Kaiser, Joachim Who´s who in Mozarts Meisteropern

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Neuauflage einer früheren Ausgabe

Dieses Buch erschien zuerst 1984 unter dem Titel »Mein Name ist Sarastro – Die Gestalten in Mozarts Meisteropern von Alfonso bis Zerlina«. Die Neuausgabe wurde um den Text »Über den neuen Umgang mit Mozart-Opern erweitert«, außerdem im Bildteil verändert.

 

Dem Freunde Jean-Pierre Ponnelle gewidmet als Dank für

die viele Mozart-Gespräche

 

ISBN 978-3-492-97738-8

August 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© der deutschsprachigen Ausgabe Piper Verlag GmbH, München 1984, 1997

Covergestaltung: zero-media.net, München

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Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Zum Geleit

Über den neuen Umgang mit Mozart-Opern

In den zwölf Jahren, die dieses – mittlerweile ein wenig erweiterte – Mozart-Buch existiert, scheint sich etwas Grundsätzliches verändert zu haben. Ich widmete es 1984 Jean-Pierre Ponnelle, dem unvergessenen Freund und Gesprächspartner, der 1988 starb. Damals bestimmte Ponnelles werktreuer, phantasievoller (manchmal vielleicht etwas zu glatter) Inszenierungsstil die Mozart-Szene in Salzburg und anderswo. »Mozart ist der Chef« – befand Ponnelle kategorisch.

Abweichende, freie, kühne, absichtsvoll anachronistische Mozart-Inszenierungen gab es gewiß schon immer. Es reizte unternehmungslustige Regisseure, gegen die Konvention der »Così«-Rokokoscherze aufzubegehren, die »Zauberflöte« neu zu sehen. Das war nötig und richtig, solange solche »Gegen-den-Strich«-Inszenierungen Ausnahmen darstellten. Gewissermaßen die Regel zwar nicht bestätigten, aber doch voraussetzten, gegen die sie vergnügt verstießen.

Existiert in unserer musischen Öffentlichkeit das Gefühl für solche Regeln, Konventionen und Mozart-Umgangsformen überhaupt noch als Selbstverständlichkeit? Die Entwicklung des Regisseur-Theaters nicht nur in Deutschland hat dazu geführt, daß Theatertexte und Partituren für phantasiebegabte Neuschöpfer nicht mehr Endzweck sind. Sondern nur Ausgangspunkt für freie, in sich zusammenhängende, aber weder an Ort, Zeit und Kostümvorschriften streng gebundene Interpretationen. »Welche Geschichte«, so fragen manche Kritiker und Zuschauer, »will uns der Regisseur erzählen im Zusammenhang mit dem gegebenen Werk?« – das dann oft bloß Anlaß ist für fabelhafte oder auch fürchterliche Assoziationen.

Erlaubt ist, was gefällt, gelingt, frappiert. »Così« kann im amerikanischen Coffee-Shop spielen, wo junge Leute des 20. Jahrhunderts sich italienisch ansingen und ehrwürdige Moralprobleme haben. Don Giovanni und Leporello können eineiige schwarze Zwillinge sein; der Figaro kann in einem Kohlenkeller heiraten …

Ob man dergleichen für möglich und nötig hält oder für absurde Ablenkung und feige Ausflucht, ist nicht mehr die Frage. Selbstbewußte Freiheit unternehmungslustigen Regietheaters hat sich durchgesetzt. Und die »Konvention« muß schon mit Glut und Passion geboten werden, um nicht langweilig konventionell zu wirken.

Nun hilft der Rat, das von einer kühnen Inszenierung verwirrte Publikum könne ja den Text zur Kenntnis nehmen, nicht immer. Man muß es gelernt haben, Partituren zu lesen, sich Noten, Handlungen, Worte exakt vorzustellen bei der Lektüre oder beim Schallplatten-Hören.

Rechtfertigt diese neue Situation nicht in einst unvorhersehbarer Weiseden strikten Positivismus meines »Who’swho«? Ich habe nur belegbare, konkrete Einzelheiten und Absichten zusammenzufügen versucht. Spekulationen dürfen immer erst anfangen, wenn man weiß, daß Mozart und Da Ponte den Don Giovanni als »giovane cavaliere« (jungen Edelmann) wollten und nicht als alternden, erfolglosen Homosexuellen.

So wird hier nicht mehr, aber auch nicht weniger geboten als eine bewahrende, fixierende Ergänzung, ein textbezogener Einspruch. Nicht um stupide Rechthaberei geht es dabei – für mich, für Sängerinnen, Sänger, Dirigenten, Regisseure, Bühnenbildner, Opernbesucher –, sondern einzig um Mozarts lebendige Wahrheit.

 

München, im Dezember 1996

J. K.

Vorwort

»Dann spielt R. uns aus Mozart’s ›Entführung‹ und ›Figaro‹ – die alten Ausgaben von Simrock machen ihm Freude –; wie Pr. N. bemerkt, man sagte, Mozart habe die Intrigen-Musik erfunden, sagt R., im Gegenteil, er hat die Intrigen in Melodie aufgelöst. Man muß nur das übrigens ausgezeichnete Stück von Beaumarchais mit den Opern Mozart’s vergleichen, dort sind es schlaue, witzige, berechnende Menschen, die geistvoll miteinander handeln und reden, bei Mozart sind es verklärte, leidende, klagende Wesen.«

(aus den Tagebüchern der Cosima Wagner,
Notiz vom 12. Februar 1870)
[1]

I

Mozart »ist der größte Realist des musikalischen Dramas«, schwärmt Hermann Abert (in der von ihm völlig neu bearbeiteten Ausgabe von Otto Jahns grundlegendem Werk), und er fährt fort: »seine Gestalten stehen ausschließlich auf dem Boden der Wirklichkeit und sind allein auf sie bezogen.«[2] Darf man das wirklich so einschränkungslos behaupten? Ging nicht andererseits auch Richard Wagner etwas weit, als er dem »Professor Nietzsche«, wie es Cosimas Tagebuch-Eintragung so plastisch festhält, mit der Überlegenheit des reifen Musikers gegenüber dem jungen Intellektuellen widersprach, sentimentalisch widersprach, und Figuren wie die Gräfin, die Susanne, den Figaro zu leidenden, klagenden Wesen verklärte?

Mozarts Meisteropern, zwischen 1781 und 1791 komponiert, sind mehr als die Summen von Charakteren. Sie nehmen es ja mit einer Formtradition auf, die in Mozarts Jugendjahren blühte, aber am Ende seines Lebens wohl etwas gealtert, fernergerückt war: mit der italienischen Tradition der Opera seria (Idomeneo, Titus). Sie erweitern die Opera buffa zum Welttheater von Shakespeare-Format (Le nozze di Figaro, Don Giovanni, Così fan tutte). Sie begründen eigentlich das deutsche Singspiel und steigern es ins Heiter-Erhaben-Humane (Die Entführung aus dem Serail, Die Zauberflöte).

