4. Fürstin Mary.

Inhaltsverzeichnis 


 11. Mai.

 

Ich bin gestern Abend in Pjätigorsk angekommen. Ich habe mir am Ende der Stadt auf dem höchsten Punkte, am Fuße des Maschuk eine Wohnung gemiethet. Bei Sturmwetter werden die Wolken sogar mein Dach berühren. Als ich heut' Morgen gegen fünf Uhr das Fenster öffnete, füllte sich mein Zimmer mit dem Duft der Blumen, die neben dem Hause in einem bescheidenen Garten blühen. Die Zweige der duftenden Süßweichselbäume schauen zu meinem Fenster herein und heißen mich willkommen, – und von Zeit zu Zeit bestreut der Wind meinen Schreibtisch mit ihren kleinen weißen Blättern. Nach drei Seiten habe ich eine herrliche Aussicht: nach Westen die fünf Kuppen des Beschtu mit seiner bläulichen Farbe – gleichend "der letzten Wolke, wenn der Sturm sich gelegt". Im Norden erhebt sich der Maschuk wie eine persische Mütze und nimmt mir diesen ganzen Theil des Horizonts weg. Nach Osten ist die Aussicht heiterer: Zu meinen Füßen liegt ein junges hübsches Städtchen, worin die Warmbäderquellen sprudeln, und die Sprachen verschiedener Länder ertönen, – und etwas weiter erheben sich amphitheatralisch bläuliche und neblige Berge; und am Horizont zieht sich eine lange silberne Kette schneebedeckter Bergkämme hin, die mit dem Kasbek beginnt und mit dem doppelköpfigen Elbrus schließt ... Wie herrlich muß es sich leben auf einem solchen Flecken Erde! Ein gewisses Gefühl des Wohlbehagens durchströmt alle meine Adern. Die Luft ist rein und frisch wie der Kuß eines Kindes; die Sonne hell, der Himmel blau – was kann ich noch mehr wünschen? Warum sollte man sich durch Leidenschaften, Wünsche oder Bedauern aufregen lassen? ... Allein, es ist Zeit, daß ich mich nach der Elisabethquelle begebe; dort soll sich früh morgens die ganze Badegesellschaft versammeln.


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Als ich den Mittelpunkt der Stadt erreicht hatte, ging ich über den Boulevard, wo ich einigen Gruppen von Badegästen begegnete, die einen ziemlich trübseligen Anblick gewährten und langsamen Schrittes zum Berge hinanstiegen. Es waren zum größten Theil Gutsbesitzerfamilien aus den Steppen. Man erkennt sie als solche sofort an den abgetragenen altmodischen Ueberröcken der Männer und den geschmacklosen Toiletten der Frauen und Töchter. Offenbar kennen diese braven Leute bereits die ganze "badende" Jugend; denn sie sahen mich mit einer gewissen Neugier an; der Petersburger Schnitt meines Ueberrockes schien einen lebhaften Eindruck auf sie zu machen, aber sobald sie meine Epauletten bemerkten, wandten sie sich voll Verachtung ab.

Die Frauen der hier angesessenen Familien, gewissermaßen die Patroninnen des Bades, zeigten sich gnädiger gegen mich. Sie tragen Lorgnetten und haben eine weniger starke Abneigung gegen die Uniform. Mehr als einmal haben sie hier im Kaukasus Gelegenheit gehabt, unter dem numerirten Militärknopfe ein glühendes Herz und unter der weißen Mütze einen gebildeten Kopf zu finden. Diese Damen sind sehr anmuthig, und sie bleiben es lange Zeit! Alljährlich wechseln sie ihre Anbeter, und darin besteht vielleicht das Geheimniß ihrer dauerhaften Liebenswürdigkeit.

Dem schmalen Pfade folgend, der nach der Elisabethquelle führt, begegnete ich einem Haufen Civil-und Militärbeamten, welche, wie ich später erfuhr, eine besondere Menschenklasse bilden unter den Leuten, die an die Kraft des Wassers glauben. Sie trinken, aber kein Wasser; sie gehen wenig spazieren und beschäftigen sich mit den Frauen nur so nebenbei, sie spielen und beklagen sich über Langeweile. Trotzdem spielen sie doch gern den Stutzer: Wenn sie ihr Glas in die Schwefelquelle tauchen, nehmen sie eine akademische Haltung an. Die, welche dem Civildienste angehören, tragen hellblaue Cravatten; die Militärs lassen gern ihre Halskrause über den Uniformskragen hervorblicken. Die Einen wie die Andern tragen eine tiefe Verachtung gegen die Damen in der Provinz zur Schau und seufzen nach den aristokratischen Salons der Hauptstadt, in welchen sie niemals Zutritt haben.

Da bin ich endlich an der Quelle ... In der Nähe derselben, auf einem freien Platze, steht ein Häuschen mit einem rothen Dach, unter welchem sich die Badewanne befindet, und etwas weiter eine Galerie, wo man bei Regenwetter spazieren geht.

Auf einer Bank saßen einige verwundete Offiziere, die Krücken trugen – blasse trübselige Gestalten. Verschiedene Damen gingen raschen Schrittes auf dem Platze auf und ab und erwarteten die Wirkung des Wassers. Ich bemerkte zwei oder drei recht hübsche Gesichtchen unter ihnen.

