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UTB 4909

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Martin Lücke / Irmgard Zündorf

Einführung in die
Public History

Vandenhoeck & Ruprecht

Dr. Martin Lücke ist Professor für Didaktik der Geschichte an der Freien Universität Berlin und einer der wissenschaftlichen Leiter des dortigen Masterstudiengangs Public History.

Dr. Irmgard Zündorf ist Leiterin des Bereichs Public History am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. In dieser Funktion ist sie Mitkoordinatorin des Studiengangs Public History an der Freien Universität Berlin.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de

Mit 8 Abbildungen und 2 Tabellen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlag: Skulptur „Der Kuss“ des Künstlers Seward Johnson, nach dem berühmten Foto von Alfred Eisenstaedt, das er bei den Feierlichkeiten zum Kriegsende 1945 in New York aufgenommen hat. Die acht Meter hohe Skulptur stand 2014 vor dem Memorial in Caen, das an die Landung der Alliierten in der Normandie erinnert. Die Aufstellung der Skulptur führten zu heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen um den Umgang mit Gedenkorten und ikonografischen Bildern sowie Genderfragen und Sexismus in Geschichtsdarstellungen und damit mitten in die Public History. Embracing Peace by Seward Johnson © 2004, 2005 The Seward Johnson Atelier, Inc. Photo by Jeremy Tournay

Umschlaggestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

UTB-Band-Nr. 4909

ISBN 978-3-8463-4909-0

Inhalt

Einleitung

1.Was ist Public History? Geschichte und Konzeptionen

1.1Geschichte und Institutionalisierung der Public History

1.1.1Public History in den USA und international

1.1.2Public History in Deutschland

1.2Programmatische und begriffliche Annäherung an Public History

1.3Geschichte in der Öffentlichkeit: Geschichts- und Erinnerungskultur als erkenntnisleitende Konzepte

2.Geschichtsdidaktik und Public History

2.1Geschichtsaneignungen in der Öffentlichkeit

2.2Geschichtsdidaktische Prinzipien: Narrativität, historische Imagination, Multiperspektivität

2.2.1Narrativität

2.2.2Historische Imagination

2.2.3Multiperspektivität

2.2.4Geschichtsdidaktische Standards für Produkte der Public History

2.3Gesellschaftliche Dimensionen I: Diversität

2.3.1Diversität, Gesellschaft und Geschichte

2.3.2Race, Class und Gender als soziale Kategorien der Diversity- und Intersectionality Studies

2.4Gesellschaftliche Dimensionen II: Inklusion

2.4.1Beispiel 1: Der Genozid an den Armenier*innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts

2.4.2Beispiel 2: Die Geschichte der Homosexualitäten

3.Methodische Zugänge zur Public History

3.1Materielle Kultur

3.2Visual History

3.3Sound History

3.4Oral History und Zeitzeug*innen in der Geschichtsvermittlung

3.4.1Oral History-Interviews

3.4.2Die Figur des ‚Zeitzeugen‘ bzw. der ‚Zeitzeugin‘

3.5Living History

4.Public History und Medien

4.1Medien machen „echte“ Geschichte: Authentizität als Konstruktionsleistung von Medien in der Public History und Medienaneignung

4.2Text- und bildbezogene Printmedien

4.2.1Historischer Roman

4.2.2Historisches Sachbuch

4.2.3Geschichtszeitschriften

4.2.4Comic

4.3Audiovisuelle Medien: Geschichte in Film und Fernsehen

4.4Digitale Medien

5.Museen und Gedenkstätten

5.1Begriffliche und entwicklungsgeschichtliche Annäherungen an Museen und Gedenkstätten

5.1.1Entstehung und Entwicklung von Museen

5.1.2Entwicklung der Gedenkstätten in Deutschland nach 1945

5.2Forschungsansätze zum Museum

5.2.1Museumswissenschaften

5.2.2Museums- und Ausstellungsanalyse

5.3Ausstellungen machen und vermitteln

6.Public History in der Lehre

6.1Die Verknüpfung von Theorie und Praxis im Studium

6.2Masterarbeiten zwischen Analyse und Praxisprojekt

6.2.1Zur Analyse von Geschichtspräsentationen

6.2.2Praxisprojekte und Projektmanagement

6.3Der Karriereweg

6.3.1Studium

6.3.2Praktika

6.3.3Promotion

6.3.4Volontariat

6.4Zwischen Wissenschaft und Event: Fachliche und ethische Leitlinien der Public History

6.5Berufsfelder

6.5.1Medien

6.5.2Museen und Gedenkstätten

6.5.3Politik

6.5.4Wirtschaft

Anhang

Literaturverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abkürzungen

Register

Einleitung

Die international gebräuchliche Bezeichnung „Public History“ und ihr häufig verwendetes deutsches Äquivalent „angewandte Geschichte“ weisen bereits auf zwei zentrale Aspekte der vorliegenden Publikation hin: Es geht um Geschichte in der Öffentlichkeit und für die Öffentlichkeit. Eine solche „Public History“ kann sowohl im Rahmen von universitären Studiengängen und Seminaren konzipiert als auch wissenschaftlich analysiert werden. Public History bezeichnet sowohl jede öffentliche Darstellung von Geschichte als auch eine geschichtswissenschaftliche Subdisziplin, die sich mit der Präsentation von Geschichte in unterschiedlichen Medien, Institutionen und Formen auseinandersetzt.

Public History, so könnte argumentiert werden, existiert bereits so lange wie es die Beschäftigung mit Geschichte überhaupt gibt. Doch die deutsche Geschichtswissenschaft hat sich lange Zeit allein mit dem Erkenntnisgewinn durch historische Forschung und weniger mit der Vermittlung und Rezeption von Geschichte in der Öffentlichkeit beschäftigt. Dies war der Geschichtsdidaktik vorbehalten, die sich jedoch eher auf die schulische Vermittlung konzentriert hat. Zwar wurde von Seiten der Geschichtsdidaktik bereits in den 1980er Jahren mit dem Konzept der Geschichtskultur der außerschulische Umgang mit Geschichte beschrieben, und in den Kultur- und Geschichtswissenschaften wurden Konzepte von Erinnerungskultur aufgegriffen – ein breiter wissenschaftlicher Zugriff auf das facettenreiche Terrain von Geschichte in der Öffentlichkeit blieb jedoch aus. Dass die Geschichtswissenschaft sich wenig mit der außerschulischen Verbreitung von Geschichte beschäftigte, hatte auch damit zu tun, dass dieser, ob in Form von Ausstellungen oder Fernsehdokumentationen, eine geringere Wertigkeit gegenüber der „akademischen“ Geschichtswissenschaft beigemessen wurde. Doch Geschichte in der Öffentlichkeit boomt, das mediale Interesse an Geschichte ist hoch und es zeigt sich eine gewachsene gesellschaftliche Bedeutung von historischen Darstellungen in den unterschiedlichsten Medien, verbreitet von öffentlichen oder privaten Institutionen, in der Kultur, Wirtschaft oder Politik. Mit diesem Boom ist die Geschichtskultur ein Thema der Geschichtswissenschaft und -didaktik geworden. Sie wird beobachtet, analysiert und weiter ausgebaut. Der vorliegende Band möchte genau diese Entwicklung unterstützen und einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit öffentlichen Geschichtsdarstellungen leisten.

