sprang die kleine Verandastufe herunter und landete in seinen Armen. Sie lächelte aufmunternd, und ihre Reißzähne blitzten zwischen den vollen Lippen hervor.

Brandon küsste sie innig und zog sie von den Ruinen seiner Vergangenheit fort.

„Müssen wir sofort zurück? Können wir nicht noch ein wenig bleiben?“

„Doch, sicher“, antwortete er schnell. „Es ist nicht weit bis zur Hängebrücke über den Colorado. Ich habe miterlebt, wie sie gebaut wurde.“

„Wirklich?“

„Wirklich!“

***

Amber

Vor mir erhob sich der wuchtige Bau des Lafayette-Kinos.

Im Baldachin über dem Eingang, der noch aus den glorreicheren Tagen des Hauses stammte, war eine weitere Birne kaputtgegangen, wie ich geistesabwesend bemerkte.

Eigentlich war das Gebäude ein beeindruckendes Beispiel für L.A.s Art-déco-Stil, doch die Vampire legten offensichtlich keinen Wert darauf, ihr Heim instand zu halten. Während innen alles in altem Glanz und Gloria erstrahlte, bröckelte draußen der Putz von der Fassade, und die Steinchen der Mosaikverzierungen wurden täglich weniger. Aber wahrscheinlich war der äußere Verfall beabsichtigt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Clanherr Curtis Leonhardt auch nur irgendetwas dem Zufall überließ.

Da ich meinen Beruf als Vergolderin und Restauratorin mit Leidenschaft ausübte, wurde ich jeden Abend aufs Neue wütend, wenn ich das Kino betrat. Was für eine Schande, es so verkommen zu lassen! Am liebsten hätte ich Curtis mal die Meinung gegeigt. Auch wenn die Gegenwart des uralten Meisters mir jedes Mal einen eisigen Schauder über den Rücken jagte – kriechen würde ich vor ihm niemals, das hatte ich mir fest vorgenommen.

„Guten Abend, Miss Connan“, wurde ich freundlich begrüßt. Ein Mann, der zur Wachmannschaft der Zuflucht gehörte, hielt mir die Tür auf.

Das alte Kino wirkte heute Abend wie ausgestorben. Die hohe, zweiflügelige Tür zum Versammlungsraum war geschlossen. Also hatte Curtis wieder einmal seinen Clan zusammengerufen. Aber sicher nicht, um die Renovierung der Fassade zu besprechen.

Ich schlich an der Tür vorbei zu den Treppen, die in die Untergeschosse führten, und erreichte bald darauf Julius’ Kammer.

Die Tür stand auf, und mir stieg der Duft von Rosen in die Nase.

„Hallo, Amber! Entschuldige bitte, dass ich vorhin in deinen Gedanken war. Ich hätte mich ankündigen sollen“, hörte ich Julius’ Stimme in meinem Kopf.

„Schon vergessen.“

Ich stellte meine Tasche ab, warf meinen Mantel auf das Bett und hockte mich neben den Sarg. Kurz schnürte Zorn mir die Kehle zu. Ich hasste Curtis für das, was er Julius antat. Doch dann breitete sich das wohlige Gefühl von Geborgenheit in mir aus. Noch nie hatte ich für einen Mann derart stark empfunden, wenngleich ich noch immer nicht genau wusste, was ich da eigentlich empfand: Freundschaft? Die Siegel? Oder vielleicht doch Liebe?

Sehnsüchtig legte ich eine Hand auf das glattpolierte Holz und verbot mir jeden Gedanken an Mitleid, denn Julius verabscheute nichts mehr als das.

„Wie geht es dir?“, fragte ich leise.

„Alles okay hier drin.“

Mein Blick glitt zu dem riesigen Blumenstrauß, der auf einem mir bislang unbekannten Schreibtisch stand. Es waren Dutzende Rosen, alte englische Sorten in Champagner und Rosé, die wunderbar dufteten.

