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Armin Nassehi

GAB ES 1968?

Eine Spurensuche

kursbuch.edition

Inhalt

Vorwort

Einstieg

Warum 1968?

Eine linke Bewegung?

Dauerreflexion

Dauermoralisierung

Exkurs:
Entdeckung und Unterschätzung
der »Gesellschaft«

Dauerberieselung

Dauerpose – nach 68

Über den Autor

Impressum

Vorwort

Dieses Buch ist der Versuch eines Soziologen, sich einen soziologischen Reim auf »1968« zu machen – keinen politischen, auch keinen historisch akribischen, sondern einen, der die Frage stellt und beantwortet: Was können wir mit dem Blick durch die Brille der Erinnerung auf das, was mit dem schönen Erinnerungsmarker »1968« belegt wird, über die heutige Gesellschaft erfahren?

Zu danken habe ich nicht zum ersten Mal dem außerordentlich produktiven Arbeitsumfeld meines Münchner Lehrstuhls, dessen Kolleginnen und Kollegen genau das intellektuelle Umfeld bilden, das gegenseitige Inspiration ermöglicht. Viele der hier vorgetragenen Thesen verdanke ich der seit vielen Jahren währenden Zusammenarbeit und Auseinandersetzung mit Irmhild Saake. Eine der Erbschaften von »1968« nenne ich in diesem Buch »Dauerreflexion«. Wenn die These stimmt, sind wir beide echte 68er! Julian Müller hat den gesamten Schreibprozess mitverfolgt und mir sehr wertvolle Hinweise gegeben, auch im Hinblick auf die Gesamtkomposition des Buches. Magdalena Göbl hat ebenfalls sehr akribisch mitgelesen und mich auf viele Aspekte hingewiesen, die den Text besser gemacht haben. Teile des Buches hat Gina Atzeni mitgelesen. Till Ernstsohn danke ich für wertvolle Recherchen.

Dass für etwaige Eseleien und Fehler ich selbst verantwortlich bin, lässt sich nicht vermeiden. Ich schließe in meinen Dank die Lektorin Evelin Schultheiß ein, von der meine Texte sehr profitieren, sowie die Mitherausgeber der kursbuch.edition Sven Murmann und Peter Felixberger.

Schließlich danke ich der Leiterin meines Büros Gisela Döring, die den Laden auch dann zusammenhält, wenn ich mich schlicht weigere, aus den Tiefen des Schreibens an der Oberfläche zu erscheinen.

München, im März 2018

Einstieg

Am besten, ich sage es gleich am Anfang: Was wir mit der Chiffre »1968« verbinden, steht für eine Liberalisierung der Kultur und Pluralisierung sozialmoralischer Orientierungen, für eine stärkere Beteiligung zuvor marginalisierter Gruppen und sozialen Aufstieg, für Demokratisierungserfahrungen und optimistische Entwürfe der Gestaltbarkeit der Gesellschaft, für Individualisierung und Befreiung aus allzu starken Bindungen, für Inklusionsoptimismus. All das stimmt und all das hat es gegeben, und auch als Narrativ funktioniert es hervorragend, übrigens auch in modo negativo, also durch diejenigen, die all das eher beklagen würden. Auch das Beklagen ist eine Form der Anerkennung. Ich will hier also nicht über Unstrittiges verhandeln – und ich will vor allem weder Partei dafür noch dagegen ergreifen – aus zwei Gründen. Man wird erstens kaum gute Gründe nennen können, die gegen die angedeuteten Entwicklungen sprechen. Und zweitens wissen wir alle, dass all diese Entwicklungen neben Nutzen auch Kosten verursacht haben. Also noch mal: Es soll nicht über Unstrittiges gestritten werden.

