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Der neue Sonnenwinkel
– Box 2 –

E-Book 7-12

Michaela Dornberg

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-863-6

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Angst vor der Wahrheit

Die Auerbachs erleben unruhige Zeiten

Roman von Michaela Dornberg

Es sollte ein geruhsamer, entspannter Abend werden. Das hatte die junge Ärztin Doktor Roberta Steinfeld sich bereits am Morgen vorgenommen. Und bislang sah es sehr gut aus, war alles perfekt gelaufen, angefangen von dem köstlichen Essen, das Alma für sie zubereitet hatte, eines ihrer Lieblingsgerichte Ochsenbrust mit Meerrettichsauce, dazu Wirsinggemüse und Bratkartoffeln.

Ihre Freundin Nicki sagte dann immer, dass es zum Niederknien sei. Das würde Roberta glatt unterschreiben.

Alma war ein Schatz, und Roberta konnte dem Himmel immer wieder danken, dass Alma Hermann auf ihren Weg gekommen war.

Das hatte wirklich so sein müssen. Alma schmiss ihren Haushalt nicht nur perfekt, sie war außerdem ein liebenswerter, sehr umgänglicher Mensch, und sie konnte einfach alles, ganz egal, ob in Haus oder Garten.

Roberta hatte es ja nicht so mit den Wundern, den Vorbestimmungen, den Zeichen. Dafür war ihre Freundin Nicki zuständig.

Doch dass sie damals einen Umweg genommen und Alma, obdach- und mittellos im Wald gefunden hatte, genau zu der Zeit, als in ihrem Haus alles über ihr zusammengebrochen war, dass war …, nun ja, schon sehr ungewöhnlich gewesen.

Es hatte einfach so kommen müssen. Und für beide war es eine Win-Win-Situation gewesen. Beide hatten sie ihre Probleme mit einem Schlag gelöst.

Jetzt hatte es sich Roberta auf ihrer Couch gemütlich gemacht. In eine feine camelfarbene Cashmeredecke eingehüllt, lauschte sie entspannender Musik und ließ ihre Gedanken wandern.

Sie war im Sonnenwinkel angekommen, mehr noch, sie war glücklich hier, anerkannt, beliebt. Sie hatte Freunde gefunden, und ihre Praxis florierte so gut, dass sie nicht alle Patienten annehmen konnte, die zu ihr wollten.

Wenn sie an ihre Anfänge dachte …

Als ihr alter Studienfreund Enno Riedel ihr die Praxis angeboten hatte, weil er mit seiner Familie nach Philadelphia auswandern wollte, hatte sie, ohne lange zu überlegen, zugegriffen. Ihr Leben lag damals in Scherben, sie hatte eine hässliche Scheidung hinter sich, bei der sie viele Federn lassen musste. Max hatte skrupellos beinahe alles an sich gerissen, sogar die große gut gehende Arztpraxis, die von ihr aufgebaut worden war und in der er nur hier und da aufgetreten war, um sich als Halbgott in Weiß zu präsentieren. Gearbeitet hatte sie, während er das von ihr verdiente Geld mit vollen Händen, zusammen mit seinen ständig wechselnden Gespielinnen, ausgegeben hatte. Wie dumm sie doch gewesen war, das so viele Jahre hinzunehmen. Er hatte sich ja wirklich an jede gut aussehende Frau herangemacht, die bei drei nicht auf den Bäumen war, und da hatte er selbst nicht vor Patientinnen halt gemacht. Ach Max, sie wollte nicht mehr an ihn denken, und wenn sie es tat, dann nicht mehr voller Schmerz, sondern voller Nichtbegreifen, wie es möglich gewesen war, auf diesen Blender hereinzufallen. Warum nur hatte sie ausgerechnet ihn genommen? Weil er sie als Erster gefragt hatte? Sie hatte an eine gute kameradschaftliche Gemeinschaft gedacht, er hatte sie offensichtlich als die gesehen, die das Geld nach Hause brachte.

Vorbei, warum dachte sie denn ausgerechnet jetzt an ihren Ex?

Weil das Ende mit ihm ihr Anfang hier im Sonnenwinkel gewesen war?

Vermutlich.

Anfangs hatte sie ja schon ihre Zweifel gehabt, ob dieser Schritt, hierher zu kommen, der richtige gewesen war, denn es waren keine Patienten gekommen, weil die dem guten Doktor Riedel nachtrauerten.

Das hatte zum Glück nicht lange gedauert, und sehr geholfen hatte ihr dabei, dass zufällig im Bild festgehalten worden war, wie sie einem kleinen Kind das Leben rettete.

Kaum zu glauben, wie lange das nun schon wieder her war. Auf jeden Fall war das der Durchbruch gewesen. Und von da an war es nur noch bergauf gegangen, und sie hatte es niemals bereut, sich hier niedergelassen zu haben.

Nun, ganz so stimmte das nicht.

Ihre Gedanken wanderten zu Kay Holl, wenn sie an den dachte, tat es immer noch ein wenig weh, auch wenn ihr längst klar war, dass es mit ihnen nichts geworden wäre.

Kay, dieser unverschämt gut aussehende, vollkommen in sich ruhende Mann, der alles hinter sich gelassen hatte, eine glänzende Karriere, sein altes etabliertes Leben, um ein freies, selbstbestimmtes Leben führen zu können. Im Sommer mit dem Bootsverleih am See, in der übrigen Zeit dort, wohin es ihn zog.

Er war ein Aussteiger, allerdings einer mit genügend Geld im Rücken.

Obwohl er jünger war als sie, hatte sie sich sofort in ihn verliebt, und auch ihm war es nicht anders ergangen. Und als sie in dieser unglaublichen Nacht voller Magie mit ihm geschlafen hatte …

Roberta seufzte, trank einen Schluck von dem köstlichen Rotwein.

