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GARTENKRIMI NR. 2

In dieser Reihe bereits erschienen

J. J. Preyer

RANKENSPIEL

Gmeiner Verlag

J. J. Preyer

GIFTGARTEN

Gartenkrimi Nr. 2

J. J. Preyer, geboren 1948 in Steyr, Österreich. Ab dem 14. Lebensjahr literarische Veröffentlichungen. Studium Deutsch, Englisch in Wien. Lehrtätigkeit in der Jugendund Erwachsenenbildung.

1982 Initiator des Marlen-Haushofer-Gedenkabends, der durch die Teilnahme des Wiener Kulturjournalisten Hans Weigel den Anstoß zur Wiederentdeckung der Autorin gab.

J. J. Preyer schreibt Kriminalromane für JERRY COTTON, den Blitz-Verlag, den Verlag Gmeiner und den Verlag Ennsthaler.

© 2017

J. J. Preyer

Titelbild: Josef Preyer sen.

Verlag: myMorawa von Morawa Lesezirkel GmbH

ISBN

978-3-99057-748-6 (Paperback)

978-3-99057-749-3 (Hardcover)

978-3-99057-750-9 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

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Woher wissen Sie das? Ich nehm es nur an, Dort im Parke spielt ja so mancher Roman.

(Aus der Operette „Drei alte Schachteln“ von Walter Kollo, aus der auch die Kapitelüberschriften stammen.)

KAPITEL 1

OUVERTÜRE

Ich hätte nicht hierherkommen sollen. Die Enge des Ortes nimmt mir den Atem. Ich brauche Ausblick, Licht, nicht diesen verwachsenen Park, in dem nicht einmal Blumen gedeihen.

Wenn nicht der Fluss wäre, wäre ich längst heimgefahren. Der Kamp, der über die Donau nach Hause fließt. Nach Wien.

Welch Unfug zu glauben, dass man sich auf dem Land erholen kann. Eine lächerliche Illusion, eine Lüge. Hier ist es sterbenslangweilig. Und sonst nichts.

Illusion und Lüge wie diese Klinik. Fons Iuvenis. Jungbrunnen.

Wenn die Leute mit einer reifen Frau nichts anfangen können, dann sollen sie es bleiben lassen. Wobei … Ja, man dürfte nicht in die Politik gehen, wenn man so denkt. Es geht darum, die Menschen zu umwerben, sie für die Projekte der Partei und sich selbst zu gewinnen. Und dafür ist ein ansprechendes Äußeres vonnöten.

Die Ultraschallbehandlungen zeigen erst nach einiger Zeit Wirkung, die Atemnot, sagt die Kohout, ist auf eine Reaktion des Körpers auf den Luftkurort zurückzuführen. Alles Zeichen, dass die Kur wirkt. Sagt die Kohout.

Allerdings wird es immer schlechter. Und das Blut in der Spucke heute Morgen … Dabei rauche ich nicht mehr, seit ich … seit mich Friedl verlassen hat. Friedhelm Harreither, Vorsitzender des Freien Österreich, für das und den ich im Herbst laufen soll, zur Wiener Landtagswahl. Mit möglichst wenig Falten und flotten Sprüchen wie »Schluss mit den Schulden, für eine sichere Zukunft«. Und »Wir sind das neue Wien«.

Ich hätte bei Vranek nicht kündigen sollen. Jetzt bin ich von Harreither und seiner Partei abhängig.

Ich muss mich setzen. Ich schaff es nicht zurück ins Haus. Mein Gott, was ist aus mir geworden! Eine 52-Jährige, die nicht einmal mehr spazieren gehen kann.

Könnte es sein, dass mehr dahinter steckt, dass es nicht die Luftveränderung ist, dass …?

Das sind überflüssige, paranoide Gedanken. Kein Mensch macht sich die Mühe, mir etwas anzutun. Warum auch? Es ruft mich auch niemand an. Ich fehle niemandem. Selbst wenn ich hier verrecke, kümmert es keinen.

Ist es ein Schlaganfall? Ich spüre meine Lippen kaum, die Zunge fühlt sich an wie ein Fremdkörper, die Fingerspitzen sind taub geworden.

Soll ich die Rettung rufen?

Es wird sicher wieder besser. Irgendwie war heute kein guter Tag. Obwohl die Sonne scheint.

Das heißt, sie scheint über den Hügeln, die Gars am Kamp umgeben. Sie scheint auf die Burgruine auf dem Tabor. Und was bin ich anderes als eine Ruine, auf die keine Sonne scheint?

Es wird ärger. Es muss ein Schlaganfall sein. Oder eine Vergiftung? Das Essen? Die Creme, mit der man meinen Körper behandelt, um ihn auf jugendlich zu trimmen?

Ich habe mich nach diesen Anwendungen nie gut gefühlt.

Ach Gott, was soll es. Ich muss nicht aufstehen. Ich kann hier ruhen, bis es mir besser geht.

Die Probleme haben sich verstärkt, seit ich dem Unheimlichen begegnet bin. Seine Fragen, sein durchdringender Blick durch die Schlitze der Maske. Seine Stimme … Ich kenne seine Stimme.

