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GEORG THIEL

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Roman

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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1. Auflage 2018

© 2018 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Covergrafik: Manfred Poor

Foto S. 221: ÖNB/Wien, H4920/2

ISBN 978-3-99200-199-6

eISBN 978-3-99200-200-9

Wien ist die Stadt, aus der mir
die Flucht nicht gelang.

Ruth Klüger

Inhalt

Manchester

Brüssel

Wien

Bruchleithen

Wien

DANKSAGUNG

Manchester

Die Geschichte begann an einem Karfreitag, ich denke, es war der vierte April. Das Telefon läutete, Peter war am Apparat. Normalerweise verheißen seine Anrufe nichts Gutes. Sie werden für gewöhnlich aus einer Telefonzelle geführt, die sich gegenüber meiner Wohnung befindet, und haben die im stockenden Tonfall vorgebrachte Bitte um Geld zum Inhalt.

Diesmal verhielt es sich anders. Peter war glänzender Laune, er schien getrunken zu haben. Es müsse gefeiert werden, sagte er, Virginia sei niedergekommen und der alte Bastard von Schwiegervater habe ihm Geld geboten, wenn das Kind seinen Namen trage. Jetzt wäre Ezekiel zwar nicht gerade die erste Wahl gewesen. Genau genommen fände er Ezekiel schrecklich, und wie er das seiner Frau beibringen solle, wisse er noch nicht. Aber er habe das Geld genommen, fünfzig Pfund seien fünfzig Pfund. Er treffe sich mit Steve und George im Tommy Ducks und rechne fest mit mir.

Wir vier hatten selten Anlass zu feiern. Das Beisammensein artete zu einem Besäufnis aus, der Wirt hatte Mühe, uns aus dem Pub zu bekommen. Es wäre besser, wenn die Herren jetzt nach Hause gingen, meinte er, morgen sei auch noch ein Tag. Peter, dessen Stimmung mit dem Herannahen der Sperrstunde immer mehr ins Melancholische gekippt war, erwiderte: Nein, es sei vorbei, für ihn wäre heute das Ende aller Tage angebrochen.

„Er ist Vater geworden“, erklärte George.

„Sie hat sein Leben ruiniert“, ergänzte Steve.

„Sie gehen jetzt“, sagte der Wirt.

An die Lokale, die wir anschließend aufsuchten, erinnere ich mich nur noch schemenhaft. Sie wurden immer plüschiger und teurer; irgendwann hat man uns nichts mehr gegeben. Kurz darauf standen wir auf der Straße und versuchten schwankend, ein Taxi anzuhalten. Die Chauffeure der ersten beiden weigerten sich, uns mitzunehmen. Erst der dritte ließ uns einsteigen. Er war farbig und begann, kaum dass ihm Peter die Adresse entgegengelallt hatte, von den Kosten zu reden, die er im Fall einer Verunreinigung des Fahrgastbereiches zu verrechnen gezwungen wäre. Er wiederholte den Betrag wieder und wieder, was George dermaßen auf die Nerven ging, dass er Kiplings Die Bürde des Weißen Mannes zu deklamieren begann. Der Lenker verstummte. Bei der Stelle Eure neugefangenen, verdrossenen Völker, halb Teufel und halb Kind geriet er in Rage, bremste scharf, wobei er etwas in seiner uns nicht geläufigen Muttersprache schrie. Als das Taxi zum Stillstand gekommen war, wechselte er ins Englische; wir sollten uns augenblicklich zum Teufel scheren. Darauf begann Steve, dessen Kopf beim Bremsmanöver gegen die Trennwand geschlagen war, zu brüllen, unflätige, nicht wiederzugebende Sätze, das Wort Affenbrotbaum kam darin vor. Peter, der eingenickt war und von alledem nichts mitbekommen zu haben schien, fragte, ob wir schon da wären. Er reichte mir seine Brieftasche und murmelte Unverständliches. Ihr Inhalt ernüchterte mich. Abgesehen von drei Münzen war sie leer. Ich griff nach meiner eigenen und zahlte.

Es war nicht mehr weit bis zu Peter. Steve, George und ich wollten nach Hause, aber Peter flehte uns an, ihn nicht alleine zu lassen. Er klang wie ein zum Tode Verurteilter. Wir ließen uns schließlich erweichen.

Die Wohnung befand sich in einem unbeschreiblichen Zustand.