Es war unbeschreiblich gewesen, und dennoch hatte sie sich davongeschlichen und ihm ein paar Zeilen hinterlassen. Dafür schämte sie sich noch immer. Sie hätte mit ihm reden sollen, doch dazu war sie zu feige gewesen, und jetzt war eh alles zu spät, denn Kay war gegangen, hatte den Bootsverleih einfach abgeschlossen, und auch wenn sie wusste, dass er sie ebenfalls liebe, hatte sie nichts mehr davon. Sein Brief, den er ihr zurückgelassen hatte, war schon ganz zerknittert.

Wenn sie daran dachte, wie vollkommen fertig sie gewesen war, diese Zeit mochte sie nicht noch einmal durchleben. Und jetzt sagte sie sich, dass es richtig gewesen war. Das mit ihr und Kay hatte ganz einfach keine Basis, und wenn die nicht stimmte, dann konnte man das auch nicht mit aller Liebe der Welt ausgleichen.

Sie liebte ihren Beruf über ­alles, und sie liebte auch ihr ­geordnetes, etabliertes Leben. Auch als Studentin hatte sie ihre Urlaube lieber geplant, statt einfach loszufahren.

Kay würde sie immer in ihrem Herzen behalten als eine wundervolle Erinnerung, beinahe als einen Traum.

Auch wenn es eine schmerzhafte Erfahrung gewesen war, so wusste sie jetzt auf jeden Fall, dass es sie wirklich gab, die ganz große Liebe …

Sie seufzte erneut.

Auch wenn es nicht für immer gewesen war, ein wenig länger hätte es schon dauern können.

Doch wären die weiteren Treffen ebenfalls so magisch gewesen?

Sie trank erneut einen kleinen Schluck Wein, dann kuschelte sich in ihre Decke ein, schloss die Augen.

Kay …

Sie sah ihn vor sich, hörte sein unbekümmertes Lachen.

Sie glaubte, seine Berührungen zu spüren, seine unglaubliche Nähe.

Ein forderndes Klingeln an ihrer Haustür ließ sie zusammenzucken und in die Wirklichkeit zurückfinden.

Wer mochte das sein?

Das Klingeln ignorieren, das ging nicht. Bei ihr brannte Licht, man konnte sehen, dass sie zu Hause war. Außerdem …, sie war Ärztin, es konnte ein Notfall sein, auch wenn sie nach dem Ärzteplan keinen Notdienst hatte.

Und da Alma nicht da war, sie hatte heute Proben beim Gospelchor musste sie selbst die Tür öffnen. Außerdem wäre Alma um diese Zeit längst in ihrer eigenen Wohnung, die sich im Seitentrakt des Hauses befand, was natürlich auch sehr vorteilhaft war.

Ein wenig unwillig stellte sie die Musik ab. Wer immer es auch war, der war ziemlich unverschämt und hörte mit der Klingelei nicht auf. Sollte sie zur Tür fliegen?

*

Roberta riss die Haustür auf, und dann …

Nein, sie glaubte nicht was, wen sie da sah. Sie hätte mit so ziemlich allem gerechnet, mit ihrem Exmann allerdings nicht.

Ganz am Anfang war er schon einmal hier gewesen, und sie hatte geglaubt, ihm deutlich gesagt zu haben, dass er sich im Sonnenwinkel nicht mehr blicken lassen sollte.

Sie starrte ihn an, als sie sich ein wenig von ihrer Überraschung erholt hatte, erkundigte sie sich: »Was willst du hier, Max?«

»Ist das eine Begrüßung?«, fragte er. Er war dreist wie immer.

»Was erwartest du von mir, dass ich dir um den Hals falle?«

»Wäre nicht schlecht«, grinste er. »Du siehst übrigens fantastisch aus, so gut aussehend hatte ich dich nicht in Erinnerung.«

Vor gefühlten hundert Jahren wäre sie vielleicht auf so etwas hereingefallen, jetzt doch nicht mehr. Max gehörte zu einem Leben, das sie zurückgelassen hatte und an das sie nicht mehr erinnert werden wollte.

»Also, Max, was willst du? Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Normalerweise nicht die Zeit, um Leute zu besuchen.«

»Aber du bist meine Frau, und ich …«

Sofort unterbrach sie ihn.

»Ich war deine Frau, Max Steinfeld, leider. Hör auf, herumzusülzen, das verfängt bei mir nicht mehr. Also, noch einmal, weswegen bist du hier. Ich zähle bis drei, und wenn ich es dann nicht erfahre, mache ich die Tür wieder zu. Hätte ich gewusst, dass du davorstehst, hätte ich sie überhaupt nicht erst aufgemacht.«

»Willst du mich nicht hereinlassen?«, fragte er.

Normalerweise hätte Roberta es nicht getan, doch gerade in diesem Augenblick ging draußen ein Paar vorbei, Leute, die in der Nachbarschaft wohnten und sich vermutlich auf einem späten Abendspaziergang befanden.

Er hatte Glück!

Unwillig trat sie beiseite, und er beeilte sich, ins Haus zu gelangen, ehe sie es sich anders überlegte.

Sie ging voraus, bat ihn nicht, seinen Mantel abzulegen, sie bot ihm nicht einmal einen Platz an, doch er setzte sich auch so hin. Typisch Max, da war er schmerzfrei.

»Oh, du trinkst Rotwein«, sagte er, deutete auf das Glas und die auf dem Tisch stehende Flasche.

»Ja, und er ist sehr lecker«, war ihre Antwort.

Er wartete jetzt doch wohl nicht darauf, dass sie ihm etwas zu trinken anbot?

Er war drauf und dran, sie zu fragen, doch an ihrem Gesichtsausdruck merkte er, dass sie das explodieren lassen würde.

Sein Charme verfehlte in der Tat jegliche Wirkung auf sie, schade. Damit hatte er sie früher um den Finger wickeln können, und das war auch jetzt seine Hoffnung gewesen, die allerdings dahinschwand.

»Also gut, Roberta, wie du weißt, war ich schon einmal hier, um dich zu bitten, wieder die Praxisleitung zu übernehmen, und wenn ich …«

Sie winkte ab.