Worum dann? Nun, die Streitigkeiten fangen schon an, wenn wir uns fragen, worüber wir eigentlich reden, wenn von »1968« die Rede ist. Gemeint sein kann mindestens zweierlei: entweder die Ereignisse der sogenannten Studentenrevolte, die in Deutschland ungefähr von Mitte 1967 bis Mitte 1969 gedauert hat; oder eine Generationslage, die ihren Namen von diesen Ereignissen bekam und bis heute andauert, weil Teile der Kohorte noch am Leben sind. Es wird hier um beides auch in seiner Verbindung gehen, wobei der Schwerpunkt eindeutig auf der Generationslage samt ihren erheblichen Auswirkungen auf die kulturelle und gesellschaftliche Lage in der Bundesrepublik liegen wird. Dabei wird sich meine Argumentation in erster Linie auf Deutschland beziehen, auch wenn es Ende der 1960er-Jahre genauso in den USA, in Frankreich, in afrikanischen und südamerikanischen Ländern, in Polen und der Tschechoslowakei oder in Japan zu Protestbewegungen gekommen ist.1

Was mich im Folgenden interessiert, ist, die gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen nachzuzeichnen, die »1968« hervorgebracht und ermöglicht haben, und den Folgen auf den Grund zu gehen, die diese Veränderungen nach sich gezogen haben. Weder werde ich es also historisch detailgetreu nachzeichnen noch eine schlüssige Erzählung des Geschehenen abliefern, sondern der Frage nachgehen, was »1968« für die gesellschaftliche Selbstbeschreibung bedeutet und worauf sich diese bezieht. Es ist also keine politische Bewertung von »1968« zu erwarten, viel weniger noch eine Entscheidung darüber, welche Teile der Erbschaften von »1968« wir annehmen, welche aber lieber ablehnen sollen.

Im ersten Kapitel »Warum 1968?« werde ich zunächst in Beantwortung der Frage, worüber wir sprechen, wenn wir von »1968« sprechen, »1968« zunächst als einen Erinnerungsgenerator darstellen, der die Geschichte der Bundesrepublik erzählbar macht. Dass dies Kritiker wie Anhänger von »1968« einschließt, weist schon darauf hin, dass »1968« nur als ein Generationszusammenhang zu begreifen ist, wie ich mit Karl Mannheim darstellen werde. Auf der Suche nach den Bedingungen, die zu »1968« geführt haben, stoße ich auf Inklusionsschübe als einen wichtigen gesellschaftlichen Trend, der immer mehr Menschen in Bildungskarrieren, zu sozialem Aufstieg und zur Teilhabe an öffentlichen Diskursen bringt und politisiert. Diese Inklusionsschübe sind sowohl Auslöser wie Folge des Syndroms »1968«.

Im zweiten Kapitel »Eine linke Bewegung?« werde ich für die Beantwortung der scheinbar redundanten Frage eine Unterscheidung zwischen einer explizit und einer implizit linken Form vornehmen. Das explizit Linke an 1968 betrifft die sichtbare Seite der 68er, die revoltenhafte, revolutionäre, tatsächlich extrem linke, antibürgerliche, zum Teil auch antidemokratische Bewegungsform der relativ kleinen, aber lauten studentischen Bewegung, die spätestens mit dem Ende der Großen Koalition schon wieder zu Ende war. Wäre allein das »1968«, würde man es heute allenfalls als Fußnote der bundesdeutschen Geschichte betrachten. Entscheidender ist das implizit Linke, das die gesellschaftliche Realität radikal umgekrempelt hat. Die erheblichen Inklusionsschübe haben eher linke Ziele gewissermaßen mit der Gesellschaft versöhnt und die institutionelle Ordnung der Gesellschaft stark verändert. Implizit links handelten bisweilen sogar die, die sich selbst niemals als »links« bezeichnen würden. Das ist ein bleibendes Erbe dessen, was mit »1968« assoziiert wird.

Im dritten Kapitel »Dauerreflexion« behandle ich die vielleicht entscheidende Bezugsgröße von »1968« und widme mich dazu der religionssoziologischen Abhandlung Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? von Helmut Schelsky – ohne Zweifel also kein 68er. An dem Text von 1957 lässt sich aber die Antezedenzbedingung der gesellschaftlichen Umwälzungen der 1960er- und 1970er-Jahre sehr deutlich zeigen. Weil man, so Schelsky, nicht mehr auf stabile Institutionen, also feste Strukturen setzen könne, werde, wie er am Beispiel der Veränderung des Religiösen demonstriert, Reflexion, Dauerreflexion unvermeidlich und dadurch das Gespräch das Medium, durch das die Menschen nun sozialisiert werden, nicht mehr einfach durch Zugehörigkeit zu Schichten, Milieus oder Konfessionen. Jürgen Habermas hat das später kommunikative Verflüssigung genannt. Dauerreflexion als Kommunikationsexplosion war wohl das Signum der Generationslage der 1960er- und 1970er-Jahre.

