Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Die vorliegende Broschüre sollte nach dem ursprünglichen Plan des Verfassers einer ausführlichen Entwicklung der Gedanken gewidmet sein, die im Artikel Womit beginnen? (Iskra Nr.4, Mai 1901) enthalten sind. Und wir müssen den Leser vor allem um Entschuldigung bitten, daß das dort gegebene (und in Beantwortung vieler privater Anfragen und Briefe wiederholte) Versprechen so spät eingelöst wird. Eine der Ursachen dieser Verspätung war der im Juni vergangenen Jahres (1901) unternommene Versuch zur Vereinigung aller sozialdemokratischen Auslandsorganisationen. Es war ganz natürlich, das Ergebnis dieses Versuchs abzuwarten, denn wäre er gelungen, so hätte man vielleicht die organisatorischen Ansichten der Iskra von einem etwas andern Gesichtspunkt aus darlegen müssen, und ein solches Gelingen hätte jedenfalls dem Bestehen zweier Strömungen in der russischen Sozialdemokratie sehr rasch ein Ende bereiten können. Wie dem Leser bekannt, endete der Versuch mit einem Mißerfolg und konnte auch, wie wir weiter unten nachweisen wollen, nicht anders enden, nachdem das Rabotscheje Delo in Nr.10 eine neue Schwenkung zum „Ökonomismus“ gemacht hatte. Es erwies sich als unbedingt notwendig, gegen diese verschwommene und wenig bestimmte, dafür aber um so zähere Richtung, die die Fähigkeit besitzt, in verschiedenartigen Formen wiederaufzuerstehen, einen entschiedenen Kampf aufzunehmen. Dementsprechend ist der ursprüngliche Plan der Broschüre abgeändert und ganz beträchtlich erweitert worden.

Ihr Hauptthema sollten die drei Fragen sein, die im Artikel Womit beginnen? aufgeworfen worden sind. Und zwar: die Fragen nach dem Charakter und dem Hauptinhalt unserer politischen Agitation, nach unseren organisatorischen Aufgaben, nach dem Plan für den gleichzeitig und von verschiedenen Seiten in Angriff zu nehmenden Aufbau einer kampffähigen gesamtrussischen Organisation. Bereits seit langem interessieren diese Fragen den Verfasser, der es schon einmal unternommen hatte, sie in der Rabotschaja Gaseta bei einem mißlungenen Versuch zur Wiederherausgabe dieser Zeitung aufzuwerfen (siehe Kapitel V). Aber unsere ursprüngliche Absicht, uns in der Broschüre auf eine Analyse allein dieser drei Fragen zu beschränken und unsere Anschauungen nach Möglichkeit in positiver Form darzulegen, ohne oder fast ohne polemisch zu werden, erwies sich aus zwei Gründen als völlig undurchführbar. Einerseits stellte es sich heraus, daß der „Ökonomismus“ viel zählebiger ist, als wie angenommen hatten (wie gebrauchen das Wort „Ökonomismus“ im weiten Sinne, wie es in Nr.12 der Iskra [Dezember 1901] im Artikel Eine Auseinandersetzung mit Verteidigern des Ökonomismus erläutert worden ist, wo sozusagen ein Konspekt der dem Leser hier vorgelegten Broschüre entworfen wurde). Es wurde klar, daß die verschiedenen Ansichten über die Losung dieser drei Fragen in weitaus höherem Maße aus dein grundlegenden Gegensatz zwischen den beiden Richtungen in der russischen Sozialdemokratie zu erklären sind als aus Meinungsverschiedenheiten in Einzelfragen. Anderseits hat das Unverständnis, das die „Ökonomisten“ angesichts der tatsächlichen Anwendung unserer Anschauungen in der Iskra an den Tag legen, klar gezeigt, daß wie oft buchstäblich verschiedene Sprachen sprechen, daß wie uns folglich nicht verständigen können, wenn wie nicht ab ovo beginnen, und daß es notwendig ist, den Versuch zu machen, eine möglichst populäre, durch sehr zahlreiche und konkrete Beispiele erläuterte, systematische „Auseinandersetzung“ mit allen „Ökonomisten“ über alle prinzipiellen Punkte unserer Meinungsverschiedenheiten herbeizuführen. Und so habe ich mich entschlossen, den Versuch einer solchen „Auseinandersetzung“ zu unternehmen, wobei ich mit vollkommen bewußt war, daß dies den Umfang der Broschüre stark erweitern und ihr Erscheinen verzögern wird, doch sah ich zugleich keine andere Mög1ichkeit, mein im Artikel Womit beginnen? gegebenes Versprechen einzulösen. Der Entschuldigung wegen der Verspätung muß ich also noch die Entschuldigung wegen der riesigen Mängel in der literarischen Bearbeitung der Broschüre hinzufügen: ich mußte in größter Hast arbeiten und wurde überdies durch alle möglichen anderen Arbeiten aufgehalten.

Die Analyse der drei obengenannten Fragen stellt nach wie vor das Hauptthema der Broschüre dar, doch mußte ich mit zwei allgemeineren Fragen beginnen: Warum ist eine so „harmlose“ und „natürliche“ Losung wie „Freiheit der Kritik“ für uns ein wahres Kampfsignal? Warum können wie uns nicht einmal über die Grundfrage, die Rolle der Sozialdemokratie hinsichtlich der spontanen Massenbewegung, verständigen? Ferner verwandelte sich die Darlegung der Auffassungen vom Charakter und Inhalt der politischen Agitation in eine Erläuterung des Unterschieds zwischen trade-unionistischer und sozialdemokratischer Politik und die Darlegung der Auffassungen von den organisatorischen Aufgaben in eine Erläuterung des Unterschieds zwischen der die „Ökonomisten“ befriedigenden Handwerklerei und der, unseres Erachtens, notwendigen Organisation der Revolutionäre. Ferner bestehe ich um so mehr auf dem „Plan“ einer gesamtrussischen politischen Zeitung, als die gegen diesen Plan erhobenen Einwände völlig unhaltbar waren und man mit auf die im Artikel Womit beginnen? gestellte Frage, wie wir den Aufbau der für uns notwendigen Organisation gleichzeitig von allen Seiten in Angriff nehmen könnten, Antworten gab, die am Wesen der Sache vorbeigehen. Endlich hoffe ich im Schlußteil der Broschüre nachzuweisen, daß wir alles, was von uns abhing, getan haben, um den entschiedenen Bruch mit den „Ökonomisten“ zu vermeiden, der sich jedoch als unvermeidlich erwiesen hat; daß das Rabotscheje Delo eine besondere, wenn man will „historische“, Bedeutung dadurch erlangt hat, daß es am vollkommensten, am prägnantesten nicht den konsequenten „Ökonomismus“, sondern jene Zerfahrenheit und jene Schwankungen zum Ausdruck gebracht hat, die zum Merkmal einer ganzen Periode in der Geschichte der russischen Sozialdemokratie geworden sind; daß darum auch die auf den ersten Blick allzu eingehende Polemik gegen das Rabotscheje Delo Bedeutung gewinnt, denn wie können nicht vorwärtsschreiten, wenn wie diese Periode nicht endgültig liquidieren.

