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für Wolfgang (†) und Marianne Gesemann

ISBN 978-3-492-97795-1

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugszell

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Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

»Sympathie zwischen Bayern und Frankreich«

Herkunft und geistige Voraussetzungen

»Meine geistige Einzelhaft«

Kindheit und Jugend (1870–1888)

»Nichtstun –, das wird nicht länger gehen«

Literarische Anfänge (1888–1899)

»Hofnarrenposten«

Auf dem diplomatischen Parkett (1899–1906)

»Ich würde Ihnen alle Blumen ins Haus schicken«

Der literarische Durchbruch (1907–1913)

»Jene Meisterprobe männlicher Stupidität«

Erster Weltkrieg und Schweizer Exil (1914–1918)

»René guckst du nach meinem Rosengarten?«

Neubeginn in Badenweiler (1919–1923)

»Meine Liebe, es ist ziemlich aussichtslos«

Das Badenweiler Jahrzehnt (1923–1933)

»Aber wir werden nicht zu Schanden werden«

Europäisches Exil (1933–1941)

»Dankbar und unglücklich«

Amerikanisches Exil (1941–1945)

»Aber einer muß es ihnen doch sagen«

Schwierige Rückkehr (1945–1961)

»Dein Land ist schon mein Land geworden!!«

Sehnsucht nach dem Heiligen Land (1961–1967)

Bildteil

Anmerkungen

Bibliografie

Zeittafel

Bildnachweise

Danksagung

Vorbemerkung

Hermann Kesten, einer der engsten Freunde Annette Kolbs, meinte einmal: »Sie ›liebt es nicht, sich zu erinnern‹ […] und veröffentlicht ihr Leben lang Erinnerungen. Ihre Romane sind verhüllte Autobiographien.«[1]

Sie selbst, aufgefordert, ein Bild von sich zu zeichnen, schrieb in Befohlenes Selbstporträt für Quartaner (1932): »Ob sie euch noch etwas zu sagen haben wird, und ob etwas von ihren Büchern noch bleiben wird, wenn sie tot ist, das sind Fragen, die nur ihr werdet beantworten können. Ihr werdet also mehr über sie wissen als sie selbst. Aber was sie besser weiß als ihr: sie hat sich, obwohl ihre Bücher nicht eben zahlreich sind, schrecklich geplagt. […] Zum Schreiben drängte sie nicht das Talent, sondern ihre Meinungen und in der Gedanklichkeit, was immer man euch heute über sie erzählen mag, liegt der Schwerpunkt ihrer Arbeiten.«[2]

Der Chronist dieses fast ein Jahrhundert währenden Lebens folgte ihren Romanen und Erzählungen, ihren Essays und Plaudereien, ihren Briefen und Notizbüchern. Er tat dies in Bewunderung für ihr Talent und in Achtung vor der Courage, mit der sie ihre Meinungen verfocht, auch wenn er ihre Ansichten nicht immer teilen konnte. Er hofft, dass er die Leser dieser Biografie auf ihre Schriften neugierig macht. Franz Blei schrieb einmal an Annette Kolb: »Wär ich ein Verleger, machte ich eine Ausgabe deiner Werke in sechs hübschen Bändchen: das so hintereinander zu sehen und zu lesen, müsste eine reizende Offenbarung sein.«[3] Die überarbeitete Neuausgabe dieser erstmals 2002 erschienenen Biografie wird zum 50. Todesjahr Annette Kolbs vorgelegt. Zu diesem Anlass erscheint im Wallstein Verlag Göttingen auch eine vierbändige Werkausgabe.[4]

Abgesehen von Annette Kolbs bewunderungswürdigem literarischen Werk hatte ihr Leben exemplarischen Charakter in einem Jahrhundert geistesgeschichtlicher und historischer Umstürze und Katastrophen. Ihre Vita war beispielhaft und außerordentlich zugleich, indem sie sich ihre Überzeugungen, ihre Eigenheiten und ihre individuelle Freiheit wahrte, dies in einer Zeit der Diktaturen, Ideologien und Massenpsychosen. Sie selbst fragte sich nach ihrer geglückten Flucht vor den Nationalsozialisten: »Nur ich bin entronnen […] Warum? Warum? Was soll es heißen?«, und fand die Antwort: »Ich soll es zur Sprache bringen!«[5]

In einem Brief an René Schickele schrieb Annette Kolb unter Verwendung der fürs Bayrische typischen doppelten Negation: »Nein dafür werde ich schon Sorge tragen, dass es keine Biographie von mir nicht gibt oder alles erst … und erlogen, das wäre ganz wichtig.«[6] Der Biograf bittet Annette Kolb an dieser Stelle um Verzeihung, gegen ihr Verdikt verstoßen zu haben. Er hat, um nichts »erstinken und erlügen« zu müssen, auch viele bislang unveröffentlichte Dokumente, Briefe und Tagebücher eingesehen und ausgewertet. Die bisweilen eigenwillige Orthografie und Zeichensetzung Annette Kolbs wurden beibehalten, ebenso stilistische Eigenheiten.

