Kaiser, Joachim Vieles ist auf Erden zu thun

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Neuauflage einer früheren Ausgabe

Der Piper Verlag dankt folgenden Rechteinhabern für die freundliche Genehmigung zum Abdruck von Texten: Argon Verlag, Europa Verlag, Fischer Verlag, Rowohlt Verlag, Scherz Verlag, Suhrkamp Verlag, Intercontinental Literary Agency, Niedeck Linder AG, Eugen Roth Erben. Für die Nachweise wird auf den Anhang des Buches verwiesen.

 

ISBN 978-3-492-97737-1

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© der deutschsprachigen Ausgabe Piper Verlag GmbH, München 1991

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: SZ Photo / Regina Schmeken / Bridgeman Images

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Darf man mit Toten reden?

Darf man Sätze, die von verehrungswürdigen Toten in längst verjährten Zusammenhängen geäußert wurden, als Nachgeborener nun so einfach zu Bestandteilen »Imaginärer Gespräche« machen? Ist es statthaft, was einst in Gesprächen gesagt, in Dichtungen oder Essays niedergeschrieben, in Privatbriefen Partnern anvertraut wurde, aus den alten Bezügen herauszubrechen und in neue – imaginäre – hineinzufügen? Diese Fragen muß gewiß ernst nehmen, wer Tote ins Gespräch zieht.

Oder wären die Toten, ihre Worte und Werke, vielleicht gar nicht tot – sondern überwältigend lebendig, anschaulich, erheiternd, berührend, erwägenswert – wenn man sie aus dem Grab ihrer Gesamt-Ausgaben und Biographien holt und in einen Dialog verwickelt?

Hat beispielsweise Christian Morgenstern den menschenfreundlichen und karikaturfeindlichen Aphorismus »Eine Karikatur ist immer bloß einen Augenblick wahr« wirklich nur an irgendeinem Augusttag des Jahres 1913, während eines Kuraufenthaltes in Arosa, als er zahlreiche Sentenzen solcher Art zur Veröffentlichung zu bündeln versuchte, ernst gemeint – oder gilt dieser Aphorismus heute noch? Könnte er nicht zutreffend geblieben sein über den Moment seiner Fixierung hinaus?

Eine ziemlich banale Suggestiv-Frage. Einerseits: Auch wenn man einräumt, daß besagter Aphorismus aus einer ganz spezifischen Gestimmtheit kam, wird die Feststellung in anderem Zusammenhang doch nicht plötzlich falsch. Gewiß: Vielleicht hatte Morgenstern sich über die Leichtigkeit und Leichtfertigkeit, mit der flotte Spötter ihnen Unzugängliches zu karikieren vermögen, gerade besonders geärgert bei seinem inständigen und vergeblichen Bemühen, kaltschnäuzigen Berliner Intellektuellen Rudolf Steiners Mysterien nahezubringen. Vielleicht hätte sich Morgenstern ein paar Jahre früher – etwa nach seiner brillanten parodistischen Karikierung, die er, der treffliche Parodist, Walt Whitmans Weltumarmungspathos bereitet hatte – auch ein wenig freundlicher über Parodien und Karikaturen geäußert. Derartige Sentenzen sind zweifellos an einen Moment, an eine kluge Aufwallung, eine Lebenssituation und Zeitstimmung gebunden. Als Morgenstern den Aphorismus »Eine Karikatur ist immer bloß einen Augenblick wahr« im Jahre 1913 ersann oder aus seinen Notizen herausfischte, da wußte man vom Weltkrieg, der ein Jahr später ausbrechen (und alles, die Menschen, ihr Fühlen, ihr Denken, radikal ändern) würde, nichts. Der Aphorismus war mithin historisch an eine Situation und einen Erfahrungsbestand gebunden, als Morgenstern ihn fixierte.

Dies das eine, banal Selbstverständliche.

Andererseits, genauso banal und selbstverständlich: Des Dichters Morgenstern Sätze sind, anders als Karikaturen, eben nicht immer »bloß einen Augenblick wahr«. Er sagte sie nicht nur – er sagt sie (uns) immer noch. Wären Morgensterns Worte allein zu ihrer Zeit, für ihre Zeit, belangvoll und stimmig gewesen, dann stellten sie heutzutage nichts anderes dar als »Stoff« für Forscher, Historiker, Germanisten. Dann wären sie für alle Nicht-Dis sertanten, Nicht-Literarhistoriker mausetot, erledigt, abgetan.