Februar 1902
N. Lenin

a) Was heißt „Freiheit der Kritik“?

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„Freiheit der Kritik“ ist heutzutage entschieden das modernste Schlagwort, das in den Diskussionen zwischen den Sozialisten und den Demokraten aller Länder am häufigsten gebraucht wird. Auf den ersten Blick kann man sich kaum etwas Seltsameres vorstellen als diese feierlichen Berufungen einer der streitenden Parteien auf die Freiheit der Kritik. Sind denn wirklich aus der Mitte der fortschrittlichen Parteien Stimmen gegen das verfassungsmäßige Gesetz der meisten europäischen Länder laut geworden, das die Freiheit der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Forschung garantiert? „Da stimmt etwas nicht!“ – muß sich jeder Unbeteiligte sagen, der an allen Ecken und Enden das Modeschlagwort hört, aber in das Wesen der Meinungsverschiedenheiten zwischen den Streitenden noch nicht eingedrungen ist. „Dieses Schlagwort gehört offenbar zu jenen konventionellen Wörtchen, die sich wie Spitznamen durch den Gebrauch einbürgern und fast zu Gattungsnamen werden.“

In der Tat, es ist für niemand ein Geheimnis, daß in der heutigen internationalen [A] Sozialdemokratie zwei Richtungen entstanden sind, zwischen denen der Kampf bald entbrennt und in hellen Flammen auflodert, bald erlischt und unter der Asche eindrucksvoller „Waffenstillstands-Resolutionen“ weiterglimmt. Worin die „neue“ Richtung besteht, die dem „alten, dogmatischen“ Marxismus „kritisch“ gegenübersteht, das hat mit genügender Klarheit Bernstein gesagt und Millerand gezeigt.

Die Sozialdemokratie soll aus einer Partei der sozialen Revolution zu einer demokratischen Partei der sozialen Reformen werden. Diese politische Forderung hat Bernstein mit einer ganzen Batterie ziemlich gut aufeinander abgestimmter „neuer“ Argumente und Betrachtungen umgeben. Geleugnet wurde die Möglichkeit, den Sozialismus wissenschaftlich zu begründen und vom Standpunkt der materialistischen Geschichtsauffassung seine Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit zu beweisen; geleugnet wurde die zunehmende Verelendung, die Proletarisierung und die Zuspitzung der kapitalistischen Widersprüche; der Begriff „Endziel„ selbst wurde für unhaltbar erklärt und die Idee der Diktatur des Proletariats völlig verworfen; geleugnet wurde der prinzipielle Gegensatz von Liberalismus und Sozialismus; geleugnet wurde die Theorie des Klassenkampfes, die auf eine streng demokratische, nach dem Willen der Mehrheit regierte Gesellschaft angeblich unanwendbar sei, usw.

Somit wurde die Forderung nach einer entschiedenen Schwenkung von der revolutionären Sozialdemokratie zum bürgerlichen Sozialreformismus von einer nicht minder entschiedenen Schwenkung zur bürgerlichen Kritik an allen Grundideen des Marxismus begleitet. Da aber diese Kritik am Marxismus schon seit langem sowohl von der politischen Tribüne wie vom Katheder der Universität, sowohl in einer Unmenge von Broschüren wie, in einer Reihe gelehrter Abhandlungen betrieben wurde, da die ganze heranwachsende Jugend der gebildeten Klassen jahrzehntelang systematisch im Geiste dieser Kritik erzogen wurde, ist es nicht verwunderlich, daß die „neue kritische“ Richtung in der Sozialdemokratie mit einem Schlag als etwas völlig Fertiges hervortrat, so wie Minerva dem Haupte Jupiters entstieg. Ihrem Inhalt nach brauchte sich diese Richtung nicht zu entwickeln und herauszubilden: sie wurde direkt aus der bürgerlichen Literatur in die sozialistische übertragen.

Weiter. Wenn die theoretische Kritik Bernsteins und seine politischen Aspirationen noch für irgend jemand unklar geblieben waren, so sorgten die Franzosen für eine anschauliche Demonstration der „neuen Methode“. Frankreich erwies sich auch diesmal, getreu seinem alten Ruf, als „das Land, wo die geschichtlichen Klassenkämpfe mehr als anderswo jedesmal bis zur Entscheidung durchgefochten wurden“ (Engels in der Vorrede zu Marx’ Schrift Der achtzehnte Brumaire). Die französischen Sozialisten theoretisierten nicht, sondern handelten einfach; die in demokratischer Hinsicht höher entwickelten politischen Verhältnisse Frankreichs gestatteten ihnen, sofort zum „praktischen Bernsteinianertum“ mit allen seinen Konsequenzen überzugehen. Millerand hat ein ausgezeichnetes Beispiel dieses praktischen Bernsteinianertums geliefert – nicht umsonst waren sowohl Bernstein als auch Vollmar sofort dabei, Millerand so eifrig zu verteidigen und ihm Lob zu spenden! In der Tat: Wenn die Sozialdemokratie im Grunde genommen einfach eine Reformpartei ist und den Mut haben muß, dies offen zu bekennen, dann hat ein Sozialist nicht nur das Recht, sondern muß sogar stets danach streben, in ein bürgerliches Kabinett einzutreten. Wenn die Demokratie im Grunde genommen die Aufhebung der Klassenherrschaft bedeutet, warum sollte dann ein sozialistischer Minister nicht die ganze bürgerliche Welt mit Reden über Zusammenarbeit der Klassen entzücken? Warum sollte er nicht selbst dann noch in der Regierung bleiben, wenn die Niedermetzelung von Arbeitern durch Gendarmen zum hundertsten und tausendsten Male den wahren Charakter der demokratischen Klassenzusammenarbeit offenbart hat? Warum sollte er nicht persönlich an der Begrüßung des Zaren teilnehmen, den die französischen Sozialisten jetzt nur noch den Helden des Galgens, der Knute und der Verbannung (knouteur, pendeur et déportateur) nennen? Und als Entgelt für diese unsagbare Erniedrigung und Selbstbespeiung des Sozialismus vor der ganzen Welt, für die Korrumpierung des sozialistischen Bewußtseins der Arbeitermassen – das die einzige Grundlage ist, die uns den Sieg verbürgen kann –, als Entgelt dafür groß aufgemachte Projekte armseliger Reformen, armseliger noch als das, was unter bürgerlichen Regierungen schon errungen werden konnte!