Diese Publikation richtet sich sowohl an Studierende und Absolvent*innen der Public History als auch an solche aus anderen historischen Fächern, die sich neben historischer Grundlagenforschung intensiver mit der (Re-)Präsentation von Geschichte in der Öffentlichkeit beschäftigen möchten. Darüber hinaus sind alle Interessent*innen an und Praktizierenden der Public History zur Lektüre eingeladen. Public History stellt ein Arbeitsfeld für Historiker*innen dar, das sich quantitativ ausweitet und dessen Hervorbringungen qualitativ zu untersuchen und zu verbessern sind. Daher nimmt dieses Buch sowohl Lehre und Forschung als auch den Arbeitsmarkt für Absolvent*innen einschlägiger Studiengänge in den Blick.

Spätestens seit den Bologna-Reformen wird im Rahmen von Praxisseminaren in geschichts- und kulturwissenschaftlichen Bachelor- wie Masterstudiengängen auch auf Berufsperspektiven außerhalb der Universitäten eingegangen. Dabei wird sowohl auf die Vermittlung fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Grundlagen Wert gelegt als auch auf die Rezeption und Analyse von Geschichte in der Öffentlichkeit sowie die Konzeption entsprechender Präsentationen in den Medien.

Das vorliegende Buch soll als Vorbereitung und Begleitung für entsprechende Studienangebote dienen, sei es in Form eigenständiger Studiengänge oder einzelner Module. Darüber hinaus bietet es jedoch auch allen Studierenden der Geschichtswissenschaft sowie historisch Interessierten Einblicke in die Public History und reflektiert über die ästhetischen, politischen und kommerziellen Dimensionen öffentlicher Geschichtsdarstellungen jenseits akademischer Publikationen. Das beinhaltet eine Diskussion von Standards für die Public History, die auch als Dienstleister für öffentliche und private Auftraggeber fungieren kann. Es gilt einen Weg zu finden, wie Geschichte gleichzeitig seriös und kurzweilig vermittelt werden kann. Zudem werden Ausbildungswege und Berufsperspektiven für Historiker*innen in Verlagen, Museen, Gedenkstätten, Verbänden, Stiftungen, Unternehmen, politischen Institutionen, Geschichtsagenturen oder im Journalismus aufgezeigt. In diesem Rahmen können viele Einzelaspekte von Public History nur kurz vorgestellt werden. Zur weiteren Vertiefung wird jeweils auf die entsprechende Spezialliteratur verwiesen, während es hier vorrangig darum geht, die Disziplin systematisch zu beschreiben.

Das Buch gliedert sich in sechs Kapitel, die der Frage nachgehen, was Public History eigentlich ist, welche Methoden zu ihr gehören und welche Arbeitsfelder sie umfasst. Dazu wird zunächst ein Überblick über die Entwicklung der Public History als Idee, Bewegung, Institution und universitäre Disziplin geboten (Autorin: Irmgard Zündorf). Anschließend werden verschiedene zentrale Begriffe wie Geschichts- und Erinnerungskultur, Geschichtsbewusstsein und Geschichtspraxis erörtert und voneinander abgegrenzt (Autor: Martin Lücke).

Darauf aufbauend wird das Verhältnis von Geschichtsdidaktik und Public History beleuchtet (Martin Lücke). Geschichtsdidaktische Prinzipien wie Multiperspektivität, Narrativität und historische Imagination werden erläutert und Ideen der Inklusion, Barrierefreiheit, Diversität und Intersektionalität sowie Debatten um Trans- und Interkulturalität diskutiert. Zudem wird Public History im Spannungsverhältnis zwischen empirischer Triftigkeit, historischen Narrationen und dem Wunsch des Publikums nach einer ästhetischen Sättigung historischer Imagination betrachtet. Denn bei der Tätigkeit von Public Historians geht es regelmäßig um den Spagat, zum einen für die empirische Evidenz von Geschichte verantwortlich zu sein, zum anderen aber den legitimen Wunsch des Publikums nach Emotion und ansprechender Ästhetik zu befriedigen.

Im dritten Kapitel werden methodische Zugänge zu den Forschungs- und Vermittlungsquellen der Public History betrachtet. Dazu werden Materielle Kultur (Irmgard Zündorf), Visual History und Sound History (Martin Lücke), Oral History und Living History (Irmgard Zündorf) als wissenschaftliche Methoden und Vermittlungsansätze erläutert. In den beiden folgenden Kapiteln wird der Umgang mit Geschichte in den Medien (Martin Lücke) sowie in Museen und Gedenkstätten (Irmgard Zündorf) näher betrachtet. Dazu dienen jeweils ein historischer Abriss des Forschungs- und Arbeitsfeldes sowie ein Einblick in theoretische Analysezugänge.

Das abschließende Kapitel setzt sich dezidiert mit Fragen der universitären Public History auseinander und diskutiert zunächst das Verhältnis von Fachwissenschaft und Praxisbezug in der Lehre (Irmgard Zündorf). Es bietet einen Überblick über mögliche Themen und Ansätze für Masterarbeiten sowie Praxisprojekte und skizziert einen Rahmen für die eigene Projektplanung. Weiterhin werden Fragen geschichtswissenschaftlicher und -didaktischer sowie ethischer Leitlinien für die Arbeit von Public Historians diskutiert. Schließlich werden Ausbildungswege und Berufsfelder für Absolvent*innen vorgestellt, die sich mit der Vermittlung und Präsentation von Geschichte außerhalb der Universitäten und Schulen beschäftigen möchten, sei es im Bereich der Medien, der Museen und Gedenkstätten, der Politik oder der Wirtschaft.