„Wann kommt Virginia aus dem Spital?“, wollte Steve wissen. Peter sagte, er habe es aufgeschrieben, der Kalender liege am Tisch. Steve solle nachsehen, er hole inzwischen den Gin. George, der über etwas weiß Lackiertes gestolpert und der Länge nach hingefallen war, knurrte, er solle sich beeilen. Steve fand den Eintrag und verzog das Gesicht.

Peter rollte einen Teewagen ins Zimmer. Ein Tablett hätte er wohl nicht mehr gemeistert. „Wie sieht es aus?“, fragte er. „Wann findet die Hinrichtung statt?“

„Heute“, sagte Steve, „du wirst in sechs Stunden erwartet.“

„Alle Zeit der Welt.“ Peter zitterte, als er den Gin einschenkte.

George, der sich wieder aufgerappelt hatte, deutete auf die am Boden liegenden Trümmer. „Was ist das? Eine Falle für deine Frau?“

„Das“, erklärte Peter, „sind die Teile vom Kinderbett. Ich bin noch nicht dazu gekommen.“

Die Aussicht, dass Virginia in wenigen Stunden in dieses Hinterhofloch kommen würde, das so aussah, als hätten die Vandalen darin gehaust, gepaart mit der Vorstellung, dass ihr armes Kind nun mit dem durch die lächerliche Summe von Sixpence abgegoltenen Vornamen Ezekiel durchs Leben gehen musste, machte mich beklommen. Mein Zustand blieb nicht unbemerkt.

„Du siehst schlecht aus“, meinte Peter, „trink etwas.“

Er gab mir ein volles Glas. Ich wusste, dass ich eine Dummheit beging, als ich den Inhalt hinunterstürzte. Peter, Steve und George nickten anerkennend. Dann riss der Film.

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Ich erwachte nackt im eigenen Bett, eine erstaunliche Leistung, wie mir schien. Sie relativierte sich schnell. Meine Freundin Helene stand vor mir und begann, mit klagender Stimme auf mich einzureden. Sie könne nach dem, was sich ereignet habe, nicht mehr mit mir zusammenleben, es sei eine Schande, sie werde mich verlassen. Ich bat sie, mir vorher noch Wasser und ein Schmerzmittel zu bringen.

„Steht am Nachtkästchen“, sagte sie. Ich würgte zwei Tabletten hinunter und Helene erzählte die Geschichte meiner Rückkehr. Mir trieb es die Schamesröte ins Gesicht. Offenbar hatte man mich mit einem umgehängten Pappschild, auf dem Name, Adresse und die Aufforderung, mich nach Hause zu bringen, gekritzelt waren, bei einem Taxistandplatz ausgesetzt. Zur Wohnung war ich jedoch von zwei Polizisten gebracht worden. Meine Heimkehr war unter großer Lärmentwicklung vonstattengegangen. Die Nachbarn waren Zeugen meiner Verfehlung geworden, die nicht zuletzt darin bestand, dass ich mich im Wagen übergeben hatte.

Sie habe, so Helene, schon viel mitmachen müssen, und dann begann die sattsam bekannte Litanei von der Deklassierung ihrer Familie, dem Landgut östlich der Neiße, wo jetzt der Pole sitze, und dem Stadthaus, das bei einem Bombardement der RAF in Flammen aufgegangen war. Von der Flucht vor den Russen, all den Erniedrigungen, denen sie als Heimatvertriebene ausgesetzt gewesen war, den Fährnissen ihres Lebens, die in der Beziehung mit mir einen grauenvollen Höhepunkt gefunden haben. Denn was wirkliche Demütigung sei, das wisse sie erst jetzt.

Ich war versucht, mir die Decke über den Kopf zu ziehen, unterließ es aber, da es nichts genutzt hätte. Helenes Stimme ist selbst im Schluchzen noch eine alles durchdringende.

Die Schilderung ging weiter. Wie sie, noch schlaftrunken, die Tür geöffnet und mit einem Mal hellwach meiner ansichtig geworden war. Nie werde sie dieses Bild vergessen, eine jämmerliche, von zwei Uniformierten umrahmte Figur, begafft von den Nachbarn, darunter Mr und Mrs Hunter, die das Geschehen mit einem zahnlosen bloody foreigners kommentierten. Sie habe sich ihr Leben anders vorgestellt, ihre Familie sei stets anständig gewesen, sie … Der Rest des Satzes ging in unbeherrschtem Weinen unter.

