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Ich habe in diesem Band zu den von mir aufgegriffenen Büchern, Themen und Reihen eine kleine Einleitung geschrieben und will damit einen Beitrag zur bisher nicht erzählten österreichischen und europäischen Verlagsgeschichte liefern. Diese soll der interessierten Leserschaft Einblicke in die Verlagswelt geben: wie ein Verlag arbeitet, was ein Verleger macht, womit er sich herumschlägt, woran er scheitert und zweifelt und doch – immer auf die Literatur gestützt – Unüberwindbares bezwingen will.

Im ersten Kapitel finden sich grundlegende Gedanken, Reflexionen zu Zeit und Ort und ein Suchen nach Antworten auf auftretende Fragen, das zweite Kapitel beinhaltet Anmerkungen zu Büchern, Reihen und Themen. Im dritten Kapitel wird Polemisches, Strittiges und Forderndes gesammelt, dazugestellt sind einige mediale Stimmen und Resonanzen. Im vierten Kapitel werfe ich einen Blick in die jugendlichen Lesegewohnheiten – verbunden mit einem Blitzlicht ins Familiäre und ins literarisch Bewegende.

Den Abschluss bildet ein Summa summarum, in dem ich die gemachten Erfahrungen aktualisiere, für meine weitere Arbeit verallgemeinere und Rückschlüsse ziehe, um die mit Sicherheit kommenden Auf und Abs vielleicht besser zu meistern.

Der Satz »Bücher sind problematische Existenzen« wird Walter Benjamin zugeschrieben. Ob es stimmt, konnte ich nicht verifizieren. In den Gesprächen mit Ludwig Hartinger in den vergangenen mehr als dreieinhalb Jahrzehnten konnten wir dafür einige Beweise orten. Wir einigten uns darauf, dass jedes ein Individuum ist und dass wir den Büchern ein Gesicht geben.

Panta rhei. Oder wie wir es sagen: Kopriva ne pozebe. Unkraut vergeht nicht.

LOJZE WIESER

Im dreißigsten Jahr

Weitere Anmerkungen eines Grenzverlegers

Ein Kapitel aus der noch ungeschriebenen
europäischen Verlagsgeschichte

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Der Wieser Verlag dankt allen Autorinnen und Autoren,
Journalistinnen und Journalisten für die Erlaubnis,
ihre Beiträge in diesem Buch wiederzugeben.

wtb 30

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A-9020 Klagenfurt/Celovec, 8.-Mai-Straße 12
Tel. + 43(0)463 370 36, Fax. + 43(0)463 370 36-90
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www.wieser-verlag.com

Copyright © dieser Ausgabe 2017 bei Wieser Verlag GmbH,
Klagenfurt/Celovec
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Maria Sikora, Wolbert Ebner, Josef G. Pichler
ISBN 978-3-99029-242-6
eISBN 978-3-99047-075-6

Sultan Murad und der Sklave

Sultan Murad steht vor dem gebundenen Sklaven.

Vom Pferd herab mustert er ihn mit den Augen:
gealtert, Wunden, Ketten

»Skipetar«, fragt er ihn, »warum kämpfst du,
wenn du auch anders leben könntest?«

»Weil, Großmächtiger Sultan«, erwidert der Sklave,

»jeder Mensch in der Brust ein Stück Himmel hat
und darin fliegt eine Schwalbe.«

(Fatos Arapi, aus dem Albanischen von Hans-Joachim Lanksch)*

Zdravljica

Žive naj vsi narodi,

ki hrepene dočakat dan,

da, koder sonce hodi,

prepir iz sveta bo pregnan!

Ko rojak

prost bo vsak,

ne vrag,

le sosed bo mejak!

Trinklied

Es leben alle Völker,

die sehnend warten auf den Tag,

dass unter dieser Sonne

die Welt dem alten Streit entsagt!

Frei sei dann jedermann,

nicht Feind,

nur Nachbar mehr fortan!

(France Prešeren, aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof. Die hier wiedergegebene Strophe ist die siebente – vom Zensor gestrichene – Strophe des Trinkliedes / Zdravljica von France Prešeren. Heute ist sie die Hymne Sloweniens.)*

* Erschienen im Band: Lojze Wieser (Hg.) »…und darin fliegt eine Schwalbe.
Meine Lieblingsgedichte«, wtb 15

Diesen Band möchte ich auch als Dank verstanden wissen: an alle Übersetzerinnen und Übersetzer, Lektorinnen und Lektoren, Buchhändlerinnen und Buchhändler; an alle, die in den Jahren den Autorinnen und Autoren zu Rezensionen verholfen oder sie ihnen gewidmet und damit aufmerksam auf sie gemacht haben. Nicht zuletzt gilt mein Dank auch allen Subventionsgebern, Sponsoren, Paten und Patinnen. Den Autorinnen und Autoren gilt mein besonderer Dank für alles Neue, das sie uns in Bildern und Versen zu erzählen wussten und lesbar, sichtbar und berührbar machten.

Der besondere Dank gilt aber den ganz Nahen, die die Höhen miterlebt und die Tiefen mitgelitten haben, denen kalter Wind ins Gesicht geblasen hat, weil sie abbekommen haben, was mir gegolten hat. Hvala vam: Barbara, Clara Milena, Gregor Sebastjan, Stephan Michael. Und in Gedenken und in Erinnerung bin ich mit euch, die ihr auf Reisen seid: mama Ana, Milan ati, babica Mica, dedan Lojz, stric Oto, stric Hanzi, teta Lojza, stric Hanza, soseda Mira in Gašper, und bei dir, Jucunda.

Ante scriptum

Wie die Bücher, so begleiten mich auch die Geschichten, die mit ihnen zusammenhängen, die mich zu ihnen gebracht haben und die mich in eine Welt blicken haben lassen, deren Universum sich erst langsam zu öffnen begonnen hat. Staunend hörte ich die Geschichten, die mir die Autoren und Autorinnen erzählten, sie ausbreiteten und die in den literarischen Übersetzungen ihren eigenen Kosmos bildeten – durch die Erzählkraft der Übersetzerinnen und Übersetzer. Fasziniert hat mich, wie sie Poetisches und Erzählendes auch in der Übertragung zum Leuchten bringen.