Doch davon kann – diese »Imaginären Gespräche« wollen es demonstrieren – keine Rede sein! Was bedeutende Frauen und Männer vergangener Jahre oder Jahrhunderte einst geschrieben, gereimt, gesagt haben: es ist quicklebendig für uns. Man muß sie nur zu fragen wagen.

Ein Spiel. Nichts weniger. Hat man sich dazu entschlossen, dann fangen die Schwierigkeiten, auch die Entzückungen, überhaupt erst an. Zu den Regeln gehört, daß solche Gespräche niemals und nie enthüllenden, beschämenden, blamierenden Charakter annehmen dürfen. Immer sollte die Antwort origineller, klüger; reicher sein ah die Frage! Denn nichts wäre ja leichter als besserwisserische, schadenfrohe Manipulation. Jeder halbwegs geschickte Dummkopf könnte einen Goethe blamieren mit boshaft gegeneinander ausgespielten Zitaten, gehässig arrangiertem »Authentischem«. Ich habe mich bemüht, den Gesprächspartnern stets nicht nur das letzte, sondern auch das bessere Wort zu lassen. Falls sie schimpfen, sich (es kommt nicht oft vor) polemisch verrennen – wie es de Sade oder auch Clara Schumann manchmal tun – dann sollte im Zorn doch zumindest die Originalität, die Unangepaßtheit, die vitale Frische deutlich werden.

Um Hunderte von Aussagen, Meinungen, Berichten in eine lebendige Gesprächsordnung zu bringen, war mehr nötig als nur geduldiges Hin- und Her-Lesen. Manchmal – für mich die glücklichsten Augenblicke, und ich wünschte, die »Imaginären Gespräche«, wie sie hier gesammelt sind, ließen es spüren – hatte ich mich so in die Partner hineingelesen, daß ich sie lebendig denken, argumentieren, persönlich-charakteristisch reagieren zu fühlen vermeinte. Wunderbar nah schien mir plötzlich zum Beispiel Matthias Claudius, dessen Herzlichkeit, Weisheit und grandiose Ehrlichkeit dem Tode gegenüber jeden Späteren tief bewegen müßte. Daß man in Weimar über die »völlige Null« Claudius lächelte, mag historische Gründe haben. Doch wem diese Weimarer Süffisanz den Dichter Matthias Claudius verstellt, der bringt sich um so manches, was nie einfacher, herzbewegender gesagt wurde in deutscher Sprache. Und journalistisch heiter dazu. Denn neben allem anderen war Claudius auch ein genialer Journalist …

Bei de Sade imponieren herostratischer Mut, belesener Scharfsinn und geschickte Argumentation, die alle privaten Exzesse schwer widerlegbar verteidigt mit dem vergleichsweise kleinen Schaden, den sie der Öffentlichkeit zufügen. Je selbstverständlicher und flüssiger sich die Gespräche lesen, desto mehr Arbeit steckt weniger in der Antwort-Suche als vielmehr in der Fragen-Strategie. Denn im Gegensatz zu Oscar Wildes Trost: »Fragen sind nie indiskret – Antworten zuweilen«, standen ja hier die Antworten am Anfang; die Fragen traten vorsichtig hinzu mit dem Ziel, gleichwohl als Anfang zu wirken … Und noch eines: Jedesmal galt es, mit einer gewissen Befangenheitsscheu fertig zu werden. Sie war am größten bei Beethoven, der hier weniger Antworten gibt als erhaben-grimmige Monologe äußert.

Falls diese »Imaginären Gespräche« auch nur ein wenig von der Lebendigkeit und Kraft aller jener Menschen vermitteln könnten, mit denen sie geführt wurden, dann hätte es gelohnt, die Befangenheitsscheu zu überwinden, die Nachgeborenen bei einer solchen Geisterbeschwörung wohl ansteht.

München, im Februar 1991

Joachim Kaiser

Die hier mitgeteilten »Imaginären Gespräche« wurden – oft erheblich gekürzt – zuerst in der »Magazin«-Beilage der Süddeutschen Zeitung publiziert.