Doch hat nicht, so dürfte mancher lebenslängliche Liebhaber dieser Werke jetzt hinzufügen, jede große Oper Mozarts ihren alles umgreifenden eigenen »Ton«, trotz der Verschiedenheit der in ihr auftretenden Figuren? Mit dem Ton soll nicht nur gemeint sein, daß diese Opern jeweils in einer bestimmten Haupttonart stehen, die sich von der Ouvertüre bis zum Finale spannt (was beispielsweise beim Musikdramatiker Wagner nicht der Fall ist). Doch auch wenn es nicht exakt beweisbar sein sollte: daß die Finali von Così in einem anderen Idiom, einem anderen »Ton« gehalten sind als die beiden großen Finali des Figaro oder gar des Don Giovanni, leugnet wohl niemand. Jede Mozart-Oper ist, trotz aller gelegentlichen Analogien und Mischtendenzen, ein spezifischer Kosmos. Die Figuren stiften diesen Kosmos, dessen Teil sie sind, durch ihr So-Sein und So-Singen mit. Nicht sie allein stiften ihn. Er ist, vom Vorspiel an, als Umgreifendes und durch alle Einzelheiten Vermitteltes, da. Ich möchte eine forcierte Metapher wagen für das, was sich nüchterner Verbalisierbarkeit zu entziehen scheint: In Mozarts Meisteropern stellt das jeweilige aus Instrumenten und Singstimmen sich tonsprachlich ergebende Idiom gewissermaßen die Wasser des Lebens her. In diesem Allgemeinen schwimmen, bewegen sich die Figuren, die zugleich ein Teil von ihm sind. Wie tief sie mit ihrem Wesensleib in dies Wasser reichen, wie charakteristisch-selbständig sie dabei zugleich auch aus ihm herausragen: aus dieser Unbestimmtheitsrelation konstituiert sich die Dialektik Mozartscher Musikdramatik.

II

Der Leser spürt, wie hier gewagte und vage Formulierungen unvermeidbar scheinen, wenn wir über die Stellung des Menschen in Mozarts Melodienkosmos spekulieren. Ich gestehe, daß mir – je älter ich werde, desto mehr – alles souverän verfügende Definieren und Bereden der Dämonie des Idomeneo, der Weihe der Zauberflöte, des Don-Giovanni-Eros oder des revolutionären Figaro-Geistes immer vorlauter, immer versimpelnder erscheint. Darum wage ich mich in diesem Buch, das zum Nachschlagen animieren und zum Weiterblättern verführen will, nicht an die so schwer ergründbaren Totalitäten, sondern »nur« an die Menschen, deren im einzelnen begrenzte, gewaltige Energien zum kaum mehr Faßbaren zusammenschießen.

Dabei stellt die Sekundärliteratur über Mozart-Opern doch wirklich fast so etwas dar wie einen wissenschaftlichen Glücksfall. Was mit Jahn/Aberts nach wie vor grundlegender, ehrfurchtgebietend gelehrter Studie nicht begann und mit Anna Amalie Aberts wohltuend knapp informierendem, kenntnisreichem Buch Die Opern Mozarts [3] nicht aufhörte, was in mannigfachen Einzeluntersuchungen, Mozart-Jahrbüchern, Gesamtausgaben erarbeitet wurde, was wir Forschern wie Edward J. Dent, dem von Wolfgang Hildesheimer ungerecht heftig attackierten Bernhard Paumgartner, wie Ernst Lert, Alfred Einstein und Aloys Greither, was wir dem glänzenden Schriftsteller Hildesheimer selbst, den engagierten rororo-Opernbüchern und darüber hinaus unendlich vielen leidenschaftlich beteiligten Musikologen, Soziologen, Essayisten oder Philosophen verdanken: davon ist viel zu lernen, darauf darf die Zunft eigentlich stolz sein. Mozarts Genie hat eben nicht nur viel Gelehrsamkeit, sondern offenbar auch tätige Gegenliebe provoziert …

Als mir – in Gesprächen mit Regisseuren, vor allem mit meinem Freunde Jean-Pierre Ponnelle, und in vielen hundert Aufführungen, die ich erlebte – immer deutlicher wurde, wie musikdramatisch frei der erwachsene Mozart mit den Formen der (heiteren) Buffa, der ihr typologisch an und für sich kraß entgegengesetzten Seria sowie denen des deutschen Singspiels verfuhr, als ich zu ahnen begann, daß »irgendwie« doch alles, was Mozarts Figuren in Ensembles, Arien oder Rezitativen singen und sagen, ganz selbstverständlich nur zu ihnen zu gehören, nur zum jeweils einzelnen zu passen scheint, da drängte sich die Versuchung auf, Mozarts offenbaren Charakterisierungsreichtum nun einmal gewissermaßen bar nachzuzählen. (Denn selbst nahezu identische, von mehreren Personen nacheinander benutzte Floskeln – sie sind bemerkenswerterweise selten ganz identisch – bringt unser vom charakterisierenden Sympathie- oder Antipathielenker Mozart unwiderstehlich gesteuertes Bewußtsein dazu, doch scheinbar notwendig und unverkennbar eben zur Überspanntheit der Donna Anna und dann zum Schwanken der Donna Elvira zu passen.) Mozart verführt zur Hypothese, seine Gestalten seien Charaktere, seien lebendige, je verschiedene Personen, müßten sich mithin beschreiben lassen, als wären sie wirklich, wenn auch gewiß nicht nur realistisch-psychologisch. Daß Mozart mehr tat in seinen Opern, als nur Individuen mit spezifischen Eigenschaften zu behängen, ist eine Selbstverständlichkeit. Aber weil er (stets auch) Musikdramatiker war, hat er – aus Wort und Ton – eigentümliche Charaktere geschaffen.

Dieses Lexikon Mozartscher Opernfiguren fragt einseitig und eindringlich: Was besagen Text, Handlungsführung, Regieanweisung, Komposition und dramatischer Kontext über die singenden (oder nur redenden) Menschen der Meisteropern? Ich blieb dabei so nah wie möglich am Buchstaben, am komponierten Sachverhalt. Spekulationen darüber, ob Figaro sich später scheiden läßt, ob die vom unbefriedigenden Così-Schluß enttäuschten Männer homosexuell oder gar impotent würden (man ermißt schwerlich, über was alles bereits nachgegrübelt worden ist von Regisseuren, Schriftstellern, Mozartianern), habe ich mir versagt. Sondern nur darauf geachtet, welchen charaktergebenden, personenbeschreibenden Sinn jede wörtliche, gestische, tonliche, am Anfang oder Ende disponierte, irgendwie auffallende Verlautbarung, Handlung und Haltung meinen könnte. Und wie sich dies alles in der Gestalt zur oft spannenden, widersprüchlichen personalen Einheit zusammenfügt.