Im vierten Kapitel »Dauermoralisierung« beschäftige ich mich mit der Frage, die sich von heute aus – auch damaligen Protagonisten – immer wieder stellt, nämlich der starken Moralisierung des Tons. Moralisierung meint hier die Etablierung geradezu unbedingter Standpunkte, aus Binnensicht zurückführbar auf das von mir so genannte »Sympathieparadox der Linken«, aus einer analytischen Perspektive auf das »Technologiedefizit« der Inklusionsstrategien der 1970er-Jahre. Die starke Pädagogisierung und Politisierung der Inklusionsstrategien und der öffentlichen Diskussion entlastet sich gewissermaßen in stark idealisierten Selbstbildern vom eigenen Technologiedefizit.

Das fünfte Kapitel »Entdeckung und Unterschätzung der ›Gesellschaft‹« ist ein Exkurs zu einer gegenläufigen Entwicklung, die einerseits die Gesellschaft als einen gestaltbaren Raum entdeckte, darin andererseits auf die Widerständigkeit der Gesellschaft stieß, die sich den inklusionspolitischen Maßnahmen auch entzogen hat.

Das sechste Kapitel »Dauerberieselung« nimmt die dritte bleibende Erbschaft von »1968« auf, nämlich die Popkultur, insbesondere in Form der Popmusik, ohne die eine Interpretation der Generationslage von »1968« unvollständig bliebe – eingedenk der ästhetischen Funktion und Bedeutung von Popkultur für diese Generation: Auch hier geht es um Entlastung von der Dauerreflexion und der Dauermoralisierung, gleichzeitig auch um Ermöglichung von Gegenwartsorientierung. Konsequenzfreies Popkulturelles kann dabei als Gegenentwurf und Protest auftreten, durch seine serielle Struktur aber auch mit dem Kapitalismus und seiner Konsumkultur versöhnen.

Im abschließenden siebten Kapitel »Dauerpose – nach 68« untersuche ich die Frage, was von »1968« geblieben ist. Die These lautet, dass sich in der heutigen Alltagskultur, Kritikform und den akademisierten Debatten die Erbschaften amalgamieren: Dauerreflexion und Dauermoralisierung gehen in einer Form auf, die sich vor allem der popkulturellen Pose verdankt. Inzwischen geht es nicht mehr um die befreienden Perspektiven der Reflexion und der Inklusionsschübe, sondern um Anerkennungsgerechtigkeit bis hin zur Pose des Authentischen – übrigens sowohl in kulturlinken als auch in neorechten Szenen. Womit nicht gesagt ist, dass nun alle Rechte seien, sondern dass der Grundkonflikt sich nicht mehr wie in den 1970ern an den implizit linken Fragen universalistischer Inklusion und pluralistischer Liberalität entzündet, sondern an den implizit rechten Fragen der Zugehörigkeit, der Anerkennungsgerechtigkeit und der Wiederentdeckung des Eigenen als letzter Bedeutung.

Bevor es losgeht, noch ein Hinweis auf Anführungsstriche. Im Text ist sowohl 1968 als auch »1968« zu lesen. Die Jahreszahl ohne Anführung nennt schlicht ein Datum, die in Anführung zwar auch, aber kein zeitliches, sondern ein systematisches. Mit »1968« erscheint also das Symbol für das, was mit dieser Jahreszahl assoziiert wird. Dass es mitunter an Eindeutigkeit in der Unterscheidung zwischen 1968 oder »1968« fehlt, ist ein Hinweis darauf, worum es in diesem Buch geht.

Anmerkung

1 Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest. Aktualisierte und um ein Postskriptum erweiterte Neuausgabe, München 2017, S. 151 ff.; Carole Fink, Philipp Gassert, Detlef Junker (Hrsg.): 1968. The World Transformed. Cambridge 1998; Martin Klimke: »1968 als transnationales Ereignis«, http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/68er-bewegung/51984/68-transnational?p=all#footnodeid3-3