In den von Weinranken beschatteten Alleen, die sich am Abhange des Maschuk hinziehen, zeigte sich von Zeit zu Zeit der bunte Hut einer Dame, die vermuthlich die Einsamkeit zu zweien liebte, denn so oft sie sichtbar wurde, bemerkte ich neben ihr eine Militärmütze oder einen runden Hut. An einem steilen Abhang ist ein Pavillon erbaut, den man mit dem Namen "Aeolische Harfe" geschmückt hat. Dort vereinigten sich die Liebhaber von schönen Aussichten um ein auf den Elbrus gerichtetes Fernrohr. Unter ihnen befanden sich zwei Erzieher mit ihren Zöglingen, die hier im Bade Genesung von den Skropheln suchten.

Ermüdet blieb ich am Ende des Berges stehen, und mit dem Rücken an eine Ecke des Häuschens gelehnt, betrachtete ich die malerische Landschaft, als mir plötzlich eine bekannte Stimme zurief:

"Petschorin! Bist du schon lange hier?"

Ich wende mich um – Gruschnitzki!

Wir umarmten uns. Ich hatte ihn bei einem Regiment der activen Armee kennen gelernt. Er wurde durch einen Schuß am Fuße verwundet und befindet sich seit einer Woche hier im Bade. Gruschnitzki ist Fähndrich. Er ist erst seit einem Jahr im Dienst. Mit einer ganz besonderen Stutzermanier trägt er seinen dicken Soldatenmantel, an welchem man das Militärkreuz der Georgischen Armee bemerkt. Er ist schön gebaut, hat einen braunen Teint und schwarzes Haar. Auf den ersten Blick möchte man ihn auf fünfundzwanzig Jahre schätzen, obgleich er kaum einundzwanzig hat. Beim Sprechen wirft er den Kopf zurück und zupft jeden Augenblick mit der linken Hand am Schnurrbart, während er sich mit der rechten auf seine Krücke stützt. Er spricht schnell und viel. Er gehört zu jenen Leuten, die für jede Gelegenheit wohlklingende Phrasen in Bereitschaft haben, – die nicht begreifen, wie schön die Einfachheit ist, und die sich wichtig machen mit erhabenen Leidenschaften, ungewöhnlichen Gefühlen und außerordentlichen Leiden. Effect machen – das ist der einzige Genuß, den sie kennen; den Damen in der Provinz verdrehen sie die Köpfe durch ihr romantisches Wesen. Bei herannahendem Alter werden sie entweder friedliche Gutsbesitzer oder Trunkenbolde; zuweilen auch Beides. Sie besitzen oft manche gute Eigenschaft, aber nicht eine Spur von Poesie.

Gruschnitzki declamirt gern. Sobald sich die Unterhaltung nur ein wenig aus dem Kreise der gewöhnlichen Ideen entfernt, gleich überschüttet er Einen mit großen schönen Worten. Es ist mir nie möglich gewesen, mit ihm zu disputiren. Nicht blos, daß er auf die gemachten Einwürfe nicht antwortet, er hört sie nicht einmal an. Sobald man sich einen Augenblick unterbricht, beginnt er eine lange Tirade, die scheinbar in einem gewissen Zusammenhange steht mit dem, was man gesagt, in Wirklichkeit aber nur die Fortsetzung ist seiner eigenen Rede.

Es fehlt ihm nicht an Geist. Seine Epigramme sind bisweilen amüsant, aber niemals treffend und beißend: Er wird niemals seine Gegner mit einem Worte vernichten. Er kennt weder die Menschen noch ihre schwachen Seiten, weil er sich sein ganzes Leben lang nur mit sich selbst beschäftigt hat. Sein Ziel ist – ein Romanheld zu werden. Er hat sich so viel Mühe gegeben, Andere glauben zu machen, daß er ein ganz besonderes, für diese Welt nicht geschaffenes Wesen sei und an irgend einem geheimen Kummer leide, daß er das schließlich fast selbst glaubt. Darum trägt er auch mit solchem Stolz seinen dicken Soldatenmantel. Ich habe ihn durchschaut und deshalb mag er mich nicht leiden, obgleich wir äußerlich in der freundschaftlichsten Weise verkehren. Man betrachtet Gruschnitzki als einen sehr tapfern Soldaten. Ich habe ihn in der Schlacht gesehen: er schwingt seinen Säbel, schreit und stürzt sich mit funkelnden Augen vorwärts. Das ist nicht die echte russische Tapferkeit! ...

Ich mag ihn ebenfalls nicht leiden. Ich fühle, daß wir uns eines Tages auf einem engen Pfade stoßen werden – und daß wird für ihn oder für mich verhängnißvolle Folgen haben.

Seine Abreise nach dem Kaukasus war eine Folge seiner romantischen Ueberspanntheit. Ich bin überzeugt, daß er in dem Augenblick, wo er das väterliche Haus verließ, mit finsterer Miene zu irgend einer hübschen Nachbarin sagte:

"Ich gehe nicht lediglich fort, um die militärische Carrière zu ergreifen, – nein, ich gehe fort, um den Tod zu suchen und um ..."

Und bei diesen Worten wird er, die Augen mit den Händen bedeckend, vermuthlich also fortgefahren haben:

"Nein, Sie werden (oder du wirst) niemals den Grund meiner Verzweiflung erfahren! Ihre reine Seele würde erbeben! Und wozu sollte ich es Ihnen auch sagen? Was bin ich Ihnen? Können Sie mich verstehen? ..." u.s.w.