Stoßen wir gemeinsam die Tür zu einem Paradies auf, das sich hinter Gestrüpp und Dornen verbirgt, wie in Mak Dizdars Gedicht Der blaue Fluss*:

Niemand weiß wo er ist / Wenig wissen wir aber es ist bekannt // Hinter Berg und hinter Tal / Hinter sieben hinter acht / Und noch ärger und noch toller / Über Mahr und Bitterkeit // Über Dornen über Disteln / Über Hitze über Zucht // Über Ahnung über Zweifel / Hinter neun und hinter zehn //

Und noch tiefer und noch stärker / Hinter Schweigen hinter Dunkel // Wo die Hähne nicht mehr singen / Wo des Hornes Stimme nicht mehr klingt //

Und noch ärger und noch toller / Hinter Sinn und hinter Gott // Gibt es einen blauen Fluss. / Breit ist er tief ist er. //

Weil, wie schon Plato und Heraklit wussten: »Alles bewegt sich fort, und nichts bleibt.«

So mögen uns Goethes Verse aus Eins und Alles begleiten:

Es soll sich regen, schaffend handeln

Erst sich gestalten, dann verwandeln

Nur scheinbar stehts Momente still

Das Ewige regt sich fort in allen

Denn alles muß in Nichts zerfallen

Wenn es im Sein beharren will

Klagenfurt/Celovec, am 6. März 2017

Hilfe zur Aussprache von Buchstaben mit diakritischen Zeichen

c

: wie z in »Zeit«

č

: wie tsch in »deutsch«

ć

: weicher als tsch

: wie j in engl. »John«

đ

: weicher als dž

h

: wie ch in »Buch«

lj

: wie ital. gl in »figlio«

nj

: wie franz. gn in »cognac«

s

: stimmlos wie ß

š

: wie sch in »Schule«

v

: w wie in »Wein«

v

: im Slowenischen wie dt. u

z

: stimmhaft wie in »See«

ž

: wie j in franz. »jour«

Ł ł

: im Polnischen ähnlich dem w in engl. »water«, »world«

í, á, ő

: Akzente markieren lange Vokale bzw. Umlaute

ė

: im Litauischen ungefähr wie dt. »eh«

ř

: im Tschechischen, gleichzeitige Artikulation von »Zungen-r« und franz. j (jour)

ń

: im Polnischen, weiches n wie in franz. »cognac«

ś

: im Polnischen, zwischen s und sz, ähnlich dem deutschen ch in »Küche«

ó

: im Polnischen wie dt. u

ż

: im Polnischen wie j in franz. »Journal«

* Erschienen im Band: Lojze Wieser (Hg.)»…und darin fliegt eine Schwalbe. Meine Lieblingsgedichte«, wtb 15

Erstes Kapitel

Einleitung

Mein Gott, was sind schon dreißig Jahre? Immerhin sind es knapp die Hälfte meiner Jahre. Und was sagte der legendäre Programmchef des Verlags Gallimard, François Erval, zu mir vor dreieinhalb Jahrzehnten: »Sie müssen einen langen Atem haben, so an die fünfundzwanzig, dreißig Jahre!»

Den Atem hatten wir, lieber Herr Erval, nur hätten wir uns sicher manches leichter vorgestellt.

Und nun eine Zwischenbilanz: Was ist geblieben von dem, was wir in den vergangenen 30 Jahren gemacht haben? Immerhin lag noch zu Beginn der Achtzigerjahre kein Buch aus meiner Sprache in deutscher Übersetzung auf den Ladentischen, die zahllosen anderen Sprachen und Kulturen Südosteuropas waren oft heimatlos, unterdrückt und warteten darauf, in einer breiteren Leserschaft bekannt zu werden.

Das haben wir versucht, der Dank waren Morddrohungen und eine Briefbombe. Soll ich mich darüber grämen oder einfach sagen: Zuviel der Ehre?

Gab es je Momente, wo die Leidenschaft des Büchermachens durch Zweifel ins Wanken gekommen wäre? Was hätten wir besser machen können, welche Fehler haben wir gemacht, in welche Fettnäpfchen sind wir nicht getreten? Was soll’s! Die Freude an der Vielstimmigkeit der Literaturen, das Vermitteln von Kulturen, die es zu entdecken gilt, dieser Kosmos von Wundern, an dem ich teilhaben darf – was kann einem Schöneres beschert werden?

Unverdrossen werden wir weitermachen, ein wenig stolz auf das Erreichte und noch viel neugieriger auf das, was kommen mag. Gehen Sie mit uns, es wird eine wunderbare Wanderung werden. (Katalog Frühjahr 2017)

Die Zeiten ändern sich, der Lauf der Zeit nimmt seinen Fluss, er reinigt, und er schleift, und er bewegt und bringt im Geröll Edles mit und lässt zurück, was verbraucht, vertrocknet, was das seinige getan hat, was nicht mehr mitgeschleppt, nicht mitgerollt, gezerrt und schwerfällig geworden ist.

Zwei Dutzend Jahre habe ich nun schon den Karren gezogen, so manches Mal hat er mich fast erdrückt, ist ausgebrochen, war kaum zu halten, rollte über Hänge ab, und wieder und wieder haben wir ihn mit allen, die dabei waren und Hand anlegten und ohne die ich diesen Karren gar nicht ziehen hätte können, aus dem Graben, aus dem Dreck gezogen, ihn wieder geschmiert, geölt, mit Staufferfett eingeschmiert, die Räder repariert, sie neu beschlagen, und wir sind über die holprige Straße getaumelt, getorkelt, zumal gerannt, haben gezogen und gezerrt, sind schwitzend den Schlaglöchern ausgewichen, und doch sind wir in ihnen oft gelegen, mit gebrochener Achse, und das Lesegut verstreut um uns herum. Haben es erneut aufgeklaubt und eingesammelt, es wieder gereinigt und gestapelt und weiter zu den Dürstenden gebracht, haben uns erfrischt in dieser Poesie und an den Quellen der Novellen, haben die Erzählung von einst ins Heute mitgebracht, sie aufgenommen, ihr neue Impulse gegeben, haben sie aus uns nicht verstandenen Sprachen in solche, die uns geläufiger waren, gehoben, aus dem Vielen und dem Lesenswerten – in noch viel zu geringem Anteil – Übersetzungen gemacht, haben sogar vereinzelt Mäzene getroffen, die mit uns in den Dolinen des Karstes nach Möglichkeiten der vermehrten Unterstützung gesucht, haben sogar das Rauschen der kommenden Zeit im Unterirdischen gehört und haben es wieder aus dem Ohr verloren, haben nachgegraben, und je weiter wir gruben, desto tiefer wir auch kamen, umso schöner wurden die unterirdischen, Millionen Jahre alten Höhlen, die Stalagtiten der Verse und die Stalagmiten der Sprache haben uns in Bann gezogen, haben uns verzaubert, das Murmeln der Wässer war uns Musik, der leichte Wind sang wie Sirenen, und wir haben uns gefühlt wie in einer unendlichen Reise ins Innere der Welt und sind der Ahnung, was schön sein könnte, und sind den in uns versteckten Ecken der eigenen Seele näher gekommen und mussten doch auch wieder erkennen, dass es Bilder sind, erinnernd an eine Fata Morgana in der Wüste, nicht immer real, und dort, wo sie real sind, nicht ganz wirklich, und wo es Wirklichkeit zu werden begann, waren wir schon wieder umgeben von jenen, die Fahnen zur Feier des Erfolges auszubreiten begannen, die sie schwenkten wie wild, für sich und zur eigenen Belobigung, sie in den Wind hängten, und wenn keiner aufkommen wollte, ihn anzufächern begannen mit immer lauter werdendem Gerede, wobei sich meist herausstellte, dass sie in erster Linie heiße Luft erzeugten. Wir haben Sirenen gesehen, wir haben in Winkeln der Seelen blicken können, die uns meist nur als Mythen der griechischen Antike bekannt waren, und konnten erfahren, wie nah sich die Geschichten der verschiedenen Menschen sind, die unterschiedlich miteinander sprachen und aus Gegenden kamen, wo die Töne anders klangen, als sie uns im Ohr aus eigener Musikalität erklangen, mit sich andersartig überschlagenden Tonfolgen, die die Guslas und die Flöten, die ziehenden Posaunen und Flauti, die aus Rindermägen gefertigten Bälge der Harmonien, die schnaufenden Dudelsäcke aus Ziegenmägen und die Schafsehnen, die Bögen aus Pferdeschwänzen von Steppenpferden hervorzauberten, in andren Disharmonien, wo das Getrabe junger schwarzer Fohlen der Lipizzaner, die aus der Nacht kamen und am Abend als Schimmel in der Nacht verschwanden, und wo uns die aus in Wein getränkten Hölzern gebauten Fiedeln ihre Träume einfühlsam erzählten, und zugleich waren sie uns in ihrem Gejammer unheimlich, bedrohlicher als die Gusla, die die Aale am Ohridsee ans Ufer lockte.