»Sympathie zwischen Bayern und Frankreich«

Herkunft und geistige Voraussetzungen

In den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts konnte man – so wird kolportiert – bisweilen beobachten, wie der junge, 1933 geborene Wittelsbacher Prinz Franz von Bayern in der Händelstraße 1 im Münchner Stadtteil Bogenhausen vorfuhr, um dort den Nachmittag bei Tee und Konversation mit einer alten Dame zu verbringen. Ihr Name: Annette Kolb. Als im Februar 1965 hochoffiziell ihr neunzigster Geburtstag gefeiert wurde, erstaunte sie die Öffentlichkeit mit dem Eingeständnis, sie sei bereits fünfundneunzig und führe seit einem halben Jahrhundert falsche Papiere.

Diese beiden Anekdoten sind bezeichnend für Leben und Haltung der Schriftstellerin Annette Kolb. Sie lassen etwas erahnen von der leicht skurrilen Zuneigung der überzeugten Demokratin zum Hause Wittelsbach, von der versponnenen Eitelkeit angesichts des eigenen Alters und von der Lust an Geheimnis und Geheimniskrämerei. Diese Anekdoten lassen den biografischen Blick aber auch hundert Jahre weiter zurückwandern in eine Zeit, als Bayern noch Königreich war und es noch kein geeintes Deutschland gab. Annette Kolbs langes und aufregendes Leben umfasste ein Jahrhundert, das von großen politischen, ökonomischen und soziokulturellen Umwälzungen geprägt war, ein Jahrhundert, in dem Deutschland eine führende und zugleich fatale Rolle spielte. In ihre Lebenszeit fallen: der Krieg gegen Frankreich, die Gründung des deutschen Kaiserreichs, die drängende soziale Frage, die Erstarkung der sozialdemokratischen Bewegung, der Erste Weltkrieg mit dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs und des bayrischen Königreichs, die Räterepublik in München, die Weimarer Republik, die nationalsozialistische Diktatur, der Zweite Weltkrieg, die Teilung Deutschlands und die Gründung zweier deutscher Staaten, die zweite Demokratie auf deutschem Boden mit ihrer konservativen Ausrichtung unter Konrad Adenauer und ihren linken Gegenströmungen in der Jugend- und Hippiebewegung der 1960er-Jahre.

Annette Kolb hat dieses bewegte Jahrhundert kritisch begleitet, in ihren Schriften wie in ihrem öffentlichen Engagement. Sie war katholisch und aufklärerisch, konservativ und liberal. Und sie strafte Kritiker Lügen durch die Kompromisslosigkeit ihrer Zivilcourage, als sie – die die Freiheit über alles liebte und verteidigte – um der Freiheit willen mehrmals ins Exil ging: Von 1916 bis 1922 lebte sie in der Schweiz, von 1933 bis 1941 in der Schweiz, in Luxemburg, Frankreich und Irland, von 1941 bis 1945 in den Vereinigten Staaten von Amerika – ein Zeitraum, dem sich noch ein »Exil nach dem Exil« anschloss: die unruhigen Wanderjahre zwischen Irland, Frankreich und der Schweiz von 1945 bis zu ihrer endgültigen Rückkehr in die Vaterstadt München im Jahre 1961.

Annette Kolbs gesellschaftliche und kulturelle Prägung weist jedoch über Deutschland und dieses Jahrhundert hinaus. Sie führt über die Eltern zurück ins liberal gesinnte, Künste und Wissenschaften fördernde Königreich unter Maximilian II. Joseph von Bayern. Es waren zudem die Jahrzehnte unter König Ludwig II. und dem Prinzregenten Luitpold, die Annette Kolbs künstlerische und politische Anschauungen prägten. Das »Deutsche« war ihr insofern suspekt, als es für sie lange Zeit ein Synonym für das »Preußische« war. Erst in der Weimarer Republik konnte sie sich als Künstlerin, Katholikin, Pazifistin und nicht zuletzt als Münchnerin mit dem Staat aussöhnen, wenngleich in dieser Republik das von ihr verehrte Herrscherhaus der Wittelsbacher keine politische Macht mehr besaß. Aus ihren letzten Lebensjahren stammt ein unveröffentlichter Essay mit dem Titel Bayern, worin sie sich an das Königreich ihrer Kindheit und Jugend erinnert und dessen zivilisatorischen Rang rühmt – wenngleich im nostalgischen Rückblick des Alters verklärt: »Wir nannten Bayern berufen: Es hatte eine Dynastie wie kein anderes Land. Der Krieg und seine Greuel waren ihr fremd. Sie hat gelebt für die Kultur, die Schönheit, den Frieden. In unserer schwer bedrohten Zeit war Bayern mit seiner Dynastie ein Glück und Segen für Europa.«[1]