»Stopp, Max, das Thema hatten wir, und meine Antwort war damals nein, und die wird auch heute nicht anders sein. Du hast dir mit allen Mitteln die Praxis unter den Nagel gerissen, und ich habe sie dir überlassen, weil du sonst die Scheidung länger hinausgezögert hättest. Du warst hinterhältig, gemein, und du hast deinen Zweck erreicht. Die Praxis gehört dir allein, obwohl du nichts dafür getan hast. Selbst das Geld für die Eröffnung kam von mir. Aber das ist Schnee von gestern, ich blicke nach vorn.«

Er antwortete nicht sofort.

»Max, du bist doch wegen der Praxis hier, oder?« Etwas anderes konnte sie sich auch nicht vorstellen.

Ihm war anzusehen, dass ihr Verhalten ihn irritierte. Roberta war eine ganz ausgezeichnete Ärztin, da konnte ihr niemand etwas vormachen. Doch als Frau hatte er sie immer unterbuttern können, mit ihrem neuen Selbstbewusstsein konnte er noch nicht umgehen.

Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu.

»Ich habe recht, es geht um die Praxis, nicht wahr, Max?«

»Wenn ich dir jetzt sagen würde auch, aber dass ich auch deinetwegen gekommen bin, weil ich mittlerweile eingesehen habe, dass ich große Fehler gemacht habe. Der größte Fehler war die Scheidung, etwas Besseres als dich hätte ich nicht bekommen können.«

Oh Gott!

So sollte er jetzt wirklich nicht anfangen. Ihre Reaktion auf seine Worte zeigte ihr, wie weit sie sich schon von ihm entfernt hatte, dass sie mit ihm fertig war.

Sie blickte ihn an.

Er sah schlecht aus, übermüdet, doch das war es nicht allein. Er wirkte verlebt, sein Lotterleben zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Fast konnte er einem schon leidtun. Er war kein schlechter Arzt, doch der Beruf war ihm nie wichtig gewesen, auf den Putz zu hauen, Frauen aufzureißen, das war für ihm stets wichtiger gewesen.

»Möchtest du etwas trinken, Max?«, erkundigte sie sich, weil sie so nicht sein konnte. Schließlich waren sie einmal verheiratet gewesen, und anfangs hatte es auch recht gute Zeiten gegeben. Ihm nichts anzubieten wäre unhöflich, selbst Fremden bot man doch etwas an.

Sie bot ihm Verschiedenes an, doch auch er wollte ein Glas Rotwein trinken, und so musste sie nur noch ein Glas für ihn holen.

Sie saßen sich gegenüber wie zwei Fremde, und wieder einmal fragte Roberta sich, was sie an diesem Mann gefunden hatte.

Er trank gierig von dem Rotwein, sagte ihr, dass er eine ganze Weile gebraucht hatte, um bei ihr zu klingeln, und sie sagte ihm, wie sehr sie das doch wunderte, weil das überhaupt nicht seine Art war. Er war es gewohnt, einfach vorzupreschen und seine Bedürfnisse zu erfüllen.

Sie hatten sich nichts zu sagen, und Roberta hatte sich diesen Abend anders vorgestellt, also erkundigte sie sich noch einmal, diesmal in einem schärferem Tonfall, was er denn nun von ihr wolle.

Da erfuhr sie zu ihrem größten Entsetzen, dass es mit der Praxis immer weiter den Bach hinuntergegangen war, dass Kollegen gekündigt hatten und dass er zwei Prozesse wegen Behandlungsfehlern am Hals hatte.

»Roberta, die Praxis ist dein Baby, du hast sie mit deinem Geld aufgebaut, das gebe ich ja zu. Du kannst doch nicht wollen, dass alles in die Binsen geht. Wenn du zurückkommst, reicht eine Anzeige, und schon strömen die Patienten wieder in die Praxis. Und sie kann zu altem Glanz erstrahlen. Du gehörst in eine Hightech-Praxis, nicht hier auf das platte Land, das ist doch keine Herausforderung für dich. Ich bin ja auch bereit, sie dir wieder zu überschreiben und nur als Partner dazubleiben. Aber ohne dich bricht alles zusammen. Das kannst du doch nicht wollen, oder?«

Sie antwortete nicht sofort, weil es ihr insgeheim wehtat, was er aus einer großen, angesehenen, gut gehenden Praxis gemacht hatte.

Prozesse wegen Behandlungsfehlern!

Das konnte einem den Magen umdrehen, doch sie konnte es sich bei Max vorstellen. Wahrscheinlich hatte er wieder irgendwelche Frauen im Kopf gehabt, und das war ihm wichtiger gewesen, als ordentlich seinen Job zu machen. So war es immer gewesen. Und wie sagte man so treffend – »die Katze lässt das Mausen nicht«.

Am liebsten hätte Roberta ihm jetzt ein paar passende Worte gesagt. Doch was sollte das bringen? Das Kind war in den Brunnen gefallen, und bei solch massiven Anschuldigungen kam man da so leicht nicht wieder heraus. Unbeschädigt würde es für ihn nicht vorübergehen, und selbst wenn er die Prozesse gewinnen würde oder wenn man die Verfahren niederschlug, würde ein Makel an ihm haften. Es würde sich herumsprechen, und das würde dann auch noch die letzten Patienten davon abhalten, zu einem solchen Arzt zu gehen. Die Frauen, die was von ihm wollten und er von ihnen, die vielleicht nicht. Doch die machten nur einen Bruchteil der Patienten aus, und auch die erlagen nicht alle seinen Verführungskünsten.

Es tat wirklich weh zu sehen, dass es ihm gelungen war, das, was sie in vielen Jahren mit Können, Fleiß und viel Energie aufgebaut hatte, zu zerstören. Und das in so kurzer Zeit. Das war bitter.

Warum sagte sie jetzt nichts, fragte er sich und wurde immer unruhiger. Max zerrte nervös an seinem Hemdkragen. Auf sie hatte er all seine Hoffnung gesetzt, wie es eigentlich immer gewesen war. Wenn jemand, dann konnte Roberta die Kuh vom Eis holen.