Wir hatten im Stillen schon gehofft, nun das Tor zum Heimlichsten des gegenseitigen Verstehens aufgemacht zu haben, nur ein klein wenig, nur einen Spalt, damit ein feiner Sonnenstrahl, in dem der Staub der Zeit und die daraus gewordenen Sätze schimmern – haben wir als Kinder nicht »flimmern« gesagt? –, wo die Kindheitssprache kein »Verstehts mich nicht, oder was?« herausbrachte; wo wir von Tag zu Tag zum Brunnen der Worte gegangen sind und wo wir in den tiefen Zisternen der Jahrhunderte nach frischem Wasser für die Seele fassten, haben die Eimer in die Tiefe geworfen und haben die Sekunden gezählt, um zu wissen, wie tief der Brunnen ist und wie nah wir uns zur Hölle hinbewegen, haben im Dunkeln gefischt und nichts Trübes hervorgeholt. Bücher bloß. So auch im fünfundzwanzigsten Jahr folgt dem Frühling ein schöner Herbst mit Blätterrauschen aus der nahen Ferne. Lesen wir weiter, erlesen wir die Welt! (Katalog Herbst 2012)

Zählte ich alles zusammen, hätte ich die Zeit und die Möglichkeiten und würde ich auch immer wissen, wann, wo, was gesendet oder ausgestrahlt wird oder gedruckt zu lesen wäre, dann könnte ich vielleicht so eine Geschichte erzählen:

Ich bin in den letzten zwanzig Jahren für jedes verkaufte Buch einen Kilometer gefahren und konnte täglich 20 Minuten im Radio über unsere Autorinnen und Autoren, über unsere Bücher und die Literatur des europäischen Ostens hören. Zusätzlich war es mir vergönnt, die Arbeiten des Verlages täglich zwei Minuten im Fernsehen zu betrachten. Zumindest in drei verschiedenen (europäischen) Medien hat sich die Leserschaft über die Literatur im entlegenen europäischen Osten informieren können. Dafür haben wir vom Verlag eine Million Bücher gedruckt, drei Viertel davon konnten wir bis heute verkaufen und weitere 100.000 Exemplare zur Rezension verschicken.

Dafür mussten wir aber auch täglich mindestens gut 100 Exemplare unserer Bücher verkaufen und danach trachten, genügend an Subventionen und Druckkostenzuschüssen zu erwirtschaften, damit wir die acht Millionen Euro – oder, in echtem Geld, die 110.000.000 (einhundertzehn Millionen Schilling) – an Geldmitteln zur Verfügung hatten, die wir brauchten, um unser Programm herzustellen, Veranstaltungen zu organisieren, Rechnungen zu bezahlen. Weil das nicht so einfach ging und weil die Liquidität auch was kostet, mussten wir in diesen zwanzig Jahren täglich auch für Zinsen und Kreditkosten 75 Euro (oder eintausend Schilling) aufbringen.

Viele der von uns verlegten Autorinnen und Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzer sind über unseren Verlag erstmals im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht worden. Sie fanden in renommierten Zeitungen und Zeitschriften Möglichkeiten, ihre Texte zu publizieren, Interviews zu geben, wurden vom Spiegel, der FAZ und der NZZ abwärts besprochen, und die Tür in den Westen öffnete sich ihnen. Es erschloss sich ihnen ein neuer Kreis von Leserinnen und Lesern, und sie wurden von diesem zunehmend geschätzt. Sie gingen von da an erfolgreich ihren Weg. Viele sind heute anerkannte und gern gelesene Autorinnen und Autoren.

Wir konnten auch den Medien helfen, insbesondere in den ersten Jahren, wo es noch kaum Rezensenten und Kritikerinnen gab, die sich in der Literatur des europäischen Ostens auskannten, und wo dieser Bereich noch gerne als Orchideenfach bezeichnet wurde. Wir durften bei der Zeit und dem Spiegel, dem Standard und der Presse vermitteln, wir konnten Verbindungen herstellen, weil sie auf der Suche nach Kritikerinnen und Kritikern waren und wir potenzielle kannten, no-names sozusagen, damit diese wissensreich über den blinden Fleck Europas zu berichten beginnen konnten. Wir waren (sind) das Bindeglied zwischen Autorenschaft, Medien und Verlag und konnten der Literatur des europäischen Ostens die gebührende Öffentlichkeit verschaffen.

Nicht zuletzt haben wir den zum Exil gezwungenen Autorinnen und Autoren in der Zeit des aufkommenden Krieges in Jugoslawien geholfen, sich im Exil zurechtzufinden, Stipendien und Wohnungen zu erhalten und zu bezahlen, um weiterschreiben zu können, bei Lesungen ihre Literatur vorzutragen und über ihr Leben zu berichten. Nicht wenige von ihnen sind heute angesehen, gern gesehen und mit namhaften Preisen ausgezeichnet und haben sich im hiesigen Literaturbetrieb zurechtgefunden. Von unserer Arbeit konnten uns auch Briefbomben und Attrappen, Morddrohungen und Prozesse nicht abhalten.