Wer nicht absichtlich die Augen verschließt, der muß sehen, daß die neue „kritische“ Richtung im Sozialismus nichts anderes ist als eine neue Spielart des Opportunismus. Beurteilt man die Menschen nicht nach der glänzenden Uniform, die sie sich selber angelegt, nicht nach dem effektvollen Namen, den sie sich selber beigelegt haben, sondern danach, wie sie handeln und was sie in Wirklichkeit propagieren, so wird es klar, daß die „Freiheit der Kritik“ die Freiheit der opportunistischen Richtung in der Sozialdemokratie ist, die Freiheit, die Sozialdemokratie in eine demokratische Reformpartei zu verwandeln, die Freiheit, bürgerliche Ideen und bürgerliche Elemente in den Sozialismus hineinzutragen.

Freiheit ist ein großes Wort, aber unter dem Banner der Freiheit der Industrie wurden die räuberischsten Kriege geführt, unter dem Banner der Freiheit der Arbeit wurden die Werktätigen ausgeplündert. Dieselbe innere Verlogenheit steckt im heutigen Gebrauch des Wortes „Freiheit der Kritik“. Leute, die tatsächlich davon überzeugt sind, daß sie die Wissenschaft vorwärtsgebracht haben, würden nicht Freiheit für die neuen Auffassungen neben den alten fordern, sondern eine Ersetzung der alten durch die neuen. Das jetzt laut gewordene Geschrei „Es lebe die Freiheit der Kritik !“ erinnert allzusehr an die Fabel vom leeren Faß.

Wir schreiten als eng geschlossenes Häuflein, uns fest an den Händen haltend, auf steilem und mühevollem Wege dahin. Wir sind von allen Seiten von Feinden umgeben und müssen fast stets unter ihrem Feuer marschieren. Wir haben uns, nach frei gefaßtem Beschluß, eben zu dem Zweck zusammengetan, um gegen die Feinde zu kämpfen und nicht in den benachbarten Sumpf zu geraten, dessen Bewohner uns von Anfang an dafür schalten, daß wir uns zu einer besonderen Gruppe vereinigt und den Weg des Kampfes und nicht den der Versöhnung gewählt haben. Und nun beginnen einige von uns zu ruf en: Gehen wir in diesen Sumpf! Will man ihnen ins Gewissen reden, so erwidern sie: Was seid ihr doch für rückständige Leute! und ihr schämt euch nicht, uns das freie Recht abzusprechen, euch auf einen besseren Weg zu rufen! – O ja, meine Herren, ihr habt die Freiheit, nicht nun zu rufen, sondern auch zu gehen, wohin ihr wollt, selbst in den Sumpf; wir sind sogar der Meinung, daß euer wahrer Platz gerade im Sumpf ist, und wir sind bereit, euch nach Kräften bei eurer Übersiedlung dorthin zu helfen. Aber laßt unsere Hände los, klammert euch nicht an uns und besudelt nicht das große Wort Freiheit, denn wir haben ja ebenfalls die „Freiheit“, zu gehen, wohin wir wollen, die Freiheit, nicht nur gegen den Sumpf zu kämpfen, sondern auch gegen diejenigen, die sich dem Sumpfe zuwenden!



Fußnote von Lenin

A. Beiläufig bemerkt: In der Geschichte des modernen Sozialismus ist es wohl eine einzig dastehende und in ihrer Art außerordentlich tröstliche Erscheinung, daß der Streit der verschiedenen Richtungen innerhalb des Sozialismus zum erstenmal aus einem nationalen zu einem internationalen geworden ist. In früheren Zeiten blieb der Streit zwischen den Lassalleanern und Eisenachern, zwischen den Guesdisten und Possibilisten, zwischen den Fabiern und Sozialdemokraten, zwischen den Narodowolzen und den Sozialdemokraten auf rein nationalen Rahmen beschränkt, spiegelte rein nationale Besonderheiten wider, spielte sich sozusagen auf verschiedenen Ebenen ab. Heute (jetzt ist das bereits deutlich zu erkennen) bilden die englischen Fabier, die französischen Ministerialisten, die deutschen Bernsteinianer und die russischen Kritiker eine einzige Familie, sie alle loben einander, lernen voneinander und ziehen gemeinsam gegen den „dogmatischen“ Marxismus zu Felde. Vielleicht wird die internationale revolutionäre Sozialdemokratie in diesem ersten wirklich internationalen Ringen mit dem sozialistischen Opportunismus genügend erstarken, um der schon seit langem in Europa herrschenden politischen Reaktion ein Ende zu bereiten?

b) Die neuen Verteidiger der „Freiheit der Kritik“

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Eben diese Losung („Freiheit der Kritik“) wird in letzter Zeit vorn Rabotscheje Delo (Nr.10), dem Organ des „Auslandsbundes russischer Sozialdemokraten“ feierlich verkündet, und zwar nicht als theoretisches Postulat, sondern als politische Forderung, als Antwort auf die Frage: „Ist die Vereinigung der im Ausland wirkenden sozialdemokratischen Organisationen möglich?“ – „Für eine dauerhafte Vereinigung ist Freiheit der Kritik notwendig“ (S.36).