Die vorliegende Publikation kann all diese Themen nicht umfassend behandeln. Daher wird jeweils am Ende eines Kapitels weiterführende Literatur aufgelistet sowie Hinweise auf Websites wichtiger Institutionen und Publikationsorgane im deutschen und internationalen Bereich gegeben. Die Linklisten können auch online über die Website des Verlages abgerufen werden. Wichtige Erklärungen sind im Text grafisch hervorgehoben. Das Buch schließt mit einer Bibliographie zu allen angeschnittenen Themenfeldern sowie einem Sachregister.

Diese Einführung baut auf den langjährigen Erfahrungen beider Autor*innen in der universitären Lehre in der Geschichtswissenschaft, der Geschichtsdidaktik und Public History auf, vor allem im Studiengang Public History an der Freien Universität Berlin. An der Recherche, Korrektur und formalen Gestaltung des Buches haben Adrian Lehne, Anna Panhoff, Johanna Heinecke und Hanin Ibrahim mitgewirkt. Bei ihnen möchten wir uns herzlich für die große Unterstützung bedanken.

1.Was ist Public History? Geschichte und Konzeptionen

In diesem Kapitel wird Public History als Idee und Disziplin vorgestellt. Dazu wird zunächst ihre historische Entwicklung nachgezeichnet, bevor einige mit ihr verbundene Konzepte der Geschichtsschreibung erläutert werden. In einem ersten Schritt soll der historische Werdegang der Public History als Bewegung und Institution, aus den USA kommend und inzwischen auch in Australien und in Europa weit verbreitet, nachgezeichnet werden. Danach werden verschiedene Definitionen von Public History vorgestellt, um anschließend eine eigene Begriffsbestimmung vorzuschlagen. Dabei soll deutlich werden, dass Public History große Schnittmengen mit der Geschichts- bzw. Erinnerungskultur hat. Diese Begriffe sowie weitere in diesem Buch immer wieder auftretende wie Geschichtspraxis und Geschichtsbewusstsein werden Kapitel 1.3 erläutert. Zum Schluss dieses Kapitels wird der Standort der Public History zwischen Wissenschaft und Publikumsansprüchen erörtert.

1.1Geschichte und Institutionalisierung der Public History

Public History hat es schon lange gegeben, bevor der Begriff geprägt wurde. Die Bezeichnung stammt aus den USA, wo sich Public History zunächst als Bewegung außerhalb der Universitäten entwickelte. Aufbauend auf den Ansätzen und Zielen der New Social History der 1960er Jahre sollte eine Geschichte „von unten“ betrieben werden. Dies bedeutete einen Perspektivwechsel weg von der bis dahin betriebenen Politik- und Ereignisgeschichte hin zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Auch das Interesse an Kultur- und Alltagsgeschichte und einer damit verbundenen Regionalgeschichte wuchs. Mit dieser Entwicklung wurden sowohl die Themen als auch die Quellen und Methoden der historischen Forschung ausgeweitet. Zu den neuen Quellen zählten sowohl sogenannte Ego-Dokumente, wie private Briefe und Tagebücher, als auch mündliche Zeitzeug*innenaussagen. Letztere wurden mit der in den 1980er Jahren neu entwickelten Methode der Oral History (Kapitel 3.4) erhoben und analysiert.

Seit den 1970er Jahren stieg das öffentliche Interesse an Geschichtsdarstellungen. Immer mehr Menschen besuchten historische Ausstellungen, schauten Geschichtsfilme (Spielfilme aber auch Dokumentationen), lasen entsprechende Bücher (sowohl wissenschaftliche Abhandlungen als auch populärwissenschaftliche Darstellungen und Historienromane) oder kauften Geschichtsmagazine. Die steigende Nachfrage wiederum hatte zur Folge, dass immer mehr Angebote geschaffen wurden. Diese Entwicklung wird auch als „Geschichtsboom“ bezeichnet, der bis heute anhält.

Zudem erfolgte in den 1970er Jahren in den USA der Ausbau des Hochschulsystems. Dadurch stieg die Zahl der Absolvent*innen historischer Studiengänge, die im universitären oder schulischen Bereich keine Anstellung fanden. Auf andere Berufsfelder waren die Studienprogramme jedoch bis dahin nicht ausgerichtet.

Die Public History-Bewegung kritisierte die universitäre Geschichtswissenschaft, nicht auf das wachsende öffentliche Interesse an Geschichte einzugehen. Sie warf der Fachwissenschaft vor, den Kontakt zur Öffentlichkeit verloren zu haben, nicht mehr für diese zu forschen und zu schreiben, sondern nur noch für die eigenen Kreise zu publizieren. Dagegen wurde gefordert, dass die etablierten Historiker*innen sich mit ihren Fähigkeiten an der Entwicklung populärer Geschichtsdarstellungen beteiligen. Zudem sollte die universitäre Lehre an die veränderten Arbeitsbedingungen der Historiker*innen angepasst werden.

In der Folge wurden Ende der 1970er Jahre schließlich neue Studiengänge entwickelt, die auf diese Defizite reagierten und die Studierenden auf Tätigkeitsfelder im Bereich der Geschichtsvermittlung außerhalb von Schule und Universität vorbereiten sollten.

1.1.1Public History in den USA und international

Der erste Public History-Studiengang startete 1976 an der University of California, Santa Barbara unter der Leitung des dortigen Geschichtsprofessors Robert Kelly.1 Weitere Studiengänge, die sich verstärkt mit Vermittlungsfragen von Geschichte in der Öffentlichkeit auseinandersetzten und ganz konkret auf bestimmte Berufe vorbereiteten, folgten. Die Hochzeit dieser Public History-Studiengänge waren die 1980er Jahre, aber auch heute gibt es laut Angabe des Public History Resource Centers in den USA noch an 135 Universitäten entsprechende Angebote.2

Die Public History-Studiengänge in den USA bieten sowohl klassische geschichtswissenschaftliche Seminare an als auch solche, die sich mit Fragen der Entwicklung, Theorie und Methode der Medien- und Kulturwissenschaften auseinandersetzen. Darüber hinaus gibt es Wahlbereiche zu verschiedenen Praxisfeldern der Public History, die erste Einblicke in die konkrete berufliche Tätigkeit ermöglichen. Diese sind wiederum im Praktikum und auch in der eigenen Abschlussarbeit zu vertiefen. Die Studierenden sollen durch konkrete Beispiele und Gruppenarbeit auf die unterschiedlichen Formen der Präsentation von Geschichte in den verschiedenen Medien vorbereitet werden.