Er ist mir nicht sympathisch, und er spürt das. Ich habe das Lügen nie perfektioniert. Und das soll mir zugutekommen, wenn ich sterbe.

Aber heute bin ich selbst zum Sterben zu müde.

»Frau Doktor, Frau Doktor! Im Park liegt eine Frau. Sie bewegt sich nicht mehr.«

»Ich sehe mir das an«, sagte Milena Kohout in fehlerlosem Deutsch, dessen Makellosigkeit ihre Herkunft aus einem anderen Land verriet.

Frau Dr. Milena Kohout, die Leiterin und Besitzerin des Schönheitsinstituts Fons Iuvenis, stammte aus dem an das österreichische Waldviertel angrenzenden Tschechien.

Die große, schlanke Frau im weißen Arztkittel drückte der abreisenden Fernsehmoderatorin die Hand.

»Ich hoffe, Sie hatten es schön bei uns, und die Behandlung hat Ihre Erwartungen erfüllt.«

»Ich bin viel zum Lesen gekommen«, sagte die Frau. »Die Massagen waren angenehm. Und mit dem Ultraschall verhält es sich wie mit der Homöopathie. Man spürt nichts, man riecht nichts, man hört nichts und glaubt an die Wirkung, wenn man dran glaubt.«

»Der Ultrasonar wirkt Wunder. Sie müssen ihn nur konsequent einsetzen.«

»Natürlich. Teuer genug ist er ja.«

»Ich freue mich, Sie wieder im Fernsehen zu sehen. Gute Reise!«

Bei der reglosen Frau handelte es sich, wie Milena Kohout von Anfang an befürchtet hatte, um eine ihrer Patientinnen. Die Politikerin, deren Namen der Leiterin des Schönheitszentrums momentan nicht einfiel. Doch das war zweitrangig. Von Bedeutung war, dass die Frau keinen Puls hatte. Sie war tot.

Das hatte ihr noch gefehlt, bei all den Schwierigkeiten, mit denen sie seit dem Tod ihres Mannes zu kämpfen hatte.

Endlich liefen die Geschäfte einigermaßen. Die Idee mit dem Ultraschallmassagegerät hatte sie aus dem Tief geholt, bis Steinhaus hier aufgetaucht war und sie zu vernichten drohte. Und jetzt eine tote Politikerin, kurz vor der Landtagswahl. Die Presse würde sich das nicht entgehen lassen.

Oh mein Gott!, erschrak die Leiterin des Schönheitszentrums über sich selbst. Sie dachte, vor der Toten kniend, nur an sich und ihre Geschäfte. Vor ihr lag ein toter Mensch, ein Mensch, der in ihrer Obhut zu Tode gekommen war.

Milena Kohout bekreuzigte sich, wie sie das schon lange nicht mehr getan hatte und betete ein Vaterunser, dessen Worte ihr teilweise entfallen waren. Also wechselte sie ins Tschechische.

Otce nas, jenz jsi na nebesich,

posvet se jmeno Tve …

Am Ende des Gebets bekreuzigte sie sich und stand auf.

Sie musste die Nerven bewahren und …

Ja, und zunächst die Polizei rufen. Die Frau sah aus, als ob sie erstickt wäre. Bläulich-graue Hautfarbe. Zyanose. Vielleicht ein epileptischer Anfall mit tödlichem Ausgang oder ein spontaner Pneumothorax. Das müsste die Obduktion klären, zu der es nicht kommen musste, wenn sie eine eindeutige Diagnose stellte.

Also schwere Bronchitis, die zu einer Obstruktion der Atemwege, zu einer Überlastung des Herzens und schließlich zum Tod führte. Punkt.

Milena Kohout wählte die Nummer von Bezirksinspektor Haratzmüller von der Polizeiinspektion Gars am Kamp und bat ihn vorbeizuschauen. »Zum Mittagessen«, flötete sie in ihr Handy. »Und wegen eines bedauerlichen Todesfalls. Reine Routine sozusagen.«

Kaum hatte sie das Gespräch beendet, tippte sie eine andere Nummer in ihr Mobiltelefon, wartete, bis sich ihre Freundin meldete und bat sie um ein Gespräch am Abend.

»Ich brauche dich, Fiala«, sagte sie. »Mir wächst wieder einmal alles über den Kopf.«

»Max scharwenzelt um Fialas Gast wie … wie …«, stotterte Lia Sonnberger, weil sie so aufgebracht war.

»Wie ein läufiger Rüde«, brachte Maria Lamprechter den Satz der Gartenarchitektin zu Ende.

»Wir sollten ihn nicht anstellen. Er bringt Unruhe in die Gärtnerei«, zeigte sich Lia streng.

»Unruhe ist Leben. Und ich habe ihm bereits zugesagt. Auf euer Drängen. Und dabei bleibt es. Er hat schon gekündigt«, erklärte Maria Lamprechter, die Chefin der Gärtnerei.

»Sonst hätten sie ihn hinausgeworfen.«

Die dritte Frau, die zum Abendessen in der alten Mühle an der Thaya Platz genommen hatte, schwieg zu alldem.