Mozarts Figuren als Menschen zu beschreiben, die in einer Art »Who is who?« vorkommen, welches alle – also nicht nur die »wichtigen« – Personen der sieben Meisteropern katalogisiert: das war mein Ziel. Die Rollen sind natürlich nicht dafür ersonnen, hier isoliert, als Einzelmenschen, als Individuen, in einer Porträtgalerie ausgestellt zu werden … Aber sie halten es aus! Es macht Spaß und lehrt staunen, Mozart gottähnliche Schöpferkräfte zu unterstellen und dann – gleichsam im Musikpsychiater-Kittel – nachzuschauen, ob die vielen Dutzend Seelen sich tatsächlich voneinander unterscheiden in der Brust dieses Opernkosmos.

Das Alphabet ist tückisch. Es erzwingt Vollständigkeit. Der Quasilexikograph darf sich nicht nur da äußern, wo ihm sowieso etwas einfällt, auffällt, sondern er muß auch Figuren ernst nehmen, die ihm nicht recht zusagen, vor denen er sich – mir ging es beispielsweise mit Despina, Arbace, Titus so – zunächst ganz gern gedrückt hätte. Übrigens wäre es ein Irrtum, anzunehmen, bei den harmlosen Märchenfiguren der Zauberflöte sei die Charakterisierungsarbeit doch wohl ziemlich mühsam, bei einem so differenzierten Stück wie dem Figaro dafür um so leichter. Es verhält sich eher umgekehrt. Die Königin der Nacht und Pamina, Sarastro und Tamino heben sich weit offener voneinander ab als etwa Susanna von der Gräfin.

Alles in allem, und abgesehen von einigen der unwichtigeren Idomeneo-Figuren, stellen die Mozartschen Charaktere durchaus mehr dar als nur gleichsam die Ausfüllung gattungsspezifischer Regeln, Erwartungen und Kontrastschemata. Das gilt zumal für die Frauenrollen. Im Idomeneo, im Titus, im Don Giovanni, in Così sind die Frauen noch interessanter als die Männer. Ich widerspreche da Wolfgang Osthoff[4], der in einem großen Essay über die Opera buffa im Zusammenhang mit Cosl und Figaro die Ansicht vertritt, »überlegener und geistreicher zeigen sich meistens die Männer«. Das stimmt sicherlich nicht bei Idomeneo, Titus, Don Giovanni und Così, aber es wäre sogar für Figaro, Entführung und Zauberflöte anzweifelbar – wo man vielleicht ein »unentschieden« konstatieren sollte. In den meisten Opern Mozarts agieren die Frauen, wie auffälligerweise auch bei Richard Strauss und Wagner, temperamentvoller, aufregender, charakteristischer. Ob – um eine soziologische These zu wiederholen – die dramatischen oder hochdramatischen Soprane der Musikdramen tatsächlich gewissermaßen die Emanzipation vorwegnehmen?

Mit solchen Überlegungen leugnen wir nicht im mindesten, daß dem von Kindheit an erfahrenen Fachmann Mozart die gattungsspezifischen Forderungen selbstverständlich genau bekannt waren. Er legte sich genau durchkalkulierte Personenverzeichnisse an; er schrieb am 7. Mai 1783 aus Wien an den Vater: »… ich möchte gar zu gerne mich auch in einer Welschen opera zeigen. – mithin dächte ich, wenn nicht Varesco wegen der Münchner opera noch böse ist – so könnte er mir ein Neues buch auf 7 Personnen schreiben. – basta; sie werden am besten wissen ob das zu machen wäre; – er könnte unterdessen seine gedanken hinschreiben. und in Salzburg dann wollten wir sie zusammen ausarbeitten. – das nothwendigste dabey aber ist. recht Comisch im ganzen, und wenn es dann möglich wäre 2 gleich gute frauenzimmer Rollen hinein zu bringen. – die eine müsste Seria, die andere aber Mezzo Carattere seyn – aber an güte – müssten beide Rollen ganz gleich seyn. – das dritte frauenzimmer kann aber ganz Buffa seyn, wie auch alle Männer wenn es nöthig ist.«[5]

Solche Forderungen zeigen, daß Mozart den Schematismus der Form professionell ernst nahm (und auch hier mehr über die Weiber nachdenkt als über die Männer). Nur: wenn Mozart komponiert, steigen die Figuren aus ihren typologischen Kästchen heraus. Donna Elvira ist nicht nur buffahaft komisch und belustigend, Monostatos ist nicht nur lüstern und komisch, Osmin ist nicht nur grob-drollig und rachsüchtig.

III

Nun hat Mozart – darauf gründet sich ja die Professionalität des Fünfundzwanzigjährigen – aber vor 1781 bereits ein gutes Dutzend dramatischer Werke komponiert, mehrere Seriaopern, mit denen er zwischen 1770 und 1772 (also zwischen seinem vierzehnten und sechzehnten Lebensjahr!) eine »Erfolgsserie« in Mailand erreichte, wie sie »ihm in seinem ganzen späteren Leben nicht wieder zuteil geworden« ist. Nicht nur begabte, schöne, sondern vom ersten Takt an unverkennbar mozartisch, also genialisch inspirierte Musik enthält ja bereits das dramatische Oratorium Die Schuldigkeit des ersten Gebots (KV 35)! Komponiert von einem Elfjährigen in Salzburg – nur klingt eben die Arie der »Gerechtigkeit« in ihrer Weise so vollendet-melodiös, daß jeder noch so erwachsene Opernkomponist froh sein müßte über solche Einfälle. Die Giuditta der »Azione sacra« in zwei Teilen von Pietro Metastasio, also die im Sommer 1771 entstandene Musik zu La Betulia liberata (KV 118) enthält große, bewußt wiederholte c-Moll-Musik für Chor und Tenorsolo, Gesten, die tatsächlich erst vom d-Moll-Klavierkonzert KV 466 wiederaufgenommen und weitergetrieben werden sollten. Und wer würde in Bastien und Bastienne, in Lucio Silla, in der Finta giardiniera (Die Gärtnerin aus Liebe) nicht überwältigend Reizvolles zu finden wissen?

Ich gestehe, daß ich dessen, was ich nun vorbringe, nicht (mehr) ganz sicher bin. Wichtige Aufführungen oder Einspielungen von Lucio Silla und II re pastore (Der König als Hirte) haben mich ein wenig schwankend gemacht. Gleichwohl bekenne ich mich noch zu der Überzeugung, daß man die Figuren der opernhaften Werke, welche zwischen Mozarts elftem und neunzehntem Lebensjahr entstanden, nicht als musikdramatische Charaktere verstehen und interpretieren kann. Sie singen oft wunderschöne, gelegentlich auch ein wenig charakterisierende Musik, gar keine Frage; aber ob sie in dem Maße selbständig sind, beschreibbar, sich als lebendig-dramatische Einheit präsentieren wie eben Elektra, Ilia und Idamantes aus Idomeneo und wie dann alle Gestalten zwischen Entführung und Zauberflöte – das möchte ich nach wie vor bezweifeln. Darum gilt das Buch nur den Menschen der sieben vollendeten Meisteropern.