Aus dieser Erklärung ergeben sich zwei ganz bestimmte Schlußfolgerungen: 1. Das Rabotscheje Delo verteidigt die opportunistische Richtung in der internationalen Sozialdemokratie überhaupt; 2. das Rabotscheje Delo fordert die Freiheit des Opportunismus in der russischen Sozialdemokratie. Prüfen wir diese Schlußfolgerungen.

Dem Rabotscheje Delo mißfällt „insbesondere“ „die Neigung der Iskra und der Sarja, einen Bruch zwischen dem Berg und der Gironde in der internationalen Sozialdemokratie zu prophezeien“. [B]

„Überhaupt scheinst uns“, schreibt B. Kritschewski, der Redakteur des Rabotscheje Delo, „das Gerede vom Berg und von der Gironde in den Reihen der Sozialdemokratie eine oberflächliche historische Analogie zu sein, die sich bei einem Marxisten sehr merkwürdig ausnimmt: der Berg und die Gironde repräsentierten nicht verschiedene Temperamente oder geistige Strömungen, wie es den ideologischen Geschichtsschreibern scheinen mag, sondern verschiedene Klassen oder Schichten – die mittlere Bourgeoisie auf der einen und das Kleinbürgertum mit dem Proletariat auf der andern Seite. In der modernen sozialistischen Bewegung gibt es aber keinen Konflikt der Klasseninteressen, sie steht restlos in allen„ (hervorgehoben von B. Kr.) „ihren Spielarten, die ausgemachtesten Bernsteinianer mit inbegriffen, auf dem Boden der Klasseninteressen des Proletariats, seines Klassenkampfes für die politische und wirtschaftliche Befreiung.“ (S.32/33.)

Eine kühne Behauptung! Hat B. Kritschewski nichts von der längst festgestellten Tatsache gehört, daß gerade die starke Beteiligung der Schicht der „Akademiker“ an der sozialistischen Bewegung der letzten Jahre dem Bernsteinianertum eine so rasche Verbreitung gesichert hat? Und von allem – worauf gründet unser Verfassen seine Meinung, daß auch „die ausgemachtesten Bernsteinianer“ auf dem Boden des Klassenkampfes für die politische und wirtschaftliche Befreiung des Proletariats stehen? Das bleibt unbekannt. Diese entschiedene Verteidigung der ausgemachtesten Bersteinianer wird durch kein einziges Argument, keine einzige Erwägung gestützt. Der Verfasser glaubt anscheinend, daß seine Behauptung keiner Beweise bedürfe, wenn en das wiederholt, was die ausgemachtesten Bernsteinianer von sich selber sagen. Aber kann man sich etwas „Oberflächlicheres“ denken als dieses Urteil über eine ganze Richtung, das sich darauf gründet, was die Vertreter dieser Richtung von sich selber sagen? Kann man sich etwas Oberflächlicheres denken als die danach folgende „Moral“ von den zwei verschiedenen und sogar diametral entgegengesetzten Typen oder Wegen der Parteientwicklung (Rabotscheje Delo, S.34/35)? Die deutschen Sozialdemokraten, heißt es, erkennen die volle Freiheit der Kritik an, die Franzosen aber nicht, und gerade ihr Beispiel zeige die ganze „Schädlichkeit der Intoleranz“.

Gerade das Beispiel B. Kritschewskis, antworten wir darauf, zeigt, daß sich manchmal Leute Marxisten nennen, die die Geschichte buchstäblich „nach Ilowaiski“ auffassen. Um die Einheitlichkeit der deutschen und die Zersplitterung der französischen sozialistischen Partei zu erklären, brauche man gar nicht die Besonderheiten der Geschichte des einen und des anderen Landes zu erforschen, die Verhältnisse des militärischen Halbabsolutismus und des republikanischen Parlamentarismus einander gegenüberzustellen, die Folgen der Kommune und des Ausnahmegesetzes gegen die Sozialisten zu analysieren, das wirtschaftliche Leben und die wirtschaftliche Entwicklung zu vergleichen, sieh von Augen zu halten, wie „das beispiellose Anwachsen der deutschen Sozialdemokratie“ begleitet war von einer in der Geschichte des Sozialismus einzig dastehenden Energie im Kampf nicht nun gegen die theoretischen Verirrungen (Mülberger, Dühring [C], die Kathedersozialisten), sondern auch gegen die taktischen (Lassalle) usw. usf. All das sei überflüssig! Die Franzosen zanken sich, weil sie intolerant, die Deutschen sind einig, weil sie artige Knaben sind.

Man beachte, daß mit Hilfe dieses beispiellosen Tiefsinns eine Tatsache „bestritten“ wird, die die Verteidigung der Bernsteinianer völlig zunichte macht. Ob sie auf dem Boden des proletarischen Klassenkampfes stehen – diese Frage kann endgültig und unwiderruflich nun durch die historische Erfahrung entschieden wenden. Folglich hat in dieser Beziehung gerade das Beispiel Frankreichs die größte Bedeutung, da Frankreich das einzige Land ist, in dem die Bernsteinianer – unter stürmischem Beifall ihrer deutschen Kollegen (und zum Teil auch der russischen Opportunisten: vgl. Rabotscheje Delo Nr.2/3, S.83/84) – den Versuch gemacht haben, sich auf eigene Füße zu stellen. Die Berufung auf die „Intoleranz“ der Franzosen erweist sich – abgesehen von ihrer (im Nosdrjowschen Sinne) „geschichtlichen“ Bedeutung – einfach als Versuch, durch zornige Worte sehr unangenehme Tatsachen zu vertuschen.