Das Schmerzmittel hatte unterdessen angefangen zu wirken; die Explosionen im Kopf verebbten und machten einem matten Interesse Platz.

„Und?“, fragte ich. „Wie geht die Geschichte weiter?“

„Du hast in deinem Rausch etwas gelallt: Eze, Eze, armer Ezekiel. Dann hast du zu weinen begonnen. Die Polizisten haben dich in die Wohnung geschafft und ins Bett gebracht.“

„Wie fürsorglich. Wer hat mich ausgezogen?“

„Die Polizisten. Ich war in der Küche, kochte Kaffee. Sie lachten im Schlafzimmer. Sehr laut.“

Die letzten Worte schleuderte sie mir in einem gehässigen Tonfall entgegen. Mich ergriff ein Gefühl tiefster Herabwürdigung, gefolgt von Wut und dem Wunsch, sie zu attackieren. Ich bäumte mich auf und fand es noch im Zurücksinken in das Kissen erstaunlich, an wie vielen Stellen ein Körper Schmerz empfinden kann. Helene war unterdessen wieder in ihren Klagemodus verfallen. Ich sei ein gänzlich anderer Mensch, als ursprünglich von ihr angenommen. Ich würde mich auch in finanzieller Hinsicht nicht nach ihren Vorstellungen entwickeln; es mangle mir an Ehrgeiz und Antrieb. Die Beziehung wäre sie jedoch in der Annahme eingegangen, dass ich meinen Beruf erfolgreich ausübe, ein Ziel vor Augen habe, fähig und willens sei, mit ihr eine Familie zu gründen.

Rückblickend kann ich sagen, dass ich den Anschuldigungen bewundernswert stoisch begegnete. Freilich waren sie mir vertraut, Helene neigt zu Wiederholungen. So reagierte ich mit zustimmenden Phrasen wie: „Da gebe ich dir recht.“ – „Ich kann dir nicht widersprechen.“ – „Ich bin völlig deiner Meinung.“ Meine Antworten reizten sie zur Weißglut. Schließlich erreichte Helene den Punkt, an dem ihre verbalen Möglichkeiten erschöpft waren. Sie hob ihre Tasse – und ich bin überzeugt, dass sie diese nach mir geworfen hätte, wenn in dem Augenblick nicht das Telefon geläutet hätte. Sie ließ die Tasse sinken, ging aus dem Zimmer und nahm ab. Dann hörte ich, wie sie etwas sagte, und ein mürrisches „Für dich!“ rief.

In unserer Wohnung befand sich das Telefon an der unwirtlichsten Ecke, im Flur neben der Eingangstür. Ich wickelte die Decke um die Schultern und setzte mich vorsichtig in Bewegung. Ich wusste genau, wer anrief, einer von den Jungs, Steve oder George. Peter schloss ich aus. Peter, dachte ich, hat sich sicher noch in einen Zustand der Besinnungslosigkeit getrunken, umgehackt, wie er das nennt. Vermutlich liegt er in der toxikologischen Abteilung eines Spitals, man kann nur hoffen, in einem anderen als seine Frau. Aber so viel Glück wird er nicht haben. Und das Erste, was der kleine Ezekiel von seinem Vater zu Gesicht bekommen wird, ist eine delirierende Gestalt mit Infusionsbeutel und einem Kübel neben dem Bett. Armer Ezekiel.

Ich war einigermaßen überrascht, als sich auf mein unfreundliches Hallo eine unfreundliche weibliche Stimme meldete. Es war Mrs Wolf von der Bildagentur, die mich früher mit Aufträgen bedacht hatte. Der letzte lag ziemlich genau zwei Jahre zurück. Mrs Wolf kam umgehend zur Sache: Fotoreportage, Manchester Guardian, Weltausstellung Brüssel, Interesse? Ich sagte zu, noch ehe sie die Konditionen genannt hatte, bedankte mich, dass sie dabei an mich gedacht hatte. Das habe sie nicht, entgegnete sie, aber bei Peter, Steve und George hebe niemand ab. Es sei schon ein Kreuz mit den freien Fotografen. Ich solle mich umgehend mit der Redaktion in Verbindung setzen, die Details erführe ich vor Ort. Sie diktierte eine Nummer, die ich fahrig notierte. Die Spitze des Bleistifts brach nach der zweiten Ziffer ab. Ich geriet in Aufregung, rief Helene, mir einen neuen zu bringen. Die aber war im Bad verschwunden. Mrs Wolf wurde ungeduldig, meinte, die Sache fange ja gut an, ich werde mir wohl noch ein paar Zahlen merken können. Arteriosklerotische Verblödung könne in meinem Alter doch einigermaßen ausgeschlossen werden. Also noch einmal, mir wurde schwindlig, benommen kratzte ich die Zahlen ins Papier.