Wie sehr sich Mozart in ihnen zugleich dem jeweiligen Formschema verbunden zeigt und es überwindet, erweist bereits eine kurze Überlegung. Mozart schafft ideale Opern – aber eben nicht »Idealtypen«.

Als Idealtypus (im Sinne Max Webers) gilt beispielsweise, was die Opera seria betrifft, die vollkommen verständliche Darbietung musikalisierten Sprechtheaters. Die wichtigen dichterischen Texte sollen im Rezitativ begreiflich gemacht werden. Man hatte besondere (und hochgeehrte) Sänger für die Arien, die in der Seria nicht auf »Handlung« zielten, sondern den Affekt darstellen sollten. Gleichzeitiges Sprechen mehrerer, also Ensembles, verstieß gegen dies Prinzip der Verständlichkeit von Dichtung und der isolierten Darbietung reiner Affekte. Dem Rezitativ folgt die Arie – »Dialog« bedeutet »nacheinander«, aber nicht »zusammen«. Ensemblesätze, Chöre, Tänze sind in der Opera seria exterritoriale Ausnahmen. Daran hielt sich Mozart nun bereits im Idomeneo nicht mehr, wo er Französisches (die vielen Tanzszenen der Tragédie lyrique, die dort als Divertissements eine prägende Rolle spielen – der junge Mozart hatte das in Paris bereits kennengelernt), Ensemblesätze und Chöre durchaus mischend hinzufügte. Das szenenartige große Chorfinale des ersten Titus-Aktes ist gleichfalls nicht »rein« seriahaft.

Aber mischte Mozart nicht auch und erst recht, als er das »deutsche Singspiel« künstlerisch bereicherte? Joseph II. war gar nicht so im Unrecht, sich über die »vielen Noten« der Entführung zu entrüsten; denn der ehrgeizige Mozart drängte über die vermeintlich singspielhaft schlichten Gegebenheiten des Genres weit hinaus, wenn er der Konstanze, auch dem Belmonte und dem Osmin Partien schrieb, die einen beträchtlichen seelischen Ambitus hatten und heute noch für überaus schwierig, heikel und virtuos gelten! Die Zauberflöte endlich geriet zur regelrechten Weltanschauungsoper, zur Darstellung einer »Idee« (nicht Ideologie). Was die Koloraturarien der Königin der Nacht angeht, so nahm Mozart überhaupt keine Rücksicht auf die vorhersehbaren Fähigkeiten von des Singspiels Sänger-Schauspielern. Mit vermeintlich »Singspielhaftem« hat das alles wenig zu tun. Die Zauberflöte bietet zwar Singspielhaftes – aber sie übersteigt es auch.

Die Buffaopern schließlich stellen sich bei Mozart nicht nur als jene spätere, schnellere, jüngere Gegenform zur Seria dar, als ein Genre, das – auf frühbürgerliche Unterhaltung zielend – Amüsantes im Sinne haben mochte. Bei Mozart wölbt sich kein wolkenlos blauer Theaterhimmel über der Welt des komischen Spiels, wobei wir »Heutigen« vielleicht aus guten Gründen manches allzu sentimental empfinden, was Mozart eher hart komisch gewollt hat.

Das Happy-End verstand sich in der Buffa von selbst. Alle Buffaopern gehen glücklich aus. Eben darum darf man im Don Giovanni den Sextettschluß, der sich ans Publikum wendet und die Harmonie wiederherzustellen sucht, nicht streichen. Leicht lassen sich in den Buffafiguren die alten Typen wiedererkennen. Aber der Herzschlag dieser Musik ist eben mehr als bloß lustig. Mozarts Mitleidsfähigkeit, auch seine durchdringende Lach- und Verlachbereitschaft, macht aus Typen unendlich widerspruchsvolle, differenzierte – darum noch längst nicht auf bloße »Psychologie« reduzierbare – singende Menschen: gleichviel, ob wir an Susannas erhofftes Glück und gegenwärtige Not (die eben etwas anderes ist als der Zorn einer Colombine), an Cherubinos Pubertät, an des Grafen mehr als nur sportive, besitzergreifende Leidenschaft denken. Sinnfälliger läßt sich der Widerspruch so umschreiben: Nicht der plane Handlungsablauf – mit Rollentausch, Verkleidungsscherzen, heftigen Tempobeschleunigungen und jähem Innehalten – richtet sich nach dem, was man Realismus, Wirklichkeitsnähe, Wahrscheinlichkeit nennt, ohne doch viel Genaueres damit zu meinen, als daß man Libretti, die gar zu selbstsicher auf dergleichen verzichten, für »albern« hält oder märchenhaft (»opernhaft«). Doch die Reaktionen der »Figuren« auf solche der Wirklichkeit nicht verpflichteten Theatersituationen können gleichwohl psychologisch aufschlußreich sein, realistisch nachvollziehbar. Zwischen Opernabsurdität und Charakterwahrheit fand Mozart eine in der Geschichte der Musik nie wieder so selbstverständlich erreichte Mitte. Übers Orakel in Idomeneo schrieb er, und dieser modifizierte Illusionismus war auch in den späteren Opern immer wieder angestrebt: »Die Stimme muß schreckbar sein, sie muß eindringen; man muß glauben, es sei wirklich so.« Titus, ein Jahrzehnt später, legt dann freilich den Gedanken nahe, daß, wenn man sich nur demütig in die scheinbar wenig interessante, wenig dissonante, dafür demonstrativ diatonische Musik versenkt, es für Mozart vielleicht sogar nicht nur die musikdramatisch direkte, pointiert bestimmende Charakterisierung gibt, sondern auch eine ästhetisch-indirekte, die freilich, um Goethe zu zitieren, den meisten Geheimnis bleibt.

Mozarts anthropologischer Heißhunger trieb ihn dazu, Figuren zu erschaffen, die keine typischen Marionetten eines wohlkalkuliert abschnurrenden Komödienvorgangs waren. Charaktere erweitern die vorgegebenen, von Mozart übernommenen Formen im Augenblick erreichter Meisterschaft – also was die Oper betrifft, seit 1781 – zu spezifischen Mischformen. »Leidende, klagende Wesen« wehren sich dagegen, als handelnde Menschen zur Funktion der jeweiligen Oper zu gerinnen. Sie begehren charakteristisch auf – und machen die jeweilige Opernform zur Funktion ihres Seins, Sehnens, Wollens. Mozarts singende Menschen sind mehr als nur Bestandteile einer Operneinheit. Sind auch sie selbst.

Diese These will unsere alphabetische Porträtfolge informativ belegen. Und überdies hoffentlich auch ein wenig Lesespaß bereiten.

 

München, im Februar 1984

J. K.

 

Zur erweiterten Neuausgabe:

Zum Mozart-Jahr erscheint diese Neuauflage des vom Publikum und von der Kritik so freundlich aufgenommenen Buches Mein Name ist Sarastro.