Zwanzig Jahre wird also der Verlag nun alt. In diesen zwanzig Jahren haben wir knapp 800 Bücher verlegt. Einige davon haben wir aus diesem Grund in ein neues Gewand gesteckt. Aus jedem Jahr des Bestehens des Verlages haben wir zumindest eines ausgewählt und legen es der wohlwollenden Leserschaft ans Herz. Wir haben sie im Preis vereinheitlicht, doch die Inhalte sind wie eh und je kontroversiell, spiegeln die verschiedenen Stilrichtungen und Herangehensweisen wider und vermitteln uns Bilder und Tonalitäten aus unterschiedlichsten geographischen und kulturellen Räumen. Wir sind stolz auf jedes einzelne Buch und sind froh, diese Bücher gefunden und verlegt zu haben. Bücher haben nicht nur eine Saison. Viele reifen mit den Jahren.

Von Anfang an haben wir uns alle Mühe gegeben, die Bücher schön zu gestalten, und haben auf die Auswahl der Materialien große Sorgfalt gelegt. Wir haben die Bücher sorgsam ediert und Inhalt und Form vollendet zusammengebracht. Im Literarischen, beim literarischen Schmuggel, zogen wir gemeinsam durch die Lande, seit Jahren. Auch im ersten Jahrzehnt des eigenen Verlages zogen wir, der Wortlandstreicher Ludwig Hartinger und ich, der Verleger, gemeinsam aus. Unterwegs trafen wir den noch etwas leute- und mikrofonscheuen, doch liebenswürdigen Kerl (wenn einer Tiroler Gröstl zubereiten kann, dann er!), den Kritiker und Essayisten Karl-Markus Gauß. Als Kumpanen machten wir uns auf den Weg, der Ignoranz den Kampf anzusagen. Waren die ersten beiden slowenischen Bücher des neu gegründeten Verlages Čritce mimogrede und Prošnji dan von Florjan Lipuš, die wir in Ljubljana am 16. 11. 1987 der staunenden Öffentlichkeit präsentierten, so war das erste Buch im deutschsprachigen Programm die Sammlung von Porträts Tinte ist bitter aus der Feder von KMG. Mit diesen drei Büchern haben wir die gesamte Breite des Programms skizziert. Von unseren Träumen, jeden Monat am selben Tag ein bestimmtes Buch in allen europäischen Sprachen zu präsentieren, also von einer europäischen Austauschbibliothek, sind wir auch heute noch weit entfernt, aber einiges hat sich in der Zwischenzeit ja doch bewegt. Ein wenig der einstigen Träume hat sich verwirklichen lassen. Immer wieder ergänzen wir uns. Auch noch heute, jeder an seinem Platz – vielleicht dadurch noch wirksamer. Einer, der am Anfang auch prägend wirkte, war der eigenwillige, exzellente slowenische Grafiker Matjaž Vipotnik (1944–2016). Mit ihm konnten wir das Manko, kein Werbekapital zu haben, durch schön gestaltete Bücher wettmachen. So haben wir jene Grundlagen gelegt, auf denen wir auch die schwersten Zeiten des Verlages übertauchen konnten.

Der Wieser Verlag ist ein Projekt von vielen für viele. Hartinger, Gauß und Vipotnik stehen hier stellvertretend für alle, denen Ehre und mein Dank gebührt. Was wir gemeinsam begonnen haben, ist der erste systematische Versuch, dem europäischen Osten in seiner sprachlichen und kulturellen Vielfalt im europäischen Westen – auf gleicher Augenhöhe – eine Öffentlichkeit und Gehör zu verschaffen. Es ist der nachhaltige kulturelle Versuch, die europäische Integration mit neuen sprachlichen Melodien zu entfalten, durchs Lesen und Übersetzen sich kennenzulernen und mit Kultur und Literatur die europäische Vielfalt zu meistern. Denn: Als wir vor zwanzig Jahren begonnen haben, Literatur aus dem europäischen Osten zu verlegen, als wir begonnen haben, den vielen Literaturen dieses Raumes ein Gesicht zu geben, als wir die slowenische, kroatische, serbische, albanische, bulgarische, rumänische, ungarische, tschechische, slowakische und polnische Literatur herauszugeben begannen, war die Sowjetunion noch nicht Vergangenheit, Jugoslawien noch nicht von einem Krieg zerstückelt und die Europäische Union in der heutigen Form unerreichbar. Da haben wir das Hoffen gelernt und die Ahnung einer vielstimmigen Welt im Sinn gehabt, von der uns die Autorinnen und Autoren in ihren Büchern, ihren Versen, ihren Erzählungen und ihren Träumen berichteten und die uns deren Übersetzerinnen und Übersetzer ins Deutsche herüberbrachten.

In diesen zwanzig Jahren haben wir nicht ganz 800 Bücher verlegt. Wir haben die Reihe Europa erlesen begründet, in der wir allein knapp 7.000 Texte von 2.500 Autorinnen und Autoren abgedruckt haben – wovon ein Drittel von Übersetzerinnen und Übersetzern aus über 50 Sprachen ins Deutsche übertragen wurden.

Mittlerweile haben die Reihe Europa erlesen und die Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens Kultstatus erreicht, die Autorinnen und Autoren sind flügge geworden, und wir ziehen weiter unsern Weg. Den nächsten zwanzig Jahren entgegen. Trotz alledem. Oder: Gerade deswegen! (Katalog Herbst 2007)

Der zündende Funke

»Es ist nicht so: auf einmal kommt der helle Blitz, der schlägt in deinen Schädel ein, und du weißt, wohin du gehen musst. Da kommt eher der dumpfe Knall, wo man sehr oft gegen die Wand rennt und nicht weiß, wie man weiter tun soll.«

»In der Literatur ist es im Grunde genommen wie in der Liebe: man sucht nicht, man findet.«

Der Verleger Lojze Wieser über Glücksmomente in seinem Leben und seiner Arbeit. Seit 20 Jahren ist Wieser mit einer Handvoll Mitstreitern indes sehr wohl auf der Suche: Als »Wortwanderer«, so seine Bezeichnung, bereist er die Ränder Europas, um großteils unbekannte Literatur auf dem sogenannten »blinden Fleck« des Kontinents aufzuspüren und zu verlegen. An die 700 Bücher, die unter anderem aus dem Slowenischen, Serbischen, Ungarischen, Tschechischen oder Rumänischen übersetzt wurden und – wie etwa in der Reihe »Europa erlesen« – längst so etwas wie Kultstatus erreicht haben. Der Wieser Verlag ist Wiesers Lebenswerk, das nicht etwa mit einer Eingebung oder einem »zündenden Funken« begonnen hat:

»Das ist eine Sache, die sich sukzessive im Laufe der Zeit entwickelt. Es ist nicht so: auf einmal kommt der helle Blitz, der schlägt in deinen Schädel ein und du weißt, wohin du gehen musst. Da kommt eher der dumpfe Knall, wo man so oft gegen die Wand rennt und man nicht weiß, wie man weiter tut.«

Hört man Lojze Wieser über seine bereits verlegten oder noch zu verlegenden Bücher sprechen, dann spürt man ihn dennoch, jenen »Funken«: Aus Wieser spricht die Leidenschaft für das gedruckte Wort. Irgendwann in seiner Kindheit ist diese Leidenschaft entflammt worden:

»Ich glaube, Bücher waren für mich als erstes mit etwas Geheimnisvollem verbunden. Einerseits hat es in unserem Haus im Gegensatz zu anderen Haushalten überall Bücher gegeben. Im Schlafzimmer, in der Küche, neben dem Radio stehend, am Dachboden, im Vorraum und so weiter. Es hat immer und überall Bücher gegeben. Wenn wir alte Kästen aufgemacht haben, wenn man Winter- oder Sommerwäsche eingeräumt hat, oben in dieser Bettzeuglade, da waren Bücher gestapelt. Sogar in der Selch drinnen, wo das Fleisch aufgehoben war, waren alte, beschlagene Kisten, in denen die Großmutter ihre Bücher, Gebetsbücher und sonstige, von Mäusen angefressene Bücher gehabt hat. Das war Abenteuer, zum Teil vielleicht nicht ganz jugendfrei, wenn ich an die ersten erotischen Bilder denke, die man als Zehnoder Elfjähriger gern angeschaut und mit roten Ohren in diese Geschichten hineingespechtelt hat. Ja, und ich hab aus diesem ganzen Fundus schöpfen können. Ich hab mit elf nicht etwa Karl May gelesen wie andere Buben, sondern ich habe wirklich Romane von Tolstoi, Dostojewski und Tschechow und weiß der Teufel was alles gelesen. Solche Sachen haben mich immer fasziniert, und je dicker ein Buch war, desto lieber, und wenn Sommerzeit war, habe ich natürlich lieber gelesen als Latein gestuckt«.

Und noch ein weiteres frühes Erlebnis verbindet Lojze Wieser mit einer lebenslangen Passion, mit seiner Freude am Angreifen eines Bandes und der Lust, Buchluft zu schnuppern:

»Vater und Mutter waren bei einem Buchclub, und zur Weihnachtszeit ist immer eine Kiste von Büchern gekommen, die der Vater dann, Kassier und Vertriebsmensch, der er als kommunistischer Gemeindefunktionär war, unter die Leute gebracht hat. Und da sind dann auch die Nachbarinnen, mehr die Nachbarinnen als die Nachbarn, gekommen und haben in diesen Büchern geblättert. Und da waren wirklich schöne Märchen dabei und Bücher, die dreidimensional waren, wenn man sie aufgemacht hat. Man hat sich die Seite aufgestellt, und man hat diese hin und her schieben können. Damals hab ich gelernt, mit diesem Papier, mit diesem Geruch umzugehen. Das war schon etwas!«

Die Philosophie seines Verlages erklärt Lojze Wieser, der als Slowene in dem Kärntner Dorf Tschachoritsch/Čahorče geboren wurde und gewissermaßen als »Angehöriger einer Randgruppe« sozialisiert wurde, so: Er wolle die europäische Integration mit neuen sprachlichen Melodien entfalten, und zwar fern von gängigen tagespolitischen Schablonen. Unverständlich ist es Wieser in diesem Zusammenhang, dass etwa der Schriftsteller Peter Handke, ein Weggefährte der ersten Stunden, von zahlreichen Medien für sein in seinem Grunde philosophisch-poetisches Unterfangen so heftig kritisiert wurde: »Literatur kann in bestimmten Fällen auch als seismographische Ortung einer bestimmten Entwicklung gelesen werden«, so Wieser. Ein Glücksfall sei es, wenn der Leser aufgrund der Lektüre eines Buches eine scheinbar bekannte Entwicklung eines Landes für sich neu interpretiere und alte Muster in Frage stelle. Dann erst entstehe die Möglichkeit, dass man aus einer Sackgasse herauskomme.

»Sehen wir uns doch einmal an, wie Peter Handke in den letzten Jahren wegen seines Engagements im Rahmen des Krieges am Balkan von links und rechts abgefotzt worden ist! Versuchen wir doch einmal, die Schablone der bisher bekannten politischen Definitionen wegzuschieben, und versuchen wir zu verstehen, was hier passiert. 1992, als der Krieg in Bosnien angefangen hat, hat mich Peter Handke angerufen und gesagt: ›Machen wir doch einen Friedensmarsch! Ich beginne in Paris, du in Klagenfurt, gehen wir doch zu Fuß in diese Region, wir müssten doch zustande bringen, dass es dort keinen Krieg gibt.‹ Ich habe dann mit etlichen Stellen telefoniert, es war knapp vor den ersten bewaffneten Auseinandersetzungen in Mostar und in Sarajewo, und es wurde mir von der UNO und von angesehenen Militärexperten abgeraten, das zu tun, weil die Gefahr zu groß sei, dass man zwischen die Mühlsteine komme. Vielleicht begreift man aber eines Tages, dass hier ein Suchender unterwegs ist, der in seiner Literatur neue Begriffe sucht und Fragen hinterfragt, um das zu verstehen, was im Grunde genommen bisher noch nicht beantwortet wurde.«

Ziemlich genau eine Million Bücher ließ der Wieser Verlag in den vergangenen zwei Jahrzehnten drucken. Gleichsam nebenher schreibt Lojze Wieser aber auch selber Bücher: so jüngst etwa das kulinarische »Kochen unter anderen Sternen« und davor »Die Zunge reicht weiter als die Hand. Anmerkungen eines Grenzverlegers« (beide Czernin Verlag), die Einblicke in seine Gedankenwelt geben. Bei umfangreicheren Werken könne es übrigens schon einmal vorkommen, dass der Schreibfluss ins Stocken gerät. Für diese Fälle hat der findige Verlagsmann ein wirksames »Notfallsprogrammm« parat:

»Wenn es nicht reif ist in einem, dann stehst du da wie eine Kuh vorm Tor und weißt nicht, ob das jetzt ein Tor ist oder eine Ziegelwand, du kommst einfach nicht zu Rande. Und da habe ich mittlerweile schon gelernt, den Rat einer Bekannten, die Psychologin ist, anzunehmen. Die hat mir einmal gesagt: ›Lass sein, wenn es nicht geht, geht’s nicht. Es kommt eh, aber nimm dir die Freiheit, es sein zu lassen und mach ganz was anderes. Meinetwegen geh Schwammerln klauben!‹ Und dieses Seinlassen ist schon eine schöne Erfahrung«.