Wider Erwarten verlief der Anruf beim Manchester Guardian erfreulich. Das Treffen war auf elf Uhr angesetzt, das ließ mir Zeit, meine Erscheinung in Ordnung zu bringen. Aus dem Badezimmer klangen plätschernde Geräusche, die Tür war verriegelt, ich bat Helene, mich hineinzulassen. Sie gab keine Antwort.

„Es ist dringend!“, rief ich. „Mach bitte auf!“

Helene schwieg. Ich rüttelte an der Klinke, wurde laut. Das brach den Bann. Helene begann, zurückzuschreien: Ich täte gut daran, mich zu entfernen. Jetzt sähe ich einmal, wie es ihr immer erginge, denn normalerweise wäre ja ich derjenige, der das Bad blockiere. Stundenlang, draußen auf der Diele die brennende rote Glühbirne als Zeichen, dass der Herr seine Fotos entwickle, sie in ihrer Not von einem Fuß auf den anderen tretend. Denn natürlich befinde sich in einer Wohnung wie der unseren die Toilette im Badezimmer.

Ich brüllte, sie solle froh sein, dass sie sich an einem Ort befände, wo das rote Licht innerhalb und nicht außerhalb der Eingangstür leuchte. Der Satz tat mir augenblicklich leid. Ich suchte nach Worten der Entschuldigung, aber Helene kam mir zuvor. Sie erklärte mit kalter Stimme, dass ich mich künftig besser vorsehen solle mit dem, was ich sage. Bob habe ihr sowohl seine Dienst- als auch seine Privatnummer gegeben, Bob habe wiederholt versichert, sie könne ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen, wenn es Probleme gäbe.

„Welche Probleme? Wer ist Bob?“

Helene schwieg. Mir fiel ein, dass sich mein Reisenecessaire noch in der Tasche befand. Erst vor wenigen Tagen war ich von einem dieser Horroraufträge zurückgekommen, die ich annehmen muss, um über die Runden zu kommen. Eine Gruppe Hobby-Ornithologen unter der Leitung eines, ich kann es nicht anders sagen, Fanatikers hatte mich angeheuert. Das Honorar war vom Fanatiker stark nach unten gedrückt worden. Wir feilschten ewig, schließlich nannte ich den letztmöglichen Preis. Er musterte meine Schuhe.

„Einer wie Sie macht es auch billiger.“

Ich hätte ihn gerne geschlagen, aber das Schwein hatte recht. Mich umgibt keine Aura des Erfolgs.

Ein ganzes Wochenende verbrachte ich auf einer von Kanälen durchzogenen Wiese, wo ich mich halb zu Tode fror. Nicht so die Ornithologen. Sie lagen auf Luftmatratzen in ihren Schlafsäcken und starrten in das Sumpfgras. In unregelmäßigen Abständen blies einer von ihnen in seine Vogellockpfeife oder machte eine abfällige Bemerkung über mich. Aber das, dachte ich, während ich das Necessaire an mich nahm, gehört der Vergangenheit an. Brüssel! Ein erster Schritt aus dem Morast. Ich ging in die Küche. In der Spüle lag benutztes Geschirr. Das war ungewöhnlich, Helene hat in dieser Hinsicht feste Prinzipien. Es waren die guten Porzellantassen, Stücke, die normalerweise in einem Schrank versperrt sind. Als Teil ihrer Aussteuer dürfen sie nicht verwendet werden. Schade nur, dass diese Hochzeit nie zustande kommen wird. Jedenfalls nicht mit mir.

Ich summte, während ich mir das Gesicht einseifte. Ich summte nicht lange. Die Klinge war stumpf, die Hand unsicher, der Taschenspiegel halb blind. Ich zog den Hobel über die Haut, schnitt mich, Blut tropfte auf die Aussteuer. Vielleicht genau in jene Tasse, aus der Bob getrunken hatte. Ich schnitt mich erneut. Nach der Rasur hatte sich mein Erscheinungsbild eher verschlechtert. Die Augen nach wie vor blutunterlaufen, der Schädel fahl und aufgedunsen. Die Blessuren machten den Anblick nicht besser. Bevor ich mich anzog, rieb ich mich mit einem Eau de Cologne getränkten Geschirrtuch ab. Dann machte ich mich auf den Weg.