Der Text mußte um mehrere Figuren erweitert werden. Und zwar auf Wunsch und Drängen sorgfältiger Leser, denen nicht einleuchtete, warum die beiden Priester und die »zwei Geharnischten« aus der Zauberflöte fehlen und weshalb die Protagonisten des einaktigen Singspiels Der Schauspieldirektor in diesem auf seine Vollständigkeit pochenden Who is who nicht vorkommen.

Die Leser hatten recht. Mit leisem Seufzen ging ich an die Erweiterungsarbeit. Denn wenn jemand, wie die »Geharnischten«, nur einen Choral singt: auf welche Weise soll man dann wohl etwas über das Innenleben dieser Figuren ausmachen können …

Der Schauspieldirektor ist zwar eine Komposition aus Mozarts besten Wiener Jahren, enthält auch Musik oberen Ranges – aber zu Mozarts sieben Meisteropern zählt der Einakter nicht. Als »Werk« paßt er nicht in dieses Buch – seine Figuren indessen gehören durchaus in ein solches Who’s who. Nach langem Brüten ist dieser Schauspieldirektor-Widerspruch dergestalt aufgelöst worden, daß Inhaltsangabe und Personencharakteristik im Anhang erscheinen.

Hoffentlich gelingt es dem Text auch weiterhin, ernste Informationen zu vermitteln und ein wenig heiteres Lesevergnügen zu bereiten.

 

München, im April 1990

J.K.

Don Alfonso

Baß. Ein Skeptiker. Weiß genau, daß alle jungen Frauen untreu sind. Schwankt zwischen Ironie, rechthaberischem Zynismus, Verträglichkeit. Eher Spieler als Spielverderber. Alt und ein wenig dürr.

Aus: Così fan tutte

Daß er einer anderen Generation angehört als die übrigen fünf Così-Figuren, steht schon im Personenverzeichnis: »alter Philosoph«. Einmal, ganz kurz, verrät’s auch die Musik. Wenn Don Alfonso seinen Weizen aufgehen, die Wette zu seinen Gunsten ausgehen sieht, dann stimmt er am Ende eines längeren Rezitativs plötzlich (unmittelbar vor der zehnten Szene des zweiten Akts) im Sechsachteltakt eine hier auffällig altmodisch wirkende, zitatartige barocke Sicilianomelodie an: »daß der ein-rechter Tor ist, welcher den Vogel kauft, der noch auf dem Dach pfeift.« Das klingt behaglich, durchaus zopfig und siegessicher. Es ist ein Stilzitat und bedeutet: Don Alfonso kommt anderswoher als die jungen Offiziere und Damen, die er mit überlegenem Scharfsinn manipuliert. (Dr. Bartolo aus Rossinis Barbiere di Siviglia hat auch sein Vergnügen an einer »altmodischen« Sechsachteltakt-Arietta, die dem Publikum vor Ohren führt, welche Musik in der Jugend des alten Herrn einst Mode war; auch Beckmessers Lautenlied aus Wagners Meistersingern von Nürnberg ist solch ein Generationsunterschiede demonstrierender Stilwitz.)

Doch Mozart charakterisiert den Don Alfonso keineswegs nur mit diesen sechs recht unauffälligen Takten als »Außenstehenden«, als »Fremdling«, als älteren Freund, der aber nicht ganz zu den jungen Leuten gehört. Selbst daß Don Alfonso, wie es so manche komischen Opern-Alten tun, zum plärrenden, einen einzigen Ton wiederholenden Singen neigt, daß er oft nur nah beieinanderliegende Töne von sich gibt (schmaler Ambitus) – es macht noch nicht die ganze Charakterisierung dieses skeptischen »Weltweisen« aus. Nein, Mozart verfährt mit Don Alfonso strenger.

Zunächst: Warum der so geworden ist, wie er jetzt ist, dafür interessieren sich Text und Musik kaum. Don Alfonso weiß also über die Frauen schrecklich gut Bescheid. Die Weiber verhalten sich eben alle so treulos, es ist ihnen halt angeboren, man muß sie nehmen, wie sie sind. Und wenn man gar keine Illusionen mehr hat über weibliche Treue und weibliche Liebe, dann kommt man mit dem schwachen, aber hübschen und liebenswerten Geschlecht ganz gut zurecht. Prost, meine Herren …

Eine ziemlich scheußliche Einstellung. Ob sie aus Haß entstand, aus Blasiertheit, aus einer Liebesenttäuschung, an der unser Freund ja eventuell auch selbst schuld gewesen sein könnte – wir erfahren nichts, mögen sich noch so unschöne Vermutungen aufdrängen.

Am Anfang zögert übrigens Don Alfonso noch, das Experiment zu wagen. Er will anscheinend kein Zerstörer, kein Störenfried sein. Aber wenn das Wettspiel begonnen ist – wahrscheinlich langweilt sich der unselig skeptische Alte in seiner dürren Überlegenheit, vielleicht braucht er ein wenig heißen Wirbel um sich, um seiner quälend kalten Vernunft ein bißchen entkommen zu können –, dann bedient er sich eines gut geölten Verstandes. Über Dialogpausen, welche den erschreckten, keine Worte findenden Offizieren passieren, die langsam zu ahnen beginnen, worauf sie sich eingelassen haben, parliert er elegant hinweg. Als Regisseur der Kuppelei spielt er intelligent mit, macht sich sogar ironisch darüber lustig, wie überzeugend er im Abschiedsterzett mitgetan, mitgetrauert habe (»Ich bin kein schlechter Schauspieler«). Gelegentlich entfährt ihm schwarzes Feuer, das heißt, eine heftige Verachtung fürs schöne Geschlecht bricht aus ihm heraus. Aber am Schluß wird auch er wieder nett und versöhnlich – weil man sich halt arrangieren muß (und er nicht ganz allein sein will).

Temperament ist für ihn eine Schwäche. Etwas vom Verstände nicht hinreichend Gesteuertes.

Und warum betrügen, seiner Ansicht nach, alle jungen Damen (falls sie die Chance dazu haben) die Männer? Antwort: Weil sie »aus Fleisch, Bein und Blut sind«. Keine Engel, sondern Frauen. Für diesen Satz nimmt die Oper an Don Alfonso Rache. Die Partitur führt vor, wie schrecklich es ihm fehlt an lebendigem Fleisch und heißem Blut.