Pia Hermann, die Ex-Polizistin, die mit Max Pinsker ein Verhältnis hatte. Wie man so sagte.

»Und was meinst du dazu, Pia?«, versuchte Lia ihre Freundin in das Gespräch einzubinden.

»Nichts«, brummte die mollige Frau und schob ein Stück in Wein geschmortes Huhn in den Mund.

Fiala, die Haushaltshilfe tschechischer Herkunft, hatte die drei Gärtnerinnen wie immer mit exzellentem Essen versorgt.

»Es sollte auch dich angehen«, ließ Lia, die Kleine, Zarte, nicht locker.

»Ich habe ihm eine Frist gesetzt, bis nach der Premiere. Dann entscheiden wir, wie es mit uns weitergeht.«

»Wenn er bis dahin nicht mit der Hauptdarstellerin durchgebrannt ist.«

»Und wenn es so wäre«, beharrte Pia Hermann, »wird die Welt auch nicht untergehen. Ich räume jetzt das Geschirr ab.«

»Nicht so hastig. Ich möchte noch einen Naschschlag«, bremste Lia.

»Du bist die Kleinste und Schlankste von uns und kannst essen, was du willst, ohne dick zu werden. Im Gegensatz zu uns«, klagte Maria.

»Wir sind nicht dick«, protestierte Pia. »Wir sind gestandene Frauen, und Lia ist eine Mücke.«

»Mücke?«, fragte Lia mit vollem Mund.

»Mücke«, wiederholte Pia. »Frauen um die fünfzig dürfen schon etwas Hüftgold haben.«

»Also, ich bin erst 44«, protestierte Lia.

»Ich gehe auf die sechzig zu«, sagte Maria. »Und das ist gut so.«

»Drei alte Schachteln«, sang Lia, »zierlich und fein,

Putzen zurecht sich zum Tanzkränzelein,

Machen sich niedlich und ziehen sich an.

Finden wir dreie wohl noch einen Mann?«

»Drei alte Schachteln. Wie kommst du auf so etwas Blödes?«, protestierte Pia.

»Die Operette, für die Max probt.«

»Oh Gott«, seufzte Maria. Mehr sagte sie nicht.

»Der Mann bringt alles durcheinander.«

»Wer bringt was durcheinander?«, erkundigte sich eine tiefe Stimme von der Küche her, und ein athletischer Mann, den ein verwegener Schnurrbart zierte, erschien in der Tür zum Speisezimmer.

»Möchten Sie mit uns essen?«, fragte Maria.

»Schon erledigt. Mit Fiala und der Frau Doktor. Aber zum Nachtisch schließe ich mich gerne an.«

»Warum bleibst du nicht in der Küche?«, fragte Lia spitz.

»Weil ich hinausgeworfen worden bin. Fiala und die Frau Doktor haben etwas zu besprechen.«

»Die Frau Doktor«, wiederholte Lia in spitzem Ton.

»Milena Kohout von der Schönheitsklinik in Gars«, zeigte sich Max unbeirrt und fragte, was es zum Nachtisch gebe.

»Fiala hat Weinchadeau angekündigt.«

»Sie ist die Größte.«

Dem widersprach niemand der Anwesenden. Mit Fiala Kuckaska, der 60-jährigen Haushaltshilfe und Köchin, die auch das Café der Gärtnerei mit ihren Köstlichkeiten versorgte, hatten die drei Gärtnerinnen einen exzellenten Griff getan.

»Was macht die Operette, Herr Pinsker?«, erkundigte sich Maria, die als einzige per Sie mit dem attraktiven Mann geblieben war.

»In knapp drei Wochen ist es so weit. Die Burgruine ist eine Herausforderung für die Stimme.«

»Und du glaubst, das Stück findet genügend interessierte Zuschauer?«

»Das ist die Frage. Der Kartenverkauf läuft etwas schleppend.«

»Das kann ich mir denken«, ätzte Lia. »Wer möchte schon drei alte Schachteln sehen.«

»Die Idee«, erklärte Max, »ist ja nicht schlecht. Männer werden bestraft, weil sie sich eher für jüngere Damen interessieren als für die …«

»… drei alten Schachteln«, ergänzte Lia.

»Aber die Musik ist ein bisschen einfallslos«, fuhr Max fort. »Wir müssen mit vollem Einsatz arbeiten, um dieses Manko zu überwinden.«

»Du und die Boll.«

»Ich als Laiendarsteller und Katharina Boll als der wahre Profi. Eine wunderbare Frau«, schwärmte Max, und Pia Hermanns Miene verdüsterte sich.

Zum Glück kam gerade in diesem Augenblick die kleine, drahtige Fiala mit einem Tablett und vier Dessertschalen in das Zimmer.