Wie Annette Kolb um ihr Alter ein Geheimnis machte, so auch um ihre Herkunft. Es gab seit jeher Gerüchte über eine illegitime adlige Abkunft ihres Vaters Max Kolb. Annette Kolb selbst – so sehr sie mit der Liebe zur bayrischen Monarchie kokettierte – wies zeitlebens alle Mutmaßungen zurück. Im Jahre 1917 strengte sie sogar einen Rechtsstreit mit dem Genfer Verlag Éditions ATAR an, der behauptet hatte, sie sei »verwandt mit dem Hof des Königs von Bayern«.[2] Sie selbst hat jedoch im hohen Alter einmal ihrer Nichte ihre »wahre« Abkunft vom Hause Wittelsbach eingestanden.[3] Auch ihrem engsten Freund, dem Schriftsteller René Schickele, hatte sie von ihrer Verwandtschaft mit dem Königshaus erzählt.[4]

Max Kolb, Annette Kolbs Vater, kam am 28. Oktober 1829 in München als unehelicher Sohn der Juliana Lorz, einer Zofe Königin Thereses von Bayern, zur Welt. Nach der Geburt des Knaben unterschrieb der Hoflakai Dominikus Kolb eine Vaterschaftserklärung und gab damit dem Kind auch seinen Familiennamen. Max Kolb wuchs auf Schloss Possenhofen am Starnberger See auf und durfte später die Schule der Benediktinerabtei Scheyern besuchen. Die Schulkosten für den Sohn der mittellosen Zofe wurden vom Hause Wittelsbach getragen.[5] Es ist zu vermuten, dass Juliana Lorz-Kolb ihren Sohn nicht von ungefähr auf den Namen Max taufen ließ, und dass Kronprinz Maximilian, der spätere König Maximilian II. Joseph, der leibliche Vater des Knaben war. Die schulische und berufliche Förderung Max Kolbs durch den König deutet ebenfalls darauf hin.

Als junger Mann wurde Max Kolb nach Berlin geschickt, wo er bei Peter Joseph Lenné eine Ausbildung zum Gartenarchitekten erhielt. Es folgten Anstellungen in Potsdam-Sanssouci, in Gent und seit 1855 in Paris als »jardinier principal«. In der französischen Hauptstadt lernte Max Kolb seine Frau kennen. Zu jener Zeit herrschte Napoleon III. als Kaiser der Franzosen. Wenngleich das Empire ein Jahr nach Annette Kolbs Geburt im Deutsch-Französischen Krieg unterging, wurden doch Stil und Lebensweise der Pariser Gesellschaft im Kaiserreich prägend für Annette Kolbs eigene Kindheit – dies durch Vermittlung ihrer Mutter. Sophie Danvin wurde 1840 in Paris geboren und – anders als ihr eher bodenständiger Mann – früh mit den Künsten vertraut. Ihre Eltern waren die damals bekannten Landschaftsmaler Félix Danvin (er starb bereits 1842) und Constance Amélie Lambert-Danvin. Sophie selbst war hochmusikalisch und studierte am berühmten Pariser Konservatorium Klavier. Mit sechzehn Jahren gewann sie den Ersten Preis des Instituts. Sie komponierte auch und schrieb Aufsätze zur Musik.[6] Das Haus der Danvins war weniger bohemienhaft als vielmehr bürgerlich-akademisch. Max Kolb, der einen bürgerlichen Beruf ausübte (später brachte er es in München noch bis zum Oberinspektor und führte den Titel »königlicher wirklicher Rat«), galt den Danvins deshalb als gesellschaftlich akzeptabler Schwiegersohn, doch bedeutete die Ehe, die Max Kolb und Sophie Danvin 1858 schlossen, für die Braut den Verzicht auf eine pianistische Karriere.