Sie zeigt das, indem sie Don Alfonso vorenthält, was sie allen anderen, auch der weiß Gott nicht edlen Despina, gewährt: die Farben der Bläser! Von der Sinnlichkeit der Klarinette, der Behaglichkeit des Fagotts, der Innigkeit der Flöte, der Süße der Oboe, der Empfindsamkeit des Horns – von alledem wird Don Alfonso geradezu systematisch ausgeschlossen. Kaum öffnet er, allein, den Mund – hören die Orchesterfarben auf. Ihn begleiten immer »nur« Streicher – was aber in einem Kosmos, wo Bläser so differenziert mitspielen, wie es in Così der Fall ist, eine Verarmung, einen Lebensentzug, einen Makel bedeutet. Die anderen, von Bläsern umspielten, sind Frauen von Fleisch und Blut (verführbar gewiß), sind Offiziere (junge Leute von Temperament und Leichtfertigkeit). Nur er, Don Alfonso, bleibt hier ohne diese Farben des Lebendigen. Er ist immer bloß im Recht, witzig, vernünftig, reich, zum Schluß wieder versöhnlich. Es mag Schlimmere geben in Mozarts Welt. Aber keine Dürreren, Erstorbeneren. Beruht dieser Bläserentzug auf einem Zufall? Wenn Don Alfonso im Anfangsterzett abwiegeln will: »Laßt die Beweise« (Takt 33), dann schweigen Oboen und Fagotte genau in diesem Takt; bei Ferrandos und Guglielmos Antwort setzen sie wieder ein. Wenn Don Alfonso die Weibertreue mit dem legendären Phönix aus Arabien scherzhaft vergleicht, dann schweigen während seiner sechs Anfangstakte wiederum die Bläser. Später treten sie dann freilich auch kurz hinzu. Aber sie verschwinden wieder, wenn Don Alfonso ironisch feststellt, es gäbe keinen solchen Phönix – und nun wolle man ihn gar glauben machen, daß gleich zwei auf einmal in Form eines edlen Schwesternpaares existieren. Bei seiner überstürzten f-Moll-Arie, die das Betrugsmanöver einleitet, hören wir wiederum nur trockene Streicherbegleitung, keinen einzigen Bläserton.

In alledem offenbart sich eine absichtsvolle Charakterisierungstendenz. Darum sollte man bei den wenigen Fällen, wo Don Alfonso doch mit Bläsern zusammenstößt, nicht etwas achselzuckend einschränken, Mozart sei eben kein Prinzipienreiter gewesen, seine Regeln gestatteten auch Ausnahmen, sondern man muß vielmehr umgekehrt fragen: Was könnten die Bläser hier meinen? Daß der Trockene nicht mehr nur Einzelperson sei, sondern Teil eines bläserbegleiteten Ensembles? Daß selbst er ein wenig fahles Feuer empfindet, er, dieser begüterte, in Wahrheit arme Don Alfonso?

Während die einen von Herzen, die anderen wenigstens vergnügungshalber »lieben«, findet er seine schlau-rechthaberische Befriedigung nur darin, triumphierend beweisen zu können, daß die Idee einer liebesfähigen und treuen jungen Frau idealistischer Schwindel sei.

Gräfin Almaviva

Sopran. Unglückliche, vernachlässigte, gleichwohl liebende Gattin des Grafen Almaviva. Findet gewiß ein wenig Ablenkung in Cherubinos ergebener, angenehmer Schwärmerei für sie. Riskiert, mutig und ängstlich, viel, um den Gatten zu beschämen, zurückzugewinnen.

Aus: Le nozze di Figaro

Während der turbulenten Streitereien, Verhüllungen und Entdeckungen des ersten Aktes ist sie nicht auf der Bühne. Daran nimmt sie einstweilen nicht teil. Sie stellt sich, nach einem langen und erhaben-lyrischen Vorspiel, mit ihrer Larghetto-Kavatine erst zu Beginn des zweiten Aktes vor, vom Gott Amor die Liebe ihres Gatten zurückerbittend – oder wenigstens den Tod.

Ein neuer Ton – der Ton vollkommenen Ernstes – ist mit ihr da. Der Ton einer weder pubertär übertriebenen noch buffonesk verspielten, noch selbstgefällig auftrumpfenden, sondern herzbewegenden Ernsthaftigkeit.

Schwer zu beantworten, aber doch zu bedenken, ob in der Figaro-Welt dieser bekenntnishafte Ton nicht durch ein negatives Indiz signalisiert wird, soweit es sich um Solostücke, Duette oder Terzette handelt; für die großen, vollen Ensemblesätze gilt diese Beobachtung natürlich nicht. Nämlich: durch die Abwesenheit der Flöten! In den beiden langsamen Arien der Gräfin – also auch der Dove-sono-Arie des dritten Aktes – fehlen die Flöten. Gleichfalls im Terzett des zweiten Aktes, dem wohl aufgewühltesten kurzen Ensemblesatz des ganzen Werkes. Wenn Cherubino seine verzweifelte Selbstdarstellung im ersten Akt gibt, fehlen die Flöten. In der artifiziell stilisierten, von Susanna mit einer Gitarre begleiteten, weniger »unmittelbaren« Kanzone des zweiten Aktes jedoch ist die Flöte charakteristischerweise dabei. Dem Sopran der Susanna gibt Mozart, in deren beiden Soloarien, jedesmal eine Flöte mit. Nur eben der Gräfin nicht. Merkwürdiger Fall.

Man kann über der Gräfin luxuriöse Larmoyanz lächeln, man kann sich lustig machen über die unverstandene Frau, die sich in elegischem Jammer gefällt und so wirkt, als ob sie in erlesenen Einsamkeitsaugenblicken zu steter Migräne tendiere (nur bedauerlicherweise nicht zu der eher amüsanten, an welcher die Rosenkavalier-Feldmarschallin leidet: »Ich hatte diesen Morgen die Migräne«).

Man täte der Figaro-Gräfin mit solchem Spott bitteres Unrecht. Sie posiert nicht. Für sie geht es um Liebe … oder wenigstens den Tod. Der Gedanke an den Tod wird im Verlauf ihrer Es-Dur-Arie immer inständiger. Das »O mi lascia almen morir« (oder laß mich wenigstens sterben) kommt dabei öfter vor als der vorangestellte Gegensatz »o mi rendi il mio tesoro« (Gib mir den Geliebten wieder, oder …). Die Arme bringt da nicht nur häufiger ihren Todeswunsch zum Ausdruck, sondern heftiger. Der höchste Ton der Arie ist eine Fermate (As) auf dem wiederholten »morir«!

So verzweifelt ist sie, weil sie sich nicht mehr geliebt meint, wo sie liebt.

Diese blutjunge Frau – es ist wohl erst drei Jahre her, seit der Graf sie, die bezaubernde Rosine, eroberte – wird von der Reinheit ihrer Verzweiflung, ihres Unglücklichseins aber nicht depressiv gemacht oder stumpf-untätig. Gewiß schwärmt sie so namenlos innig, versonnen und nobel vom vergangenen Glück, als könne sie es durch solche Beschwörung wiederherstellen (C-Dur-Arie des dritten Aktes). Aber sie schwärmt nicht nur. Sie hofft auch und sie handelt. Für die Kraft ihres Hoffens zeugt im Allegroteil besagter Arie ein erhaben-stürmischer Moment. Bei der Bitte: »brächte doch meine Beständigkeit … eine Hoffnung, das undankbare Herz zu ändern« (es kommt an auf die Worte »una speranza di cangiar … eine Hoffnung, zu ändern«) drückt die Musik strahlend aus, was es mit der »Änderung«, dem Zurückführen in die Harmonie, hier auf sich hat. Die Gräfin führt nämlich zunächst einen reinen C-Dur-Dreiklang vor. Und zwar anfangs G-C, dann C-E. Schließlich dann nicht, wie logisch zu erwartenwäre, E-G, sondern E-A. Daistetwas Neues, Unregelmäßiges. Die sechste Stufe mit ihren Moll-Untertönen statt der Quinte. Dieses hohe A wird nicht nur als Höhepunkt, als höchster Punkt der Arie erreicht und über einen strahlenden Takt lang ausgehalten, sondern es verändert sich beim »cangiar«, beim »ändern« also, dieses ferne A übers As zurück zum G und mündet dann in eine regelrechte C-Dur-Kadenz! Wir erleben hier unmittelbar mit, wie leuchtend sich die gewünschte Veränderung des Schmerzlich-Nichtdazugehörenden ins Nachhause der Dreiklangsharmonie vollzieht.