»Chadeau von Langenloiser Riesling«, erklärte sie. »Mit Tupfer von Obers und Trauben ohne Kerne.«

»Du bist ein Engel, Fiala«, lobte sie Maria. »Wenn dein Gast möchte, kann er sich uns anschließen. Mit dir natürlich.«

»Milena schon gegangen. Haben viel zu tun. Und haben Sorgen. Müssen mit Ihnen besprechen. Erst nach Essen. Noch jemand Kaffee oder Tee?«

»Nein danke.«

»Und im Weinchadeau ist also Wein?«, fragte Max.

»Haben extra eines gemacht für dich«, beruhigte ihn Fiala. »Mit Traubensaft.«

Max, der alkoholabhängig gewesen war, bedankte sich bei der tschechischen Köchin. »Und eine Flasche Mineralwasser«, bat er.

»Komme gleich«, sagte Fiala und verschwand in der Küche.

»Sie ist nicht unsere Magd«, brummte Lia. »Wenn du etwas möchtest, Max, dann hol es selbst.«

»Ich kenne Fiala länger als ihr«, widersprach Max. »Sie macht das gerne. Und sie will ja auch etwas von uns.«

»Wie kommst du darauf?«

»Ich weiß, was die Frau Doktor hierher geführt hat. Schließlich war ich in der Küche.«

»Wo du hättest bleiben sollen«, zeigte sich Lia weiterhin ungnädig.

»Schluss, Schluss. Schluss! Ich halte diesen kleinlichen Zank keine Minute mehr aus«, protestierte Maria. »Erstens einmal müsst ihr akzeptieren, dass wir Max als Mitarbeiter und Mitbewohner aufgenommen haben und nicht als Liebhaber. Wenn er sich für andere Frauen interessiert, ist das einzig und allein seine Sache, und es besteht kein Grund, herumzumäkeln, was ihn betrifft.« Als Lia auf diese Worte nicht reagierte, fuhr die Chefin fort: »Und wenn Fiala ein Anliegen hat, soll sie das selbst vorbringen. Ich habe dieses Theater so etwas von satt! Max, laden Sie Fiala auf ein Glas Weißwein ein! Sie soll selbst für sich sprechen!«

»Wird gemacht«, sagte der Mann mit den Dackelaugen und kehrte kurz darauf mit einem weiteren Weinglas, einer Flasche Veltliner und Fiala im Schlepptau wieder.

»Du willst uns etwas mitteilen, Fiala«, wandte sich nun Maria an die kleine Köchin.

»Zuerst verkosten wir den Veltliner«, unterbrach Pia, entkorkte die Flasche, kostete, nickte und füllte die Gläser. »Ein guter Tropfen«, stellte sie dann fest. »Kaum zu glauben, dass nicht einmal 60 Kilometer von hier Wein gedeiht. Und noch dazu so guter. Also Prost!«

»Und nun zu dir, Fiala«, wandte sich Maria Lamprechter an ihre Mitarbeiterin. »Max hat angedeutet, dass du ein Anliegen hast.«

»Oh, Max große Tratsche. Aber liebe Tratsche«, sagte Fiala und betrachtete den Mann freundlich.

Mein Gott, dachte Lia. Nicht auch noch die arme Fiala! Der Mann hatte es in sich. Immerhin war sie selbst ihm verfallen gewesen, bevor er sich Pias angenommen hatte. Nur Maria hatte ihm bisher widerstehen können.

Und Quentin, Lias Wolfshund, der entspannt unter dem Speisetisch lag und Max nicht besonders mochte, wie er alle Männer uninteressant fand. Quentin war auf Frauen spezialisiert.

Lia tätschelte seinen großen Kopf und wartete gespannt, was Fiala zu berichten hatte.

»Milena«, begann sie. »Ich meine Frau Kohout kommen von selbe Dorf wie ich.«

»Aus Mähren«, erklärte Max.

»Aus Tschechien«, korrigierte ihn Fiala. »Aber viel jünger als Fiala. Suchen immer wieder Rat. Sein Witwe. Ganz allein hier in Österreich.«

»Mach weiter, Fiala!«

»Wollen meine Käsestangerl kosten? Ganz frisch aus Rohr.«

»Ja«, rief Max.

»Später«, bremste Maria. »Zuerst bitte deine Frage an uns.«

»Also«, sagte Fiala. »Die Damen haben Tod von Frau Winkler geklärt. Da ich mir denken, können auch Milena helfen.«

»Die Kuhhaut«, sagte Max und blickte, Applaus heischend, auf die drei Gärtnerinnen.

»Doktor Milena Kohout«, korrigierte ihn Fiala, und Max schwieg, »haben schwere Zeit dahinter.«

»Hinter sich«, korrigierte Max.

»Tun leid. Kein gutes Deutsch«, entschuldigte sich Fiala. »Machen Deutschkurs in Raabs. Volkshochschule. Bald besser werden.«

»So, jetzt aber heraus mit der Sprache!«, meldete sich erstmals Pia zu Wort. »Und du schweigst jetzt, Max!«

»Frau Gärtnerinnen haben Mord geklärt.«

»Morde. Es waren Morde«, sagte Max.

»Ruhe! Halt endlich den Mund!«, brummte Pia.