Einen Überblick über Definitionen, Studien- und Jobangebote in den USA sowie verschiedene Rezensionen und Rezensionsportale bietet das Public History Resource Center. Es definiert sich selbst als Forum, das die Arbeit von Public Historians unterstützt, fördert und verbreitet. Die dortigen Informationen beziehen sich überwiegend auf die USA, gehen aber teilweise darüber hinaus und schließen den gesamten angelsächsischen Sprachraum mit ein. Leider wird die Website in manchen Sparten seit Längerem nicht mehr überarbeitet.

Neben den Studiengängen zeichnete sich vor allem mit dem 1980 in Pittsburgh als Interessenvertretung gegründeten National Council on Public History (NCPH)3 eine Institutionalisierung der Public History ab. Ziel war es, die verschiedenen Akteur*innen auf dem Feld zu vernetzen und Public History als Disziplin zu professionalisieren, um ihr Ansehen zu fördern. Dafür wurden und werden Konferenzen durchgeführt, Texte über theoretische Grundlagen sowie Praxisfelder publiziert und Hinweise für die universitäre Lehre erstellt. Das NCPH betont einerseits die Eigenständigkeit der Public History und andererseits die Nähe zur Geschichtswissenschaft, deren Methoden nach wie vor als unverzichtbar gelten.

Seit 1978 erscheint vierteljährlich die Zeitschrift The Public Historian4. Sie ist inzwischen das wissenschaftliche Organ des NCPH und dient auch über die USA hinaus als wichtiges Publikationsorgan für die Public History. Zudem veröffentlicht der NCPH seit 1986 vierteljährlich den Newsletter Public History News. Der NCPH betreut ebenfalls die Mailingliste H-Public, die 1994 eingerichtet wurde, sowie seit 2012 den Blog Public History Commons. Dort werden aktuelle Informationen und Diskussionen zum Thema publiziert sowie die Beiträge aus der H-Public-Liste, dem NCPH-Newsletter und Online-Artikel aus The Public Historian zweitveröffentlicht. Im zeitgleich eingerichteten weiteren Blog des NCPH History@work werden vor allem Fragen und Probleme der Praxis behandelt.

Außerhalb der USA entwickelte sich vor allem in Australien seit Ende der 1990er Jahre eine institutionell verankerte Public History. 1998 wurde an der University of Technology Sidney The Australian Centre for Public History5 als Interessenvertretung gegründet. Derzeit gibt es fünf australische Universitäten mit Public History-Studienangeboten. Seit 1992 veröffentlicht die Australian Professional Historians’ Association die wissenschaftliche Zeitschrift Public History Review (PHR)6, die seit 2006 auch online zur Verfügung steht und neben The Public Historian zu den wichtigsten internationalen Publikationsorganen der Public History zählt. Sie behandelt Fragen der Geschichtsvermittlung und deren Rezeption. Die Zeitschrift versteht sich als Forum für alle Historiker*innen.

Auch in Europa war seit den 1980er Jahren ein ansteigendes öffentliches Interesse an Geschichte zu verzeichnen. Zu einer breiten Public History-Bewegung kam es jedoch nicht. In Großbritannien entwickelte sich zunächst die „History Workshop“-Bewegung um Raphael Samuel am Ruskin College in Oxford, die sich mit Fragen der Geschichte in der Öffentlichkeit auseinandersetzte. 1996 entstand der erste Public History-Studiengang in Oxford, und inzwischen gibt es an insgesamt fünf britischen Universitäten entsprechende Angebote. Weitere Public History-Studienangebote lassen sich seit 2008 in den Niederlanden an der Universität von Amsterdam, in Belgien an der Universität von Gent und in Polen seit 2014 an der Universität Wrocłav finden. Im Wintersemester 2015/16 starteten zudem in Frankreich der erste entsprechende Studiengang an der Université de Paris Est und in Italien an der Universität Modena und Reggio Emilia. In der Schweiz startet im Wintersemester 2017/18 der Masterstudiengang „Geschichtsdidaktik und öffentliche Geschichtsvermittlung“ der PH Luzern und der Universität Freiburg, der in Zusammenarbeit mit den Universitäten Luzern und Basel sowie der PH St. Gallen durchgeführt wird.

Eine erste internationale Public History-Konferenz fand 2005 in Oxford unter dem Titel „People and their Pasts“7 statt. Hier referierten vor allem Vertreter aus den USA, Australien und Großbritannien. Eine für alle Beteiligten konsensfähige Definition der Public History wurde hier ebenso wenig gefunden wie die Entscheidung, ob Public Historians in erster Linie studierte Historiker*innen sein sollten oder auch Laienhistoriker*innen sein können. Ziel der Tagung war vielmehr, möglichst vielfältige Sichtweisen zuzulassen und damit neue Perspektiven auf Geschichte in der Öffentlichkeit zu gewinnen.

2010 wurde schließlich die International Federation for Public History (IFPH)8 gegründet. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, im Bereich der Lehre und in der Forschung internationale Kontakte zu vermitteln und den transnationalen Austausch zu unterstützen. Zu diesem Zweck wird jährlich eine große internationale Tagung durchgeführt. Die erste fand 2014 in Amsterdam statt, die zweite 2015 in Jinan, die dritte 2016 in Bogotá und die vierte 2017 in Ravenna. Innerhalb des IFPH wurde eine Untergruppe für den wissenschaftlichen Nachwuchs gebildet. Sie nennt sich Student and New Professional Committee9 und soll Public History-Studierende und Absolvent*innen miteinander in Kontakt bringen.

1.1.2Public History in Deutschland

Auch in Deutschland stieg seit den 1970er Jahren die Zahl der Absolvent*innen historischer Studiengänge, und spätestens in den 1980er Jahren wurde der Geschichtsboom deutlich spürbar. Immer mehr Historiker*innen wechselten nach dem Studium in Arbeitsfelder außerhalb der Universitäten oder der Schule, waren jedoch, wie in den USA, kaum auf diese Tätigkeiten vorbereitet. Vielmehr ließ sich sogar eine gewisse Ratlosigkeit in den Universitäten beobachten, wie mit dem sogenannten Geschichtsboom umgegangen werden sollte. Auch wenn die Fachdidaktik die Fachhistoriker*innen zu stärkerer Präsenz in der Öffentlichkeit aufrief, blieb unklar, wie diese aussehen sollte.