Die Gräfin weiß nur zu gut, daß ihr Gatte rasend eifersüchtig sein kann. Doch auch sie hat ein heftiges Herz. Das Rezitativ zu dieser C-Dur-Arie enthält Wendungen, die unüberhörbar erinnern an Rezitativmotive des Grafen (im dritten Akt entspricht das Rezitativ des Grafen, Nr. 18, Takt 30–40, dem Rezitativ der Gräfin, Nr. 20, Takt 4–9).

Wie dem auch sei: Rosina läßt sich also von ihrem Kummer nicht zu weinerlicher Untätigkeit verführen. Ihre Seelenlage hindert sie glücklicherweise keineswegs, sich um die Wiederherstellung ihrer Ehe zu kümmern. Sie schwankt zwischen Mut und besorgter Angst bei der Vorbereitung nicht unriskanter Verkleidungskomödien. Nicht nur besorgt wirkt diese Angst, sondern heftig, ja himmelhoch lodernd, wenn der Graf überraschend zurückkehrt, ein halb entkleideter Cherubino sich in Rosinas Kabinett verbirgt und die Katastrophe droht. Da erreichen die Koloraturen der Gräfin (in alten, falschen Fassungen sang das die Susanna; aber die Zofe hat in dem Moment weiß Gott weniger Grund zu expressiver Angstbekundung als ihre verzweifelte Herrin) sogar das hohe, das zweigestrichene C – und es ist beinahe um die Fassung der schrecklich Bedrohten geschehen …

Doch auch in höchster Not erweist die Gräfin sich als ebenbürtige Gegenspielerin des Grafen. Heftig in der Klemme, noch so offenkundig im Unrecht, bringt sie die Geistesgegenwart auf, schnippisch zu antworten: »Dieses Mädchen hat eher Sie verwirrt als mich selber«, wenn der Graf sie naheliegenderweise fragt, warum sie ausgerechnet wegen Susanna zittere. Dem von Barbarina bloßgestellten Gemahl flüstert sie maliziös zu: »Also gut: was sagen Sie jetzt?« An Konversationswitz fehlt es ihr nicht.

Und es schmeichelt ihr, hilft ihr wohl ein wenig im seelischen Leid, daß der junge Page Cherubino so für sie schwärmt. Ein Jammer, wie zurückhaltend er bleibt. Susannas Flirten mit dem Jungen macht sie durchaus eifersüchtig …

Die Klage und das sehnsuchtsvolle Glücksverlangen ihrer Seele ragen weit hinaus über alle Buffoverwirrungen des aufregenden Spiels im Schloß. Schwankt auch manchmal ihr Mut – nie schwankt ihr Gefühl. Zwar verzeiht sie sich selbst mühsam und nur ungläubig, daß sie dem Grafen verzeiht. Aber sie nimmt – dank der unwiderstehlichen Überredungskraft des Mozartschen Orchesters, der choralhaften Tutti, der auskomponierten Ekstase (zweiter Akt) und des von selig überströmenden Geigen bestätigten glücklichen Wiederfindens alles Getrennten (vierter Akt) – die Versöhnung an; die Liebe dessen, der eben noch für ihre Hand schwärmte (freilich im Glauben, den Körper Susannas vor sich zu haben). Nur wenige dunkle Tupfer bei der Modulation zum Allegro assai werfen kurze, verschwindende Schatten auf das Glück, das der Gräfin und dem Grafen am Ende von Figaros Hochzeit gegen alle Wahrscheinlichkeit mürrischer Lebenserfahrung von Mozart dennoch gegönnt und gespendet wird.

Graf Almaviva

Bariton. Ist gewohnt, daß in seinem Schloß alles so geht, wie er es will. Von der Gattin im Augenblick nur undeutlich gefesselt, will er jetzt deren Kammerzofe Susanna. »Drei gemeinsame Jahre machen eine Ehe sehr würdevoll«, sagt er (im Schauspieltext von Beaumarchais) nicht übermäßig galant zur Gräfin, nachdem er ihr seine immer noch bestehende Liebe bekundet hat. Susanna begehrt er heftig. Weder sein einst gegebenes allgemeines moralisches Versprechen, das veraltete »Herrenrecht« betreffend, noch der Kummer seiner Gemahlin oder gar Figaros Hochzeitswunsch können den erotischen Spiel- und Besitztrieb des jungen Grafen hemmen. Aber so leicht wie einstmals wird es großen Herren nicht mehr gemacht.

Aus: Le nozze di Figaro

Der Herr Graf«, so informiert Susanna ihren Figaro, »müde, nach fremden Schönheiten auf die Jagd zu gehen, will auch im Schloß noch einmal sein Glück versuchen, doch nicht auf seine Gattin, hör gut zu, kam ihm der Appetit.« Sondern:«Auf dein Susannchen.« Gesangslehrer Basilio besorgte die Kuppelei. Klare Verhältnisse.

Überdies: die Gräfin klagt über Vernachlässigung, Barbarina erzählt, wie nett der Herr Graf sie geherzt und geküßt und was er ihr alles dabei versprochen hat.

Deutlicher können Sympathien kaum gelenkt werden. Der Graf, ein junger Unhold, seiner Gattin total überdrüssig, liebelt mehr oder weniger leidenschaftlich im weiblichen Schloßpersonal herum. So hören wir’s von den Beteiligten, so erleben wir’s mit. Was sollte dagegen sprechen?

Zum Beispiel die Musik. Ihre großen, choralhaften Momente im zweiten und vierten Akt, wo zart, seelenvoll und passioniert die nach wie vor nicht völlig erkaltete Liebe des Grafen zu seiner Gattin, seine Reue, sein guter Wille in Töne gebannt zu sein scheinen. Diese sanft-choralhaften Ensemblehöhepunkte lassen, wenn sie erklingen, keine Zweifel zu. Sie wirken nicht im mindesten ironisch, im mindesten oberflächlich, im mindesten reserviert.

Aber des Grafen offensichtliche Schürzenjägerei?

Es scheint, daß mehrere, sagen wir, Seelen in seiner Brust wohnen. Etwa vier. Es scheint, daß den Grafen verkennt, wer ihn nur aus Susannas oder Figaros Perspektive sieht.