Er selbst hat mir gesagt, daß die Veranlassung seines Eintritts in die kaukasische Armee ewig ein Geheimniß bleiben würde zwischen ihm und dem Himmel.

Uebrigens muß ich hinzufügen, daß Gruschnitzki dann, wenn er seinen tragischen Mantel ablegt, recht angenehm und amüsant ist. Aber ich bin doch neugierig, ihn in Gegenwart von Frauen zu sehen; ich glaube, dann übertrifft er sich selbst.

Wir begrüßten uns übrigens als alte Freunde. Ich fragte ihn, was für ein Leben man an diesem Badeorte führe, und ob sich bedeutende Persönlichkeiten hier befänden.

"Wir leben hier ziemlich prosaisch," versetzte er seufzend. "Diejenigen, welche des Morgens Wasser trinken, sind blaß wie alle Kranken; und diejenigen, welche des Abends Wein trinken, sind unerträglich wie alle Gesunden. Es gibt einige Damengesellschaften; nur ist von ihnen kein großes Amüsement zu erwarten; sie spielen Whist, kleiden sich schlecht und sprechen ein schauderhaftes Französisch. In diesem Jahr ist eigentlich nur eine hervorragende Dame gekommen – die Fürstin Ligowski – mit ihrer Tochter, – aus Moskau; aber ich bin nicht mit ihnen bekannt. Mein Soldatenmantel ist gewissermaßen ein Proscriptionszeichen. Die Theilnahme, die er erwecken könnte, wäre nur ein beschimpfendes Almosen."

In diesem Augenblick kamen zwei Damen zur Quelle; die eine bereits bejahrt, die andere jung und schlank. Ihre Gesichter vermochte ich wegen der Hüte nicht zu sehen, aber sie waren nach den strengsten Regeln des besten Geschmacks gekleidet: nichts Ueberflüssiges. Die jüngere trug ein perlgraues Kleid; ein leichtes seidenes Tuch schlang sich um ihren schönen Hals, flohbraune Stiefelchen schmiegten sich so anmuthig um ihre kleinen Füße, daß selbst derjenige, der in die Geheimnisse der Schönheit nicht eingeweiht war, unfehlbar seufzen mußte, wenn auch nur vor Bewunderung. Ihr leichter, aber edler Gang hatte etwas Kindliches, etwas, wofür man keinen Namen hat, und das nur dem Auge verständlich ist. Als sie an uns vorüberging, verbreitete sich jenes unerklärliche Aroma, das bisweilen die Briefe einer schönen Frau ausströmen.

"Da ist die Fürstin Ligowski," sagte Gruschnitzki – "und die Dame bei ihr ist ihre Tochter Mary; denn so nennt sie sie nach englischer Weise. Sie sind erst drei Tage hier."

"Und du kennst schon ihren Namen?"

"Ich habe ihn zufällig gehört," antwortete er erröthend. "Ich gestehe, daß ich kein Verlangen trage, mit ihnen Bekanntschaft zu machen. Diese stolzen Damen betrachten uns Soldaten als Wilde. Was kümmert es sie, daß sich unter der numerirten Mütze Geist und unter dem dicken Soldatenmantel ein braves Herz befindet."

"Der arme Soldatenmantel," sagte ich lachend. "Aber wer ist der Mann, der da auf sie zutritt und ihnen so respectvoll ein Glas Wasser anbietet?"

"Ah, der, das ist Rajewitsch aus Moskau, ein Stutzer und Spieler. Das sieht man gleich an der ungeheueren goldenen Kette, die sich über seine blaue Weste schlängelt. Und dann dieser dicke Stock – als wenn er ihn direct von Robinson Crusoe entlehnt hätte! Und dieser Bart und diese Frisur à la Muschik (russischer Bauer)."

"Du bist boshaft gegen die ganze Menschheit."

"Habe ich nicht Recht?"

"O, freilich!"

In diesem Augenblick verließen die Damen die Quelle und näherten sich uns. Gruschnitzki nahm sofort mit Hilfe seiner Krücke eine dramatische Haltung an und sagte laut auf Französisch zu mir:

"Mon cher, je hais les hommes pour ne pas les mépriser, car autrement la vie serait une farce trop dégoûtante!"

 

Die schöne Fürstin wandte sich um und warf dem Redner einen langen Blick zu. Der Ausdruck dieses Blickes war sehr schwer zu bestimmen, aber er war wenigstens nicht ironisch, wozu ich meinem Begleiter innerlich gratulirte.

"Diese Fürstin Mary," sagte ich zu ihm, "ist wirklich sehr schön. Sie hat wahre Sammetaugen, – ja, ja, Sammetaugen: Ich rathe dir, diesen Ausdruck zu gebrauchen, wenn du von ihren Augen sprichst; die Wimpern, die obern sowol wie die untern, sind so lang, daß die Sonnenstrahlen die Pupillen nicht erreichen können. Ich liebe solche Augen ohne Glanz: sie sind so sanft, es thut einem so wohl, sie zu betrachten! Und dann scheint es mir, daß auch alle ihre Züge schön und regelmäßig sind ... Aber ob sie weiße Zähne hat? Das ist ein sehr wichtiger Punkt! Schade, daß deine schöne französische Phrase sie nicht zum Lachen gereizt hat."