Außerhalb der Universitäten nahmen die in den 1980er Jahren gegründeten Geschichtswerkstätten unter dem Motto „Grabe, wo Du stehst“10 die Regional- und Alltagsgeschichte in den Blick und verfassten entsprechende Publikationen. Sie kritisierten die universitäre Geschichtswissenschaft für ihre Fokussierung auf die Politik- und Ideengeschichte, auch die zwischenzeitig erfolgte Aufwertung der Struktur- und Sozialgeschichte reichte ihnen nicht aus. Die Geschichtswerkstätten forderten eine demokratische Aneignung der Geschichte durch die Betroffenen selbst. Einerseits sollten die wissenschaftlich ausgebildeten Historiker*innen mit den Menschen vor Ort zusammenarbeiten und andererseits sollte das alltägliche Leben in den verschiedenen politischen Systemen und damit die „Geschichte von unten“ in den Mittelpunkt des Interesses gerückt werden.11

Abseits der Geschichtswerkstätten und Universitäten ließ sich zudem in den 1990er Jahren in Folge des Geschichtsbooms eine „Institutionalisierung der öffentlichen Geschichtsdarstellung“ beobachten.12 So konnten sich im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zeitgeschichtliche Redaktionen mit festen Sendeplätzen etablieren, Verlage publizierten verstärkt populärwissenschaftliche Buchreihen und populäre Geschichtszeitschriften wurden entwickelt. Gedenkstätten erhielten eine stärkere institutionelle öffentliche Förderung, Stiftungen zur Aufarbeitung der deutschen Diktaturvergangenheit entstanden und in den Bundes- und Länderverwaltungen wurden Referate eingerichtet, die sich konkret mit der Förderung von öffentlichkeitswirksamen Geschichtsprojekten auseinandersetzen sollten. Damit erweiterte sich das potentielle Arbeitsfeld von Absolvent*innen der Geschichtswissenschaften. Es dauerte jedoch noch einige Zeit, bis auch die Studiengänge diese veränderte Situation widerspiegelten.

Einen Vorreiter im Bereich der Geschichtsstudiengänge mit Praxisbezug stellt der 1985 an der Universität in Gießen eingerichtete Magisterstudiengang Fachjournalistik Geschichte dar, der als das erste deutsche Pendant zu den amerikanischen Public History-Curricula gesehen werden kann. Allerdings ist er ganz auf die journalistische Vermittlung von Geschichte in Film-, Funk- und Druckerzeugnissen bezogen. Weitere Studienangebote dieser Art ließen lange auf sich warten.

Mit der Einführung des Bachelor- und Mastersystems seit 2000 wurden in den Bachelorstudiengängen im Fach Geschichte Praktika verpflichtend eingeführt und facheigene Übungen oder Seminare mit Praxisrelevanz angeboten. Diese Angebote waren aber zunächst kaum konkret in den Lehrplänen verankert, sondern beruhten auf dem Engagement einzelner Dozierender. Ein Beispiel für ein innovatives Public History-Seminar ist das inzwischen über die Grenzen der Universität Bremen bekannte Theaterprojekt „Aus den Akten auf die Bühne“. Darüber hinaus gibt es an verschiedenen Universitäten Public History-Arbeitsbereiche, die Beratungsleistungen und/oder einzelne Praxis-Seminare anbieten. Dazu zählt der 2013/2014 an der Universität Hamburg eingerichtete Arbeitsbereich Public History, der Seminarangebote unterschiedlichster Art rund um Fragen der (Re-)Präsentation von Geschichte im Bachelorstudiengang Geschichte organisiert. Ähnliche Bereiche gibt es beispielsweise an der Universität Münster mit der „Schnittstelle Geschichte und Beruf“ und an der Universität Bielefeld mit dem „Arbeitsbereich Geschichte als Beruf“, die sowohl berufsvorbereitende Informationen vermitteln als auch eigene Praxisseminare durchführen. Eigenständige Public History-Studiengänge werden hier allerdings nicht angeboten. Auch der an der Universität Zürich angesiedelte Weiterbildungsmaster Applied History stellt keinen Studiengang im Sinne der Public History dar. Er bietet vielmehr in erster Linie klassische geschichtswissenschaftliche Seminare für Nicht-Historiker*innen an.

Erst seit 2008 gibt es mit dem konsekutiven Masterstudiengang „Public History“ an der Freien Universität (FU) Berlin ein Angebot, das sich explizit der Public History in all ihren Formen widmet und eine Alternative zu sonstigen Geschichtsmaster-Programmen bietet. Der Studiengang wird gemeinsam von der Universität bzw. dem Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der FU sowie dem Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) angeboten. Aufgrund dieser Kombination ist er inhaltlich stark auf das 20. Jahrhundert ausgerichtet. Die Grundidee des Studienganges liegt in der Vermittlung von theoretisch und methodisch fundierter Geschichtswissenschaft einerseits sowie Praxisfragen der öffentlich wirksamen Geschichtsvermittlung andererseits. Daher werden sowohl klassische historische Seminare angeboten als auch Module rund um Fragen der (Re-)Präsentation, der Geschichtsdidaktik, der Mediengeschichte und des Kulturmanagements. Neben geschichtswissenschaftlichen Methoden werden den Studierenden die Grundlagen des Historischen Lernens, der Oral History, der Material Culture und der Visual History sowie Sound History vermittelt. Auf dieser Basis sollen sie in die Lage versetzt werden, sowohl eigene Geschichtsprodukte zu konzipieren als auch vorhandene Angebote zu analysieren. Die Einsichten in die Praxisarbeit sollen zum einen durch Hausarbeiten in Form von Praxisprojekten gewährleistet werden, zum anderen über die Einbindung von Dozierenden und Gästen aus der außeruniversitären Praxis sowie durch die verpflichtende Teilnahme an Praktika.