Glücklicherweise schien der zuständige Herr beim Guardian eine ähnlich verlaufene Nacht hinter sich zu haben. Er war übermüdet, verkatert, ungewaschen; wir harmonierten prächtig.

„Du siehst aus, als wärst du bei einer Veranstaltung für die Jungs gewesen“, begrüßte er mich. Ich nickte, obwohl mir nicht klar war, wovon er sprach.

„Schreckliche Sache, das mit den Jungs. Aber wir werden sie nie vergessen. Wollen wir darauf einen Schluck trinken?“

Er wartete keine Antwort ab, zog eine Brandyflasche aus der Schreibtischlade und trank, ehe er sie mir reichte. Mir ging ein Licht auf, als ich einen um den Flaschenhals geschlungenen Wimpel von Manchester United sah. Deren Mannschaft war kürzlich bei einem Flugzeugunglück stark dezimiert worden.

„Zwei Monate“, meinte er düster. „Schon mehr als zwei Monate her, aber ich komme nicht darüber hinweg. Kein Tag, an dem ich nicht an sie denke. Und dir geht es ähnlich, wie ich sehe. Das ist schön.“

Es gibt wenig, was mir gleichgültiger wäre als Fußball; aber hier ging es um einen Auftrag. So prostete ich meinem Gegenüber zu.

„Ihr werdet immer einen Platz in unserem Herzen haben, Jungs.“ Er sah mich gerührt an, wuchtete sich schwerfällig aus seinem Stuhl, umrundete den Schreibtisch und umarmte mich. Sein Hemd roch, als wäre es seit dem betrüblichen Vorfall nicht mehr gewechselt worden. Ich hielt die Luft an und dachte: Alles besser, als in eine nasse Decke gehüllt auf das Auftauchen einer Trauerente zu warten.

Als ich das Gebäude des Manchester Guardian verließ, war ich ein glücklicher Mensch. In der linken Innentasche meines Sakkos befanden sich ein Bahnticket erster Klasse nach Brüssel, die Hotelreservierung und ein Vorschuss in einer Höhe, die meine Erwartungen deutlich übertraf. Ihn verdankte ich den Jungs, und obwohl ich nicht gläubig bin, betrat ich die nächste Kirche und zündete eine Kerze für die toten Spieler an. Anschließend versuchte ich, Helene zu erreichen. Ich brannte darauf, ihr von meinem Erfolg zu berichten. Es war besetzt.

Ich fuhr zum Bahnhof, tauschte das Ticket gegen eines zweiter Klasse und kaufte von der Differenz zwei Flaschen Lacryma Christi – Helene hat eine Schwäche für süße Weine. Danach probierte ich es erneut. Sie telefonierte noch immer. Das überraschte mich, Helene ist kein Mensch, der gerne telefoniert. Niemand telefoniert gerne in einem zugigen Winkel bei der Eingangstür, wo jedes Wort an das wachsame Ohr der Hunters dringt. Ich dachte an die bevorstehende Reise. Der Auftrag war nicht nur in finanzieller Hinsicht einträglich. Eine Woche als akkreditierter Fotograf auf der ersten Weltausstellung seit zwanzig Jahren. Mit lohnenden Motiven, fantastischen Möglichkeiten wie … Ein störendes Bild schob sich vor den anmutigen Gedanken. Helene.