Die Verbindung des bayrischen Gartenarchitekten mit der französischen Pianistin war eher eine amour fou als eine tiefere Seelenverwandtschaft. Für Annette Kolb jedoch wurden die Ehe der Eltern und das Aufwachsen an der Schnittstelle zweier Kulturen zum Symbol für das Verbindende dieser beiden Völker, die zur Kaiserzeit und darüber hinaus oft als »Erbfeinde« apostrophiert wurden. Zwar lebten Max und Sophie Kolb in ihrer Ehe ein wenig nebeneinander her, doch zeigten sie voreinander Achtung – wenngleich mit einer gewissen Ironie. Annette Kolb schrieb: »Daß sie mit sechzehn Jahren den ersten Preis für Klavier am Pariser Conservatorium davongetragen hatte, imponierte zwar meinem Vater, doch besaß er für Musik ebenso wenig Verständnis wie sie für Botanik. […] Ein sehr anmutiges und interessantes, aber ungereimtes Paar machte seine Hochzeitsreise nach London.«[7]

Annette Kolb setzte ihrem Elternhaus später ein zweifaches literarisches Denkmal: einmal in ihrem Essay König Ludwig II. von Bayern und Richard Wagner, ein andermal in dem autobiografischen Roman Die Schaukel. Noch wenige Jahre vor ihrem Tod erhob Annette Kolb die binationale Ehe der Eltern zu einem Symbol der Völkerfreundschaft und äußerte zugleich Vorbehalte gegen Preußen und dessen Rolle bei der Einigung des Deutschen Reichs: »Das alles in Folge der Kriege, an deren Ausbruch Bayern gewiss nicht schuld war. Sie [die Bayern] liessen sich von den Berlinern blenden. […] Es bestand von jeher eine Neigung zur Sympathie zwischen Bayern und Frankreich […].«[8]

1859 kam König Maximilian II. Joseph nach Paris und griff erneut in das Schicksal seines illegitimen Sohnes ein: Der frisch verheiratete Max Kolb führte den Monarchen durch die von ihm angelegten Gartenanlagen. Wenig später erhielt Max Kolb aus München das Angebot, die Leitung der botanischen Gärten in der bayrischen Hauptstadt zu übernehmen. »Haus, Licht und Holz frei, ein hübsches Gehalt, die Ermächtigung, Gärten anzulegen, wo sich ihm Gelegenheit bot, und last not least, freie Fahrt auf den bayrischen Staatsbahnen«, erinnerte sich Annette Kolb. Nicht alle waren darüber glücklich: »Meine Großmutter [Constance Danvin] war außer sich, meine Mutter mochte ihm [Max Kolb] nichts erschweren. Die beiden Damen setzten sich zusammen und lasen [Goethes] Hermann und Dorothea, in welcher Übersetzung ahne ich nicht, und meine Großmutter schloß aus der Lektüre, die Deutschen seien zwar sehr kleinstädtisch, mais de braves gens [aber rechtschaffene Leute]. Das Beste war ein Kompromiß. Lang hielt man es natürlich dort nicht aus: zwei Jahre München, dann nach Paris zurück.«[9]

1860 zogen die Kolbs einschließlich Constance Danvin nach München, in die Dienstwohnung des königlichen Gartenbauinspektors in der Sophienstraße 7. Aus den intendierten zwei Jahren wurden indes Jahrzehnte: Der Grund lag in Max Kolbs glänzender Karriere unter Maximilian II. Joseph (gestorben 1864), Ludwig II. (1864–1886) und dem Prinzregenten Luitpold (1886–1912). Zudem ließ es sich für Sophie Kolb und Constance Danvin in der französischen Gemeinde Münchens recht angenehm leben. Und schließlich vereitelte zehn Jahre später der Krieg von 1870/71 eine Rückkehr nach Paris. Sophie Kolb hat zeitlebens Deutsch kaum gesprochen, sie wollte es wohl nie erlernen. In der Familie – Max Kolb war zudem beruflich viel unterwegs – parlierte man überwiegend Französisch. Mode, Umgangsformen, Kunst, Musik, Literatur orientierten sich am Second Empire. Das Zierliche und Elegante, das Dandyhafte und das Raffinement kamen der süddeutsch-barocken Sinnesfreude entgegen: »Man stand noch im Zeichen des zierlichen Jäckchens zur weiten Crinoline, der seidenen Quasten, der aufgepolsterten Stühle und Schachteln, der wattierten Bonbonnieren. Auch das Leben war wattiert.«[10] Wenngleich das Leben Annette Kolb nicht mit wattierten Handschuhen anfassen sollte: Eine gewisse Eleganz – genährt aus dem Empire – in Kleidung und Auftreten, ja selbst im Schreibstil, blieb ihr stets erhalten.