»Roberta, ich …, nun, äh …, ich war ziemlich unfair dir gegenüber. Tut mir leid. Ich bin bereit, mit dir zu teilen. Mehr noch, du kannst den Großteil von allem haben. Stell deine Forderungen. Ich tue alles, wenn du nur zurückkommst, um die Praxis vor dem Ruin zu bewahren, sie zu retten. Nur du kannst das, und vielleicht …, nun, vielleicht wird es ja auch noch mal etwas mit uns. Ich habe dir ja schon gesagt, dass es dumm war, sich scheiden zu lassen. Wir waren ein so tolles Team. Ich verspreche dir auch, nicht mehr über die Dörfer zu ziehen.«

Es war unglaublich, Roberta hatte das Gefühl, in einem grottenschlechten Film zu sein. Sie hielt sich gequält die Ohren zu.

»Max, sag nichts mehr«, sagte sie schließlich, »mache es bitte nicht noch peinlicher. Es geht doch überhaupt nicht um mich. Du willst deine Haut retten, und dafür ist dir jedes Mittel recht. Zu spät, Max. Das war früher einmal so, dass ich immer für all deine Eskapaden hergehalten habe. Wir sind geschieden, ich habe weder mit dir noch mit der Praxis etwas zu tun, die du um jeden Preis haben wolltest. Und was uns beide betrifft …, dich möchte ich nicht einmal geschenkt haben, und alles, was du in deiner Gier an dich gerissen hast, behalte es. Ich brauche es nicht. Ich komme hier sehr gut zurecht, und ich bin glücklich hier. Bitte, tue mir einen Gefallen und geh, und komme bitte nicht noch einmal einfach hierher. Ich möchte nicht eine einstweilige Verfügung gegen dich erwirken lassen.«

Er starrte sie an.

»Das … das würdest du tun …? Gegen … gegen deinen Mann?«, stammelte er.

Er war so jämmerlich, dass er einem beinahe leidtun konnte. An so etwas dachte sie allerdings nur ganz kurz. Er hatte sie zu sehr verletzt, er hatte sein Ding gemacht, ohne Rücksicht auf Verluste. Sie war ihm nichts schuldig.

»Exmann«, sagte sie betont, »wir haben nichts mehr miteinander zu tun, und jetzt bitte ich dich zu gehen. Du hast mir den Abend verdorben.«

Er konnte es nicht glauben. Es ging nicht nur um seine Existenz, sondern sein Ego vertrug eine solche Abfuhr nicht. Er war schließlich Doktor Max Steinfeld!

Er versuchte es erneut, zog alle Register.

Roberta stand, weil sie es nicht länger ertragen konnte, einfach auf.

»Max, wenn du magst, trink dein Glas leer, und dann möchte ich dich gern, sehr gern sogar, hinauslassen.«

Sie sah so entschlossen aus, ihre Stimme hatte so emotionslos geklungen, dass er überhaupt keine andere Wahl hatte.

Wütend stand er auf.

»Du wirst sehen, was du davon hast«, drohte er, doch das prallte an ihr ab. Auch das gehörte zu ihm, wenn er nicht erreichte, was er wollte, dann wurde er unsachlich, drohte er.

Sie antwortete nicht, ging durchs Wohnzimmer, hinaus in die Diele, und dort öffnete sie die Haustür.

Wenn Blicke töten könnten, dann wäre sie jetzt eine Leiche. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann hätte sie sich jetzt sogar noch von ihm verabschiedet, doch dazu kam es nicht.

Er stürmte an ihr vorbei, und sie hörte, ganz deutlich vernehmbar, wie er sagte: »Du dusselige Langweilerin, was bildest du dir eigentlich ein? Was glaubst du, wer du bist? Noch mal fällt kein Mann auf dich herein.«

Er rannte durch den Vorgarten, riss das Tor auf, schmiss es hinter sich zu, dann lief er über die Straße zu seinem Auto, und wenig später brauste er davon.

Roberta war wie gelähmt.

Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie wieder in der Lage war ins Haus zurückzugehen.

Sie fühlte sich traurig. Doch es waren nicht seine Worte, die dafür verantwortlich waren. Nein, ungute Gefühle kamen in ihr hoch. Und sie musste sich erneut die Frage stellen, wie sie auf diesen Mann hereinfallen konnte. Und, wenn sie ehrlich war, dann schmerzte es sie schon sehr, dass ihr Lebenswerk in die Brüche ging.

Es hätte ein so schöner Abend werden sollen, der auch verheißungsvoll angefangen hatte.

Max hatte es ihr verdorben. Eigentlich dürfte sie sich darüber nicht wundern, weil es schließlich nicht das erste Mal war.

*

Bambi Auerbach saß an ihrem Schreibtisch und kritzelte in ihrem Heft herum. Eigentlich sollte sie ihre Hausaufgaben machen, aber sie konnte sich einfach nicht konzentrieren.

Dabei ging es um Physik, und das war eines ihrer Lieblingsfächer.

Es hatte keinen Sinn. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie stand auf, rannte aus ihrem Zimmer, rannte hinaus in den Garten, und dann kletterte sie auf das Baumhaus hinauf, das ihre Eltern für sie und Hannes hatten bauen lassen, nachdem sie in den Sonnenwinkel gezogen waren.

Ein Baumhaus …

Das war ihr Traum gewesen, und es waren ganz wundervolle Zeiten gewesen, die sie dort mit Hannes verbracht hatte.

Tränen liefen über ihr Gesicht, als sie sich in eine Ecke kauerte.

Sie hatte es verdrängt, doch jetzt war es so weit, in ein paar Tagen würde Hannes abreisen. Nach Australien. Weiter ging es ja wohl nicht. Dabei war er doch gerade erst wiedergekommen. Beinahe ein Jahr war er unterwegs gewesen. Reichte das denn nicht? Es konnte doch nirgendwo so schön sein wie im Sonnenwinkel.

Es war schrecklich gewesen, dass er so lange unterwegs gewesen war, sie hatten Angst um ihn gehabt, weil auf einmal der Kontakt abgebrochen war, und dann stand er vor ihnen, gesund, munter, voller Tatendrang. Und sie war so glücklich gewesen, ihren Hannes wiederzusehen, um den ihre Freundinnen sie glühend beneideten. Er sah aber auch gut aus mit seinen langen Haaren, dem Bart, dem verwegenen Gesichtsausdruck. Wie ein Pirat, wie ein Eroberer.