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Unsere Geschichte begann absurd und funktionierte nie. Vor ziemlich genau zwei Jahren hatte ich einen Auftrag der Stadtverwaltung angenommen: Manchester bei Nacht. Es war nicht gerade ein Traumjob, Manchester ist eine Stadt im Niedergang, das Nachtleben entsprechend. Ganz zu schweigen von den Lichtverhältnissen. Doch zahlte die Stadtverwaltung im Gegensatz zu den meisten Klienten pünktlich. Und es gab noch einen anderen Grund: Meine letzte Beziehung war gescheitert. An sich nichts Unvertrautes, alle meine Beziehungen waren früher oder später gescheitert. Doch in diesem Fall ging die Trennung nicht von mir aus. Sie kam überraschend, war schmerzhaft und ließ mich verstört zurück. Die Ursache der Verstörung hieß Victoria, die im zehnten Monat unseres Zusammenseins befunden hatte, dass es nun genug sei. Victoria war eine Frau, die ihre Entscheidungen schnell umzusetzen pflegte. Eines Tages kam ich nach Hause und wunderte mich über die unversperrte Eingangstür. So etwas macht man in einer Gegend wie der meinen nicht. In der Wohnung konnte ich zunächst nichts Auffälliges feststellen. Erst nach einer Weile fiel mein Blick auf den Umschlag. Er lag auf dem Beistelltischchen, mein Name stand darauf. Darin die Uhr, die ich ihr unter beträchtlichen Opfern geschenkt hatte, der Wohnungsschlüssel und ein Zettel mit der lapidaren Zeile: Es hat keinen Sinn mit uns beiden – leb wohl.

Wenn ich an die Zeit danach zurückdenke, überfällt mich immer noch ein Frösteln. Natürlich suchte ich nach ihr. Die alte Kriegswitwe, bei der Victoria zur Untermiete gewohnt hatte, teilte mir mit, die junge Frau sei abgereist, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Ihr Arbeitgeber ließ mir ausrichten, dass sie von sich aus gekündigt habe. Mehr könne er dazu nicht sagen. Victorias Eltern lebten in den Kolonien, ich hatte sie nie kennengelernt. Die wenigen gemeinsamen Bekannten gaben vor, nichts zu wissen. Ich habe lange auf ein Lebenszeichen gewartet, aber nie wieder von ihr gehört.

Damals, fünf, sechs Monate nach ihrem Verschwinden, war ich der Meinung, lange genug getrauert zu haben. Mir ist in Erinnerung, dass ich mich mit großer Sorgfalt für den Abend hergerichtet hatte und am Ende mehr oder weniger aussah wie eine gute Partie. Modischer Haarschnitt, frisch rasiert, auf Hochglanz polierte Schuhe, ein neuer, auf Ratenzahlung angeschaffter Anzug. In dieser Aufmachung betrat ich den Plaza Ballroom in der Oxford Road. Dort war gerade eine Werbeveranstaltung im Gange, moderiert von einem exzentrisch gekleideten Mann mit blond gefärbten Haaren und fratzenhaft lächelndem Gesicht. Neben ihm stand eine verzweifelt wirkende Frau. Der Mann hatte seine Hand auf ihrer Hinterseite, sie bat ihn, das bleiben zu lassen. Mir fiel auf, dass sie mit starkem deutschen Akzent sprach. Er ignorierte ihre Bitte, tätschelte weiter. Ich mischte mich ein: „Lassen Sie das Fräulein in Ruhe!“

Er wandte sich mir zu: „Mr und Mrs Adolf Hitler, nehme ich an? Heil mein Führer!“ Die Zigarre nahm er dabei nicht aus dem Mund. Es geschieht selten, dass ich die Beherrschung verliere. Ich stürzte mich auf ihn, ohne auch nur die Kameras abzunehmen. Bei der Armee war mir eine Nahkampfausbildung zuteilgeworden, ich sah in der Fratze keinen ernst zu nehmenden Gegner.

Seit damals sind Helene und ich ein Paar. Sie hat in mir den tugendreichen Ritter gesehen; selbstlos, mutig, edel, das ganze Programm. Ich war ihr Captain Future. Es spielte gar keine Rolle, dass die Schlägerei nicht zu meinen Gunsten ausgegangen war. In der Einschätzung der gegnerischen Kräfte hatte ich mich gründlich getäuscht. Entsprechend schnell war der Kampf entschieden. Ich lag am Boden, rang nach Luft und spürte, wie mir ein warmer Blutstrom Bruchstücke von Zähnen aus dem Mund spülte. Im Krankenhaus stellte man fest, dass die Atemnot von den Rippen herrührte, die mir die Fratze gebrochen hatte.