Inzwischen gibt es in Deutschland weitere Public History-Studienangebote. So wurde 2012 an der Universität Heidelberg die Professur für Angewandte Geschichtswissenschaft und Public History eingerichtet. 2015 startete an der Universität Köln der zweite Public History-Studiengang. Weitere Programme sind zum Beispiel an der Ruhr-Universität Bochum in Planung. Darüber hinaus gibt es aber auch Studiengänge ähnlichen Inhaltes, jedoch gänzlich anderen Namens wie die Masterstudiengänge „Fachdidaktische Vermittlungswissenschaften – mediating culture“ an der Universität Augsburg, „Kulturvermittlung“ an der Universität Hildesheim, „Kunst- und Kulturvermittlung“ an der Universität Bremen oder „Empirische Kulturwissenschaft“ mit der Profillinie „Museum & Sammlungen“ an der Universität Tübingen. Die Angebote sind denen der genannten Public History-Studiengänge relativ ähnlich, auch wenn das Feld ‚Geschichte‘ hier jeweils auf ‚Kultur‘ erweitert wird. Hinzu kommt ab 2017 der weiterbildende Studiengang „Politisch-Historische Studien“ an der Universität Bonn, der berufsbegleitend absolviert werden soll und sich an Interessenten wendet, die im Bereich der Vermittlung von Politik und/oder Zeitgeschichte tätig sind.

Auch wenn die Programme sich unterscheiden, ist doch allen gemein, dass sie sich mit Geschichtspräsentationen im öffentlichen Raum auseinandersetzen. Zudem sind Projektseminare und Praktika integrale Bestandteile der jeweiligen Studienangebote. Die Verknüpfung mit der beruflichen Praxis steht im Mittelpunkt der Studiengänge. Darüber hinaus sind sowohl Fachwissenschaftler*innen als auch Fachdidaktiker*innen in die Lehre eingebunden, sodass sowohl Grundwissen vertieft als auch Vermittlungsfragen behandelt werden.

Trotz dieser durchaus bemerkenswerten Entwicklung kann im deutschsprachigen Raum nicht von einer Public History-Bewegung gesprochen werden und auch noch nicht von einer eigenständigen Disziplin im universitären Bereich. Die Angebote variieren von einzelnen Seminaren und Übungen über Weiterbildungsstudiengänge bis hin zum Masterstudiengang. Noch fehlt es auch an entsprechenden Graduiertenschulen, auch wenn die Anzahl der Promotionen über Themen der Erinnerungskultur deutlich zunimmt.

Public History wird aber nicht nur an den Universitäten gelehrt, sondern auch und vor allem außerhalb dieser Einrichtungen umgesetzt. Gerade die Historiker*innen, die nicht in die institutionellen akademischen Bereiche eingebunden sind, haben in der Vergangenheit auf die Gründung einer eigenen Interessenvertretung gedrängt. 2012 wurde schließlich auf dem Historikertag in Mainz die Arbeitsgruppe Angewandte Geschichte/Public History13 innerhalb des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands gegründet. Ziel ist es, die Zusammenarbeit der innerhalb und außerhalb der etablierten Geschichtswissenschaft tätigen Historiker*innen zu verstärken. Daher sieht sich die AG vor allem als Kommunikationsplattform. Dafür werden regelmäßig Workshops zu Themen der Public History durchgeführt, zu denen alle Mitglieder, aber auch weitere Interessierte eingeladen sind. Seit März 2015 gibt es mit den Studierenden und Young Professionals (SYP)14 innerhalb der AG eine Gruppe, die sich aus Studierenden und Absolvent*innen der unterschiedlichen Studiengänge in Deutschland zusammensetzt. Die AG verfügt über kein eigenes Publikationsorgan. Seit 2013 gibt es jedoch das wissenschaftlich ausgerichtete Blog-Journal Public History Weekly15, das wöchentlich kürzere Beiträge zu Themen der Public History mit einem Fokus auf Fragen der Geschichtsdidaktik publiziert, die jeweils mit Kommentaren versehen werden können.

Public History ist somit auch in Deutschland inzwischen auf dem Weg zur Fachdisziplin. Als solche setzt sie sich nicht nur mit populären Darstellungen geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse auseinander, sondern liefert mit ihren Präsentationen auch Impulse für die Forschung. Sie trägt somit nicht nur zur Rekonstruktion von Geschichte bei, sondern wird Teil der Geschichtskultur. Einen mittlerweile selbst längst historischen Impuls dieser Art lieferte der Fernsehmehrteiler „Holocaust“, der 1979 in Deutschland ausgestrahlt wurde und zu einem „Paradigmenwechsel in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und den NS-Verbrechen“16 führte. Ein weiteres Beispiel stellt die erste Ausstellung über „Verbrechen der Wehrmacht“ dar, die Ende der 1990er Jahre präsentiert wurde und einen neuen Umgang der Geschichtswissenschaft mit Bildern und hier vor allem mit Fotografien einleitete. Der Blick in die Entwicklung populärer Geschichtspräsentationen bietet somit sowohl Einblicke in Tätigkeitsfelder für Absolvent*innen historischer Studiengänge als auch in Forschungsfelder für die Geschichtswissenschaft und besonders für die Public History.

Literatur

Ashton, Paul/Kean, Hilda (Hg.): People and their Pasts. Public History Today, Basingstoke 2009.

Horn, Sabine/Sauer, Michael (Hg.): Geschichte und Öffentlichkeit. Orte – Medien – Institutionen, Göttingen 2009.

Kean, Hilda/Martin, Paul/Morgan, Sally J.: Seeing History. Public History in Britain Now, London 2000.

Korte, Barbara/Paletschek, Sylvia: History goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres, Bielefeld 2009.

Meringolo, Denise D.: Museums, Monuments, and National Parks. Toward a New Genealogy of Public History, Amherst 2012.

Rauthe, Simone: Public History in den USA und der Bundesrepublik Deutschland, Essen 2001.