"Du sprichst von einer schönen Frau wie von einem englischen Pferde," antwortete mir Gruschnitzki in vorwurfsvollem Tone.

"Mon cher," versetzte ich und versuchte seinen Ton nachzuahmen, "je méprise les femmes pour ne pas les aimer, car autrement la vie serait un mélodrame trop ridicule."

 

Mit diesen Worten wandte ich mich ab und ging meines Weges. Eine halbe Stunde lang promenirte ich in der von Weinranken beschatteten Allee, mitten unter Kalkfelsen und Buschwerk.

Es war heiß geworden, und ich beeilte mich, nach Hause zurückzukehren. Als ich an der Schwefelquelle vorbeikam, blieb ich unter der bedeckten Galerie stehen, um mich in ihrem Schatten ein wenig auszuruhen, und da hatte ich Gelegenheit, Zeuge eines ziemlich merkwürdigen Schauspiels zu sein. Die handelnden Personen waren folgendermaßen vertheilt: Die Fürstin und der Moskauer Stutzer saßen auf einer Bank der Galerie, und sie schienen Beide in ein sehr ernstes Gespräch vertieft. Die Tochter der Fürstin, die vermuthlich soeben ihr letztes Glas getrunken, ging nachdenklich in der Nähe der Quelle auf und ab. Auch Gruschnitzki befand sich bei derselben, im übrigen war der Platz ganz leer.

Ich näherte mich noch einige Schritte und verbarg mich hinter einer Ecke der Galerie. In diesem Augenblick ließ Gruschnitzki sein Glas auf den Sand fallen und strengte sich an, sich zu bücken, um es wieder aufzuheben; aber seine Wunde hinderte ihn daran. Der Aermste! Wie er sich mit Hilfe seines Krückstocks anstrengte – aber ganz umsonst. Sein Gesicht drückte in der That tiefes Leiden aus.

Die Fürstin Mary sah das Alles noch besser als ich.

Leichter als ein Vögelchen eilte sie auf ihn zu, hob das Glas auf und hielt es ihm mit einer unbeschreiblich anmuthigen Bewegung hin; dann erröthete sie, warf einen Blick auf die Galerie, und überzeugt, daß ihre Muttter nichts gesehen, schien sie sich sofort wieder zu fassen. Als Gruschnitzki den Mund aufthat, um ihr zu danken, war sie bereits fort.

Einen Augenblick später kam sie mit ihrer Mutter und dem Stutzer aus der Galerie. Aber als sie an Gruschnitzki vorbeiging, nahm sie einen so würdevollen, stolzen Ausdruck an, – – ja, sie wandte sich nicht einmal um, bemerkte nicht einmal den leidenschaftlichen Blick, mit welchem er ihr den Berg hinunter folgte, bis sie hinter den Linden des Boulevards verschwunden waren ... Aber da gewahrte ich noch einmal ihren Hut, – sie schritt über die Straße und trat in eines der schönsten Häuser von Pjätigorsk; ihre Mutter folgte ihr, und an der Thür verabschiedete sie sich von Rajewitsch.

Erst jetzt bemerkte der arme verliebte Fähndrich meine Gegenwart.

"Hast du gesehen?" sagte er und drückte mir heftig die Hand. "Sie ist ein Engel!"

"Warum denn?" fragte ich mit der aufrichtigsten Miene von der Welt.

"Hast du's denn nicht gesehen?"

"Was denn? Daß sie dir dein Glas aufgehoben hat? Wenn ein Aufseher dagewesen wäre, hätte er ganz dasselbe gethan, und zwar noch etwas schneller, da er ein Trinkgeld erwartet haben würde. Uebrigens ist es sehr natürlich, daß sie Mitleid mit dir hatte – du machtest eine so schauderhafte Grimasse, als du dich auf dein verwundetes Bein lehntest ..."

"Und es hat dich gar nicht afficirt, als du bemerktest, wie in diesem Augenblick ihr Antlitz der Spiegel ihrer Seele war?"

"Nein!"

Ich log. Aber ich wollte ihn zornig machen. Ich habe eine angeborene Neigung zum Widersprechen. Mein ganzes Leben ist nur eine lange Kette von Widersprüchen zwischen meinem Verstande und meinem Herzen. Der Anblick eines Enthusiasten macht mich eisig kalt, und ich glaube, daß häufiger Verkehr mit einem trübseligen phlegmatischen Individuum mich in einen Zustand der Exaltation versetzen würde. Ich muß gestehen, daß sich in diesem Augenblick noch ein anderes, wenig angenehmes Gefühl, das mir aber wohl bekannt ist, leise in mein Herz geschlichen hatte. Dies Gefühl war der Neid. Ich sage ohne Umschweife Neid, weil ich daran gewöhnt bin, mir selbst immer die Wahrheit zu sagen; und ich frage, gibt es einen jungen Mann, der, wenn er einer schönen jungen Frau begegnet, die seine Aufmerksamkeit fesselt, gleichmüthig mit ansehen könnte, wie diese schöne Frau einen Andern, der ihr eben so unbekannt ist wie er selbst, in seiner Gegenwart auszeichnet? ... (Es versteht sich von selbst, daß ein solcher junger Mann in der großen Welt gelebt und seine Eigenliebe vollständig entwickelt haben muß).