Der Haushalt der Kolbs wurde in einer bald stadtbekannten Mischung aus Bürgerlichkeit und Bohème, aus finanziellem Leichtsinn und Beinahe-Bankrott geführt – oder vielmehr: improvisiert. Sophie Kolb spann sich in ihre künstlerische Welt ein, gab hin und wieder Klavierstunden und führte einen musikalischen Salon. Im hohen Alter definierte sie sich selbst wie folgt – und irrte sich dabei sogar in etwas so »Unwichtigem« wie der Anzahl ihrer Kinder (es waren in Wahrheit, die früh verstorbenen mitgerechnet, neun): »J’avais quatre enfants et un piano.«[11] [»Ich hatte vier Kinder und ein Klavier.«] Der eigene Anspruch an die Rolle in der Gesellschaft scheint größer gewesen zu sein als deren tatsächliche Einlösung. Eine spöttische, dabei liebevolle Darstellung dessen findet sich in Annette Kolbs autobiografischem Roman Die Schaukel: »Denn was brachte die Braut schon in den Hausstand mit? Die Sonaten von Haydn, Beethoven und Mozart und noch einige andere Musikwerke in roten Prachtbänden mit ihrem Namen […]. Frau Lautenschlag [d. i. Sophie Kolb] war eine so zerstreute Hausfrau, daß es schon besser war, sie komponierte. […].«[12] Und über den Talmiglanz des Haushalts heißt es: »Hier glitzert auch mancher Pokal, altes Kristall und Porzellan täuscht Luxus vor, silberne Tablette [sic], silberne Eisbecher stehen in ihrem Glanze und werden nie gebraucht. Womit sollten Lautenschlags eine Eismaschine beschaffen?«[13] In dem Roman spielt Annette Kolb das Familienleben der Lautenschlags gegen die preußische Starre der Familie von Zwinger augenzwinkernd aus und kehrt die Mélange aus französischen und bayrischen Elementen – die für sie selbst schicksalsbestimmend war – stolz hervor: »War der Haushalt bei Zwingers à l’anglaise aufgezogen, so gebärdete man sich bei Lautenschlags je nach Laune, teils penetrant bayrisch, teils sehr weitgehend lateinisch. Niemand beanstandete dies. Das in Bayern noch wenig beachtete Alldeutschtum lag in der Wiege.«[14] Katia Mann erinnerte sich als alte Frau: »Sie [Annette Kolb] sprach immer so etwas betont bayrisch. Das war in München Sitte, die Aristokratie sprach bayrisch, und die Kolbs waren zwar keine Aristokraten, aber sie hatten einen Salon, gaben pariserische Nachmittagsempfänge, wo auch Hofgesellschaft und alle möglichen Leute verkehrten.«[15]

Das Haus in der Sophienstraße 7 (es wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört) lag zwischen Königsplatz und Stachus, in unmittelbarer Nähe zum Alten Botanischen Garten und zum Münchner Glaspalast. Diese 1854 erbaute, riesige Messe- und Repräsentationshalle in Stahl-Glas-Konstruktion war ein Meisterwerk der Ingenieurskunst mit 234 Metern Länge und 25 Metern Höhe. Die Münchner waren dem Glaspalast – ähnlich wie die Pariser dem Eiffelturm – in Hassliebe zugetan. Der Brand der Halle im Jahre 1931 galt jedoch als Katastrophe (es verbrannten darin über dreitausend teils weltberühmte Bilder und Skulpturen), ein symbolträchtiges Ereignis, womit Annette Kolb ihren Roman Die Schaukel (1934) beginnen lässt.

Die Ehe der Kolbs war den damaligen Verhältnissen entsprechend kinderreich. Die ersten drei Sprösslinge starben jedoch kurz nach der Geburt. 1865 kam Louise zur Welt. Sie starb 1890 im Alter von nur 25 Jahren. Es folgte Germaine (1868–1949), Annette Kolbs Lieblingsschwester. Nach Annette (geboren 1870) kamen zwei Knaben zur Welt: Emil (1874–1933) und Paul (1876–1965), der sich im Alter eng an Annette anschloss und den sie »le petit frère« [den kleinen Bruder] nannte. Als Nesthäkchen folgte noch Franziska (1880–1946).

Annette Kolb stand, noch ehe sie selbst pianistisch daran teilnehmen konnte, unter dem geistigen Einfluss des literarisch-musikalischen Salons, den die Mutter in den Räumen der Sophienstraße führte. Dieser Salon wurde in München nach und nach bekannt, wenngleich er nie eine geistesgeschichtlich prägende Rolle spielen sollte. Die gesellschaftlich pikante Mischung, die sich ergab – es erschienen gleichermaßen arrivierte Künstler wie Bohemiens, verkrachte Provinzaristokraten wie demissionierte Königinnen –, verlieh der Einrichtung etwas leicht Zweifelhaftes und Anziehendes zugleich, so zumindest stellt es Annette Kolb im poetischen Rückblick in Die Schaukel dar.