„Gefallen sie dir? Ich dachte, du könntest ein wenig Frühling gebrauchen, wenn du es schon so tapfer hier unten bei mir aushältst.“

Ich stand noch einmal auf, sog den Duft der Rosen tief ein und berührte die samtigen Blütenblätter. „Danke, ich glaube, so einen schönen Strauß habe ich noch nie bekommen. Und was ist mit dem Tisch?“

„Ist ausgeliehen. Damit du arbeiten kannst. Robert besorgt noch Lampen, sie müssen gleich da sein. Sag ihm einfach, was du sonst noch benötigst, und er holt es dir.“

„Danke, Julius, das ist toll!“

Er schickte mir erneut die stille Variante seines Lachens, doch schon im nächsten Moment fühlte ich seinen Hunger. Julius versuchte, es vor mir zu verbergen, doch die Siegel hatten einen eigenen Willen und teilten mir sein Bedürfnis dennoch mit. Als hätte ich nicht auch ohne sie genau gewusst, wie sehr er auf meine Lebenskraft angewiesen war, um in seinem engen Gefängnis nicht vollends zu verfallen und den Verstand zu verlieren.

„Gleich, Julius, lass mich erst einmal ankommen“, seufzte ich.

„Du musst nicht …“

„Ist schon gut.“ Ich nahm eine Decke vom Fußende meines Bettes und breitete sie neben dem Sarg aus.

***

Brandon

Brandon und Christina wanderten auf einem alten Schafspfad an der Schlucht entlang. Er erzählte, wie ihm einmal ein Tier auf der steilen Klippe abgestürzt war und er sich deshalb tagelang nicht nach Hause getraut hatte.

„Du kannst dir nicht vorstellen, was ich alles ausprobieren wollte. Ich war kurz davor, mir ein Schaf von unserem Nachbarn auszuleihen, aber der war schon zu einem anderen Weideplatz gezogen. Rate, was passiert ist, als ich heimkam?“

Christina sah ihn mitfühlend an.

„Es gab ein Festessen!“

Als Brandon das verdutzte Gesicht seiner Freundin bemerkte, fuhr er fort: „Vaters Jungendfreund Two Feathers war nach langen Jahren ins Reservat zurückgekommen. Stell dir vor, Chris, ich habe ganz umsonst Schiss gehabt! Vater wusste überhaupt nicht, wie viel Schafe wir besaßen. Sobald ich die Herde in den Pferch gebracht hatte, wählte er den fettesten Hammel aus. Den hat er dann Two Feathers zu Ehren geschlachtet. Sie haben die ganze Nacht erzählt, und Vater trank keinen einzigen Tropfen Alkohol. Ich hatte seit Langem das erste Mal wieder Achtung vor ihm.“

„Dieser Two Feathers muss ein eindrucksvoller Mann gewesen sein.“

„Oh ja, das war er. Er hat nie für die Weißen gearbeitet wie Vater, sondern ist als junger Mann aus dem Reservat abgehauen. Weißt du, nach dem Massaker von Wounded Knee 1890 hatten die meisten die Hoffnung verloren, weil es deutlich gemacht hatte, dass unsere Leben für die Weißen keinerlei Wert hatten und sie bereit waren, mit aller Grausamkeit gegen uns vorzugehen, wenn wir uns ihrem Willen nicht beugten. Nicht so Two Feathers. Er wollte um jeden Preis kämpfen. Wenn er nicht in den Süden zu den Apachen gegangen wäre, hätte er wohl einen Ein-Mann-Feldzug gestartet.“ Brandon lachte.

„Und die Apachen haben noch gekämpft?“, fragte Christina erstaunt.

Brandon zuckte mit den Schultern. „Bis in die Dreißigerjahre gab es noch ein paar Kriegerverbände, die in Mexiko unterwegs waren. Two Feathers hat mir gezeigt, dass auch ein Junge aus einem Reservat seine Träume leben konnte, wenn er es nur genug wollte. Von jener denkwürdigen Nacht an kannte ich nur noch ein Ziel: abhauen und ein Krieger werden. Und ich hätte es auch geschafft, wenn Coe nicht …“

Brandons Blick ging in die Ferne, dann fuhr er sich über die Stirn.

Christina schloss ihre Hand um seine und drückte sie zärtlich, ihre Finger strichen in einem langsamen, beruhigenden Rhythmus über seinen Puls.

„Komm, lass uns an was anderes denken. Das ist zig Jahre her.“

Brandon versuchte, all die Bilder, die wie unruhige Geister in seinem Kopf herumspukten, zu verbannen, und mit einem Mal wurde ihm tatsächlich leichter ums Herz.