Das Gesamtwerk Lojze Wiesers könnte man als »never ending story« bezeichnen. Er selbst drückt es schöner aus: ein »perpetuum mobile« sei es, und sollte es jemals in ferner Zukunft doch zum Stehen kommen, dann könnte er sich ganz gut auch folgendes Lebensprogramm vorstellen:

»Wenn ich eine Vollendung im Auge habe, dann sind das sieben Punkte, die ich gerne machen würde – und die würden mir genügen: Lieben, Lesen, Schreiben, Kochen, Essen, Trinken und Reisen. Das würde mir vollkommen genügen.«

Was kennzeichnet die Literatur aus Ost- und Südosteuropa?

»Eines der wichtigsten Kennzeichen osteuropäischer Literatur ist, dass sie nicht bekannt ist. Darüber hinaus kann osteuropäische Literatur kaum über einen Kamm geschert werden. In Europa gibt es 200 verschiedene Sprachen und Kulturen, dazu kommen etwa 200 Migrantensprachen, die ebenfalls einen Einfluss auf die kulturelle Entwicklung Europas haben, und die Hälfte dieser Sprachen wird im europäischen Osten gesprochen! Sie zu kennen, ihnen nachzuspüren und von ihnen jene Impulse zu kriegen, die auch uns in unserem Sprachraum etwas sagen können, ist eine Herausforderung und eine verlegerische Notwendigkeit. Da gibt es noch viel zu tun, zumal während der 60 Jahre des Eisernen Vorhangs die kulturelle Verbindung zwischen Ost und West abgerissen war.«

Ist die Orientierung Mitteleuropas gen Westen und die Ausblendung des Ostens nicht ein Phänomen, das sich durch die gesamte Kulturgeschichte Europas zieht?

»Ja und Nein. Es waren durchaus kulturelle Brücken vorhanden. Vor dem Faschismus hat beispielsweise eine jüdische Tradition existiert, die zur Folge hatte, dass es eine lingua franca, das Deutsche, gegeben hat. Es hat auch Epochen gegeben, in denen etwa russische, ungarische oder polnische Literatur massiv übersetzt und mit großem Interesse gelesen wurde. Es gibt also positive Ansätze, an die angeknüpft werden könnte. Es ist aber auch vollkommen richtig, darauf hinzuweisen, dass bestimmte Gesellschafts- und machtpolitische Interessen dazu geführt haben, dass der slawischen Welt als Gesamtheit gegenüber Vorurteile existieren, die zum Teil auch bewusst gepflegt wurden. Diese Vorurteile kann die Literatur, wenn man sie systematisch übersetzt, zurückdrängen.«

Welche Potenziale hat ein regerer (literarischer) Austausch zwischen Ost- und Westeuropa?

»In der Literatur steckt das Potenzial, durch die Beschreibung mittels andersartiger Bilder des gleichen Gegenstandes zu einer neuen Erfahrung zu kommen. Diese andere Perspektive auf die gleiche Thematik bereichert. Literatur kann beglücken, und sie ist eines der friedlichsten Mittel, einander zu begegnen und miteinander umzugehen.«

Sie zitieren gern Ivo Andriđ, der einmal gesagt hat: »Brücken sind wichtiger als Vorratskammern«. Ist das auch das Programm des Wieser Verlags?

»In den vergangenen 22 Jahren habe ich vielleicht 900 Bücher gemacht, in der Reihe »Europa erlesen« sind gut 140 Titel erschienen, insgesamt sind in dieser Reihe fast 10.000 Autoren und Autorinnen publiziert worden, wobei gerade auch bei »Europa erlesen« ost- und westeuropäische Autoren und Autorinnen gleichbedeutend nebeneinander stehen. Gemeinsam mit KulturKontakt und der Bank Austria haben wir den Bank Austria Literaris ins Leben gerufen, der ebenfalls systematisch Übersetzungsliteratur aus dem europäischen Osten fördert: Ja, hier geht es um eine Brücke zwischen den Literaturen und Sprachen des europäischen Ostens in den deutschsprachigen Raum, und es ist unser Bestreben, die Leserschaft dafür zu begeistern und diese Literatur weiterzutragen. (Gespräch mit Christa Eder, ORF, zum Zwanzigsten, 2007)

Lesen, um Europa zu verstehen. Jahrelang war der Kärntner Wieser Verlag die Drehscheibe der Vermittlung slowenischer Literatur und auch der gesamten südosteuropäischen Peripherie. Europa verstehen, bedeutet Europa erlesen. Systematisch. Am besten in einer »Europäischen Austauschbibliothek«! Ein Buch aus einer europäischen Sprache in alle anderen rund 400 Sprachen zu übersetzen. Immer zugleich in alle Sprachen. Denn mangels öffentlicher Wahrnehmung (und die schließt die finanzielle Unterstützung durch die EU mit ein) gibt der Verlagsgründer dem Projekt, Verständigung durch Literatur zu erreichen, nur noch eine geringe Chance – schreibt der Herausgeber und Chefredakteur des Jüdischen Echo, Erhard Stackl, im Vorspann.

1. März 2012. Konkurs des Wieser Verlages. Leipziger Buchmesse. In den Gesprächen für die APA, das »Europa-Journal« im Radioprogramm Ö1 und für den »Standard« wird erstmals festgehalten: Seit 21 Jahren hat es bei der Verlagsförderung keine Inflationsabgeltung gegeben. Dies gilt, wie wir heute wissen, für die gesamte Kulturlandschaft. Es hat der Ereignisse um das Burgtheater bedurft, um das Ausmaß der Katastrophe zu erkennen.

Die Verlagsförderung ist in diesen zwei Jahrzehnten mehr als halbiert worden, die Papierpreise sind in der genannten Periode gezähltermaßen 17 Mal erhöht worden. Die Konkurrenzsituation auf dem Markt, insbesondere was die Überwindung der »Weißwurstgrenze« anbelangt, hat sich radikal verändert, die Bedingungen für die Verlage sind wesentlich härter geworden. Die gesamte Branche hat sich verändert. Die Marketingkosten sind erheblich gestiegen.

Kollegen erzählten mir damals in Leipzig, dass es ihnen ähnlich ergehe, nur hätten sie noch eine bessere Gesprächsbasis mit ihren Banken, doch ihre Verschuldung sei der meinigen nicht unähnlich. Ich habe sie aufgefordert, meinen »Fall« als Anlass zu nehmen, um auf die Gesamtsituation hinzuweisen. Sie wollten aber »meinen« Fall nicht zum Anlass nehmen, denn sie fürchteten, eine »Evaluierung« könnte die gesamte Verlagsförderung in Frage stellen. Darum schwiegen sie. Im Standard und auf Ö1 wurde diese Frage erstmals öffentlich gemacht.