Das geistige Klima Münchens war nicht nur von französischer Kunst und Literatur beeinflusst, auch die Naturwissenschaften und die Geschichtsschreibung spielten in jener positivistischen, zukunfts- und technikgläubigen Zeit eine befruchtende Rolle. Maximilian II. hatte Naturwissenschaftler, Historiker, Rechtsgelehrte, Dichter und Maler nach München berufen. 1850 war die von Ludwig von Schwanthaler geschaffene achtzehn Meter hohe, begehbare Statue der »Bavaria« auf der Theresienhöhe errichtet worden. Es folgte der Bau des Glaspalastes und der Neuen Pinakothek (die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde). Am Königsplatz wurden 1862 die Propyläen errichtet. Als Maximilian II. 1864 starb und sein 18-jähriger Sohn als Ludwig II. den bayrischen Thron bestieg, ging der repräsentative Ausbau der Wittelsbacher Metropole als Zentrum von Verwaltung, Wissenschaft, Technik und Kunst weiter voran. Vor allem für das geistige Leben gab der junge Ludwig entscheidende Anstöße: Im Mai 1864, keine zwei Monate nach der Thronbesteigung, rief er Richard Wagner, der sich auf der Flucht vor seinen Gläubigern befand und seit seiner Teilnahme an der Revolution 1848 in Dresden politisch anrüchig war, nach München. Wenngleich Wagners Intermezzo an der Isar nur anderthalb Jahre dauerte, war diese Zeit sowohl für die Musikgeschichte im Allgemeinen (die Uraufführung von Tristan und Isolde am 10. Juni 1865 im Münchner Hoftheater) als auch für das Haus Kolb im Besonderen von Bedeutung. Auch wenn diese Ereignisse in die Jahre vor Annette Kolbs Geburt fielen, beeinflusste die von der Mutter inszenierte Begeisterung für Wagners Musik auch sie nachhaltig. Den Begebenheiten von 1864/65 widmete Annette Kolb als 77-Jährige noch ihr Buch König Ludwig II. von Bayern und Richard Wagner. Darin schildert sie, wie Hans von Bülow im Gefolge des Komponisten eine Anstellung als Hofpianist erhielt und mit der Ehefrau Cosima (der Tochter Franz Liszts und Marie d’Agoults) und den Kindern nach München zog, in unmittelbare Nähe zur Familie Kolb. In jene Zeit fiel auch der Beginn der Liaison Richard Wagners mit Cosima und die Geburt ihrer Tochter Isolde im April 1865.

»Keine halbe Minute entfernt«[16], ergab sich zwischen Sophie Kolb und Cosima von Bülow bald ein reger Austausch. Cosima sah sich damals noch ihrer mütterlicherseits französischen Abkunft verpflichtet. Als sie zum ersten Mal den Salon Sophie Kolbs besuchte, habe sie ausgerufen: »Que je suis heureuse, de me retrouver dans une maison française!«[17] [»Wie froh bin ich, in einem französischen Haus zu sein!«] Sophie Kolb besuchte die legendären ersten Aufführungen von Wagners Tristan und Isolde. Max Kolb, sonst gegenüber Musik eher gleichgültig, »plünderte den botanischen Garten zu jeder Première, um die prachtvollsten Blumen zu schicken«.[18] Einmal begegnete Sophie Kolb auch Richard Wagner, als er – die Tochter Isolde war bereits geboren – seine Geliebte Cosima besuchte. Wagner habe auf Französisch einige Höflichkeitsfloskeln mit ihr gewechselt, seine deutsche Konversation mit Cosima verstand Sophie Kolb leider nicht. Während der Komponist in der Brienner Straße aufwendig Hof hielt, mangelte es bei Bülows mitunter an Geld. Als Cosima, die neue Schuhe benötigte, sich in ihrer Not ausgerechnet an Sophie Kolb wandte, musste diese – ihre Haushaltskasse war ebenfalls leer – die Freundin abweisen.

Bald nach Wagners erzwungener Abreise aus München folgte ihm Cosima. Unmittelbar vor ihrer Abfahrt besuchte sie nochmals Sophie Kolb, um sich zu verabschieden. Sie werde ja sicherlich auch bald München verlassen und nach Frankreich zurückkehren, so Cosima. Im Übrigen könne sie Sophies Heimweh nach Paris nachvollziehen. Sophie entgegnete: »Que voulez-vous, j’ai le mal du pays.«[19] [»Was wollen Sie, ich leide an der Krankheit dieses Landes.«] Sie meinte die Melancholie, an der ja auch der König litt, dem sie einmal auf einem Spaziergang am Starnberger See begegnet war und der sie sogar gegrüßt hatte.