Schweigend schritten Gruschnitzki und ich den Berg hinunter und gingen an dem Hause vorüber, in welchem unsere schöne Prinzessin wohnte. Sie saß am Fenster. Gruschnitzki warf ihr, indem er mir die Hand drückte, einen jener zärtlich traurigen Blicke zu, die in der Regel eine so geringe Wirkung auf die Frauen machen.

Ich richtete meine Lorgnette auf sie und bemerkte, daß sie über den Blick meines Begleiters lächelte, während meine kecke Lorgnette sie ärgerte. Und in der That, wie konnte sich ein Offizier der kaukasischen Armee erlauben, sein Augenglas auf eine Moskauer Fürstin zu richten? ...


* * * 


 13. Mai.

 

Heut' Morgen hat mich der Doctor besucht. Er heißt Werner, ist aber Russe. Nun, daran ist nichts Auffallendes. Ich habe einen gewissen Iwanoff gekannt, der ein Deutscher war.

Werner ist in mehr als einer Hinsicht ein merkwürdiger Mensch. Er ist Skeptiker und Materialist, wie fast alle Mediciner; aber er ist zugleich Poet, wirklicher Poet, – immer in seinen Handlungen und oft in seinen Reden, obgleich er niemals in seinem Leben zwei Verse geschrieben hat. Er hat alle Falten des menschlichen Herzens untersucht, wie man die Adern eines Kadavers untersucht, aber niemals hat er es verstanden, seine Kenntnisse zu verwerthen. So vermag manchmal der ausgezeichnetste Anatomiker nicht, einen Fieberkranken zu behandeln. In der Regel macht Werner sich im Geheimen über seine Kranken lustig; aber ich habe gesehen, wie er an dem Bette eines sterbenden Soldaten weinte ... Er ist arm und träumt von Millionen und doch würde er des Geldes wegen keinen einzigen Schritt thun. Er sagte mir eines Tages, daß er lieber einem Feinde als einem Freunde einen Dienst erweise; denn, setzte er hinzu, einem Freunde einen Dienst erweisen, heißt seine Güte verkaufen, während nur der Haß des Menschen die Kraft habe, sich zur Höhe eines großmüthigen Gegners zu erheben.

Er hat eine boshafte Zunge. Mehr als einmal haben seine satirischen Ausfälle aus einem gutmüthigen Menschen einen lächerlichen Dummkopf gemacht. Die andern Aerzte des Bades, die eifersüchtig auf ihn sind, haben das Gerücht verbreitet, Werner machte Caricaturen von seinen Kranken, – und seine Kranken wurden wüthend auf ihn und haben ihn fast alle verabschiedet. Seine Freunde, das heißt alle wirklich anständigen Beamten im Kaukasus haben sich vergeblich bemüht, ihm wieder Credit bei den Kranken zu verschaffen.

Werner gehört zu denjenigen Menschen, deren Aeußeres auf den ersten Blick nicht gefällt, die aber einen ganz andern Eindruck hervorbringen, sobald man in ihren unregelmäßigen Zügen das Gepräge eines starken edlen Herzens erkannt hat. Es ist nichts Seltenes, daß Frauen sich in solche Männer bis zum Wahnsinn verlieben, und daß sie die Häßlichkeit derselben nicht mit der Schönheit eines Endymion vertauschen möchten. Man muß den Frauen die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie einen Instinkt für die Schönheit der Seele haben, – und das ist auch vielleicht der Grund, weshalb Männer wie Werner die Frauen so leidenschaftlich lieben.

Werner ist klein, mager und schwach wie ein Kind. Wie bei Byron ist der eine seiner Füße kürzer als der andere. Im Vergleich zu dem übrigen Körper ist der Kopf sehr groß. Er trägt das Haar kurzgeschnitten und die Unebenheiten seines Schädels, in dieser Weise bloßgelegt, würden einem Phrenologen durch die Mischung der verschiedenartigsten Neigungen in Erstaunen setzen. Seine kleinen schwarzen, immer unruhigen Augen scheinen unsere innersten Gedanken ergründen zu wollen.

Sein Anzug verräth Geschmack und Sorgfalt. Seine kleinen magern Hände sind mit hellgelben Handschuhen bedeckt. Er trägt beständig einen schwarzen Ueberrock, schwarze Cravatte und schwarze Weste. Die Jugend hat ihn Mephistopheles getauft. Zum Schein protestirt er energisch gegen diesen Namen, aber in Wirklichkeit schmeichelt er seiner Eitelkeit.

Wir haben einander sehr bald verstanden und sind Freunde geworden, – eben darum, weil ich nicht zur Freundschaft geschaffen bin. Von zwei Freunden ist der eine immer der Sklave des andern, wenngleich oft weder der eine noch der andere das eingesteht. Aber ich kann keines Menschen Sklave sein, und was die andere Rolle betrifft, so ist das Herrschen zu ermüdend, denn man muß nicht blos commandiren, sondern auch zugleich täuschen, und zudem habe ich Lakaien und Geld. Ich habe Werner's Bekanntschaft bei S. gemacht. Es gab dort eine zahlreiche und ziemlich geräuschvolle Gesellschaft junger Leute. Das Gespräch kam schließlich auf philosophisch-metaphysische Gegenstände. Man sprach von Ueberzeugungen, und ein Jeder gab die seine zum Besten.

"Was mich betrifft," sprach der Doctor, "so bin ich nur einer einzigen Ueberzeugung."

"Und die ist?" fragte ich; denn ich war begierig, die Meinung eines Mannes kennen zu lernen, der bis dahin den Mund nicht aufgethan hatte.