Skeptische Leser, die es für unmöglich halten, daß alle die Sätze, die hier von großen Toten vorgebracht werden, tatsächlich so überliefert sind, haben das Recht auf eine lückenlose Quellen-Dokumentation. Um die Gesprächstexte selber nicht mit allzuviel Zitier-Philologie zu belasten, wurde diese Dokumentation in den Anhang verbannt. Da wird der Reihe nach die Fundstelle für jede Antwort mitgeteilt, deren Anfangs-Worte zitiert und aufgeschlüsselt werden. Sollte sich aber eine Antwort, was häufig der Fall ist, aus mehreren Zitaten zusammensetzen, dann stehen vor dem Neu-Einsatz drei Punkte in Klammern. Die darauf folgenden Worte sind also aus einem weiteren Zitat, dessen Quelle oder Fundstelle die Anmerkung wiederum mit den Anfangsworten angibt. Geringfügige grammatische Umstellungen nahm ich stillschweigend vor.

»Es ist so bequem, unmündig zu sein.«

Imaginäres Gespräch mit Immanuel Kant

Immanuel Kant (* 1724 in Königsberg, †1804 in Königsberg)


Joachim Kaiser (JK): Ihre Bewunderer und Schüler, die Ihnen, Ihrem Scharfsinn und Ihrer Unerschrockenheit unendlich verpflichtet sind, haben Ihre vollkommene Lauterkeit gepriesen. »Wohl keinem Philosophen nach Kant können wir in dem Maße glauben wie ihm. In seiner einfachen Größe waltet Ruhe und Maß«, schwärmte Ihr Bewunderer Karl Jaspers. Sie machten Königsberg zum Zentrum der philosophischen Welt. Warum haben Sie eigentlich nicht geheiratet?

Immanuel Kant (IK): Das Weib wird durch die Ehe frei; der Mann verliert dadurch seine Freiheit (…) Die Frau will herrschen, der Mann beherrscht sein (vornehmlich vor der Ehe). Daher die Galanterie der alten Ritterschaft. – Sie setzt früh in sich selbst Zuversicht, zu gefallen. Der Jüngling besorgt immer zu mißfallen und ist daher in Gesellschaft der Damen verlegen (geniert).

JK: Sie sind offenbar nicht grundsätzlich gegen die Ehe, die Sie unsentimental und kühl als »Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften« definierten.

IK: Wer liebt, kann dabei doch wohl noch sehend bleiben; der sich aber verliebt, wird gegen den Fehler des geliebten Gegenstandes unvermeidlich blind; wiewohl der letztere acht Tage nach der Hochzeit sein Gesicht (seine Sehkraft) wieder zu erlangen pflegt.

JK: Und daß die beiden Ehepartner sich zusammenfinden, »zusammenraufen«, gegenseitig erziehen …

IK: Die moralischen Eigenschaften an einem, vornehmlich jungen, Manne vor der Ehelichung desselben auszuspähen, ist nie die Sache einer Frau. Sie glaubt ihn bessern zu können; eine vernünftige Frau, sagt sie, kann einen verunarteten Mann schon zurechte bringen; in welchem Urteile sie mehrenteils sich auf die kläglichste Art betrogen findet. Dahin gehört auch die Meinung jener Treuherzigen: daß die Ausschweifungen dieses Menschen vor der Ehe übersehen werden können, weil er nun an seiner Frau, wenn er sich nur noch nicht erschöpft hat, hinreichend für diesen Instinkt versorgt sein werde. – Die guten Kinder bedenken nicht: daß die Lüderlichkeit in diesem Fache gerade im Wechsel des Genusses besteht, und das Einerlei in der Ehe ihn bald zur obigen Lebensart zurückführen werde. Die Folge davon ist, wie in Voltairens Reise des Scarmentado: »Endlich, sagt er, reisete ich in mein Vaterland Candia zurück, nahm daselbst ein Weib, wurde bald Hahnrei: und fand, daß dies die gemächlichste Lebensart unter allen sei.«

JK: Voltaires Mischung aus Ironie und Zynismus klingt sehr literarisch und französisch. Ein seriöser deutscher Gelehrter aber …

IK: Gelehrte lassen sich in Ansehung der häuslichen Anordnungen gemeiniglich gern von ihren Frauen in der Unmündigkeit erhalten. Ein unter seinen Büchern begrabener Gelehrter antwortete auf das Geschrei eines Bedienten, es sei in einem der Zimmer Feuer: »ihr wißt, daß dergleichen Dinge für meine Frau gehören« (…) In der Liebe haben der Deutsche und der Engländer einen ziemlich guten Magen, etwas fein von Empfindung, mehr aber von gesundem und derben Geschmacke: Der Italiener ist in diesem Punkte grüblerisch, der Spanier phantastisch, der Franzose vernascht.