Als sich für Sophie Kolb die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Paris endgültig zerschlug, nachdem Max Kolb einen Auftrag vom Regensburger Fürsten von Thurn und Taxis zur Anlage eines Parks erhalten hatte, zog auch sie sich resignativ immer mehr in die musikalischen Welten Schumanns, Chopins und Wagners zurück. Es glich einem inneren Exil.

Im August 1867 besuchte Kaiser Napoleon III. in Begleitung seiner Frau Eugénie Augsburg, wo er seine Kindheit im Exil verbracht hatte, und wurde daraufhin von Ludwig II. am Münchner Hauptbahnhof feierlich begrüßt. Zu dem Empfang war auch das Ehepaar Kolb geladen. Die Begegnung mit dem Kaiser riss in Sophie Kolb die Narbe des Heimwehs wieder auf. Sie rang damit, ihren Mann zu verlassen, und vertraute sich einem katholischen Priester an, dem Baron Oberkamp, der im Nachbarhaus Sophienstraße 5 wohnte. Dieser verwies natürlich auf die Unauflöslichkeit der Ehe. Auch eine offene Aussprache mit Max führte zu keiner Lösung. Er forderte recht eigensinnig, sie solle aufhören, einen Lebenshalt in ihm zu suchen. Sophie Kolb rief daraufhin ihre Mutter, die zwischenzeitlich wieder in Paris gelebt hatte, nach München zurück: So führte sie innerhalb der engen Grenzen ihres französischsprachigen Salons weiterhin ein Leben im Exil, ein Dasein für die Musik in einer Traumwelt, die ihr einen gewissen Trost schenkte.

Ihren Vater schildert Annette Kolb in den nachgelassenen Aufzeichnungen The Book of Dreams so: »Mein Vater war eine umherschweifende Natur, ein Perpetuum mobile, sehr schwer zu fangen, viel auf Reisen, zu Treffen und Kongressen, und, obwohl seiner Familie verbunden, oft ungeduldig darüber, daß er sich um jemanden zu kümmern habe. Er liebte die Familie zärtlich aus der Ferne, kam immer zurück, beladen mit reizenden Geschenken, aber er war mehr seinen Gärten ein Vater denn uns. Zuerst kamen seine Gärten. […] Er war zufrieden damit, daß wir Besuche empfingen, solange wir nicht seine Anwesenheit erwarteten. So erschien er wie zufällig, nachdem die Gäste gegangen waren, oder frühestens dann, wenn sie gerade dabei waren zu gehen.«[20]

Später schreibt sie in ihrem Buch über Richard Wagner, Max Kolb sei weder ein guter Vater noch ein guter Gatte gewesen.[21] Doch zeichnet sie ihn im Roman Die Schaukel in der Figur des Herrn Lautenschlag als durchaus sympathischen und warmen Menschen, der im Herzen ein Kind geblieben war,[22] der zugleich jedoch nur für seine Gärten lebte und dem die Salonwelt Sophies verschlossen blieb. Immerhin hinderte Max Kolb seine Frau nicht an der Ausrichtung ihrer Soireen. Auch scheint er tatenlos, ja, hilflos zugesehen zu haben, wenn seine Frau und die Kinder sein Gehalt, das in seiner Position nicht gering war, leichtsinnig und mit einem fatalen Hang zum Luxus vergeudeten. Man leistete sich viel Überflüssiges, wie es sich für eine »gute« Gesellschaft »schickte«, und war andererseits mittellos, wenn es um die Anschaffung notwendiger Dinge ging. Aber sie wussten, dass »die Armut im Grunde ein Freibrief war, aller Schablone, aller Konvention gegenüber«.[23] Auch wenn man den Familienmitgliedern bisweilen »rettungslosen Größenwahn«[24] attestierte, focht sie das doch nicht an. So preist Annette Kolb die geistige Freiheit und künstlerische Urteilsfähigkeit der Hespera in Die Schaukel: »Blöde Urteile über Musik oder Bücher oder Bilder unwidersprochen hinzunehmen, weil sie von Leuten kamen, in deren Sold man geriet, das war nichts für sie, o nein.«[25]

Diese Freiheit in der Armut war der Nährboden für eine liberale Weltsicht, für einen unbelasteten Umgang mit der Kunst. Dies und die unter Maximilian II. und Ludwig II. ohnehin offene geistige Atmosphäre Münchens trugen dazu bei, dass Annette Kolb als Frau aufwachsen konnte, die ihre eigenen Meinungen und Ansichten – auch unkonventioneller Art – besaß und verfocht, notfalls bis zur äußersten Konsequenz.