"Daß ich früher oder später eines schönen Morgens sterben werde."

"Nun, da bin ich reicher als Sie," versetzte ich, "denn ich weiß außerdem, daß ich an einem sehr schlechten Abend das Unglück hatte, geboren zu werden." 

 

Alle Anwesenden erklärten, daß wir dummes Zeug schwätzten, aber es war in der That Niemand da, der etwas Vernünftigeres gesagt hätte, als wir.

Seit diesem Tage trennten wir uns von dem großen Haufen. Wir gingen oft zusammen spazieren und besprachen mit feierlichem Ernst die abgezogensten Gegenstände, bis wir endlich bemerkten, daß wir uns gegenseitig täuschten. Da blickten wir uns vielsagend in die Augen und brachen, wie nach Cicero's Versicherung die römischen Auguren, in Lachen aus – und als wir uns ausgelacht, gingen wir sehr zufrieden auseinander.

Ich lag auf einem Sofa, die Augen nach der Decke gerichtet und die Arme unter dem Kopfe gekreuzt, als Werner in mein Zimmer trat. Er stellte seinen Stock in die Ecke, setzte sich in einen Lehnstuhl, gähnte und theilte mir dann mit, daß es draußen sehr warm sei.

Ich erwiderte, daß ich sehr von den Mücken belästigt würde – und wir beobachteten beide Schweigen.

"Haben Sie schon die Beobachtung gemacht, lieber Doctor," bemerkte ich endlich, "daß es ohne die Dummköpfe sehr langweilig hier auf Erden wäre? ... Da sitzen oder liegen wir zwei klugen Leute einander gegenüber. Wir wissen zum Voraus, daß man über Alles bis ins Unendliche disputiren kann, und darum disputiren wir gar nicht. Jeder von uns kennt fast alle geheimen Gedanken des Andern. Ein einziges Wort genügt, um uns eine ganze Geschichte mitzutheilen; wir erkennen den Keim jedes unserer Gefühle durch seine dreifache Hülle hindurch. Was Anderen traurig erscheint, finden wir lächerlich, und was lächerlich ist, erscheint uns betrübend, – und doch sind wir gegen Alles, was nicht unsere eigene Person angeht, ziemlich gleichgiltig. Unter solchen Umständen ist auch ein gegenseitiger Austausch von Gedanken und Gefühlen bei uns nicht möglich. Wir wissen Einer von dem Andern Alles, was wir wissen können; und mehr wollen wir nicht wissen. Es bleibt uns nur ein Mittel, die Unterhaltung zu beleben, nämlich uns Neuigkeiten zu erzählen. Erzählen Sie mir irgend eine Neuigkeit."

Ermüdet durch diese lange Rede schloß ich die Augen und gähnte.

Nach einigem Nachdenken antwortete der Doctor:

"In all dem Galimathias ist doch noch ein Gedanke."

"Zwei!" versetzte ich.

"Gut. Sagen Sie mir den einen; ich werde Ihnen den andern sagen."

"Sehr schön. Beginnen Sie," erwiderte ich, indem ich wieder zur Decke blickte und innerlich lächelte.

"Sie wünschen einige nähere Angaben über die Personen, die sich hier im Bade befinden, und ich errathe schon, mit welchen Sie sich beschäftigen, denn sie haben sich schon nach Ihnen erkundigt."

"Doctor, wir haben wirklich nicht nöthig, uns etwas zu erzählen; wir lesen gegenseitig in unserer Seele."

"Und jetzt der andere Gedanke."

"Der zweite Gedanke ist dieser: Ich wollte Sie zum Erzählen veranlassen, erstens, weil das Zuhören weniger ermüdend für mich ist als das Reden; zweitens, weil ich Ihnen dann nicht zu widersprechen brauche; drittens, weil ich auf diese Weise vielleicht irgend ein fremdes Geheimniß erfahre, und viertens, weil kluge Leute wie Sie lieber reden als zuhören. Und nun zur Sache: Was hat Ihnen die alte Fürstin Ligowski von mir erzählt?"

"Sind Sie denn so überzeugt, daß die Mutter und nicht die Tochter von Ihnen gesprochen hat?"

"Vollkommen!"

"Warum?"

"Weil die Tochter sich bei Ihnen nach Gruschnitzki erkundigt hat."

"Sie besitzen in hohem Grade die Gabe der Combination ... Nun ja, die junge Fürstin sagte zu mir, sie sei überzeugt, dieser junge Mann im Soldatenmantel sei wegen eines Duells degradirt worden ..."

"Ich hoffe, Sie haben sie in dieser angenehmen Illusion gelassen ..."

"Selbstredend ..."

"Der Knoten ist geschürzt," rief ich entzückt aus; "für die Lösung werden wir schon sorgen. Es ist klar, das Schicksal hat Mitleid mit mir; es gibt mir ein Mittel gegen die Langeweile."

"Ich sehe voraus," fuhr der Doctor fort, "daß der arme Gruschnitzki Ihr Opfer werden wird ..."

"Weiter, Doctor!"