Doch sind wir durchaus noch nicht gewillt, B. Kritschewski und den übrigen zahlreichen Verteidigern der „Freiheit der Kritik“ die Deutschen zu schenken. Wenn die „ausgemachtesten Bernsteinianer“ in den Reihen der deutschen Partei noch geduldet wenden können, so nun insofern, als sie sich sowohl der Hannoverschen Resolution fügen, die die „Zusatzanträge“ Bernsteins entschieden verworfen hat, als auch der Lübecker Resolution, die (ungeachtet allen Diplomatie) eine direkte Warnung an Bernstein enthält. Man mag vom Standpunkt der Interessen der deutschen Partei darüber streiten, inwieweit diese Diplomatie angebracht war, ob in diesem Fall ein magerer Vergleich besser ist als ein tüchtigen Streit; mit einem Wort, man mag in der Beurteilung der Zweckmäßigkeit dieser oder jener Art der Ablehnung des Bernsteinianertums verschiedener Meinung rein, doch darf die Tatsache nicht übersehen werden, daß die deutsche Partei das Bernsteinianertum zweimal abgelehnt hat. Darum heißt es absolut nicht begreifen, was von allen Augen von sich geht, wenn man glaubt, das Beispiel der Deutschen bestätige die These: „Die ausgemachtesten Bernsteinianer stehen auf dem Boden des Klassenkampfes des Proletariats für seine wirtschaftliche und politische Befreiung.“ [D]

Nicht genug damit. Das Rabotscheje Delo tritt, wie wir bereits bemerkt haben, von die russische Sozialdemokratie mit der Forderung nach „Freiheit der Kritik“ und mit einer Verteidigung des Bernsteinianertums. Offenbar hat es sich davon überzeugen müssen, daß man unsere „Kritiker“ und Bernsteinianer zu Unrecht gekränkt habe. Aber wen eigentlich? wer? wo? wann? worin bestand eigentlich diese Ungerechtigkeit? Darüber schweigt sich das Rabotscheje Delo aus, es erwähnt kein einziges Mal einen russischen Kritiker und Bernsteinianer! Es bleibt uns also nun eine von zwei möglichen Annahmen übrig. Entweder ist es niemand anders als das Rabotscheje Delo selbst, das zu Unrecht gekränkt worden ist (das wird dadurch bestätigt, daß in den beiden Artikeln der Nr.10 nun von Kränkungen die Rede ist, die die Sarja und die Iskra dem Rabotscheje Delo zugefügt hätten). Wie soll man dann aber die merkwürdige Tatsache erklären, daß das Rabotscheje Delo, das stets so hartnäckig in Abrede gestellt hat, mit dem Bernsteinianertum solidarisch zu rein, nichts zur eigenen Verteidigung vorzubringen vermochte, ohne für die „ausgemachtesten Bernsteinianer“ und für die Freiheit der Kritik ein Wort einzulegen? Oder es sind irgendwelche dritte Personen zu Unrecht gekränkt worden. Welches können dann die Gründe sein, über sie zu schweigen?

So sehen wir, daß das Rabotscheje Delo dasselbe Versteckspiel fortsetzt, das es (wie wir weiter unten zeigen werden) getrieben hat, solange es besteht. Und ferner beachte man diese erste tatsächliche Anwendung der gepriesenen „Freiheit der Kritik“. In Wirklichkeit reduzierte sich diese sofort nicht nur auf das Fehlen jeder Kritik, sondern auch auf das Fehlen jedes selbständigen Urteils überhaupt. Dasselbe Rabotscheje Delo, das das russische Bernsteinianertum (nach dem treffenden Ausdruck Starowers) wie eine heimliche Krankheit verschweigt, schlägt von, zur Heilung diesen Krankheit das letzte deutsche Rezept gegen die deutsche Abart der Krankheit ganz einfach abzuschreiben! Anstatt Freiheit der Kritik sklavische, ... schlimmer: äffische Nachahmung! Der gleiche soziale und politische Inhalt des heutigen internationalen Opportunismus äußert sich in diesen oder jenen Abarten entsprechend den nationalen Besonderheiten. In dem einen Lande trat die Gruppe der Opportunisten seit jeher unter einer besonderen Flagge auf, in dem anderen vernachlässigten die Opportunisten die Theorie und betrieben praktisch die Politik der Radikalsozialisten, in dem dritten sind einige Mitglieder der revolutionären Partei ins Lager des Opportunismus übergelaufen und sind bestrebt, nicht in offenem Kampf um die Prinzipien und um eine neue Taktik ihre Ziele zu erreichen, sondern durch eine allmähliche, unmerkliche und, wenn man so ragen darf, straflose Demoralisierung ihrer Partei; in dem vierten wenden ebensolche Überläufer die gleichen Methoden im Halbdunkel der politischen Sklaverei und bei einer völlig originellen Wechselbeziehung von „legaler“ und „illegaler“ Tätigkeit an usw. Von Freiheit der Kritik und des Bernsteinianertums als Vorbedingung für die Vereinigung der russischen Sozialdemokraten reden zu wollen und dabei nicht zu analysieren, worin gerade das russische Bernsteinianertum zutage getreten ist und welche besonderen Früchte er gezeitigt hat, das heißt dar Wort ergreifen, um nichts zu sagen.

Versuchen wir also selber, wenn auch nun in wenigen Worten, das zu sagen, was das Rabotscheje Delo nicht zu sagen wünschte (oder vielleicht nicht einmal zu begreifen vermochte).



Fußnoten von Lenin

B. Der Vergleich der beiden Strömungen im revolutionären Proletariat (der revolutionären und der opportunistischen) mit den beiden Strömungen in der revolutionären Bourgeoisie des 18. Jahrhunderts (der jakobinischen, dem „Berg“, und der girondistischen) ist im Leitartikel der Iskra Nr.2 (Februar 1901) angestellt worden. Der Verfasser dieses Artikels ist Plechanow. Bis zum heutigen Tage lieben es die Kadetten, die „Bessaglawzen“ und die Menschewiki, vom „Jakobinertum“ in der russischen Sozialdemokratie zu sprechen. Aber daß Plechanow zum erstenmal diesen Begriff gegen den rechten Flügel der Sozialdemokratie gebraucht hat, das wird heute lieber verschwiegen oder ... vergessen. (Anmerkung des Verfassers zur Ausgabe von 1907. Die Red.)