JK: Sie haben der Welt die Aufklärung erläutert, haben die Menschen ermutigt, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Warum neigen die Belehrten trotzdem dazu, in Wahn und Barbarei zu versinken?

IK: Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen … zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u. s. w.: so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben (…) Man kann ein … Gelehrter (Maschine zur Unterweisung anderer, wie man selbst unterwiesen worden) und, in Ansehung des vernünftigen Gebrauchs seines historischen Wissens, dabei doch sehr borniert sein (…) Allein es ist einmal das Los des menschlichen Verstandes so bewandt; entweder er ist grüblerisch und gerät auf Fratzen, oder er haschet verwegen nach zu großen Gegenständen, und bauet Luftschlösser.

JK: Und was soll ein Philosoph statt dessen tun?

IK: Das Feld der Philosophie in dieser weltbürgerlichen Bedeutung läßt sich auf folgende Fragen bringen: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch?

Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion, und die vierte die Anthropologie … Der Philosoph muß also bestimmen können 1) Die Quellen des menschlichen Wissens 2) den Umfang des möglichen und nützlichen Gebrauchs alles Wissens und endlich 3) Die Grenzen der Vernunft. Das letztere ist das Nötigste, aber auch das Schwerste (…) Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.

JK: Kann man die Vernunft so rückhaltlos zur Königin erheben?

IK: Ich habe wegen meiner flachen und engen Brust, die für die Bewegung des Herzens und der Lunge wenig Spielraum läßt, eine natürliche Anlage zur Hypochondrie, welche in früheren Jahren bis an den Überdruß des Lebens grenzte. Aber die Überlegung, daß die Ursache dieser Herzbeklemmung vielleicht bloß mechanisch und nicht zu heben sei, brachte es bald dahin, daß ich mich gar nicht an sie kehrte, und während dessen, daß ich mich in der Brust beklommen fühlte, im Kopf doch Ruh und Heiterkeit herrschte, die sich auch in der Gesellschaft, nicht nach abwechselnden Launen (wie Hypchondrische pflegen), sondern absichtlich und natürlich mitzuteilen nicht ermangelte … Die Beklemmung ist mir geblieben; denn ihre Ursache liegt in meinem körperlichen Bau. Aber über ihren Einfluß auf meine Gedanken und Handlungen bin ich Meister geworden, durch Abkehrung der Aufmerksamkeit von diesem Gefühle, als ob es mich gar nicht anginge.

JK: Sie wurden wegen Ihrer Disziplin bestaunt, aber auch wegen Ihrer Konsequenz gefürchtet. Sie galten, weil Sie die Grenzen dessen zogen, was unser Verstand sinnvoll begreifen kann, als »Alleszermalmer«.

IK: Religion zu haben ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst (…) Eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es … gegen sie nicht aushalten …

JK: Und was ersehnten Sie jenseits der Vernunft?

IK: Eine Glückseligkeit, welche die Vernunft nicht einmal zu erwünschen sich erkühnen darf, lehret uns die Offenbarung mit Überzeugung hoffen. Wenn denn die Fesseln, welche uns an die Eitelkeit der Kreaturen geknüpft halten, in dem Augenblicke, welcher zu der Verwandelung unsers Wesens bestimmt worden, abgefallen sein, so wird der unsterbliche Geist, von der Abhängigkeit der endlichen Dinge befreiet, in Gemeinschaft mit dem unendlichen Wesen, den Genuß der wahren Glückseligkeit finden.

JK: So rauschhaft schwärmten Sie nur in Ihrer jugendlichen, »vor«-kritischen Zeit. Später bekämpften sie dann solche genialischen, grandiosen Impulse Ihrer Seele.

IK: Die Natur hat den Schmerz zum Stachel der Tätigkeit in … den Menschen … gelegt, dem er nicht entgehen kann: um immer zum Bessern fortzuschreiten, und auch im letzten Augenblicke des Lebens ist die Zufriedenheit … nie … rein und vollständig (…) Wer einmal Kritik gekostet hat, den ekelt auf immer alles dogmatische Gewäsche …

»Mit der Vergötterung wils nicht so recht fort.«

Imaginäres Gespräch mit der Frau Rat Goethe

Katharina Elisabeth Goethe, geb. Textor (*1731 in Frankfurt a. M., †1808 in Frankfurt a. M.)