"Die Fürstin Mutter sagte mir, Ihr Gesicht sei ihr nicht unbekannt. Ich bemerkte ihr, sie würde Ihnen wahrscheinlich in Petersburg in irgend einem Salon begegnet sein .... und ich nannte Ihren Namen. Er war ihr bekannt. Wie es scheint, haben Ihre Abenteuer viel Lärm gemacht ... Sie hat mir verschiedene erzählt, indem sie, vermuthlich nach dem Recept der bösen Zungen, ihre Bemerkungen hinzufügte ... Ihre Tochter hörte neugierig zu. Ihre Phantasie hat einen neumodischen Romanhelden aus Ihnen gemacht ... Ich habe der Fürstin nicht widersprochen, obgleich ich wußte, daß sie manches dumme Zeug zum Besten gab."

"Würdiger Freund!" rief ich aus und streckte dem Doctor meine Hand entgegen.

Er drückte sie mit Gefühl und fuhr fort:

"Wenn Sie wollen, stell' ich Sie vor ..."

"Aber ich bitte Sie!" rief ich. "Stellt man denn einen Helden vor! Der Held darf nur in dem Augenblick erscheinen, wo er seine Geliebte vom sichern Tode errettet ..."

"Und wollen Sie in der That der jungen Fürstin den Hof machen?"

"Durchaus nicht! ... Doctor, endlich triumphire ich. Sie haben meine Gedanken nicht errathen! ... Und doch," fuhr ich nach einem Augenblick des Schweigens fort, "mischt sich ein Gefühl der Traurigkeit in mein Siegesbewußtsein. Sehen Sie, ich offenbare nie selbst meine Geheimnisse, aber es ist mir sehr lieb, wenn Andere sie errathen, denn in diesem Fall kann ich sie immer verläugnen, wenn ich das für gut finde. Aber erzählen Sie mir weiter von Mama und Tochter. Was sind sie für Frauen?"

"Was zunächst die Mutter betrifft," antwortete Werner, "sie ist eine Frau von fünfundvierzig Jahren – ausgezeichneter Magen –, verdorbenes Blut –, rothe Flecken im Gesicht. Die letzte Hälfte ihres Lebens hat sie in Moskau verlebt und ist dort in ihrer Zurückgezogenheit beleibt geworden. Sie hört gern anstößige Anekdoten erzählen und gibt selbst bisweilen solche zum Besten, wenn die Tochter nicht im Zimmer ist. Sie hat mir erklärt, ihre Tochter sei unschuldig wie eine Taube. Was geht das mich an? ... Ich hätte ihr gern geantwortet, sie möchte sich nur beruhigen, ich würde dies Geheimniß keinem Menschen verrathen."

"Die Fürstin Mutter läßt sich vom Rheumatismus curiren; an welcher Krankheit die Tochter leidet, weiß ich nicht. Ich habe Beiden täglich zwei Glas schwefelhaltiges Wasser und wöchentlich zwei Bäder in dem Bassin der Quelle verordnet. Die alte Fürstin ist, wie es scheint, ans Befehlen nicht gewöhnt; sie bewundert den Geist und das Wissen ihrer Tochter, die Byron im Original liest und Algebra versteht. Offenbar legen sich in Moskau die jungen Damen auf ernste Studien, und daran thun sie wohl! Im Allgemeinen sind unsere jungen Männer so unliebenswürdig, daß es bei geistvollen Frauen viel Selbstverläugnung erheischt, mit ihnen zu kokettiren. Die Fürstin sieht gern junge Leute; ihre Tochter dagegen betrachtet sie mit einer gewissen Verachtung – eine Moskauer Gewohnheit! In Folge ihrer Erziehung reden und benehmen sich die Moskauer jungen Damen wie vierzigjährige Männer."

"Haben Sie denn in Moskau gelebt, Doctor?"

"Ja, ich hatte dort eine ziemlich gute Praxis."

"Fahren Sie fort."

"Ich glaube, ich habe Alles gesagt ... nein, noch Eins: Die junge Fürstin scheint es zu lieben, über Gefühle, Leidenschaften und dergleichen zu reden. Sie hat einen Winter in Petersburg verlebt; aber die Residenz hat ihr nicht gefallen, und noch weniger die dortige Gesellschaft. Wahrscheinlich hat man sie kalt empfangen."

"Haben Sie heut' Niemand bei ihr gesehen?"

"Ja, einen Adjutanten, einen Garde-Offizier – einen sehr aufgeblasenen Menschen – und eine erst kürzlich angekommene Dame, die durch ihren Mann mit der Fürstin verwandt ist, eine sehr schöne Frau, aber wie es scheint, auch sehr krank ... Haben Sie sie heut' Morgen bei der Quelle nicht bemerkt? – mittlere Größe, Blondine, regelmäßige Züge, schwindsüchtige Gesichtsfarbe und auf der rechten Wange ein kleiner schwarzer Fleck. Der Ausdruck dieses Gesichts ist mir aufgefallen."

"Ein kleiner Fleck," murmelte ich durch die Zähne. "Ist's möglich!"

Der Doctor sah mich an, legte mir die Hand aufs Herz und sagte triumphirend:

"Sie ist Ihnen bekannt."

Mein Herz schlug in der That heftiger als gewöhnlich.

"Dies Mal," versetzte ich, "ist an Ihnen die Reihe zu triumphiren. Aber ich muß mich Ihnen anvertrauen; Sie dürfen mich nicht täuschen. Ich habe sie noch nicht gesehen. Allein nach der Schilderung, die Sie mir von ihr entworfen, erkenne ich in ihr eine Frau, die ich einstens liebte ... Sagen Sie ihr kein Wort von mir; und wenn sie Sie fragen sollte, reden Sie so ungünstig wie möglich von mir."