C. Als Engels gegen Dühring vom Leder zog, da neigten ziemlich viele Vertreter der deutschen Sozialdemokratie zu den Ansichten Dührings, und Engels wurde sogar öffentlich, auf dem Parteitag, mit Vorwürfen überschüttet, zu scharf, zu intolerant, zu unkameradschaftlich in der Polemik vorgegangen zu rein usw. Most und Genossen beantragten (auf dem Parteitag von 1877), die Veröffentlichung der Engelsschen Artikel im Vorwärts einzustellen, da sie „für die weitaus größte Mehrheit der Leser ... völlig ohne Interesse... sind“. Vahlteich erklärte, daß die Aufnahme dieser Artikel der Partei großen Schaden bringe, daß auch Dühring der Sozialdemokratie viel genützt habe: „Wir haben alle im Interesse der Partei zu benützen, aber wenn sich die Professoren streiten, ist der Vorwärts nicht das Forum, von dem dieser Streit ausgefochten werden darf“ (Vorwärts Nr.65 vom 6. Juni 1877). Man sieht, auch das ist ein Beispiel, wie die „Freiheit der Kritik“ verteidigt wird, und es würde nichts schaden, wenn unsere legalen Kritiker und illegalen Opportunisten, die sich so gern auf die Deutschen berufen, über dieses Beispiel nachdenken wollten!

D. Es muß bemerkt werden, daß sich das Rabotscheje Delo in der Frage des Bernsteinianertums in der deutschen Partei stets auf die nackte Wiedergabe von Tatsachen beschränkt und jedem eigenen Beurteilung völlig „enthalten“ hat. Siehe z.B. Nr.2/3, S.66: über den Stuttgarter Parteitag; alle Meinungsverschiedenheiten werden auf die „Taktik“ reduziert, und es wird lediglich festgestellt, daß die übergroße Mehrheit der alten revolutionären Taktik treu geblieben ist. Oder Nr.4/5, S.25ff.: eine einfache Wiedergabe der Reden auf dem Hannoverschen Parteitag mit Anführung der Resolution Bebels; die Darstellung und die Kritik der Ansichten Bernsteins werden wiederum (wie in Nr.2/3) einem „besondern Artikel“ vorbehalten. Kurios ist es daß wir auf S.33 der Nr.4/5 lesen: die von Bebel dargelegten Ansichten haben die übergroße Mehrheit des Parteitages hinter sich“, und etwas weiter unten: David verteidigte die Ansichten Bernsteins ... Von allem bemühte en sich nachzuweisen, daß ... Bernstein und seine Freunde immerhin (sic!) auf dem Boden des Klassenkampfes stehen ...“ So schrieb man im Dezember 1899, im September 1901 aber scheint das Rabotscheje Delo nicht mehr zu glauben, daß Bebel recht hat, und wiederholt die Ansichten Davids als seine eigenen!

c) Die Kritik in Rußland

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Die wichtigste Besonderheit Rußlands in der Frage, die hier zu behandeln ist, besteht dann, daß schon der eigentliche Beginn der spontanen Arbeiterbewegung einerseits und der Wendung der fortgeschrittenen öffentlichen Meinung zum Marxismus anderseits gekennzeichnet war durch eine Vereinigung offenkundig heterogenen Elemente unten gemeinsamen Flagge und zum Kampf gegen den gemeinsamen Gegner (die veraltete soziale und politische Weltanschauung). Wir sprechen vom Honigmond des „legalen Marxismus“. Das war überhaupt eine außerordentlich originelle Erscheinung, die in den achtziger oder zu Beginn der neunziger Jahre niemand auch nun für möglich gehalten hätte. In einem absolutistischen Lande, wo die Presse völlig versklavt ist, in der Epoche einer wüsten politischen Reaktion, die die geringsten Anzeichen von politischer Unzufriedenheit oder Protest verfolgt, bricht sich plötzlich in der unter Zensur stehenden Literatur die Theorie des revolutionären Marxismus Bahn, dargelegt in einer äsopischen, aber für alle „Interessierten“ verständlichen Sprache. Die Regierung war gewohnt, nun die Theorie des (revolutionären) Narodowolzentums als gefährlich anzusehen, ohne, wie üblich, ihre innere Evolution zu bemerken, und freute sich über jede gegen diese Theorie gerichtete Kritik. Bis die Regierung dahinterkam, bis die schwerfällige Armee der Zensoren und Gendarmen den neuen Feind ausfindig machte und über ihn herfiel, verging (mit unserem russischen Maß gemessen) recht viel Zeit. In dieser Zeit aber erschien ein marxistisches Buch nach dem andern, marxistische Zeitschriften und Zeitungen wurden gegründet, jeder wurde Marxist, den Marxisten wurde geschmeichelt, der Hof gemacht, die Verleger waren über den außergewöhnlich guten Absatz marxistischer Bücher entzückt. Es ist durchaus begreiflich, daß unter den Marxisten, die in diesem Taumel ihre ersten Schritte taten, mehr als ein „Schriftsteller überheblich wurde“ ...

Heute kann von dieser Zeit ganz ruhig wie von etwas Vergangenem gesprochen werden. Es ist für niemand ein Geheimnis, daß die kurze Blüte des Marxismus an der Oberfläche unserer Literatur durch das Bündnis extrem-radikaler mit sehr gemäßigten Leuten hervorgerufen wunde. Im Grunde genommen waren die Letztgenannten bürgerliche Demokraten, und dieser Schluß (der durch ihre weitere „kritische“ Entwicklung offenkundig bestätigt worden ist, drängte sich manch einem schon zu einer Zeit auf, als das „Bündnis“ noch intakt war. [E]

Wenn dem aber so ist, fällt dann nicht die größte Verantwortung für die spätere „Verwirrung“ gerade auf die revolutionären Sozialdemokraten, die dieses Bündnis mit den zukünftigen „Kritikern“ eingingen? Diese Frage und die bejahende Antwort darauf bekommt man manchmal von Leuten zu hören, die die Sache allzu gradlinig betrachten. Doch haben diese Leute absolut unrecht. Nur wer zu sich selbst kein Vertrauen hat, kann sich von vorübergehenden Bündnissen, und sei es auch mit unzuverlässigen Leuten, fürchten, und keine einzige politische Partei könnte ohne solche Bündnisse existieren. Das Zusammengehen mit den legalen Marxisten war in seiner Art das erste wirklich politische Bündnis der russischen Sozialdemokratie. Dank diesem Bündnis ist ein erstaunlich raschen Sieg über die Volkstümlenrichtung und eine außerordentlich weite Verbreitung der Ideen des Marxismus (wenn auch in vulgarisierter Form) erzielt worden. Dabei war das Bündnis nicht ganz ohne „Bedingungen“ abgeschlossen worden. Ein Beweis dafür ist der im Jahre 1895 von der Zensur verbrannte marxistische Sammelband Materialien zur Frage der wirtschaftlichen Entwicklung Rußlands. Wenn das literarische Übereinkommen mit den legalen Marxisten mit einem politischen Bündnis verglichen werden kann, so kann dieses Buch mit einem politischen Vertrag verglichen werden.