Joachim Kaiser (JK): »Vom Vater hab’ ich die Statur, / Des Lebens ernstes Führen, / Vom Mütterchen die Frohnatur / Und Lust zu fabulieren« – hat Ihr großer Sohn gedichtet. Übertrieb er da, vielleicht des Reimes und seiner Seelenruhe wegen, ein wenig? Mußten Sie nicht, in kriegerischer Zeit, allein Ihr Dasein führen, feindliche und verbündete Soldaten einquartieren, als Ihr körperlich wie seelisch kränkelnder Ehemann nach langem Siechtum gestorben war? Mußten Sie sich nicht, kaum unterstützt vom fernen, weltberühmten Sohn, bemühen, Ihr großes Haus zu verkaufen, um in eine hübsche kleine Mietwohnung ziehen zu können? Sie hatten den Hausrat zur Auktion gegeben. Ja, Sie hatten, was die Goethe-Forscher bis auf den heutigen Tag bejammern, zentnerweise unersetzliche Dokumente auf die Papiermühle gegeben …

Frau Rat Goethe (FRG): Hercules misttete einmahl einen Stall aus, und wurde vergöttert – gemistest habe ich – aber mit der Vergötterung wils noch nicht so recht fort. Drey Centner Papier habe durchsucht – das wenige nützliche … habe beybehaltendas andre auf die Papirmühle verkauft …

JK: Ihr Sohn hat ja auch private Briefe und Dokumente immer wieder abgestoßen, alte Schlangenhäute abgestreift. Gewiß fiel es Ihnen schwer, auf Ihre älteren Tage nun plötzlich …

FRG: Mein Leben fließt still dahin wie ein klahrer Bach – Unruhe und Getümmel war vonjeher meine sache nicht, und ich danke der Vorsehung vor meine Tage – Tausend würde so ein Leben zu einförmig vorkommen mir nicht, so ruhig mein Cörpper ist; so thätig ist das was in mir denkt – da kan ich so einen gantzen geschlagenen Tag gantz alleine zubringen, erstaune daß es Abend ist, und bin vergnügt wie eine Göttin – und mehr als vergnügt und zufrieden seyn braucht man doch wohl in dieser Welt nicht.

JK: Sie liebten, ja vergötterten Ihren berühmten Sohn und schrieben ihm wirklich einmal, aufs alte Testament anspielend: »Jeder Brief der von dir kommt wird aus gebreitet und unter Danck Gott vorgelegt – das habe ich vom König Hiskia gelernt und habe mich 30 jahr schon dabey wohl befunden.«

FRG: Ich weiß aus Erfahrung was das heißt Freude an seinem Kind erleben (…) Ewig werden mir die Worte der Seeligen Klettenbergern im Gedächnüß bleiben …

JK: Das war Susanna Catharina von Klettenberg, deren »Bekenntnisse einer schönen Seele« Goethe in »Wilhelm Meisters Lehrjahre« einfügte …

FRG: … die Worte der Seeligen Klettenbergern im Gedächtnüß bleiben »Wenn dein Wolfgang nach Maintz reißet bringt Er mehr Kenntnüße mit, als andere die von Paris und Londen zurück kommen«.

JK: Sie meinen London?

FRG: Daß das Bustawiren und gerade Schreiben nicht zu meinen sonstigen Talenten gehört – müßt Ihr verzeihen – der Fehler läge am Schulmeister.

JK: Entschuldigung …

FRG: Diese Meße war reich an – Profeßsoren!!! Da … die Menschen sich einbilden ich hätte was zu dem großen Talendt beygetragen; so kommen sie denn um mich zu beschauen – da stelle ich denn mein Licht nicht unter den Scheffel sondern auf den Leuchter versichre zwar die Menschen, daß ich … zum großen Mann und Tichter … nicht das aller mindeste beygetragen hätte /: denn das Lob das mir nicht gebühret nehme ich nie an: / zudem weiß ich gar wohl wem das Lob und der Danck gebührt … Meine Gabe die mir Gott gegeben hast ist die lebendige Darstellung aller Dinge die in mein Wißen einschlagen, großes und kleines, Wahrheit und Mährgen u. s. w. so wie ich in einen Circul komme wird alles heiter und froh weil ich erzähle. Also erzählte ich den Profeßsoren und sie gingen und gehen vergnügt weg – das ist das gantze Kunststück. Doch noch eins gehört dazu – ich mache immer ein freundlich Gesicht, das vergnügt die Leute und kostest kein Geld: sagte der Seelige Merck.