Letzten Endes hat an diesem Abend mein Abstieg begonnen. Ich war drei Monate außer Gefecht, eine zu lange Zeit in meiner Branche. Ich verfügte über keine Einnahmen, war aber mit horrenden Ausgaben konfrontiert. Etwa die Reparatur der beiden Kameras, die bei der Auseinandersetzung beschädigt worden waren. Schlaflose Nächte bereitete mir auch die Frage des Zahnersatzes. Die staatliche Gesundheitsfürsorge kam für Stiftzähne nicht auf. Das wäre zu teuer, wurde mir beschieden. Man könne mir lediglich anbieten, die restlichen Zähne zu ziehen und eine Vollprothese zu fertigen. Eine zutiefst englische Lösung, für die ich mich aber noch zu jung fühlte. Ich versuchte, über einen Berufsfonds zur Abfederung sozialer Härtefälle an Geld zu kommen. Dessen Absagebrief habe ich mir wegen des Passus, dass ein Fotograf zur Ausübung seines Berufes nicht auf Zähne angewiesen sei, aufgehoben.

So gingen meine Ersparnisse für wenig spektakuläre Dinge dahin; Zähne, Kameras, Miete, Essen. Nicht zu vergessen: Helene. Helene hatte mich bereits auf der Fahrt ins Krankenhaus begleitet und war seither nicht mehr von meiner Seite gewichen. Bei aller Pflege, die mir von ihr zuteilwurde, stand von Beginn an fest, dass die Verbindung keine glückliche werden würde. Im tiefsten Inneren fand ich sie nicht liebenswert. Doch tat es mir gut, nach dem Elend mit Victoria endlich wieder einmal angebetet zu werden. Ganz zu schweigen von der Wohltat, sich nicht mehr um die Lästigkeiten kümmern zu müssen, die mit der Führung eines Haushalts verbunden sind. So gesehen, bin ich ein Schwein.

Doch sollte man nicht vergessen, dass das Schwein einen hohen Preis bezahlt hat. Die Begegnung mit der Fratze hängt mir bis heute nach. Nicht nur körperlich. Nicht nur wegen Helene. An jenem verhängnisvollen Abend befand sich ein Journalist im Publikum. Tags darauf war ich erstmals auf der Titelseite einer, wenn auch zweifelhaften Zeitung.

Die Schlagzeile lautete Brutaler Angriff auf Jimmy Savile, und der in üblem Lohnsudlerjargon verfasste Artikel berichtete von einem gewalttätigen Gelegenheitsfotografen und seiner Attacke auf den beliebten Entertainer, Manager und Eigentümer. Savile, stand zu lesen, sei englisch im besten Sinn des Wortes. In den schweren Jahren von 1943 bis 1945 habe er als junger Mann unter Tage Kohle abgebaut und so das Seine dazu getan, den Krieg gegen Hitler zu gewinnen. Ein Mann vieler Talente, ein Sportsmann, ehemaliger Radrennfahrer, seit einiger Zeit als Ringer erfolgreich. Das habe der Aggressor auch am eigenen Leib zu spüren bekommen. Man könne nur hoffen, dass es ihm eine Lehre gewesen sei. Bis Redaktionsschluss wäre über den Täter nicht viel in Erfahrung zu bringen gewesen. Er nenne sich Strings, habe ursprünglich aber anders geheißen. Er lebe schon etliche Jahre in Manchester, weshalb man eigentlich davon ausgehen müsste, dass er ausreichend Zeit gehabt habe, sich mit den Sitten und Gebräuchen des Landes, das ihn aufgenommen habe, vertraut zu machen. Dazu gehöre das Recht auf freie Meinungsäußerung, eine ironische Bemerkung könne kein Anlass für einen privaten Blitzkrieg sein. Vielleicht auf dem Kontinent. Hier nicht.

In diesem Tonfall ging es weiter. Es war offensichtlich, dass der Lohnschreiber nach Anschlägen bezahlt worden war und sich mühsam beherrschen musste, mich nicht als verdammten Ausländer zu apostrophieren. Mir ist der Artikel (dem außerdem zu entnehmen war, dass Mr Savile großmütig auf eine Anzeige verzichten werde) erst nach der Entlassung aus dem Krankenhaus untergekommen. Ich fand ihn unerfreulich, maß der Sache aber nicht allzu viel Bedeutung bei. Letztlich war die Zeitung ebenso armselig wie die Titelgeschichte. Doch als ich, kaum wiederhergestellt, die Besuche bei meinen ehemaligen Auftraggebern wieder aufzunehmen begann, musste ich feststellen, dass sie befangen reagierten. Man speiste mich auf unverbindliche Weise ab. Das konnte der Artikel allein nicht bewirkt haben. Offenbar hatte Savile Einfluss in überraschendem Ausmaß. Bis zum heutigen Anruf habe ich weder von einer Zeitungsredaktion noch einer Agentur oder einer öffentlichen Einrichtung irgendetwas gehört.