Jetzt musste sie richtig weinen.

Wie konnte denn jemand, der ein Abitur mit einer glatten Eins gemacht hatte, im fernen Australien als Surf- und Tauchlehrer arbeiten?

Bambi gab sich ganz ihrem Jammer hin, und als unten Luna bellte, weil sie bespielt werden wollte, reagierte Bambi nicht. Und das bedeutete etwas. Sie und Luna gehörten zusammen, und es war beinahe so wie damals mit ihrem Jonny. Aber jetzt hätte sie nicht einmal Jonny gebraucht, wenn der noch lebte. Sie wollte nur allein und traurig sein.

Sie war so in ihren Schmerz versunken, dass sie überhaupt nicht mitbekam, wie jemand zu ihr hochgeklettert kam, sich ihr näherte.

Erst als eine Hand ihre Schulter berührte, sich jemand neben sie setzte, zuckte sie zusammen.

Es war Hannes.

Ihn so nahe zu haben, zu wissen, dass es in Kürze vorbei sein würde, löste einen erneuten Tränenstrom in ihr aus.

Hannes zog seine kleine Schwester an sich.

»Hey, Prinzessin, was ist los, warum weinst du?«

Sie antwortete nicht.

Und er ließ nicht locker.

»Bambi, wir haben uns immer alles gesagt, und es macht mich traurig, wenn das jetzt nicht mehr so sein soll.«

Hannes durfte nicht traurig sein, es reichte doch schon, dass sie es war.

»Ich …, ich möchte nicht, dass du nach Australien fliegst, das ist so weit, und du warst doch schon so lange weg. Warum studierst du nicht hier in der Nähe?«

Was sollte er dazu noch sagen? Darüber hatten sie bereits mehr als nur einmal geredet. Und es ging nicht in ihren Kopf hinein, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass Menschen anderswo als im Sonnenwinkel leben konnten. Er sagte erst einmal nichts, und prompt kam von ihr: »Oder liebst du uns nicht mehr? Die Mami den Papi, die Omi, den Opi …, die Ricky, den Jörg, die …«

Ehe sie jetzt anfing, auch noch seine Nichten und Neffen aufzuzählen, unterbrach er sie, indem er sagte: »Bambi, ich liebe sie alle, und am meisten liebe ich dich, weil wir zwei die meiste Zeit miteinander verbracht haben. Und an meiner Liebe wird sich auch nichts ändern, wenn ich in Australien bin. Ich bin noch so jung, und studieren kann ich immer noch. Aber die Chance, diesen Job zu machen, die bekomme ich so schnell nicht wieder. Mein Kumpel hat den Laden von seinem Onkel geerbt, und nun wollen wir etwas daraus machen. Diese Tauch- und Surfschule liegt an einem der schönsten Plätze der Welt. Ich habe dir doch gesagt, dass du mich jederzeit besuchen kannst. Australien wird dir gefallen.«

Sie wischte sich über die Augen.

»Kann ja sein, aber es ist trotzdem nirgendwo so schön wie im Sonnenwinkel. Wir haben auch an vielen schönen Plätzen Urlaub gemacht, aber ich war immer froh, wenn wir dann wieder zu Hause waren.«

Ja, das stimmte, Bambi war genau das, was man einen Nesthocker nannte.

Er versuchte, sie zu beruhigen, was allerdings nicht einfach war.

»Hannes, es ist schlimm, dass ausgerechnet du gehst, weil ich dich am liebsten habe. Du bist so anders als Jörg und Ricky und als ich. Man könnte ja fast glauben, dass du kein Auerbach bist so wie ich und die beiden.«

Gut, dass Bambi nicht sah, wie Hannes zusammenzuckte.

Er und kein Auerbach, das war er, durch und durch.

Aber Bambi …

Wenn die wüsste!

Er fand es unverantwortlich von seinen Eltern, dass sie es ihr noch immer nicht gesagt hatten, dass sie adoptiert war.

Bambi fühlte sich so sehr als eine Auerbach, und das war sie ja für alle auch. Ganz tief in ihren Herzen liebten sie Bambi, alle. Und es war ihre kleine Schwester, das bedeutete jedoch nicht, dass sie nicht die Wahrheit erfahren durfte. Im Gegenteil, sie hatte ein Recht darauf!

Er musste mit seinen Eltern sprechen, ehe ihnen irgendwann alles um die Ohren flog.

Er war nicht in der Lage, ihr jetzt etwas Unverbindliches zu sagen. Das musste er glücklicherweise auch nicht, denn Bambi warf sich in seine Arme und sagte lachend: »Natürlich bist du ein Auerbach, Hannes. Das war eben ein Spaß. Man muss uns zwei nur ansehen, dann sieht man, dass wir Geschwister sind. Und wir ähneln uns auch vom Charakter her am meisten. Bei dir ist nur anders, dass du so reiselustig bist. Aber vielleicht hast du das ja von Opi. Der verreist auch so gern.«

Hannes strich seiner Schwester, und das war sie für ihn ja auch, über die Locken, ehe er mit heiserer Stimme sagte: »Bambi, wir sollten jetzt hinunter und zu Mama in die Küche gehen. Ich weiß nämlich zufällig, dass sie meine Lieblingskekse gebacken hat. Und die magst du doch auch.«

»Die mit der Schokolade?«, wollte Bambi wissen, und als Hannes das bestätigte, vergaß Bambi ihren Schmerz, weil sie eine große Naschkatze war.

Gemeinsam kletterten sie vom Baumhaus herunter, das so viele wundervolle Erinnerungen barg, die ihnen niemand nehmen konnte.

Das Baumhaus stand für eine glückliche Kindheit, und es war schon toll, wenn man so etwas sagen konnte.

Unten angekommen, legte Hannes einen Arm um Bambis Schulter, und dann gingen sie gemeinsam auf das Haus zu.

Luna folgte ihnen, sie war beleidigt, weil sie diesmal nicht im Mittelpunkt stand.