»Haben schwierigen Fall in Klinik. Frau gestorben. Milena nicht wissen warum. So, jetzt heraußen.«

»Und wir sollen das klären?«, fragte Pia, die Ex-Polizistin und fügte rasch hinzu: »Die Ärztin ist doch sie.«

Fiala nickte. »Ja schon. Aber …«

»Sie hat einen vagen Verdacht, möchte diesen aber nicht der Polizei gegenüber aussprechen. Aus Rücksicht auf ihre Klinik«, dolmetschte Max. »Und da habe ich folgenden Vorschlag gemacht. Das Kurhotel steht in einem ziemlich verwilderten Park, der geradezu nach einer Verschönerung schreit. Um den könnte sich Lia kümmern und dabei den Fall klären. Mit eurer Hilfe.«

»Ein Mord also«, stellte Maria fest.

»Sie hofft nicht«, erwiderte Max. »Das würde bedeuten …«

»Dass es zu weiteren Gewalttaten kommen könnte.«

»Das ist ihre Befürchtung.«

»Und Sie, Max? Was tragen Sie dazu bei?«, fragte Maria.

»Ich helfe bei der Gartengestaltung. Als Detektiv bin ich eine Null. Was sagt ihr dazu?«

»Dass du eine Null bist?«, fragte Lia, und Pia kicherte.

»Zu meinem Vorschlag.«

»Dazu brauchen wir einen offiziellen Auftrag von Frau Kohout«, stellte Maria fest. »Und es soll nicht zu lange dauern. Du musst spätestens Mitte Oktober mit dem Garten in Schrems beginnen, Lia.«

»Wäre sehr wichtig. Milena brauchen Hilfe«, bat nun Fiala.

»Wir helfen ihr«, stellte Maria fest. »Lia wird sich mit dieser Frau treffen. Geht das in Ordnung für dich, Lia?«

»Natürlich. Verwilderter Kurpark klingt nicht uninteressant.«

»Direkt an Fluss«, erklärte Fiala. »Recht schön. Aber wild. Zu wild.«

»So wie ich«, sagte Max.

»Ach du!«, brummte Lia.

»Und was ist jetzt mit den Käsestangerln zum Mineralwasser?«, fragte Max.

»Bringen sofort«, sagte Fiala.

Das erste Treffen zwischen Lia Sonnberger und Milena Kohout fand im Park des Schönheitsinstituts statt, und zwar auf einer mit Moos und Flechten überwucherten Holzbank.

»Es war nicht leicht nach dem Tod meines Mannes«, erklärte die für Lias Geschmack etwas zu stark geschminkte Ärztin. »Er war trotz des Namens Österreicher.«

»Ein Arzt wie Sie?«, fragte Lia und betrachtete ihr Gegenüber.

Wie viele Frauen von jenseits der Grenze setzte sie auf plakative Kosmetik, auf platinblond gefärbtes Haar, das zu stark mit den dunklen Augenbrauen kontrastierte. Außerdem zeigte sich dunkler Nachwuchs. Lippen und Fingernägeln wiederum waren zu dunkel.

Ach was, dachte Lia. Was ging es sie an, wie sich diese Frau zurechtmachte. Das war einzig und allein ihre Sache. Auch wenn sie Leiterin einer Schönheitsklinik war.

Frau Kohout bejahte Lias Frage nach ihrem Mann. »Er hat dieses wunderbare Gebäude gefunden. Vor sieben – nein, es sind schon acht - Jahren.«

»Und den herrlichen Park.«

»Er gefällt Ihnen?«

»Ein Traum. Die alten Bäume, der Fluss. Schöner könnte es gar nicht sein. Liebe auf den ersten Blick«, schwärmte Lia.

»Sie übernehmen also den Auftrag?«

»Unbedingt. Was den Park betrifft.«

»Und der Tod von Bea Kaiser?«

»Wir kümmern uns darum.«

»Sie sind ein Engel, Frau Sonnberger. Ein wahrer Engel.«

KAPITEL 2

SCHÖN-PHYLLIS, DIE DREHTE BESTÜRZT SICH UM UND STARRTE HINEIN IN DEN TANN. DA PLÖTZLICH, DA BLIEB SIE VOR SCHRECKEN STUMM. DENN VOR IHR STAND – EIN MANN.

»Das Zimmer der Toten ist hoffentlich noch nicht geräumt«, sagte Lia zu der Ärztin.

»Nein. Ihr Bruder wird die Sachen abholen. Bis dahin lassen wir alles, wie es ist.«

»Gut. Ich würde mir gerne einen Überblick verschaffen, um Hinweise auf einen möglicherweise gewaltsamen Tod zu finden.«

»Das ist eine gute Idee. Folgen Sie mir bitte!«

Das Zimmer der verstorbenen Politikerin lag im ersten Stockwerk, mit Blick auf den Park. Es war sauber aufgeräumt, doch hingen die Kleidungsstücke noch im Schrank, die Koffer waren leer.

Lia begann ihren Rundgang im Vorraum des Hotelzimmers, in dem ein Trenchcoat der Marke Burberry hing und einige nicht minder teure Schuhe standen. Alles praktisch, aber gediegen. Und nicht mehr ganz neu. Die Absätze der Schuhe waren abgenutzt, der Mantel war an einer Stelle kunstvoll genäht worden.