Der Bruch ist natürlich nicht dadurch hervorgerufen worden, daß sich die „Bundesgenossen“ als bürgerliche Demokraten entpuppten. Im Gegenteil, die Repräsentanten dieser letzten Richtung sind die natürlichen und willkommenen Bundesgenossen der Sozialdemokratie, soweit er sich um die demokratischen Aufgaben der Sozialdemokratie handelt, die durch die gegenwärtige Lage Rußlands in den Vordergrund gerückt werden. Die notwendige Voraussetzung eines solchen Bündnisses ist aber, daß die Sozialisten die volle Möglichkeit haben, von dem Proletariat den feindlichen Gegensatz seiner Interessen zu den Interessen der Bourgeoisie zu enthüllen. Das Bernsteinianertum aber und die „kritische“ Richtung, zu der sich die Mehrheit der legalen Marxisten samt und sonders bekehrt hatte, machten diese Möglichkeit zunichte und demoralisierten das sozialistische Bewußtsein, indem sie den Marxismus vulgarisierten, die Theorie der Abstumpfung der sozialen Gegensätze predigten, die Idee der sozialen Revolution und der Diktaten des Proletariats für ein Unding erklärten, die Arbeiterbewegung und den Klassenkampf auf engen Trade-Unionismus und „realistischen“ Kampf um kleine, allmähliche Reformen beschränkten. Das war völlig gleichbedeutend mit der Haltung der bürgerlichen Demokratie, die das Recht des Sozialismus auf Selbständigkeit und folglich auch seine Existenzberechtigung verneint; das bedeutete in der Praxis das Bestreben, die aufkommende Arbeiterbewegung in ein Anhangsei der Liberalen zu verwandeln.

Natürlich war unten diesen Umständen der Bruch notwendig. Aber die „originelle“ Besonderheit Rußlands kam dann zum Ausdruck, daß dieser Bruch einfach die Entfernung der Sozialdemokraten aus der allen am besten zugänglichen und weitverbreiteten „legalen“ Literatur bedeutete. In ihn setzten sich „ehemalige Marxisten“ fest, die „im Zeichen der Kritik“ auftraten und fast ein Monopol darauf erhielten, den Marxismus „herunterzureißen“. Die Rufe „Gegen die Orthodoxie!“ und „Es lebe die Freiheit der Kritik!“ (die das Rabotscheje Delo jetzt wiederholt) wurden auf einmal Modewörter, und wie wenig selbst die Zensoren und Gendarmen dieser Mode widerstehen konnten, geht daraus hervor, daß das Buch des berühmten (herostratisch berühmten) Bernstein in drei russischen Ausgaben erschienen ist oder daß Subatow die Bücher Bernsteins, des Herrn Prokopowitsch u.a. empfohlen hat (Iskra Nr.10). Den Sozialdemokraten fiel nun die an sich schon schwierige und durch rein äußere Hindernisse noch unglaublich erschwerte Aufgabe zu, gegen die neue Richtung zu kämpfen. Diese Richtung aber beschränkte sich nicht auf das Gebiet der Literatur. Die Wendung zur „Kritik“ traf sich hierbei mit der Neigung der sozialdemokratischen Praktiker zum „Ökonomismus“.

Wie die Verbindung und die gegenseitige Abhängigkeit zwischen der legalen Kritik und dem illegalen „Ökonomismus“ entstanden und sich entwickelten, diese interessante Frage könnte Gegenstand eines besonderen Artikels rein. Uns genügt es hier, das unzweifelhafte Bestehen dieser Verbindung festzustellen. Das berüchtigte Credo hat eben darum eine so verdiente Berühmtheit erlangt, weil es diese Verbindung offen formuliert und die politische Grundtendenz des „Ökonomismus“ ausgeplaudert hat: die Arbeiter sollen den ökonomischen Kampf (genauer müßte man sagen: den trade-unionistischen Kampf, denn dieser umfaßt auch die spezifische Arbeiterpolitik) führen, die marxistische Intelligenz aber soll sich mit den Liberalen zum politischen „Kampf“ verschmelzen. Die trade-unionistische Arbeit „im Volk“ sollte die Verwirklichung der ersten, die legale Kritik die der zweiten Hälfte dieser Aufgabe rein. Diese Erklärung war eine so ausgezeichnete Waffe gegen den „Ökonomismus“ , daß man, gäbe es nicht das Credo, dieses hätte erfinden müssen.

Dar Credo war nicht erfunden, aber es wurde ohne und vielleicht sogar gegen den Willen seiner Verfasser veröffentlicht. Wenigstens hat der Schreiber dieser Zeilen, der sich daran beteiligte, das neue „Programm“ [F] ans Tageslicht zu bringen, Vorwürfe und Klagen darüber hören müssen, daß man das von den Rednern entworfene Resümee ihren Ansichten in Abschriften verbreitet, ihm das Etikett Credo angehängt und es sogar mitsamt dem Protest in der Presse veröffentlicht hat! Wir erwähnen diese Episode, denn sie deckt einen sehr interessanten Zug unseres „Ökonomismus“ auf: die Angst von der Publizität. Das ist eben ein Merkmal des „Ökonomismus“ überhaupt, und nicht allein der Verfasser des Credo: diese Angst zeigten sowohl die Rabotschaja Mysl, die aufrichtigste und ehrlichste Anhängerin des „Ökonomismus“, als auch das Rabotscheje Delo (das sich über die Veröffentlichung der „ökonomistischen“ Dokumente im Vademecum empört) und das Kiewer Komitee, das von zwei Jahren seine Einwilligung zur Veröffentlichung seiner „Profession de foi“ samt einer dazu geschriebenen Widerlegung verweigerte [G], und viele, viele einzelne Vertreter des „Ökonomismus“.