"Ihr Wille geschehe," sprach Werner achselzuckend. 

 

Als er fortgegangen war, schnürte mir eine schreckliche Traurigkeit das Herz zusammen. Ist es der Zufall, der uns von neuem im Kaukasus vereint hat? Oder ist sie hierhergekommen mit der Gewißheit, mich hier zu treffen? Und wie werden wir uns wieder begegnen? ... Und dann? ...

Meine Ahnungen haben mich nie getäuscht. Ueber keinen Menschen in der Welt hat die Vergangenheit eine solche Gewalt, wie über mich. Jede Erinnerung an eine Freude oder ein Leid fällt unerbittlich in meine Seele, ohne daß die Eindrücke sich abschwächen ...

Ich bin ganz abscheulich organisirt: Ich vergesse nichts – gar nichts!

Nach dem Essen, gegen sechs Uhr, begab ich mich nach dem Boulevard, wo sich die Mehrzahl der Badegäste vereinigt fand. Die Prinzessin und ihre Tochter saßen auf einer Bank, umgeben von einer Schaar junger Leute, die in Liebenswürdigkeiten mit einander wetteiferten. Ich setzte mich in einiger Entfernung auf eine andere Bank neben zwei Offiziere meiner Bekanntschaft und begann diesen etwas zu erzählen; sie mußten das wol sehr amüsant finden; denn sie lachten aus vollem Halse. Die Neugier zog einige von den Curmachern der jungen Fürstin zu mir herüber; dies Beispiel wirkte ansteckend; bald sahen sich die Damen vollständig verlassen. Ich blieb am Reden. Meine Anekdoten waren witzig bis zur Albernheit; meine Bemerkungen über vorübergehende originelle Badegäste waren voll boshaftester Ironie ... In dieser Weise fuhr ich fort, mein Publikum zu erheitern bis zum Sonnenuntergang.

Mehr als einmal war die junge Fürstin am Arm ihrer Mutter, die von einem hinkenden kleinen Greise geführt wurde, an uns vorübergekommen; mehr als einmal hatte sie mir einen Blick zugeworfen, der hellen Aerger ausdrückte, obgleich sie sich bemühte, ihm einen Ausdruck von Gleichgiltigkeit zu geben.

"Was hat er Ihnen denn erzählt?" fragte sie einen der jungen Leute, die aus Höflichkeit zu ihr zurückgekehrt waren. "Ohne Zweifel eine sehr interessante Geschichte – einige seiner Heldenthaten auf dem Schlachtfelde ..."

Sie sagte das sehr laut, wahrscheinlich in der Absicht, mich zu verletzen.

Aha, dachte ich. Ja, ja, meine schöne Fürstin, Sie haben Ursache, böse auf mich zu sein. Geduld, es kommt noch besser!

Gruschnitzki folgte ihr wie ein Raubthier; er verlor sie keinen Augenblick aus den Augen. Ich möchte wetten, daß er schon morgen Jemand ersucht, ihn der Fürstin vorzustellen. Sie wird darüber hoch erfreut sein, denn sie langweilt sich.


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 16. Mai.

 

Seit zwei Tagen haben meine Angelegenheiten ganz ungewöhnliche Fortschritte gemacht. Ganz entschieden, die junge Fürstin haßt mich. Sie hat mir bereits zwei oder drei sehr beißende aber zugleich sehr schmeichelhafte Epigramme an den Kopf geworfen. Sie findet es im höchsten Grade auffallend, daß ich, der ich an die vornehmste Gesellschaft gewöhnt bin, und auf einem sehr freundschaftlichen Fuße stehe mit ihren Petersburger Cousinen und Tanten, nicht den Versuch mache, mich ihrer Mutter vorstellen zu lassen.

Wir begegnen uns täglich an der Quelle und auf dem Boulevard. Ich scheue keine Mühe, ihr nach und nach alle Anbeter zu entführen: die glänzenden Adjutanten, die blassen Moskauer und die Andern – und es glückt mir fast immer. Früher konnte ich mich nicht dazu entschließen, Gäste bei mir zu sehen; jetzt ist mein Haus alle Tage voll. Man dinirt, soupirt und spielt, – und leider übt mein Champagner eine mächtigere Wirkung aus als die magnetische Kraft ihrer schönen Augen.

Gestern traf ich sie in einem vornehmen Verkaufsmagazin. Sie wollte einen prachtvollen persischen Teppich kaufen. Sie bat die Mama, nicht auf den Preis zu sehen: der Teppich würde sich in ihrem Cabinet so schön ausnehmen! ... Ich bot vierzig Rubel mehr, und der Teppich war mein.

Ich ward mit einem Blicke belohnt, in welchem die hellste Wuth glühte. Um die Zeit des Diners ließ ich mein Tscherkessenpferd, bedeckt mit diesem selben Teppich, unter ihren Fenstern vorüberführen. Werner befand sich in diesem Augenblick gerade bei ihnen, und er hat mir gesagt, der Effect sei höchst dramatisch gewesen. Fürstin Mary will eine Verschwörung gegen mich anzetteln. Schon habe ich bemerkt, daß die beiden Adjutanten mich sehr frostig grüßen, wenn sie sich in ihrer Gesellschaft befinden, was sie jedoch nicht hindert, alle Tage bei mir zu speisen.