Auch der Kleiderschrank im eigentlichen Zimmer war bestens bestückt, mit geschmackvollen Kostümen und Hosenanzügen, die sauber, aber schon etwas aus der Mode gekommen waren.

Lia schloss daraus, dass die Verstorbene einst wohlhabend gewesen war, dass sich aber die finanzielle Situation zu ihrem Nachteil verändert hatte.

Auf dem Schreibtisch stand ein geöffneter Laptop, dessen Starttaste Lia drückte. Doch das Gerät war mit einem Kennwort geschützt, wie sich bald herausstellte.

Also wandte sie sich dem Handy zu und notierte alle Nummern, mit denen die Verstorbene kommuniziert hatte.

Auf dem Nachttisch des Doppelbettes, dessen linke Seite Frau Kaiser offenbar benutzt hatte, lag ein elektronisches Lesegerät.

Lia schaltete den Kindle ein, um zu sehen, was die Frau gelesen hatte und erkannte in ihr eine Kennerin neuester Unterhaltungsliteratur. Von den gängigen Vampirromanen bis zu »50 Shades of Grey« war alles vorhanden, was eine Frau auf Kur zur Entspannung las.

Lia überlegte einen Augenblick, wie sie weiter vorgehen sollte, entschied sich jedoch dagegen, den Laptop von einem Experten untersuchen zu lassen. Sie musste diesen Fall, falls es sich um einen solchen handelte, diskret behandeln.

Dann suchte sie noch das Badezimmer auf, um von den dort vorhandenen Medikamenten auf den Gesundheitszustand der Frau zu schließen.

Doch außer Aspirin hatte die Politikerin nichts genommen. Die Kosmetika stammten allesamt aus einer Drogeriekette.

Bea Kaiser war also eine Frau gewesen, die allein auf Schönheitskur gefahren war, obwohl sie nicht mehr allzu viel Geld zur Verfügung gehabt hatte.

Mehr wollte und konnte Lia von dieser Erkundung des Zimmers nicht ableiten. Sie hoffte, mit Freunden oder Verwandten reden zu können, die Bea Kaisers Habseligkeiten abholen würden.

Lia bedauerte, dass Pia, die Ex-Polizistin, nicht an ihrer Seite war. Sie hätte das Zimmer weitaus professioneller untersucht und vielleicht etwas Wichtiges entdeckt.

Die Gartenarchitektin kehrte zurück in den Park und wollte sich nun ganz und gar auf das etwa 10.000 Quadratmeter große Grundstück konzentrieren, das beinahe vollständig vom Blätterdach alter Bäume bedeckt wurde.

Ein Roden der mächtigen Linden, Platanen und Kastanienbäume kam für Lia nicht in Frage. Sie sorgten an heißen Sommertagen für kühlenden Schatten, und an weniger warmen Tagen musste man die freie Fläche am Fluss, am Kamp, nutzen, der den Westrand des Parks streifte. Dort würde sie eine Reihe von Sitzbänken aufstellen, damit sich die Patientinnen und Patienten der Kurklinik sonnen konnten.

An die nach Osten gelegene Seite des Parks, zum Haus hin, schloss ebenfalls eine freie Fläche an. Ein Kräutergarten, wie es schien, dicht mit blühenden und duftenden Pflanzen besetzt.

Wenn man den Zaun, der den Garten vom Park trennte, entfernte, könnten die Menschen durch dieses kleine Paradies schlendern, in dem sich Bienen und Schmetterlinge tummelten.

Lia wollte sich bei der Frau Doktor erkundigen, wer den Kräutergarten betreute.

Ansonsten musste die schäbige Wiese unter den Bäumen saniert werden. Die im Halbschatten liegenden Teile konnte man mit Schattenrasensamen auffrischen, für die völlig im Schatten liegenden Abschnitte musste sie sich etwas anderes einfallen lassen. Zum Beispiel die Aussaat von herrlich gelb blühendem Johanniskraut, das auch dort gut gedieh. Die gelbe Farbe der Blüten würde Leben, ja Heiterkeit in den düsteren Park bringen. Und die Sitzbänke mussten hell gestrichen werden. Am besten ebenfalls in leuchtendem Gelb.

Lia schloss einen Moment die Augen und versuchte sich den Park nach seiner Umgestaltung vorzustellen. Dabei nickte sie mehrmals. Ja, man musste Farbe und Licht in den Park bringen. Und Kieswege anlegen, damit die Patienten trockenen und sauberen Fußes durch den Park flanieren konnten.

Als Lia die Augen öffnete, sah sie, dass vom langgezogenen, in Schönbrunnergelb gehaltenen Hauptgebäude eine seltsame Gestalt unterwegs war. Vom Gang her eindeutig ein Mann, der offenbar einen braunen Anzug trug und ein schwarzes Gesicht hatte.

Ein Farbiger, dachte Lia und wunderte sich, was Männer in einer Schönheitsklinik zu suchen hatten.