1.2Programmatische und begriffliche Annäherung an Public History

Der Begriff „Public History“ entstand in den USA, ist aber auch dort nicht eindeutig definiert. Geprägt wurde er von dem bereits erwähnten Robert Kelly, Professor an der University of California in Santa Barbara. Seine in den 1970er Jahren formulierte Definition lautet:

„Public History refers to the employment of historians and the historical method outside the academia: in government, private corporations, the media, historical societies and museums, even in private practice.“17

Damit verweist Kelly darauf, dass Public History außerhalb der Universitäten stattfindet, und zwar in Politik und Wirtschaft, in Medien, Museen und Geschichtsvereinen sowie im „privaten Bereich“ und dort insbesondere in der Ahnenforschung. Trotz dieser Aufzählung von Arbeitsfeldern bleibt die Definition unpräzise, was die Inhalte und Methoden der Public History angeht. So bezog sich Kellys Begriff Public History nicht auf die Geschichtsvermittlung in der Öffentlichkeit, sondern allein auf die Beschäftigung von Historiker*innen mit ihren ganz spezifischen Fähigkeiten in den Bereichen Recherche, Analyse und Interpretation außerhalb der Universitäten.18

Gegner dieser Definition sahen darin eine simple, verkürzende Aufspaltung der Historikerzunft nach ihrer Beschäftigung an oder außerhalb der Universitäten. Sie forderten stattdessen eine Einbindung der Fachhistoriker*innen und weiterer Akteur*innen sowie gleichzeitig eine Ausweitung der Definition auf die Ziele und Inhalte der Public History. Diese sei somit, wie der Historiker Charles Cole in den 1990er Jahren formulierte,

„history for the public, about the public, and by the public“19.

Damit wurde die Öffentlichkeit nicht nur zur Zielgruppe, sondern auch zum Thema und zur Produzentin von Geschichtsschreibung erklärt. Dies implizierte, dass die entsprechenden Aktivitäten aller irgendwie an Geschichte interessierten Menschen zur Public History gezählt werden konnten. Diese Ausweitung auf jede Form der Laien-Geschichtsschreibung fand wiederum nicht überall Zuspruch.

Die amerikanische Vereinigung der Public Historians (National Council on Public History, NCPH) definierte 2007 Public History wie folgt:

„Public history is a movement, methodology, and approach that promotes the collaborative study and practice of history; its practitioners embrace a mission to make their special insights accessible and useful to the public.“20

Aber auch diese Definition stieß auf Kritik, da Public History zu diesem Zeitpunkt keine Bewegung, sondern bereits in den Institutionen angekommen sei und trotzdem keine eigenständige Methode entwickelt habe. Übereinstimmung herrschte inzwischen jedoch darüber, dass unter Public History mehr verstanden wurde als nur die Arbeit von Historikern außerhalb der Universitäten. Die überarbeitete Definition des NCPH lautet daher:

„public history describes the many and diverse ways in which history is put to work in the world. In this sense, it is history that is applied to real-world issues. In fact, applied history was a term used synonymously and interchangeably with public history for a number of years. Although public history has gained ascendance in recent years as the preferred nomenclature especially in the academic world, applied history probably remains the more intuitive and self-defining term.“21

Auch diese Definition bleibt eher vage und der Hinweis auf die begriffliche Ähnlichkeit zur Angewandten Geschichte (Applied History) erscheint nicht unbedingt hilfreich. Hier findet sich allerdings eine Ähnlichkeit zur deutschen Diskussion, in der ebenfalls kaum zwischen Angewandter Geschichte und Public History unterschieden wird. Ein Unterscheidungsmerkmal könnte höchstens darin gesehen werden, dass die Angewandte Geschichte22 dezidiert alle Geschichtsinteressierten einbinden will und Public History eher auf universitär ausgebildete Historiker*innen zurückgreift.23 So betont Thomas Cauvin, Vorstandsmitglied der internationalen Vereinigung der Public History, dass Public Historians keine Historiker*innen zweiter Klasse seien, sondern ihre Vorgehensweise wie bei allen Historiker*innen auf geschichtswissenschaftlichen Standards beruhe.24

In einer Zwischenbilanz kann festgehalten werden, dass es zwar viele Merkmale gibt, die Public History ausmachen, aber eine konkrete, von allen Public Historians anerkannte Definition nicht existiert. Der frühere Präsident des NCPH erklärt daher auch, Public History sei „easier to describe than define, and you know it when you see it“25. Auf diese vielleicht unvermeidliche begriffliche Unschärfe verweist auch die Formulierung eines Vertreters der australischen Public History-Gemeinschaft. Danach ist Public History

„an elastic, nuanced und contentious term. Its meaning has changed over time and across cultures in different local, regional, national and international contexts.“26

Ziel dieser verschiedenen Definitionsansätze scheint vor allem zu sein, möglichst viele Akteur*innen und viele Formen des Umganges mit Geschichte zu integrieren und daher möglichst offen zu bleiben. So erklärt ein Mitglied der International Federation for Public History (IFPH) nur, dass Public History sich auseinandersetzt mit der

„Gegenwärtigkeit der Vergangenheit – und mit dem Konstruktionscharakter von Geschichte – außerhalb akademischer Gegebenheiten“.27

Wer die Akteur*innen des Faches sind, bleibt dabei ebenso unscharf wie seine methodischen Grundlagen. Auch im deutschsprachigen Raum gibt es keine eindeutigen Definitionen, sondern eher Umschreibungen. So wird Public History auch als Schirm begriffen, unter dem Konzepte wie Geschichts- oder Erinnerungskultur zusammengefasst werden können.28 Es finden sich jedoch auch konkretere Erklärungen. So verstehen Frank Bösch und Constantin Goschler Public History als

„zunächst jede Form von öffentlicher Geschichtsdarstellung, die außerhalb von wissenschaftlichen Institutionen, Versammlungen oder Publikationen aufgebracht wird“.29

Diese Erklärung verweist sehr schön auf die große Bandbreite der Public History, bezieht jedoch den wissenschaftlichen Blick auf öffentliche Geschichtsdarstellungen nicht mit ein. Die zweite Definition des Historikers Habbo Knoch versteht Public History dagegen dezidiert als

„Teildisziplin der Geschichtswissenschaft […], die öffentliche Repräsentationen von Vergangenheit außerhalb von Fachwissenschaft, Schule und Familie sowie die damit einhergehenden Deutungen zusammen mit ihren Akteuren, Medien, performativen Praktiken und materiellen Objekten daraufhin untersucht, was für wen, wie, mit welcher Bedeutung und zu welchem Zweck als ‚Geschichte‘ konstituiert und verhandelt wird“.30

Diese Perspektive wiederum betont die universitäre Public History. Beide Seiten verbindet folgende, hier verwendete Definition:

Public History wird sowohl als jede Form der öffentlichen Geschichtsdarstellung verstanden, die sich an eine breite, nicht geschichtswissenschaftliche Öffentlichkeit richtet, als auch als eine Teildisziplin der Geschichtswissenschaft, die sich der Erforschung von Geschichtspräsentationen widmet.31