Und so wurde ich in dieser Zeit als Fotograf zu dem, was man in der Musik als Tuttischwein bezeichnet. Ein anonymer, beliebig austauschbarer Ablichter, der Taufen, Dosennahrung, Hochzeiten, Hunde und eben Vögel knipst. Immer ängstlich bemüht, den Wünschen des Auftraggebers gerecht zu werden. Einer, der sich selbst für solche Aufträge demütigen lassen muss. Nicht gerade ein Captain Future. Das wurde auch Helene bewusst; ihre Achtung sank aliquot mit den Einlagen des Postsparbuchs.

Mit Helene ist es überhaupt so eine Sache. Es gibt einen Grund, warum wir uns miteinander abquälen. Er liegt in dem Schnittpunkt unserer Biografien. Wir sind beide Strandgut, das der Krieg an Englands Ufer gespült hat. Andernfalls wären wir nicht auf dieser unwirtlichen Insel. Uns verbindet eine gemeinsame Sprache. Auch wenn Helenes Idiom in meinen Ohren nicht angenehm gefärbt ist, weil ihm das Weiche fehlt. Und das Perfekt.

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Das etwa waren die Gedanken, die ich hatte, als ich vom Bahnhof nach Hause ging. Dort angelangt, registrierte ich befriedigt, dass der Aufzug in Betrieb war. Ich fuhr in den vierten Stock. Schon beim Öffnen der Lifttür war Helenes Stimme zu hören. Sie klang aufgekratzt; wäre da nicht der starke Akzent gewesen, hätte ich sie nicht unbedingt mit ihr in Verbindung gebracht. Ich widerstand der Versuchung, länger als unbedingt notwendig zuzuhören, und läutete. Das Telefonat wurde abrupt beendet. Helene öffnete. Sie wirkte erhitzt.

„Ist Bob erleichtert, dass es keine Probleme gibt?“

„Das ist er. Aber er traut dem Frieden nicht. Er sagt, er wird die Sache im Auge behalten.“

„Wie überaus aufmerksam von Bob.“ Ich drückte ihr die beiden Flaschen in die Hand.

Sie reagierte wütend. „Bist du wahnsinnig? Das können wir uns nicht leisten! Die bringst du sofort zurück. Hast du getrunken?“ Helene schnupperte. „Du hast getrunken!“

„Bob wird enttäuscht sein. Aber auch beruhigt, weil er sich die nächste Zeit keine Sorgen machen muss. Ich fahre nach Brüssel.“

Ein Leuchten ging über ihr Gesicht. „Du fährst weg? Wann denn? Für wie lange?“

„In zwei Wochen. Einige Tage. Du wirst dich noch etwas gedulden müssen.“

In der Zeit bis zur Abfahrt registrierte ich Veränderungen. Der Auftrag hatte mein Selbstbewusstsein beträchtlich gehoben. Zwischen Helene und mir herrschte eine Art Waffenstillstand, der nur selten gebrochen wurde. Wir waren erleichtert, einander eine Weile nicht sehen zu müssen. Das Telefon läutete häufiger als sonst, Helene wirkte angespannt, wenn ich abnahm. Wenig überraschend war es meist eine Männerstimme, die falsch verbunden murmelte. Den letzten gemeinsamen Abend verbrachten wir in bemühter Harmonie. Am Herd köchelten Sächsische Flecke, ein Festtagsgericht, wie ich wiederholt zu hören bekam. Der Innereiengeruch legte sich schwer über die Wohnung. Bevor Helene die Scheußlichkeit servierte, schlug sie den Gong. Eine der vielen Eigenarten, die mich an ihr stören. Es kostete mich einige Überwindung, die Pansen zu essen. Wenn man die Bissen im Mund mit Lacryma Christi vermischte, ging es. Helene sprach den Flecken und dem Wein indes tüchtig zu. Zwischen zwei Bissen blickte sie auf.

„Du isst ja gar nichts! Schmeckt es dir nicht?“

„Nein, es ist wirklich ganz ausgezeichnet. Wahrscheinlich die Aufregung wegen der Reise.“

Sie zuckte mit den Achseln. „Da kann man nichts machen. Geh ins Bett. Ich hab dir Nylonhemden eingepackt. Die kannst du auswaschen und am Kleiderbügel trocknen. Gute Reise, Titus.“

Brüssel