Er packte Christina, drückte sie fest an sich und sog den Duft ihrer Haut ein. Sie war die beste Medizin, die allerbeste! Während Christina noch erleichtert seufzte, stieß er sie wieder von sich und bleckte spielerisch die Zähne.

„Lauf weg!“

Sie machte einige unsichere Schritte. „Wirklich?“

„Na, mach schon! Lass mich sehen, wie schnell dich Julius’ Blut gemacht hat. Keine Angst, hier beobachtet uns niemand.“

Mit dem nächsten Wimpernschlag war sie auf und davon. Brandon ließ einen Moment verstreichen, dann folgte er ihr.

Es tat so gut zu laufen, die alten Pfade entlang, durch ein trockenes Bachbett und immer den Geruch würzigen Salbeis in der Nase, des heiligen Krauts, das hier überall wuchs.

Als angewehter Sand seine Schritte schwerer werden ließ, überbrückte Brandon das kurze Stück, das ihn von Christina trennte, und riss sie zu Boden. Lachend rutschten sie durch den feinen Sand.

„Schau“, sagte Brandon atemlos und wies nach oben. „Das habe ich wirklich vermisst!“

Die Milchstraße zog sich wie ein diamantbestickter Schleier durch den Nachthimmel.

„Meine Großmutter Dolores kannte ein Fadenspiel, in dem die Sternbilder abgebildet waren. So war es für uns Kinder leicht, sie zu lernen.“

Christina kuschelte sich in seine Armbeuge und blickte in die Richtung, die ihr Brandons Finger wies. „Dort ist der große Wagen, wir nennen ihn Náhookos Bika´ii, ‚der Mann des Nordens‘. Er ist der Vater oder der Beschützer des Heims.“

„Hat er auch eine Frau?“, fragte Christina. Sie ließ ihre Hand über seine Brust gleiten, tiefer wandern, bis er scharf Luft einsog und lachte. „Natürlich hat er eine.“

„Und wie heißt die?“

„Das errätst du nie! Náhookos Bi´áadii, ‚Frau des Nordens‘, natürlich!“

Christina stützte sich auf. „Besserwisser“, flüsterte sie und gab ihm einen schnellen Kuss auf den Mund. „Und der Morgenstern?“

Ma´ii Bizo´.“

„Und das heißt?“

„Und das heißt, und das heißt“, äffte Brandon sie grinsend nach und zog sie in seine Arme. „Das ist Coyotes Stern, und wenn du nicht aufpasst, klaut Coyote dich, wie er den ersten Menschen die Sterne geklaut hat, und rennt mit dir davon!“

Im nächsten Augenblick rollte er sich auf sie und drückte sie in den Sand. Christina keuchte überrascht, vergrub die Hände in seinem langen Haar und zog seinen Kopf näher, um ihn leidenschaftlich zu küssen.

Als sie schließlich den Rückweg angetreten hatten und schon eine Weile gegangen waren, zerfraß plötzlich anschwellender Motorenlärm die Stille. Ein Pick-up fuhr die Piste herauf und kam ihnen genau entgegen.

Scheinwerferlicht zuckte über die Büsche.

„Was will der denn hier?“, fragte Christina verwundert und schmiegte sich enger an Brandon.

„Da ist nur jemand spät auf dem Heimweg. In den Hügeln gibt es überall kleine Hütten und Trailer.“

Ein zweiter Wagen näherte sich von der Gegenseite. Die starken Scheinwerfer blendeten.

Brandon blieb stehen, zog Christina von der Piste hinunter und beschattete seine empfindlichen Augen. Dann spürte er auf einmal die Nähe anderer Unsterblicher. Das kalte, magische Gefühl ging von beiden Fahrzeugen aus.

Die Geländewagen steuerten nun direkt auf sie zu.

„Oh Gott!“ Christina hatte nun auch bemerkt, dass es sich bei den Ankömmlingen zumindest teilweise um Vampire handelte.