2. Ich habe vor mittlerweile 34 Jahren, im Herbst 1980, das erste slowenische Prosa-Buch in deutschsprachiger Übersetzung, Karl Prušnik-Gašpers Gemsen auf der Lawine (Schreibweise der Gemsen 1980, heute Gämsen), herausgebracht. Zur slowenischen Lyrik der Gegenwart erschien in Zusammenarbeit mit den Universitäten in Klagenfurt/Celovec und Ljubljana bei Heyn der – im Frühjahr des selben Jahres – von Paternu, Olof und Neuhäuser herausgegebene Band Na zeli strehi vetra / Auf dem grünen Dach des Windes. Die Gämsen auf der Lawine waren das erste slowenische Buch in der Geschichte, das ins Fernsehen kam. Die Geschichte des Partisanenkampfes innerhalb des tausendjährigen Reiches wurde in der Nachrichtensendung »10 vor 10«, von Dieter Seefranz selig, vorgestellt. Robert Buchacher im Profil folgte, und das Buch wurde zum Erfolg. André Heller war begeistert, und Peter Handke sprach noch im Jahre 2002 anlässlich der Ehrendoktorwürde der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt/Celovec mit Hochachtung davon (und empfahl auch, Andrej Kokot und Lipej Kolenik zu lesen).

Seither veröffentlichten wir im Wieser Verlag gut 100 Bücher slowenischer Literatur in Übersetzung bzw. haben wir Sekundärliteratur zur slowenischen Literatur herausgebracht. Diese Anstrengung ist vom Verlag gemeistert worden, er hat die Vertriebsstruktur aufgebaut, er hat die Öffentlichkeitsarbeit gemacht, er hat um die Förderungen gekämpft, er hat Lesungen organisiert und sich um Preise und Auszeichnungen bemüht. Das gab es davor nicht.

3. Lassen wir die Details, die sich auf die Jahre danach beziehen, an dieser Stelle aus. Tatsache ist, dass sich im Zuge der europäischen Veränderungen, die sich seit den 1980er Jahren ankündigten, die Literatur eine große Rolle spielte. Nur im deutschsprachigen Raum war deren Bedeutung kaum bis ganz unbekannt. Die slowenische Literatur in Kärnten erlebte Anfang der 1980er Jahre durch Handkes Engagement eine gewisse Beachtung. Sie wäre wieder versiegt, hätte sich nicht der Wieser Verlag (und später auch die beiden Verlage Drava und Hermagoras) der Mühen der Ebene über ganze drei Jahrzehnte angenommen und sie, wie wir wissen, unter schwierigsten Bedingungen und Ausgangssituationen finanziert. Kaum bemerkt und auch nicht wirklich bedankt.

4. Es kam zum Krieg in Jugoslawien. Auf einmal waren Autoren und Autorinnen gefragt, um auf Fragen, auf die nicht einmal die Spitzenjournalisten mehr Antworten geben konnten, kurze und bündige, vor allem schlüssige Antworten zu geben. Karahasan, Velikić, Bogdanović, Trebeshina, Podrimja, Jančar, Marija Knežević u. a. – alle vom Wieser Verlag für den deutschsprachigen Raum entdeckt – veröffentlichten ihre Essays nun auch in der FAZ, im Spiegel, Standard und vielen anderen meinungsbildenden Organen. Der Wieser Verlag – und seine Übersetzer und Übersetzerinnen (erinnernd an Brechts Frage: »Cäsar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?« Die Rolle der Übersetzerinnen und Übersetzer ist bis heute in der literarischen Vermittlung unterbewertet. Was wäre Literatur, was wäre der Diskurs über sie, ohne ihr – meist ungerechterweise – zurückgezogenes Wirken!) – wurde zur Drehscheibe der Vermittlung. Ihre Literatur blieb jedoch – im Verhältnis zur Präsenz der Autoren – auch weiterhin, bis auf einige Ausnahmen, weitgehend unbekannt und unbedankt. Bis in die heutigen Tage. Auch bei Sigrid Löffler, die sich heute, 2014, auf die Suche nach den Repräsentanten der neuen Weltliteratur begibt. Sie hat es 1999 im Literarischen Quartett mit ihrem Lob an Dragan Velikić mit großer Verve begonnen und ist an dem aus Polen stammenden und die slawischen Sprachen sprechenden und verstehenden Literaturpapst Reich-Ranicki gescheitert, der sie damals lakonisch-aggressiv unterbrach: »Wie spricht man den aus?« – und der zu dieser Zeit das allseits vorhandene Antiserbische bediente. (Erinnern wir uns nur an die Anwürfe, die Handke für seine Fragen abbekam!)

Dieser Einwand von Reich-Ranicki hat den Wieser Verlag fast eine Million Schilling gekostet. Wir hatten, auf die Ankündigung hin, dass das Buch »Dante Platz« von Dragan Velikić im Literarischen Quartett besprochen wird, innerhalb von 10 Tagen weitere 8.000 Exemplare gedruckt, die aber vom Buchhandel fast alle wieder zurückgeschickt wurden. Der Chauvinismus hat nach dem Handke-bashing in der Literaturlandschaft weitere grausliche Früchte getragen. Nicht auf Deutsch geschriebene Literatur aus dem europäischen Osten hatte es noch schwerer.

5. Davor oder zur selben Zeit begann auch bei uns im Lande der Chauvinismus zu wachsen. – 1993/94 gab es die Briefbomben-Serie; 1999 kam Jörg Haider, der später Verblichene, erstmals an die Macht. Zu einer internationalen Pressekonferenz in Klagenfurt/ Celovec während der Bachmann-Tage kamen Vertreter der internationalen Presse, lokale und österreichische nicht (ich erinnere mich, dass wir uns sehr gewundert haben, dass es den Österreichern offensichtlich zu minder war, sich die Einschätzung der Kultur zur entstandenen Lage anzuhören), als 19 Kulturinitiativen auf die möglichen Veränderungen hinwiesen, die von Kärnten auf Österreich und Europa ausgehen könnten, und um solidarische Beachtung geworben haben. Deren Warnungen verblassten.

6. Im Schatten des Krieges um Jugoslawien kam es bei uns zur besagten Briefbomben-Serie. Eine dieser Briefbomben war auch an den Wieser Verlag gerichtet, gefolgt von weiteren zwei Attrappen, im Abstand von vier Wochen und einem halben Jahr. Dazwischen gab es drei Morddrohungen gegen den Verleger. Weiters eine Anklage, er habe 34.000 Schilling (2.500 Euro) an Subventionen betrogen. 18 Monate Vorerhebungen, Anklage, Prozess, Subventionsverlust. Der Freispruch ist schon fast eine Gnade, denn der Verlag war diskreditiert, die Struktur vernichtet, der Verleger angepatzt und – irgendwas wird schon dran sein! Es mussten alle entlassen werden, kein Geld war mehr vorhanden, das positive Meinungsbild über Verlag, Autoren und Literatur vernichtet.