Inge Auerbach holte gerade das zweite Blech mit nicht nur wunderbar aussehenden, sondern auch köstlich duftenden Keksen aus dem Backofen, als Hannes und Bambi einträchtig zu ihr in die Küche kamen.

Seit Hannes von seiner Weltreise zurück war, kochte Inge nicht nur all seine Lieblingsgerichte, nein, sie hatte die Kuchen gebacken, die er gern mochte und jetzt die Kekse, gewissermaßen als Abschiedsgeschenk.

Abschiedsgeschenk, das klang ganz furchtbar, und dennoch war es so. Hannes würde den Sonnenwinkel wieder verlassen.

Natürlich wusste Inge, dass sie durch all das, was sie tat, nichts verändern konnte. Wenn das so einfach wäre, würde sie Tag und Nacht backen und kochen, um ihren Sohn zum Bleiben zu bewegen.

Australien …

Surf- und Tauchlehrer …

Daran zu denken, dass das das zukünftige Leben ihres Sohnes sein würde, war für sie unerträglich. Man hatte doch für seine Kinder Träume, und Inge konnte sich nicht vorstellen, dass eine Mutter von so etwas träumte.

Sie und Werner hatten wirklich alles getan, um Hannes zur Vernunft zu bringen. Er hatte so viele Möglichkeiten, er konnte sogar ein Stipendium an der Columbia Universität in New York haben. Andere würden sich die Finger danach lecken, aber er schlug es in den Wind.

Vielleicht hätten sie ihn nach seinem Abitur nicht auf die Weltreise gehen lassen dürfen. Das hatte ihn irgendwie verdorben für ein normales, bürgerliches Leben.

Sie konnte nichts tun, Hannes war volljährig.

Aber in gewisser Weise war er dann doch noch ein Kind, denn wie er sich jetzt auf die Kekse stürzte und die in sich hineinstopfte, das war nun ganz und gar nicht erwachsen.

»Boooh, sind die lecker«, rief er mit vollem Mund. »Mama, du bist die Größte.«

Das ging natürlich herunter wie Öl, doch es machte sie auch ein wenig traurig, weil sie so etwas lange Zeit nicht mehr erleben würde. Hannes war derjenige von ihren Kindern, der seine Begeisterung am deutlichsten zeigen konnte. Das würde sie vermissen, auch sein Lachen, seinen Witz.

Am liebsten hätte Inge jetzt angefangen zu weinen und musste sich gewaltsam zusammenreißen, es nicht zu tun.

Sie vermisste Hannes jetzt schon, dabei war er noch nicht einmal weg.

Da beide Kakao haben wollten, kochte sie den rasch, und sie verkniff sich, für sich selbst einen Kaffee zu kochen. Sie war aufgeregt genug.

Schließlich genossen Bambi und Hannes ihren Kakao, und sie langten auch bei den Keksen ordentlich zu, aber eine Unterhaltung wollte so recht nicht aufkommen. Inge sah, dass Bambi geweint hatte, und sie konnte sich schon denken weswegen. Bambi litt am meisten unter der Situation. Als Kinder waren sie unzertrennlich gewesen. Und wie glücklich war Bambi gewesen, als ihr geliebter Bruder zurückgekommen war.

Aber was war mit Hannes los?

Der machte einen nachdenklichen Eindruck, sah sie hier und da an.

Wollte er ihr etwas sagen?

Etwa, dass er es sich anders überlegt hatte?

Sie musste es wissen.

»Bambi, wenn du willst, kannst du den Großeltern ein paar Kekse bringen«, sagte sie, und diese Idee griff Bambi begeistert auf. Ihr Kakaobecher war leer, es passten keine Kekse mehr in sie hinein, und sie wusste, dass die Großeltern sich sehr freuen würden.

Sie füllte eine Schale mit Keksen, rief: »Bis später«, dann trollte sie sich, und Luna, wie konnte es anders sein, lief ihr hinterher. Nicht ganz uneigennützig, sie hoffte darauf, dass vielleicht ein Keks für sie abfallen würde. Labradore sind ganz liebenswerte Hunde, aber sie haben eine Eigenschaft: … Sie sind unglaublich verfressen.

Als Inge sicher sein konnte, dass Bambi das Haus verlassen hatte, um nach nebenan zu gehen, wandte sie sich ihrem Sohn zu, der noch immer am Tisch saß und von den Keksen einfach nicht genug bekommen konnte.

»Ist etwas, Hannes?«, erkundigte Inge sich und schaute ihren Sohn voller Wohlgefallen an. Er war schon ein toller Typ, ihr Jüngster.

Hannes legte seinen angebissenen Keks weg, dann nickte er und sagte: »Ja, Mama, da ist etwas, etwas was mich sehr beunruhigt.«

Und dann erzählte er seiner Mutter, was sich im Baumhaus ereignet hatte.

»Sie identifiziert sich so sehr damit, eine Auerbach zu sein, sie sieht Ähnlichkeiten, wo keine sind. Je länger ihr schweigt, umso schlimmer wird es für sie, die Wahrheit zu erfahren und damit, dass sie keine Auerbach ist. Mama, ihr habt uns dazu erzogen, offen und ehrlich zu sein, immer die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie nicht angenehm ist. Warum eiert ihr bei Bambi so herum? Ich bete zu Gott, dass sie es nicht von anderer Seite erfährt, dass …«

Er brach seinen Satz ab, aß seinen Keks zu Ende, dann blickte er seine Mutter an.

»Mama, ich wage nicht, diesen Gedanken zu Ende zu bringen. Es wäre für Bambi eine Katastrophe, ein Schock, von dem sie sich so schnell nicht erholen würde.«

Nicht dieses Thema!

Hannes hatte ja so recht, und sie wusste selbst nicht, warum Werner und sie nicht den Mut aufbrachten, es Bambi zu sagen, einmal musste sie es ja doch erfahren. Und es stimmte, gut war es nicht, es immer wieder hinauszuzögern.