Brandon legte ihr schützend seinen Arm um die Schulter und lächelte aufmunternd. „Hey, sie wollen uns sicher nur kontrollieren. Wir haben ein Recht, hier zu sein, sie dürfen uns nichts tun. Und die Zeiten, in denen jeder Babyvampir einfach abgemurkst wurde, sind vorbei. Entspann dich.“

„Hast du die Papiere auch wirklich dabei? Bran, was machen sie, wenn …“

Er brachte sie mit einem Kuss zum Schweigen und zog triumphierend das Dokument aus seiner Hosentasche. „In ein paar Minuten sind die sicher wieder weg. Dann darfst du dir aussuchen, was wir den Rest der Nacht machen.“

Erleichtert fühlte er Christinas Furcht schwinden. Sie erwiderte sein Lächeln zaghaft. „Ich wüsste da was.“

„Was denn?“

„Wir könnten zum Abschluss bringen, womit wir vorhin angefangen haben.“

Brandon drückte sie zur Antwort fest an sich und musste sich zusammenreißen, um den Fremden mit gebührender Höflichkeit entgegenzutreten.

Die Wagen bremsten abrupt und hüllten sie in Staub. Die Luft schmeckte plötzlich mineralisch.

„Alberne Cowboys“, kommentierte Brandon das Manöver abfällig und rührte sich nicht vom Fleck. Hinter ihm und Christina gähnte die Schlucht des Colorado River, und tief unten in der Nachtschwärze rauschte der Fluss. Die Fahrzeuge blockierten den Fluchtweg.

In den Autos saßen zwei Unsterbliche. Brandon konnte sie gegen das grelle Scheinwerferlicht nicht erkennen, doch er fühlte Alter und Anzahl. Einer war sehr stark, ein Meister.

Mit ruhiger Bewegung hob Brandon die Reisegenehmigung mit dem Ratssiegel hoch und hielt die Seite mit dem Zeichen ins Licht. „Christina Reyes und Brandon Flying Crow, Haus Lawhead, Clan Leonhardt aus Los Angeles. Wir haben Reise- und Jagderlaubnis in Arizona.“

Sie warteten vergeblich auf Antwort. Brandon hielt weiterhin mit der Rechten das Dokument von sich gestreckt, sein linker Arm ruhte um Christinas Schulter.

„Bitte überprüfen Sie unsere Dokumente, Meister. Wir haben Recht und Gesetz geachtet.“ Brandon wurde langsam unsicher. Wie lange sollte er noch in die grellen Lichter starren und die Dokumente hochhalten, wenn sie offensichtlich niemand prüfen wollte?

„Was wollen Sie von uns?“, rief er gegen die lärmenden Motoren an.

Ein Mann stieg aus. Sein Gesicht sah merkwürdig aus. Wie das einer Wachsfigur, die Hitze ausgesetzt worden war. Zerflossen, irgendwie schemenhaft und doch körperlich. Es war ein Vampir mit alten Brandwunden.

Der Fremde begann höhnisch zu lachen.

Es klang erschreckend vertraut und ballte Brandons Eingeweide zu einem schmerzenden Klumpen zusammen. Das war nicht … das konnte nicht sein!

„Kommt mein entlaufener Köter also doch endlich nach Hause geschlichen!“

„Nein! Du bist tot!“, schrie Brandon.

„Das hast du dir wohl gewünscht!“

„Das kann nicht sein, das kann nicht sein“, wiederholte Brandon leise, dann verkümmerte seine Stimme zu einem Flüstern.

Er nahm Christina, die sich mit aller Kraft an ihn klammerte, kaum noch wahr. Sie verstand nicht, was in ihn gefahren war. „Bran, wer ist das? Wir haben doch kein Unrecht getan, oder?“

Brandon konnte ihr nicht antworten. Er war wie gelähmt. Es gab nur ein Wesen, dessen bloßer Anblick diesen Terror in ihm hervorrufen konnte: seinen alten Meister und Schöpfer – Nathaniel Coe. Der totgeglaubte Inbegriff seiner Albträume. „Du ahnst ja gar nicht, wie sehr ich mich gefreut habe, als Conway zufällig die aktuelle Liste der Durchreisenden überflog und ausgerechnet deinen Namen darauf gefunden hat“, sagte Coe und trat nun vollends ins Licht.