Diese Furcht vor Kritik, die Anhänger der freien Kritik bekunden, kann nicht allein als List erklärt werden (obgleich er zweifellos dann und wann nicht ohne List abgeht: es wäre unvernünftig, die noch schwachen Keime einer neuen Richtung dem Ansturm der Gegner auszusetzen!). Nein, der größte Teil der „Ökonomisten“ blickt mit ehrlichem Widerwillen (und dem Wesen des „Ökonomismus“ nach müssen sie das tun) auf alle theoretischen Streitigkeiten, fraktionellen Meinungsverschiedenheiten, großen politischen Fragen, Pläne zur Organisierung der Revolutionäre usw. „Man sollte das alles dem Ausland überlassen!“ sagte einst ein ziemlich konsequenter „Ökonomist“ zu mm, und er sprach damit eine sehr verbreitete (und wiederum rein trade-unionistische) Ansicht aus; unsere Sache ist die Arbeiterbewegung, sind die Arbeiterorganisationen hier, an dem Ort, wo wir leben, alles übrige sind Hirngespinste von Doktrinären, ist eine „Überschätzung der Ideologie“, wie sich die Verfassen des Briefes in Nr.12 der Iskra im Einklang mit Nr.10 des Rabotscheje Delo ausdrückten.

Nun fragt es sich: Worin mußte, angesichts dieser Besonderheiten der russischen „Kritik“ und des russischen Bernsteinianertums, die Aufgabe derjenigen bestehen, die in der Tat und nicht nur in Worten Gegner des Opportunismus sein wollten? Erstens hätte man für die Wiederaufnahme der theoretischen Arbeit sorgen müssen, die mit der Epoche des legalen Marxismus kaum erst begonnen hatte und die jetzt wieder den illegalen Genossen zufiel; ohne eine solche Arbeit war eine erfolgreiche Entwicklung der Bewegung unmöglich. Zweitens hätte man den aktiven Kampf gegen die legale „Kritik“ aufnehmen müssen, die eine tiefgreifende Demoralisierung in die Köpfe hineingetragen hatte. Drittens hatte man aktiv gegen die Zerfahrenheit und die Schwankungen in der praktischen Bewegung auftreten müssen, wobei alle Versuche, bewußt oder unbewußt unser Programm und unsere Taktik zu degradieren, entlarvt und widerlegt wenden maßten.

Daß das Rabotscheje Delo weder das eine noch das andere oder das dritte getan hat, ist bekannt, und weiter unten werden wir diese bekannte Tatsache von den verschiedensten Seiten eingehend klarlegen müssen. Jetzt aber wollen wir nur zeigen, in welch schreiendem Widerspruch zu den Besonderheiten unserer russischen Kritik und des russischen „Ökonomismus“ die Forderung nach „Freiheit der Kritik“ steht. In der Tat, man sehe sich die Resolution im Wortlaut an, mit der der „Auslandsbund russischer Sozialdemokraten“ den Standpunkt des Rabotscheje Delo gebilligt hat:

Im Interesse einer weiteren ideologischen Entwicklung der Sozialdemokratie betrachten wir die Freiheit der Kritik an der sozialdemokratischen Theorie in der Parteiliteratur als unbedingt notwendig, soweit die Kritik dem revolutionären und Klassencharakter dieser Theorie nicht zuwiderläuft. (Zwei Konferenzen, S.10.)

Und die Motivierung: Die Resolution „stimmt in ihrem ersten Teil mit der Resolution des Lübecker Parteitages betreffs Bernstein überein ...“ In ihrer Einfalt merken die „Bundesgenossen“ nicht, welch testimonium paupertatis (Armutszeugnis) sie sich mit diesem Kopieren ausstellen! ... „aber ... in zweiten Teil beschränkt sie die Freiheit der Kritik auf engere Grenzen, als es der Lübecker Parteitag getan hat“.

Die Resolution des „Auslandsbundes“ ist also gegen die russischen Bernsteinianer gerichtet? Sonst wäre es ein absoluter Nonsens, sich auf Lübeck zu berufen! Es ist aber nicht wahr, daß sie „die Freiheit der Kritik auf enge Grenzen beschränkt“. Die Deutschen haben durch ihre Hannoversche Resolution gerade diejenigen Abänderungen, die Bernstein einbrachte, Punkt für Punkt abgelehnt, und in der Lübecker Resolution haben sie Bernstein persönlich verwarnt, indem sie in der Resolution seiner Namen nannten. Unsere „freien“ Nachahmer hingegen erwähnen mit keinem Wort auch nur eine einzige Erscheinung der speziell russischen „Kritik“ und des russischen „Ökonomismus“ bei diesem Verschweigen läßt der bloße Hinweis auf den revolutionären und Klassencharakter der Theorie weitaus mehr Spielraum für falsche Auslegungen, besonders wenn der „Auslandsbund“ es ablehnt, den „sogenannten Ökonomismus“ zum Opportunismus zu rechnen (Zwei Konferenzen, S.8, Punkt I). Das aber nun nebenbei. Die Hauptsache jedoch ist, daß die Positionen der Opportunisten in ihrem Verhältnis zu den revolutionären Sozialdemokraten in Deutschland und in Rußland diametral entgegengesetzt sind. In Deutschland sind bekanntlich die revolutionären Sozialdemokraten für die Aufrechterhaltung dessen, was ist: für das alte Programm und für die Taktik, die alle kennen und die durch die Erfahrung vielen Jahrzehnte in allen Einzelheiten erhellt worden ist. Die „Kritiker“ aber wollen Änderungen vornehmen, und da diese Kritiker nur eine verschwindende Minderheit sind und ihre revisionistischen Bestrebungen sehn schüchtern hervortreten, so kann man die Beweggründe verstehen, die die Mehrheit veranlassen, sich auf eine kühle Ablehnung der „Neuerungen“ zu beschränken. Bei uns in Rußland hingegen sind es die Kritiker und „Ökonomisten“, die für die Aufrechterhaltung dessen eintreten, was ist: die „Kritiker“ wollen, daß man sie auch weiterhin als Marxisten betrachte und ihnen die „Freiheit der Kritik“ gewähre, von der sie in jeder Weise Gebrauch machten (denn irgendeine Partei bindung haben sie eigentlich nie anerkannt [H]Rabotscheje DeloBriefIskraSonderbeilage zur Rabotschaja MyslIskra