Die offene, tolerante, frankophile Geistigkeit Münchens, wie sie sich in Sophie Kolbs Salon widerspiegelte, verlor nach dem Krieg gegen Frankreich 1870/71 und der Gründung des Deutschen Kaiserreichs unter der Führung Preußens an Glanz. Damit einher ging für viele Intellektuelle Bayerns ein gewisser Identitätsverlust. Ludwig II. von Bayern hatte die Kriegserklärung gegen Frankreich, das ihm persönlich nahestand, ungern unterzeichnet. Auch war er nicht der Aufforderung nachgekommen, nach Versailles zu reisen, um als Oberhaupt des ältesten herrschenden Adelsgeschlechts Deutschlands dem genealogisch weit unter ihm stehenden König von Preußen die Kaiserwürde anzutragen. Lediglich Versprechungen Bismarcks auf Zahlungen aus dem sogenannten Welfenfonds hatten den hochverschuldeten Ludwig geködert. Der ursprüngliche Plan, in Zukunft die Kaiserwürde zwischen den Häusern Hohenzollern und Wittelsbach alternieren und Bayern an Gebietsgewinnen in Frankreich (an der Grenze zur bayrischen Pfalz) teilhaben zu lassen, wurde jedoch fallen gelassen.

Die Untertanenhaltung, das Pflichtbewusste, Forsche, Disziplinierte, alles, was man gemeinhin als das »Preußische« gerne belächelte, war vielen bayrischen Bildungsbürgern zutiefst suspekt und zuwider. Ein Beispiel für die Auflehnung gegen die Bevormundung durch Preußen in einem geeinten Reich ist der Eklat vom September 1891, als Kaiser Wilhelm II. München besuchte und sich mit den Worten »Suprema lex regis voluntas!« [»Des (preußischen) Königs Wille ist oberstes Gesetz!«] ins Goldene Buch der Stadt eintrug. Diese absolutistische Äußerung erregte in der bayrischen Öffentlichkeit Zorn und Protest. Auch Annette Kolbs Haltung gegenüber Preußen wurde von dieser Atmosphäre geprägt. Sie, die »Deutsch-Französin«, blieb zeitlebens eine Gegnerin eines deutschen Staatsgedankens, der auf Stärke, Nationalismus, Militarismus und Fremdenhass unter der Führung Preußens baute. Viel zu dieser Haltung beigetragen hat die Stimmung im Kolbschen Elternhaus. Der Krieg von 1870/71 jedenfalls stellte auch die Ehe von Max und Sophie auf eine schwere Probe. Annette Kolb berichtet: »O wie verwünschte sie [Sophie Kolb] da ihre Ehe! Mit zwei deutschen Kindern, als eine deutsche Staatsangehörige stand sie da, zerrissenen Herzens auf immer. […] Mein Vater brachte sie nach Tegernsee […]. Über Frankreichs Niederlage trauerte er mit ihr. Mit der Vorherrschaft Preußens sah er die geistige Verheerung des Landes heraufziehen. […] Hatte er aber früher manchmal gewünscht, daß meine Mutter deutsch sprechen lerne, so mutete er ihr das nie wieder zu. Mochte sie ihre französische Eigenart ungeschmälert behalten, ihr Haus nichts anderes wie ein französisches sein. […] Gewiß bereicherte und verschönerte es auch das ihrer Kinder, doch um welchen Preis!«[26]

Der Preis war hoch: Annette Kolb wurde zwar in ein geistig aufgeschlossenes und liberales Haus hineingeboren, doch empfand sie von früh an schmerzhaft das Gefühl, heimatlos im eigenen Land zu sein, zwischen den Völkern, Sprachen und Kulturen zu stehen, ein Vater- und ein Mutterland, eine Vater- und eine Muttersprache zu besitzen und in allen mit dem Herzen und der Seele zu wohnen. Ihre späteren Exilaufenthalte in der Schweiz, in Frankreich und den Vereinigten Staaten sind so gesehen nicht nur die Antwort auf die jeweilige politische Situation von Krieg, Diktatur und Kaltem Krieg, sondern auch logische Konsequenz eines persönlich seit frühester Kindheit erfahrenen Dilemmas. Sie sind Folge einer Sozialisation, die zurückreicht in die Zeit vor der Entstehung des deutschen Kaiserreichs, eines Staatsgebildes auf der Grundlage nationalen Empfindens. Der Nationalismus konnte sich niemals durch objektive Reflexion definieren, sondern nur in aggressiver Weise ex negativo, indem er sich vom Fremden abgrenzte und das andere zum Feind erklärte. Annette Kolb waren die Auflehnung gegen dieses ideologische Konstrukt und die Trauer darüber gleichsam ins Blut mitgegeben.