Brandon schrie bei seinem Anblick, als habe er in glühende Kohlen gefasst. Er kam zu sich. „Chris, lauf weg!“ Er stieß sie fort und rief seine Magie herauf, obwohl ihm klar war, dass er gegen Coe chancenlos war.

Vielleicht konnte er ihn zumindest so lange aufhalten, bis Christina außer Gefahr war. Doch die dachte gar nicht daran, ihn im Stich zu lassen. „Du wagst es!“, brüllte Coe, als Brandon sich ihm mit dem Mut der Verzweiflung entgegenwarf.

Brandon schaffte zwei Schritte, dann fuhr ein Blitz in sein Herz und schien es schier zu zerreißen. Sein Körper ergab sich vor dem Schmerz und brach zusammen. Ein samtiger Geschmack füllte seinen Mund, dann lief Blut seine Lippen herab und rann aus seinen Augen. Die Nacht färbte sich rot.

Coe durfte Christina nicht das Gleiche antun!

Brandons Lungen füllten sich unwillig, als er mit letzter Kraft Luft hineinzwang, dann keuchte er noch einmal: „Lauf weg von hier, Chris, verschwinde.“

Brandon starrte auf Coes Stiefelspitzen. Der Meister stand direkt neben ihm. Christina behandelte er zum Glück wie Luft. Brandon hätte so gerne gegen ihn gekämpft, wäre für einen letzten Triumph bereitwillig gestorben, doch seine Muskeln verweigerten den Dienst. Sein Blut erkannte den Schöpfer, so sehr er ihn auch verabscheute.

Coe spuckte ihm ins Gesicht.

Dann explodierte Schmerz in seinem Magen. Die Heftigkeit, mit der sein Schöpfer zutrat, schleuderte Brandon in die Nähe des Abgrunds. Reflexartig zog er Arme und Beine an den krampfenden Körper.

„Gnade, bitte, bitte, Gnade!“, flehte Christina wie aus weiter Ferne.

„Er gehört mir“, knurrte Coe, „und ich mache mit ihm, was mir gefällt.“

Als Brandon klar wurde, wo er sich befand, versuchte er, unauffällig weiter zum Rand zu kriechen. Schon wurde das verheißungsvolle Rauschen des Colorado lauter. Lieber in die Tiefe stürzen, als zu seinem alten Meister zurückzukehren! Alles war leichter zu ertragen als Coe. Brandons Hände fanden kaum Halt im Sand, er kroch, zog sich an scharfen Gräsern vorwärts, zerschnitt sich die Hände.

Dann kam Coe, und die Chance war vertan. Er packte zu und riss Brandon mit einer Gewalt an den Haaren vom Steilhang fort, die beinahe die Haut vom Schädel trennte. Brandon schrie verzweifelt. Der Tod, der schon seine freundlichen Arme nach ihm ausgestreckt hatte, rückte in weite Ferne. Ein Tritt in den Rücken stieß ihn weiter Richtung Jeep.

„Wag es nie wieder!“, brüllte Coe. „Ich habe dich erschaffen! Dein Leben gehört mir, mir ganz allein! Ich entscheide, wann und wie es endet!“

***

Julius

Ich schrie aus Leibeskräften. Meine Panik flutete durch die offenen Siegel in Ambers Körper, und sie schrie mit mir. In ihrer Verzweiflung riss sie an dem Schloss, das die Kette meines Sargs hielt, und schlug mit bloßen Händen darauf ein.

Fußgetrappel ertönte auf der Treppe. Vampire und Menschen stürmten in unsere Kammer. Ich schlug und trat gegen die Sargwände. Immer wieder brannte Brandons Hilferuf durch meinen Körper, zerrte an dem Gelübde.

„Er hat ihn, er hat ihn!“, brüllte ich. „Er darf ihn nicht bekommen!“

Curtis kam, endlich. „Julius, beruhige dich, verdammt!“

Ich war keines klaren Gedankens mehr fähig und tobte weiter.

Die Vampirin Ann riss Amber von meinem Sarg fort und hielt sie fest. Das durfte sie nicht! Ich stach mit Magie nach ihr. Ann schrie gepeinigt, riss im Taumel Ambers Tisch mit der halbfertigen Plastik um und brach zusammen.