Der damalige Sektionschef des Kulturministeriums erzählte mir später, dass auch Verlegerkollegen bei ihm anklopften und meinten, dass Wieser sowieso keine Subventionen verdiene, er gebe sich mit »ausländischen Autoren« ab, und daher sei klar, dass er keine österreichische Literatur verlege.

Spätestens damit wird sichtbar, dass der Chauvinismus die Intellektuellen und die Mitte der Gesellschaft erreicht hatte. Dass sich nach den Briefbomben und den damit zusammenhängenden finanziellen Schwierigkeiten (von anderen will ich an dieser Stelle gar nicht sprechen) über die Jahre keiner angeboten hat, die Arbeit des Verlages wieder auf – auch finanziell – gesunde Beine zu stellen. Der Gerechtigkeit halber muss ich festhalten, dass Minister Scholten – sogar gegen den Widerstand einiger Personen – mit einer Einmalsubvention den damaligen Bankrott des Verlages verhinderte. Und so haben wir die entstandenen Probleme mehr recht als schlecht selbst zu lösen versucht, uns so über Wasser zu halten bemüht. Aus heutiger Sicht ist es für mich nur ein Symptom, wohin wir gehen. Neue Wege der europäischen Integration sind kaum gesucht, nicht angedacht und in der Regel auch nicht finanziert worden. (Die Frage der Übersetzungsförderung der EU ist ein weitreichendes und eigenes Problem, dem man sich wahrlich gesondert nähern sollte.) Es scheiterte an der Furcht vor der Tatsache, dass zunehmend neue Menschen ins Land und nach Europa strömten und sich auch innerhalb Europas verändern und sprachlich bewegen. Einer dieser Wege wäre der kulturelle gewesen. Wir standen für ihn und haben deshalb auch die Briefbomben erhalten. Die Briefbombenserie machte die auf die Gesellschaft zukommende Frage, wie mit der Veränderung der Welt und der damit verbundenen Xenophobie umzugehen wäre, sichtbar. Darum hat man auch den durch die Briefbomben verursachten Schaden und die Folgen, die den Verlag trafen, als individuelles Problem des Verlages betrachtet, und nicht selten bekam ich zu hören: Ein wunderbares Programm, aber wirtschaften kann er nicht. Eine finanzielle Abgeltung für den gesellschaftlich bedingten Schaden, den der Verlag zu meistern hatte (und das wage ich zu behaupten, wir haben in diesen eineinhalb Jahrzehnten gut gearbeitet), wurde seitens der Öffentlichkeit nie ernstlich ins Auge gefasst. Zugleich ist diese Tatsache u. a. auch verantwortlich dafür, dass nicht nur der Verlag in seinen Schwierigkeiten allein gelassen wurde, sondern auch die Literatur. Jene Literatur, die über die Zeit hinweg imstande gewesen wäre, auf die veränderten Entwicklungen in Europa hinzuweisen, Material zu liefern und dadurch zur Verständigung beizutragen, konnte sich öffentlich nicht durchsetzen.

7. Tatsache ist: für den Verlag blieben die Schulden. Die Briefbomben, der Prozess, die Anschuldigungen, später die Panne mit dem »Dante-Platz« im Literarischen Quartett, haben uns 1996 eine Schuldenlast von gut 550.000 Euro aufgehalst, die wir über die folgenden 16 Jahre mitschleppten. Die jährlichen Kredit- und Finanzbeschaffungskosten beliefen sich im Schnitt auf jährlich 30.000 Euro. Zählen wir noch hinzu, dass wir auch Mehrwert- und Umsatzsteuer zahlten, und bedenken wir, dass die Inflationsrate in 23 Jahren nie abgegolten wurde, dann haben wir den Großteil der an Subventionen eingegangenen Gelder wieder an den Staat abgeführt. Über Wasser gehalten haben uns die auf dem freien Markt aufgestellten Drittmittel, wie z. B. die Edition Zwei, »Bank Austria Literaris – Der große Preis für osteuropäische Literatur« (gemeinsam mit KulturKontakt Austria, Bank Austria und Wieser Verlag) und die Erfindung der Reihe »Europa erlesen« und die Gründung der »Enzyklopädie des europäischen Ostens – WEEO«. Und später die Buch-Patenschaften. Letztendlich reichte aber auch das nicht, denn das Wasser stand uns bis zur Gurgel. Es kam zur Insolvenz, in der Folge zur Sanierung.

8. Heute beginnen wir wieder von neuem. Angeschlagen und unter Bedingungen, in denen Kultur ihren Stellenwert in der Gesellschaft verloren hat und auch der Integrationsprozess in der Kultur keine Anleihen nimmt. Die Rolle des Buches und damit verbunden die Möglichkeiten der Literatur stehen – gelinde gesagt – vor großen Herausforderungen. Auch wenn es in diesem Sommer erstmals eine Korrektur der Verlagsförderung gegeben hat. Denn erstmals wurde – nach 23 Jahren – die Basis der Verlagsförderung um 10 % aufgestockt, und diese Erhöhung wurde bei der Herbsttranche auch ausgeschüttet. Damit hatte man unter dem neuen Minister Josef Ostermayer begonnen, Versäumnisse der Vergangenheit zu korrigieren. Die Frage, ob das nach so vielen Jahren reichen wird oder ob nicht schon der Zahn der Zeit die gesamte Verlagsbranche angenagt und dermaßen ausgehöhlt hat, dass sie ihrer Funktion nicht mehr gerecht werden kann, wage ich nicht zu beantworten. (Drei Jahre später stellt sich diese Frage nur noch deutlicher.)

Ich fürchte, dass es harte Zeiten werden, auf die wir zugehen. Ich hoffe zu gern, mich zu täuschen. Aber die Gesellschaft und ihre Zukunft werden an Literaturen und Sprachen, an Bildung, Forschung und Kunst und Kultur erneuert werden, oder sie werden untergehen. Hier stark zu investieren könnte sich auf die derzeitige gesellschaftliche Depression und auf die scheinbare Ausweglosigkeit positiv auswirken. (Sommer 2014, erschienen in: Das Jüdische Echo, Vol. 63, 2014/ 2015–5775)

Ein Rückblicken und ein in die Zukunft Schauen. Grundsätzliche Ausgangsfragen und was Kultur bewirken sollte/könnte (2000–2013)

Die vorliegenden Überlegungen .