Sie dachte an ihren verstorbenen Mann. Ferdinand war ein völlig uneitler Mensch gewesen, der sich die Haare selbst schnitt, das heißt, schor, der außer Seife keine Kosmetika kannte und dennoch schön gewesen war.

Er fehlte Lia. Mit ihm hätte sie die Veränderungen am Park besprechen können, er hätte die gröberen Arbeiten übernommen, während sie hie und da einen Farbpunkt, ein Glanzlicht gesetzt hätte …

»Guten Tag. Bitte nicht erschrecken!«, riss sie die Stimme eines Mannes aus ihren Überlegungen.

Als sie aufblickte, erschrak sie dennoch. Vor ihr stand ein Mann mit einer schwarzen Maske vor dem Gesicht.

Lia, die heftig ausgeatmet hatte, bemühte sich um ein freundliches Lächeln, während Hund Quentin die Hosenbeine des schlanken Mannes, der in einem braunen Anzug steckte, beschnupperte.

»Ein schöner Hund«, sagte der Fremde.

»Mein treuer Freund«, erwiderte Lia und kam sich albern vor, in solchen Klischees zu reden. Noch ärger wurde es, fand sie, als sie den Mann fragte, ob er Kurgast wäre. Aber sie musste ihren Schrecken überwinden, dem Mann zeigen, dass sie keine Angst vor ihm hatte.

»Ja, ich verbringe einige Zeit in diesem Institut«, bestätigte er. »Hauptsächlich, um mein zerstörtes Gesicht einigermaßen präsentabel zu machen.«

Lia blickte dem Mann in die grünen Augen, die durch die Schlitze der schwarzen Kunststoffmaske, die er umgebunden hatte, sichtbar waren.

»In meinem Beruf ist es notwendig, Gesicht zu zeigen«, fügte der Mann hinzu, dessen Sprache Lia die Wiener Herkunft verriet.

»Sie hatten einen Unfall?«

»Jemand hat mir Schwefelsäure ins Gesicht geschüttet.«

»Oh Gott!«, rief Lia.

»Ich will Sie nicht mit meiner Geschichte belästigen. Ich habe Sie von meinem Zimmer aus beobachtet. Sie sollen sich um den Park kümmern?«

Lia bestätigte dies. »Ich bin Gartenarchitektin und soll dieses schöne Stück Natur gestalten.«

»Sie haben doch nicht vor, die Bäume zu fällen? Sie geben diesem Park den Zauber.«

»Natürlich nicht. Sie sind das Wichtigste an diesem Grundstück.«

»Das beruhigt mich. Sie sind der erste Mensch, auf den ich zugegangen bin, seit ich … seit ich diese Maske trage. Ein Vorschlag übrigens von Frau Kohout.«

»Die Maske?«

»Nein. Das Zugehen auf Menschen, das Gespräch.«

»Die Frau Doktor …«

»Frau Kohout«, korrigierte sie der Mann. »Der Sache mit dem Doktortitel bin ich auf der Spur.«

»Oh.«

»Und wie war es für Sie? Ich meine, der Beginn unserer Begegnung.«

»Ich bin erschrocken«, versuchte sich Lia in Ehrlichkeit. »Aber jetzt habe ich mich daran gewöhnt. Und wie haben Sie es erlebt?«

»Nicht schlimm. Sowohl Sie als auch der Hund scheinen mich akzeptiert zu haben. Ich bin übrigens Sebastian Steinhaus. Scheidungsanwalt.«

»Das ist Quentin«, erklärte Lia, »und ich bin Lia Sonnberger.«

»Sehr erfreut, Frau Sonnberger.«

»Und Sie sind hier, um Ihr Gesicht wiederherstellen zu lassen?«

»Nein, nein. An meinem Gesicht wurde genug herumgeschnitten. Ich versuche jetzt aus dem bestehenden Übel das Beste zu machen. Seelisch und körperlich. Wobei ich noch nicht genau weiß, was dabei herauskommen wird. Die Behandlung hier ist auf Täuschung aufgebaut, wenn nicht gar auf Betrug. Aber damit möchte ich Sie nicht belästigen. Nur einen Rat gebe ich Ihnen: Schließen Sie einen absolut wasserdichten Vertrag, wenn Sie für diese Frau arbeiten. Sie versucht, die Menschen auszunutzen. Eine typische Tschechin eben.«

»Oh, das glaube ich nicht. Ich meine, dass die Tschechen schlechte Menschen sind. Wir haben eine wunderbare Frau tschechischen Ursprungs in unserer Gärtnerei …«

»Wie auch immer. Halten Sie Augen und Ohren offen!«

»Werde ich machen«, sagte Lia und wandte sich von dem Mann ab.

Sie wurde jedoch hellhörig, als Steinhaus sagte: »Eine Verschönerungsklinik, in der die Menschen sterben.«

Lia überlegte einen Moment, wie sie auf diese Aussage reagieren sollte, entschied sich, die Nichtsahnende zu spielen und fragte den Mann, was er damit meine.

»Eine Wiener Politikerin hat hier den Tod gefunden«, erklärte der Anwalt.