Wütend schlug Curtis mit beiden Händen auf den Sarg. Mit dem Knall stieß er seine Magie in meinen Körper. „Still, habe ich gesagt!“

Ein Schmerz, schneidend wie Messer, dann erstarrten meine Glieder. Mein Geist war plötzlich taub, meine Gedanken schwammen langsam wie durch zähen Sirup.

„Kannst du mich hören, Julius?“

„Ja, Meister“, krächzte ich. Echte Worte von meinen Lippen. Amber weinte.

„Dann gehorche mir auch.“

„Ja, Meister, das will ich.“

Meine Welt geriet ins Wanken. Der Sarg bewegte sich! Steven und Ann trugen ihn. Curtis ging voran. Ich erriet, wohin man mich brachte: in die Räume des Meisters unter der alten Kinobühne. Dorthin, wo der Sarg normalerweise stand.

Unterdessen geschah etwas mit meiner Bindung zu Brandon. Sie schwand. Dichter Nebel kroch hinein und verstopfte sie. Ich hörte ihn nicht mehr, wurde taub für seine Angst, und dann vergaß ich gänzlich, was mich so in Aufregung versetzt hatte.

Vom nächsten Moment an zählte nur noch eines: Ich kam frei! Ich kam endlich frei!

An der Tür zu seinem Büro blieb Curtis stehen. „Amber, du musst hier warten, bis du eingelassen wirst. Es ist zu gefährlich für eine Sterbliche.“

„Nein, ich will dabei sein. Ich will bei ihm sein!“

„Amber, bitte, mach, was der Meister sagt. Ich will dir nicht wehtun“, sagte ich lautlos.

„Du würdest mir nie wehtun, Julius!“

„Doch, du weißt ja nicht, was aus mir geworden ist!“

Amber gab auf. Schluchzend lehnte sie sich gegen die Wand und rutschte zu Boden.

Sie trugen mich hinein und setzten den Sarg auf einem kleinen Podest ab. Mehr und mehr Vampire kamen. Erstaunt fühlte ich auch Lilianas Anwesenheit. Die Meisterin des Mereley-Clans war zu einer Beratung mit Curtis hergekommen und wollte nun offenbar bleiben, um zu helfen. Seit Jahrzehnten verband uns eine tiefe Freundschaft, und sie hatte mich während meiner Gefangenschaft mehrfach besucht.

Die Vorbereitungen für meine Freilassung kamen voran. Ich hörte leise Schritte, unterdrücktes Gemurmel, Curtis’ Befehl, die Fesseln zu bringen.

Ich würde endlich trinken können.

Frisches Blut! Der Gedanke an neue Lebenskraft ließ alles andere in den Schatten treten. Mein Unterleib krampfte, und die Welt war plötzlich blutroter Schmerz.

Lilianas kalte Energie rauschte in mein Gefängnis, doch ich wehrte mich. Sie durfte mich nicht betäuben! Ich wollte Freiheit, endlich Freiheit! Ich riss meine Schilde hoch und verbarg mich dahinter wie in einer Festung aus Glas. Es war dumm. Liliana wollte mir helfen, doch ich hatte alle Vernunft hinter mir gelassen.

„Julius!“ Das war Curtis. Es klang wie eine Drohung.

Ich riss mich augenblicklich zusammen. Er würde es fertigbringen und meine Freilassung im letzten Moment aufheben.

Also ließ ich meine Schutzschilde wieder fallen und erlaubte Liliana, nach meiner Seele zu greifen. Es tat überraschend gut. Sie vertrieb den Schmerz aus meinem Leib und machte die Messer des Dämons Hunger stumpf.

„Bleib ruhig“, flüsterte sie. „Ich bin bei dir, ich passe auf dich auf. Schließ die Augen.“

Ein Schlüssel klirrte. Kurz darauf wurden an den beiden Längsseiten des Sargs Fächer geöffnet. Ich krampfte die Augen zusammen. Das hereinfallende Kerzenlicht brannte wie tausend Sonnen.

Hände langten durch die Öffnungen und tasteten über meinen Körper. Die Berührungen waren nach all der Zeit ungewohnt. Ich konnte das Blut in ihren Adern dröhnen hören, aber Lilianas Magie zog mich von der Klippe fort und hielt mich davon ab, wie ein tollwütiger Hund zuzuschnappen.