Er ist ein junger, ungestümer Edelmann. Als Dietrich Fischer-Dieskau ihn verkörperte, meinten alle, Graf Almaviva sei mit einer Reitpeitsche auf die Welt gekommen. Widerstand gegen seine Wünsche oder Launen? Ganz unmöglich. Und nun sollte sich gar irgendein Diener eines Glückes erfreuen dürfen, das er vergeblich erstrebte …

Almaviva muß seine weltgeschichtliche Lektion noch lernen.

Die Ehe mit der schönen Rosina fesselt ihn nicht – oder zumindest nicht sehr ausschließlich, darüber herrscht Klarheit. In diesem Aristokraten steckt eine leidenschaftliche erotische Dynamik. Sie ist heftiger (und eigentlich auch respektabler), als bloße Tändelei aus Langeweile oder sportlichem Ehrgeiz es wäre. Der Mann begehrt Susanna wirklich, bis zur Verzweiflung. Er will sie nicht nur »kaufen«, wie eine Dirne. Er will sie haben, ja bildet sich zumindest ein, sie zu lieben. Geld muß da nicht schaden. Nachdem Susanna ihm zu Beginn des dritten Aktes vorgespielt hat, sie werde kommen, demonstriert Almaviva, was »Vorlust« sei: dieses Glücksgefühl am verbalen Durchspielen und Durchreden eines bevorstehenden Stelldicheins. Nicht weniger als ein dutzendmal wiederholt er besessen: »Du kommst also in den Garten?«, »Du hältst dein Versprechen?« »Wirst kommen?« … Der in diesem Duettino Nr. 17 des dritten Aktes sich dann anschließende A-Dur-Zwiegesang »Mein Herz schlägt vor Entzücken« offenbart selige Übereinstimmung, harmonische Zweisamkeit – die sich aber in der Phantasie des Grafen ereignet. (Susanna, hier kokett, hat ja etwas ganz anderes vor.) Almaviva jedoch ist über beide Ohren entflammt.

Dies wäre die eine seiner zahlreichen Seelen. Sie macht ihn sympathisch.

Die andere Seite wirkt eher faszinierend als Sympathie erzeugend: Es ist die herrscherliche Allüre des mächtigen Aristokraten. Bleibt Figaro oft auffallend zurückhaltend, leise, so gibt der Herr Graf stets den Ton an. Etwa, wenn er im Terzett aus dem zweiten Akt das C-Dur und dann souverän das As-Dur bestimmt, wenn er in den Ensembleszenen heftig wird, wenn er in seiner Rachearie (»Ich soll ein Glück entbehren«) in aggressivem Forte verkündet, daß er Höllenqualen leidet, falls er verzichten muß. Da bedient er sich sogar einer rhythmisch und melodisch kämpferischen Geste, die später Carl Maria von Webers Schwertlied populär gemacht hat: »Du Schwert an meiner Linken« (dritter Akt, Arie Nr. 18, Takt 77–81), wobei übrigens Weber den charakteristischen Tonfall eher der Konvention des späten achtzehnten Jahrhunderts, auf die sich auch Mozart bezog, als Mozart selbst entnommen haben mag. Dieser selbstbesessene aristokratische Stolz des Grafen kennt auch Gehässigkeit: »Der Ärmste«, sagt er ironisch, wenn Cherubino wieder mal ertappt wird. Und weil er ja ganz genau weiß, daß ein Liebhaber im Kabinett versteckt ist, weil er die gehauchte Behauptung seiner Gattin, da verberge sich wohl Susanna, mit Recht für eine Ausrede hält, sagt er ironisch, nachdem man den Tatort verschlossen hat und sich gemeinsam aufmacht, ein paar Werkzeuge zu holen: »Susanna wartet dort, bis wir zurück sind.« »Alles wie verlassen«, befindet der Düpierte dann aber irrig-arglos bei der Wiederkunft. Die Handlung zahlt ihm seine Ironie freilich doppelt ironisch zurück: Infolge eines für den Grafen ungünstigen Zusammentreffens wartet Susanna dann wirklich. So kehrt sich auch in Mozart/Da Pontes konkret entpolitisiertem Drama die Spiritualität des Zufalls kritisch gegen des Grafen Hochmut. Dieser Hochmut läßt ihn schneidend dazwischenfahren, wenn die belastete Gattin etwas Entschuldigendes vorbringen möchte. »Sprecht«, sagt er. Aber das Forteorchester nimmt der verängstigten Gräfin die Luft. Sie hätte, ohne Wunder und sinnigen Zufall, keine Chance.

Sowie sich Almavivas Hochmut mit offenbar berechtigter Eifersucht verbindet, entsteht seine düsterste und gefahrbringendste Seele: Wahn macht den Ergrimmten düster und unansprechbar. Ein halbes dutzendmal nacheinander heisert Graf Almaviva sein »er sterbe«: Cherubino wäre verloren, müßte er wirklich aus jenem Kabinett. Der Ehekrach bei den Almavivas nimmt riesige Dimensionen an. Die Musik fragt nach dem Schicksal der Unschuld in dieser Welt.

Mit Almaviva, der othellohaft nur noch »er sterbe und sei nicht mehr der elende Grund meines Leidens« denken kann, ist über die göttlich-sinnvoll geordnete Welt bestimmt keine Diskussion möglich. Glaubt er im Finale des letzten Aktes seine Frau beim schamlosen Ehebruch in aller Öffentlichkeit und vor allen Leuten zu ertappen, dann wiederholt er nur mit sich steigernder Heftigkeit, er könne nicht verzeihen. Taktelang donnert mit dem Unisonoorchester sein »nein!«.

Aber alles das macht gleichwohl nicht denkunmöglich, daß Graf Almaviva nach wie vor fähig ist – vielleicht wie einer, der aus allen möglichen Träumen erwacht und plötzlich den Wert des Wirklichen begreift –, seine Gattin Rosina zu lieben. Dies ist die reinste, freilich auch die am meisten verschüttete seiner vielen Seelen …

Am Ende der achten Szene des zweiten Aktes haben der Graf, die Gräfin und Susanna etwas gelernt: »Von diesem Augenblick an wird diese Seele mich« (singt die Gräfin), »sie« (singt der Graf) »ganz verstehen.« Daß die Seelen nun endlich ganz zu verstehen vermögen, flüstern die Betreffenden zart, sotto voce. Sie tun es zu einer Ausnahmesteigerung nicht nur des Figaro, sondern der Operngeschichte. Das zunächst so unscheinbare Dreiklangsthema hat sich nach einer durchaus symphonischen Durchführung zu einer erhabenen Gestalt entwickelt (zweiter Akt, achte Szene, Takt 296–327). Es herrscht eine Spiritualität, wie sie nur aus der Erlesenheit reinster Instrumentalmusik und der Unbedingtheit vokaler Erfüllung sich ergeben kann. Eine Wundersekunde der entwickelnden Logik und des harmonischen Reichtums, des zarten choralhaften Verweilens und des großen Forte.