»Hier weiß niemand, dass Bambi adoptiert ist«, versuchte sie sich herauszureden, »also kann sie es nicht von Dritten erfahren. Aber du hast natürlich recht, Hannes, wir müssen es ihr sagen …, bald.«

Hannes stand auf, um den Rest seiner Sachen zusammenzupacken, nahm sich aber vorsichtshalber noch für unterwegs, also bis nach oben, ein paar Kekse mit. »Mama, ich habe ein ungutes Gefühl«, sagte er, ehe er ging. Und dieser Satz hing noch im Raum, als Hannes die Küche längst schon verlassen hatte.

Warum verursachte er ihr so viel Unbehagen?

Inge spürte, wie es ihr kalt über den Rücken lief und war fest entschlossen, all den Worten endlich Taten folgen zu lassen.

Sie gab sich eine letzte Galgenfrist.

Sofort nach der Abreise von Hannes würden sie und Werner mit Bambi reden, sie würden sich bei ihr entschuldigen, weil sie das nicht längst schon getan hatten, aber sie würden ihr auch sagen, wie sehr sie sie liebten, dass sie ein Kind ihres Herzens war und dass das mehr zählte, als von einem Blut zu sein.

Blut konnte man ohne Schwierigkeiten austauschen, wenn die Blutgruppe stimmte, Herzen nicht.

Inge merkte, wie ihre Aufgeregtheit immer mehr stieg, und das rührte von ihrem schlechten Gewissen her, das sie hatte. Heute ganz besonders.

Jetzt brauchte sie doch einen Kaffee, weil sie nachdenken musste.

Eigentlich hatte sie ja ein beneidenswert glückliches Leben, doch derzeit hatte sie das Gefühl, dass es ihr ganz um die Ohren flog.

Wenn man es mit den Jahreszeiten verglich, dann war es nicht mehr ein sonniger Sommertag, sondern einer im Herbst, an dem einem kräftiger Wind entgegenblies und der Himmel grauverhangen war.

Inge fröstelte.

Braute sich da etwas zusammen?

*

Ihre Freundin Nikola Beck, die alle nur Nicki nannten, wusste, dass sie Roberta jederzeit anrufen konnte, auch nachts, wenn es sein musste. Aber ihre Sprechstunden in der Praxis waren für Privatgespräche tabu. Das wusste auch ihre Mitarbeiterin. Deswegen wunderte Roberta sich, dass Ursel Hellenbrink ihr ein Privatgespräch durchstellte.

Es war Nicki!

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Nicki, ehe Roberta sich äußern konnte, »du willst das nicht. Aber ich muss mit dir reden, ehe ich daran ersticke.«

Typisch Nicki, sie war eine Dramaqueen und konnte aus einer Mücke einen Elefanten machen. Wahrscheinlich würde sie ihr gleich etwas erzählen, was bis zum Abend Zeit gehabt hätte, oder aber …

»Du willst mir sagen, dass du dich entschlossen hast, doch zur Neueröffnung des ›Seeblicks‹ zu kommen. Das ist eine sehr gute Idee, Nicki. Roberto Andoni wird sich freuen.«

Nicki und der italienische Gastwirt, der den ›Seeblick‹ übernommen hatte, waren ­aufeinander geflogen wie zwei im Sommerwind taumelnde Schmetterlinge. Und während Roberto noch immer darauf hoffte, dass es mit ihm und Nicki etwas würde, hatte Nicki sich zurückgezogen. Es war so verrückt, sie war in Roberto verliebt, aber der Gedanke, im Sonnenwinkel leben zu müssen, an der Seite eines Gastwirts, hatten sie die Reißleine ziehen lassen. Sie hatte es Roberto eigentlich sagen wollen, es dann aber doch nicht fertig gebracht, und nun war alles in der Schwebe.

Falsch gelegen mit ihren Vermutungen, die Antwort von Nicki kam prompt: »Wie kommst du denn darauf? Da ist noch alles offen, und vermutlich werde ich nicht kommen. Das würde nur falsche Hoffnungen in ihm erwecken. Ich bin froh, dass er mir das mit der Arbeit abnimmt.«

»Nicki, wenn du ihn nicht willst, warum sagst du es ihm nicht? Und warum lässt du dich nicht einfach auf ihn ein und wartest erst mal ab, wie sich zwischen euch alles entwickelt. Du bist ohne zu überlegen in jede Liebesgeschichte hineingegangen, und jetzt, wo eigentlich alles perfekt ist, weil ihr so wunderbar zusammenpasst, wagst du nichts.«

Nicki seufzte abgrundtief.

»Weil es diesmal anders ist«, sagte sie, und ihre Stimme klang ganz bekümmert. »Ich möchte Roberto nicht verletzen.«

Roberta gab es auf. Hier kam sie nicht mehr mit. Da gab es Gefühle von beiden Seiten, und Nicki ließ es wegen irgendwelcher Äußerlichkeiten scheitern. Sie hatte, abgesehen von kleinen Stippvisiten, noch nicht im Sonnenwinkel gelebt, lehnte das Leben hier aber ab, weil sie sich da in ihrem Kopf zurechtgelegt hatte. Und es war nie die Rede davon, dass sie im Restaurant mitarbeiten sollte, Roberto hatte genügend Personal, doch auch da sah sie sich als Serviererin, die Tabletts balancieren musste.

»Du hast Angst«, sagte Roberta ihr auf den Kopf zu. »Und deswegen machst du diesen Eiertanz. Okay, du bist alt genug, um deine Entscheidungen zu treffen, doch bitte jammere mir später nichts vor und weine um dein verlorenes Glück, wenn Roberto eine andere hat. Er ist ein kultivierter, attraktiver Mann, und glaub mir, da gibt es einige Frauen, die ihn mit Kusshand nehmen würden.«

Ursel Hellenbrink steckte den Kopf zur Tür herein. »Entschuldigen Sie, Frau Doktor, der Pharmavertreter ist da, mit dem Sie einen Termin haben«, flüsterte sie.

Roberta bedankte sich, dann wandte sie sich wieder ihrer Freundin zu, wollte das Gespräch beenden, als sie sich erinnerte, dass Nicki ihr etwas Wichtiges sagen wollte, an dem sie ersticken würde, wenn sie es nicht los wurde.