Damit wird der Bezug zur Geschichtswissenschaft und zur Geschichtsdidaktik herausgestellt und die Erforschung aber auch die Entwicklung außeruniversitärer Präsentationen von Geschichte betont. Public History ist somit sowohl Forschungsdisziplin als auch Forschungsgegenstand. In diesem Punkt grenzen sich deutsche Studienangebote von den Public History-Studiengängen in den USA ab, da letztere vor allem eine praxisnahe Ausbildung vermitteln, um die künftigen Absolvent*innen auf den Arbeitsmarkt außerhalb der Universitäten vorzubereiten. Public History in unserem Verständnis setzt sich jedoch darüber hinaus mit öffentlichen (Re-)Präsentationen von Geschichte auseinander, analysiert diese und dekonstruiert darin zum Ausdruck kommende Geschichtsbilder, um den öffentlichen Gebrauch und Missbrauch der Historie zu untersuchen.

In diesem Sinne können auch konkrete Aufgaben der universitären Public History formuliert werden. Danach analysiert sie sowohl Geschichtsdarstellungen als auch entsprechende Diskurse und deren Wirkungen, um das Verständnis des Konstruktionscharakters von Geschichte zu erhöhen. Dabei sollten die medialen, ökonomischen und politischen Einflüsse auf die Darstellung der Vergangenheit herausgearbeitet werden. In diesem Zusammenhang ist zudem die Instrumentalisierung von Geschichte zu reflektieren. Auf diese Weise können die Funktionen der Geschichtsbilder in den jeweiligen Darstellungen entschlüsselt werden, was wiederum deren Wirkung relativieren kann.32 Public History leistet somit sowohl Beiträge zur Geschichtswissenschaft als auch zur Erinnerungs- bzw. Geschichtskultur (siehe Kapitel 1.3).

Die universitäre Public History ist in Deutschland institutionell bislang vor allem an zeithistorischen Professuren angesiedelt. In jüngster Zeit streben aber auch geschichtsdidaktische Lehrstühle ausdrücklich ihre Berücksichtigung an. Zudem wird ebenso die Nähe zu den Kulturwissenschaften betont.33 Letztendlich verbindet Public History geschichtswissenschaftliche, didaktische und kulturwissenschaftliche Methoden und Ansätze miteinander und geht daher in keinem der Fächer allein auf.

Die Fokussierung auf die Zeitgeschichte lässt sich wesentlich darauf zurückführen, dass es innerhalb der Geschichtswissenschaft, aber vor allem auch im gesellschaftlichen Interesse ein „zeitgeschichtliches Gravitationszentrum“34 zu geben scheint, das sich in den vielfältigen Darstellungen zum 20. Jahrhundert als „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) ausdrückt. Das besondere Interesse an der Zeitgeschichte lässt sich weiterhin mit ihrem Konfliktpotential als „Streitgeschichte“35 erklären. Dies wiederum kann darauf zurückgeführt werden, dass wir es hier mit einer „Epoche der Mitlebenden“ (Hans Rothfels), die jeweils ihre Sicht auf ihre Geschichte einbringen, zu tun haben. Darüber hinaus ist die Zeitgeschichte für die Public History besonders interessant, weil sie hier in besonderem Maße Audio- und Video-Quellen einbinden kann, die gerade in der Vermittlung größere Aufmerksamkeit erzielen. Gleichzeitig sind diese medialen Geschichtsdarstellungen wiederum Quellen für die Analyse zeithistorischer Vermittlungsstrategien. Besondere Herausforderungen stellen dabei die relativ schnelllebigen Präsentationen im Internet dar, für deren Untersuchung bisher noch kaum Ansätze entwickelt wurden.

Geschichtspräsentationen, die von Public Historians erstellt werden, unterliegen besonderen Anforderungen. Sie sind Geschichte für die Öffentlichkeit und in der Öffentlichkeit. Als solche wiederum können sie auch als „popular history“36 verstanden werden. Damit wird darauf verwiesen, dass Public History Geschichte für ein Nicht-Fachpublikum in einer populären Art aufbereitet. Sie soll jedoch nicht nur unterhalten, sondern auch historische Prozesse veranschaulichen. Dafür benötigen Public Historians die Fähigkeit, den bereits vorhandenen geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisstand aufzuarbeiten und gegebenenfalls auch selbst zu forschen, um in einem zweiten Schritt die Ergebnisse für ein nicht fachwissenschaftlich vorgebildetes Publikum verständlich und anschaulich in verschiedenen Medien aufzubereiten. Somit kann Public History originäre Beiträge zur Geschichtsschreibung und Geschichtskultur leisten.

Public Historians sollten daher fachwissenschaftlich mit Texten, Bildern, Filmen, Tondokumenten und Objekten als Quellen umgehen können. Sie sollten die Quellen aber auch professionell als Vermittlungselemente in Präsentationen wie einem Film, einer Radiosendung, einer Ausstellung, einem Buch oder einer Website einsetzen können. Dafür wiederum werden die geschichtswissenschaftlichen Methoden der Textanalyse, aber auch der Oral History, Visual History, Material Culture und auch der Sound History benötigt. In diesem Buch ist diesen Zugängen jeweils ein eigenes Unterkapitel gewidmet (siehe Kapitel 3). Darüber hinaus wird die Geschichtsdidaktik hier im konkreten Bezug zur Public History einbezogen (siehe Kapitel 2). Public History verknüpft somit verschiedenste Methoden, sowohl in der Forschung als auch in der Konzeption neuer Geschichtsdarstellungen.

Bei der Entwicklung entsprechender Darstellungen agieren Public Historians häufig als Dienstleister für öffentliche oder private Auftraggeber. Dabei müssen wissenschaftliche Ansprüche mit kommerziellen Anforderungen und inhaltlichen Vorgaben abgestimmt werden, was eine der größten Herausforderungen der Public History darstellt. Annäherungen an entsprechende Standards werden im Kapitel 6.4 vertiefend erläutert.

Diese Geschichtsdarstellungen, die für private oder öffentliche Auftraggeber entwickelt werden, sollen sich an die Öffentlichkeit richten. Diese versteht Jörg Requate als Raum, der sich durch Kommunikation konstituiert.3738 kann auch als „anthropologische Konstante“ verstanden werden. Unterhaltung ist nach Werner Faulstich