JK: Selbst in den schlimmsten Kriegswirren verließen Sie Frankfurt nur kurz. Sie reisten wohl nicht sehr gern, und Ihr Sohn bedrängte Sie keineswegs, zu ihm nach Weimar zu kommen.

FRG: Wir sehen und hören … Tag-täglich nichts als Bomppen – Kuglen – Pulver Wägen – Blesirte – Krancke – Gefangne u. d. g. Tag und besonders Nachts gehts Canoniren beynahe an einem fort …

JK: Das waren die Truppen des französischen Revolutions-Generals Custine, der ins Rheinland eingefallen war, Mainz besetzt hatte, eine freie rheinische Republik gründen wollte und nun mit einer Allianz aus hessischen, österreichischen und preußischen Truppen in etwas phantastischer Fehde lag … Sie, Frau Rat, nahmen diesen Krieg anscheinend nicht allzu ernst?

FRG: Vor der Zeit sich grämen oder gar verzagen war nie meine Sache – auf Gott vertrauen – den gegenwärtigen Augenblick nutzen – den Kopf nicht verliehren – sein eignes werthes Selbst vor Kranckheit/: denn so was wäre jetzt sehr zur Unzeit:/ zu bewahren – da dieses alles mir von jeher wohlbekommen ist, so will ich dabei bleiben. Da die meisten meiner Freunde Emigriert sind – kein Comedienspiel ist – kein Mensch in den Gärten wohnt; so bin ich meist zu Hauße – da spiele ich Clavier ziehe alle Register paucke drauf loß, daß man es auf der Hauptwache hören kan – leße alles untereinander Musencalender die Welt Geschichte von Voltäre – vergnüge mich an meiner schönen Aussicht – und so geht der gute und mindergute Tag doch vorbey (…) Vor denen Frantzosen und ihrem hereinkommen hatte ich nicht die mindeste Furcht daß sie nicht Plündern würden war ich fest überzeugt – wozu also einpacken? ich ließe alles an ort und stelle und war gantz ruhig … den 12ten gegen Abend fing das Bombardement an wir setzen uns alle in die untere Stube unsers Haußherrn wie es etwas nachließ ging ich schlafen – gegen 2 uhr früh morgens fings wieder an wir wieder aus den Betten – nun fing ich an auszuräumen nicht vor den Frantzosen aber wohl vor dem Feuer – in ein paar Stunden war alles im Keller biß auf die Eißerne Kiste die uns zu schwer war … Biß an diesen periodt war ich noch gantz berugigt – jetzt kamen aber so schreckliche Nachrichten wie der wie jener/: es waren Leute die ich kante:/ der von einer Haupitze Todt geschlagen, dem der Arm dem der Fuß vom Leibe weg u. d. g. nun fing mir an Angst zu werden und ich beschloß fortzugehn freylich nicht weit …

JK: Der Krieg brandete jahrelang hin und her …

FRG: Was ich sage daß die 20 tausend Mann Preußen zurück kommen? nichts anders als was einmahl ein Cardinahl dem Pabst der gantz erstaunt/: weil er in der größten stille in seinem Kloster gelebt hatte: / über die menge Menschen die er am Tage seiner Erhöung vor sich sah antwortete als der Pabst ihn fragte: wovon leben diese alle? Ihro Heiligkeit sie bescheisen einander.

JK: Sie erlebten mit, wie das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zusammenbrach.

FRG: Vor ohngefähr 20 Jahren sang Mefistovles im Docter Faust –: Das liebe heilige Römische Reich – wie hälts nur noch zu sammen?: Jetzt kan man es mit recht fragen. Die Churfürsten-Fürsten-laufen quir und quer-hin undher (…) Gestern wurde zum ersten mahl Kaiser und Reich aus dem Kirchengebet weggelaßen (…) Fröligkeit ist die Mutter aller Tugenden steht im Götz von Berlichingen. Wegen des Krieges wachssen mir auch keine graue Haare … wenn es in Weimar gut mit meinen Lieben geht und steht mich das lincke und rechte Reinufer weder um Schlaf noch appetit bringt …

JK: Bereitete es Ihnen Kummer, daß Goethe Ihre Schwiegertochter Christiane …

FRG: So ein Liebes – herrliches unverdorbenes Gottes Geschöpf findet mann sehr selten …

JK: … erst 1806 auch heiratete, nachdem er im sittenstrengen und klatschsüchtigen Weimar 18 Jahre ohne den Segen der Kirche mit ihr glücklich zusammengelebt?

ohne Brille