»Und wer noch?«

»Genügt das nicht?«

»Sie haben in der Mehrzahl gesprochen. Von Menschen, die hier sterben.«

»Noch ist nicht aller Tage Abend«, erwiderte der Maskierte. »Ich bedanke mich für Ihre Disziplin.«

»Disziplin?«, fragte Lia überrascht.

»Ich habe heute – hier – zum ersten Mal das Haus verlassen. Und das Erwartete ist geschehen. Sie wollten losschreien, als sie mich erblickten, haben das aber aus Höflichkeit unterlassen. Das meine ich mit Disziplin.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Ich bin ein scharfer Beobachter, auch wenn ich nur mehr ein Auge habe.«

Nun blickte Lia auf die schwarze Kunststoffmaske, die mit einem Gummiband am Kopf ihres Gegenübers befestigt war.

»Das rechte Auge ist eine Prothese, ein Silikonstreifen, den man täglich neu über dem verätzten Auge anbringt, um das Resultat unbefriedigender Operationen zu kaschieren.«

»Sie sind hier operiert worden?«, fragte Lia.

»Nein, im Hause Jungbrunnen beschränkt man sich auf Oberflächenbehandlungen.«

Lia, die dem Mann nicht zu nahe treten wollte, unterdrückte die Frage, warum er nach Gars am Kamp gekommen war und versuchte zu lächeln. Immerhin sah der Mann mit einem Auge.

»Hier ist einiges nicht in Ordnung«, sagte Dr. Steinhaus, räusperte sich und spuckte in weitem Bogen in die kärgliche Wiese, dann sagte er: »Genug für heute. Ich will weder mich noch Sie überstrapazieren. In der Hoffnung auf weitere Gespräche.«

»Gerne. Sie wissen ja, wo Sie mich finden.«

Lia Sonnberger atmete tief durch, als der Mann ihr den Rücken kehrte. Sein Blick, seine angestrengt hohe Stimme hatten ihr den Atem genommen. Also holte sie tief Luft und konzentrierte sich auf ihre Arbeit im Park.

Es genügte nicht, einfach nur Rasen und Johanniskraut auszusäen, die Wege in Ordnung zu bringen und Sitzbänke aufzustellen. Dazu benötigte man keine Gartenarchitektin. Der Park musste etwas Besonderes werden.

Lia griff zu ihrem Notizblock und fertigte eine Skizze des Grundstücks an, mit der Klinik im Osten und dem Fluss im Westen.

Der Hang zum Fluss musste blühen. Dort würde sie alle hier natürlich vorkommenden Pflanzen setzen, von Schneerosen, Leberblumen und Seidelbast im Frühjahr über – ja natürlich – wild wachsende Lilien. Türkenbund, Feuerlilien. Und die wilden Orchideen, vom Frauenschuh bis zum Knabenkraut.

Bei dem Wort Knabenkraut musste sie an Max Pinsker denken, der beileibe kein Knabe mehr war. Der Mann war ihr noch immer nicht gleichgültig, obwohl er sie verlassen hatte und zu Pia weitergewandert war.

Eigentlich müsste sie die beiden hassen oder ihnen zumindest böse sein. Wenn sie etwas Stolz hätte. Aber so war sie nicht. Lias Seele konnte verzeihen.

Oder war ihr Max gar nicht so wichtig gewesen?

Wie auch immer. Sie schrieb die Wörter Lilien und Orchideen auf ihren Block, als ihr Handy läutete.

»Kommen Sie doch zum Mittagessen! Sie sind herzlich eingeladen.«

Lia konnte zuerst die Stimme nicht einordnen, bis ihr klar wurde, dass es sich um Frau Dr. Kohout handelte. Eine gute Gelegenheit, mehr Menschen kennenzulernen, die mit der verstorbenen Politikerin zu tun gehabt hatten. Also nahm sie die Einladung an, obwohl sie im Gärtnerinnenoverall keineswegs passend gekleidet war. Allerdings war sie an diesem Vormittag noch nicht schmutzig geworden.

Im bereits voll besetzten Speisesaal des Schönheitszentrums roch es köstlich nach Braten und Fisch. Kalbsbraten und Kampforelle standen auf dem Speiseplan, und Lia dachte an einen kriegerischen Fisch, bis sie das fehlende zweite F auf friedlichere Gedanken brachte. Kampforelle, nicht Kampfforelle, mit Petersilienkartoffeln und grünem Salat.

Für Vegetarier wurde ein Rohkostteller angeboten.

An den Tischen des hellen Raums, dessen Fenster Richtung Park blickten, hatten hauptsächlich Frauen Platz genommen. Frauen, die mehr oder weniger über 40 Jahre alt waren, die Gesichter gerötet von den Schönheitsanwendungen des Vormittags.

Auch die wenigen Männer waren über 40, in einem von ihnen vermeinte Lia einen Schauspieler zu erkennen, der in Rosamunde-Pilcher-Filmen den jungen Liebhaber gespielt hatte.

Till Färber – so hieß er – im Kampf gegen das Altern, mit hellblond gebleichten Haaren.