Und wenn es Roberto nicht war …

Ein wenig neugierig war sie schon.

»Ich muss hier weitermachen, Nicki«, sagte sie, »sag rasch, weswegen du angerufen hast, weil du unbedingt etwas loswerden musstest.«

»Ach ja, stimmt, du hast mich völlig durcheinandergebracht. Ich hatte vorhin in der Stadt ein Erlebnis der besonderen Art.«

Roberta verdrehte die Augen.

Wenn Nicki so anfing, konnte sie sich sehr blumenreich mit der Vorrede aufhalten, ehe sie zum Kern der Sache kam.

»Nicki, ich habe keine Zeit«, erinnerte sie ihre Freundin.

»Ein Vertreter wartet, und im Wartezimmer sitzen auch noch Patienten. Wir können heute Abend reden, da kannst du mir alles in epischer Breite erzählen.«

Davon wollte Nicki nichts wissen.

»Oh nein, also …«, sie holte tief Luft, »ich habe vorhin in der Stadt deinen Ex getroffen, und leider konnte ich ihm nicht ausweichen.«

Da sie in einer Stadt wohnten, da sie sich kannten, war das manchmal unausweichlich.

»Schön«, sagte Roberta.

»Nein, meine Liebe, nicht schön. Warum auch immer. Er ist wütend auf dich, und er hat gesagt, dass er dich fertig machen will. Und so, wie er aussah, wie seine Stimme klang, nehme ich ihm das ab. Roberta, ich weiß ja nicht, was vorgefallen ist.

Doch nimm dich bitte in Acht …, er hat auch gesagt, dass er etwas gegen dich in der Hand hat, was dir das Genick brechen wird und dass du …, dass du dich … warm anziehen sollst.«

Natürlich fiel Roberta sofort der Besuch ihres Exmannes ein, der nicht den Erfolg gebracht hatte, den er sich erhoffte.

Max war jetzt wütend, er kochte. Aber was sollte er denn gegen sie in der Hand haben?

Im Gegensatz zu Nicki war sie nicht aufgeregt, sie erzählte ihr rasch, was geschehen war.

»Max kann Ablehnung nicht vertragen, und weil er weiß, dass du meine Freundin bist, die mir natürlich alles brühwarm erzählt, will er mir vermutlich nur ein wenig Angst machen. Mach dir keine Sorgen, Nicki, aber danke, dass du mich angerufen hast. Ich muss jetzt wieder an die Arbeit. Max macht mir keine Angst. Statt sich das alles auszudenken und zu drohen, soll er seine Energie lieber dazu verwenden, seine Praxis zu retten und die Klagen, die gegen ihn erhoben werden, glimpflich zu überstehen.«

Sie wechselten noch ein paar Worte miteinander, dann verabschiedeten sie sich.

Roberta war wütend auf ihren Exmann, und vielleicht hätte sie sich länger mit ihm und dem von ihm Gesagten beschäftigt, wäre da nicht der Pharmavertreter. Die rannten ihr zwar die Praxis ein, doch auf das, was dieser Mann ihr anbieten wollte, war sie gespannt.

Es sollte da ein sensationelles Blutdruckmittel geben, hochwirksam und fast ohne Nebenwirkungen. Mit den Blutdrucktabletten, das war so etwas. Es gab zwar viele auf dem Markt, dennoch war es schwierig, Patienten auf ein Mittel einzustellen, ganz besonders wegen der vielen Nebenwirkungen.

Roberta stand auf, dann ging sie selbst hinaus, um den Vertreter in ihren Raum zu lassen.

Ursel Hellenbrink hatte genug zu tun, die musste sie nicht auch noch als so etwas wie eine Vorzimmerdame in Anspruch nehmen.

Der Vertreter war ein junger, dynamischer Mann, der noch nicht lange als Pharmavertreter arbeitete und nun glaubte, mit diesem Mittel würden ihm bald die gebratenen Tauben in den Mund fliegen.

Roberta wollte ihm seine Illusionen nicht rauben. Sie hatte schon viele Vertreter kommen und gehen sehen. Es gab nur wenige unter ihnen, die so richtig Geld verdienten, für die meisten war es ein mühsamer Job, mit Wartezeiten in den Praxen und vielen Kilometern, die sie herunterreißen mussten.

Was war schon einfach. Wenn sie ihre vielen Arbeitsstunden durch das teilte, was sie verdiente, dann war das auch nicht so toll. Schön, sie kam zurecht, sehr gut sogar, und sie würde ihren Beruf auch für weniger Geld ausüben, weil sie ihn liebte und sich nichts anderes vorstellen konnte.

Sie lächelte den jungen Mann an.

»Guten Tag, Herr Stemmer, kommen Sie herein. Ich bin gespannt, was Sie mir anzubieten haben.«

*

Eigentlich passte es Inge nicht, doch der Termin war schon vor Wochen ausgemacht worden, und nun drängte es auch, weil die Köhlers nach Singapur aufbrechen würden. Da konnte man nichts mehr verschieben.

Sie mochte den jungen Studienrat Dr. Tim Köhler und seine Frau Veronika sehr. Doch sie war sehr zwiegespalten. Auf der einen Seite freute sie sich sehr, dass beide wieder zueinandergefunden hatten und glücklich und zufrieden in ein neues Leben aufbrechen würden.

Andererseits musste Rickys Haus einen neuen Mieter finden, was allerdings nicht schwer sein würde. Der Sonnenwinkel war sehr begehrt. Nicht für alle, Veronika Köhler hatte es hier nicht aushalten können, obwohl sie gemeinsam mit ihrem Mann das Haus ausgesucht hatte. Ihr war im Sonnenwinkel die Decke auf den Kopf gefallen, und sie war immer wieder nach Berlin, in ihre alte Heimat geflohen. Und dorthin wollte sie auch zurück, während er sich im Sonnenwinkel sehr wohlfühlte und mehr noch am Gymnasium in Hohenborn, wo er ein sehr beliebter Lehrer war.